20.07.2012 Aufrufe

Fußball-Wm 2006 angeblich gekauft

Fußball-Wm 2006 angeblich gekauft

Fußball-Wm 2006 angeblich gekauft

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

12 HBG LITERATUR<br />

Montag, 16. Juli 2012, Nr. 162 DEFGH<br />

Als ehemaliger Textchef von „Neon“ kennt sich Marc Deckert aus mit dem diffusen Lebensgefühl derjenigen, die einfach nicht erwachsen werden wollen. FOTO: TANJA KERNWEISS<br />

VON MATTHIAS WAHA<br />

In einer Sommernacht mit einem verranzten<br />

japanischen Sportwagen über<br />

oberbayerische Landstraßen heizen<br />

und danach Sterne schauen – so müssen<br />

Freundschaften anfangen. Aus dem Radio<br />

mit Skalenzeiger kommen Stimmen aus<br />

aller Welt, glühen kurz auf und verschwinden<br />

wieder im Äther. Dann, als die Lichtverschmutzung<br />

der Zivilisation überwunden<br />

ist, stehen zwei Jungs in der Pampa<br />

und starren durch ein Teleskop. Philipp,<br />

Endzwanziger, Amateur-Künstler. Tom,<br />

Startzwanziger, Astro-Freak. Was die beiden<br />

verbindet, ist am Anfang nicht viel<br />

mehr als ihre für jedes Assessment-Center<br />

völlig ungeeigneten Biografien. Und eine<br />

Sehnsucht, die nicht recht weiß, nach was<br />

sie sich sehnt. So fliehen sie einfach unters<br />

Himmelszelt.<br />

Tom hat ein seltsames Hobby, denn er<br />

jagt Kometen. Nacht für Nacht der Nervenkitzel,<br />

vielleicht der allererste Mensch zu<br />

sein, der einen neuen Schweifstern entdeckt.<br />

Als Belohnung heißt das Ding dann<br />

nach seinem Entdecker, wie etwa Shoemaker-Levy<br />

9 (offiziell: D/1993 F2). Und<br />

Philipp, der Ich-Erzähler, schlittert zufällig<br />

in diese Kometenjäger-Szene hinein, als<br />

er für einen Illustrationsauftrag recherchiert.<br />

Doch Tom und die Sterne haben auf<br />

ihn eine Magnetwirkung, die ihn nicht<br />

mehr loslässt. Seine Freundin Vera promo-<br />

Wer das Genre der Biografie bedient, der<br />

sollte, ganz egal wie häufig die betreffende<br />

Person bereits porträtiert wurde, eine Neuentdeckung<br />

versuchen. Kurt Tucholsky ist<br />

hier ein besonderer Fall. 1935 gestorben,<br />

ist er vor allem wegen seiner beiden Romane<br />

„Rheinsberg“ und„Schloss Gripsholm“<br />

bis heute ein ungemein populärer Schriftsteller,<br />

und er wird permanent zitiert. Jeder<br />

kennt Tucholsky, meint ihn zumindest<br />

zu kennen. Vielleicht ist das auch einer der<br />

Gründe,warumesüberihnnurwenigeBiografien<br />

gibt. Wer eine wagt, kann also auf<br />

Neuland gewinnen und sich damit große<br />

Verdienste erwerben.<br />

Rolf Hