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Der Ministerprasident des Landes Nordrhein-Westfalen

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32<br />

Sauerländer Heimatbund<br />

Schuler auf den Spuren der Geschichte: Nachkriegszeit<br />

Von Schlesien ins Sauerland<br />

Da die Medien in seltener EinmiJtigkeit<br />

dabei sind, das Tiiema 8. Mai 1945 totzureden,<br />

soil hier von einem Ereignis bericiitet<br />

werden, das sicii als Konsequenz dieses<br />

Datums im wesentliciien erst 1946<br />

abspieite. Ein GroBteil der Journalisten<br />

und Ciironisten maclit zudem um diesen<br />

Komplex einen Bogen. der aber fur unsere<br />

Regionaigeschictite von lioiier, im einzelnen<br />

alierdings nocii wenig geklarter<br />

Bedeutung wurde: Gemeint ist die Vertreibung<br />

der Deutsclien aus den Gebieten<br />

jenseits von Oder und NeiBe und ilire Aufnahime<br />

in unseren Raum.<br />

<strong>Der</strong> diesjaiirige Wettbewerb Deutsciie<br />

Gesciiiciite thematisierte erwartungsgema3<br />

den Zeitabschnitt „Vom Zusammenbrucli<br />

zum Wiederaufbau" in der<br />

Spanne von 1945 bis 1955. Ein mogliciies<br />

Untersuciiungsbeispiel war „Die Eingliederung<br />

von Fliiclitlingen und Vertriebenen."<br />

Eine Klasse 11 (Obersekunda) <strong>des</strong><br />

Gymnasiums der Stadt Mesciiede, an<br />

dem die Wettbewerbsteilnalime zur Tradition<br />

geliort, waiilte diesen Fragekreis<br />

aus meiireren Grunden: Einmal waren 8<br />

von 28 SchiJler/innen Kinder von Vertriebenen<br />

und Fluclitiingen iiberwiegend aus<br />

Sctilesien, dem hauptsaciiliciien Herkunftsland<br />

der inier Angesiedelten. Das<br />

ubertrifft deutlich den Anteil dieser Bevolkerungsgruppe<br />

im Altkreis iVIeschede<br />

1950 = 17,1%. Die Metinode <strong>des</strong> entdekkenden<br />

Lernens war damit gesichert,<br />

denn Zeitzeugen fiir die Befragung standen<br />

reiciilicii zur Verfijgung. Zum andern<br />

konstatierten die Sctiijler mit Oberrasctiung<br />

die sparliciie Beiiandlung <strong>des</strong><br />

Tiiemas ..Vertreibung" in iliren LeiirbiJciiern.<br />

Aucii diese Erkenntnis reciitfertigte<br />

eine Auseinandersetzung mit dem<br />

Komplex zusatzlicli zum regularen Gescliiciitsunterricht,<br />

denn ein prinzipielles<br />

Aniiegen der Wettbewerbsinitiatoren ist<br />

seit langem die Aufhellung blinder Flekken<br />

in unserm Geschiciitsbild.<br />

Niemand aiinte zu Beginn, da6 die<br />

Arbeit zu einem Walzer von ca. 250 Seiten<br />

anscliwellen wurde, den Interviewteil gar<br />

niciit einbezogen. Selbstverstandlich laBt<br />

sich uber eine so umfangreiclne Dokumentation<br />

niclnt im einzelnen referieren.<br />

Ober die Interviews berichtet zudem<br />

schon das erste Jahrbucii <strong>des</strong> Hochsauerlandkreises.<br />

Den Gesamtverlauf der<br />

Arbeit iiat aucii eine Horfunksendung<br />

<strong>des</strong> WDR 1 am Sonntagabend, 3. 3.1985,<br />

in der Serie „Brummkreisel" ausfijiirlich,<br />

SAUERLAND<br />

aspektreicli und lebendig kommentiert.<br />

<strong>Der</strong> Redakteur Wolfgang Schmitz hatte<br />

die Schuler vorlier oft im Unterricht besuclit<br />

und sie bei ihren Gesprachen mit<br />

Interviewpartnern begleitet, um den Proze6<br />

der muhsamen Integration der Schlesier<br />

ins Sauerland aus der Sicht sowohl<br />

der Vertriebenen wie der Hiesigen zu dokumentieren.<br />

Er arrangierte auch ein Gesprach<br />

der Schuler mit Dr. Herbert Hupka<br />

im Januar dieses Jahres, als die Wogen<br />

um das Motto <strong>des</strong> diesjahrigen Schlesiertreffens<br />

in Hannover hochgingen. Ein Diskussionsausschnitt<br />

ist Tell der Sendung.<br />

Die enorme Brisanz <strong>des</strong> Themas „Vertreibung"<br />

bis in die Tagespolitik <strong>des</strong> Jahres<br />

1985 wurde den Jugendlichen gerade dadurch<br />

bewuBt.<br />

Von solchen Hohepunkten soil hier<br />

aber nicht die Rede sein, sondern von<br />

anderen Erfahrungen der Jugendlichen<br />

bei derZusammenstellung der Arbeit. Sie<br />

begegneten namlich plotzlich Schwierigkeiten,<br />

die sonst ein Historiker eriebt, der<br />

weit zuriickliegende Epochen rekonstruieren<br />

muB: dem Mangel an sicherem<br />

Zahlen- und Bildmaterial. So erwies es<br />

sich als nahezu unmoglich, prazise Daten<br />

iiber die Zahlen der in den Jahren<br />

1945 -1950 aus den Gebieten jenseits von<br />

Oder und NeiBe Ausgewiesenen oder Geflohenen<br />

zu gewinnen. Die Angaben differieren<br />

zwischen 8-18 Millionenje nach der<br />

herangezogenen Darstellung. Das hangt<br />

einerseits sicher mit den chaotischen Zustanden<br />

zu Beginn der Flucht von Hun-<br />

von Dr. Erika Richter, Meschede<br />

derttausenden zusammen, die auf eigene<br />

Faust nach Westen aufbrachen, als<br />

sich die russische Front uber die deutschen<br />

Grenzen vorschob. Sehr umstritten<br />

ist bis heute auch die Zahl derjenigen, die<br />

sich unter dem Schock <strong>des</strong> Zusammenbruchs<br />

das Leben nahmen, die verschleppt<br />

wurden Oder auf dem Leidensweg<br />

der Flucht den Tod fanden. Die Unsicherheit<br />

in den GroBenordnungen hat<br />

aber auch ihren Grund in der Schwierigkeit<br />

der Vertriebenen-Definition. Soil man<br />

dazu nur die tatsachlich Ausgewiesenen<br />

aus „Neu-Polen" zahlen, wie die von den<br />

Deutschen geraumten Regionen in den<br />

Mescheder Kreisarchivakten genannt<br />

werden, oder sind die im Westen geborenen<br />

Kinder dieser Volksgruppe ebenfalls<br />

.,Vertriebene"? Nach einem Presse-Bericht<br />

vom 4.4.1955 aus Bonn ist die Vertriebenen-Eigenschaft<br />

„erblich". Das<br />

ergab Zahlprobleme fiir diejenigen, die<br />

sich einer solchen Auslegung nicht anschlieBen<br />

mochten. Die Schuler konstatierten<br />

ihre Irritation biindig: die Vertriebenenzahl<br />

= ein Millionenspiel!<br />

Eine weitere Irritation war das Bilder-<br />

Defizit. In einer so stark visuell orientierten<br />

Epoche wie der unsern, die zudem<br />

seitJahrzehnteniJberdifferenziertetechnische<br />

Moglichkeiten der Dokumentation<br />

verfugt. ist der Mangel an Bildmaterial<br />

iiber die Situation der Vertriebenen in<br />

den ersten Nachkriegsjahren nicht leicht<br />

begreiflich. Einleuchtend war fur die<br />

Schuler der Hinweis vieler Interview-Partner<br />

aus dem Osten, sie hatten spatestens<br />

bei den Kontrollen durch die polnische Miliz<br />

ihre Photoapparate verloren und in<br />

ihren Notunterkunften andere Sorgen<br />

gehabt, als ihre bedrangte Lage im Bild<br />

festzuhalten. Auch die Einheimischen<br />

wiesen auf den Mangel an Filmmaterial<br />

nach dem Zusammenbruch hin. Aber es<br />

gibt viele Bilder von zerbombten Hausern,<br />

von StraBenzugen in sauerlandischen<br />

Orten, die ein bizarres Ruinenpanorama<br />

bieten, so daB allein das Fehlen von<br />

Dokumentationsmoglichkeiten nicht die<br />

Hauptursache sein kann.<br />

Vielleicht wirkte die Haufung der<br />

Elendsbilder abstumpfend. Wenn 1946<br />

wochentlich Tausende von Ausgewiesenen<br />

in Siegen eintrafen, dort „verfrachtet"<br />

und in die sauerlandischen Auffangstatten<br />

verteilt werden muBten, verlor<br />

der Vorgang seine Einmaligkeit und wurde<br />

zu einem administrativen Problem der<br />

© Copyright Sauerlander Heimatbund<br />

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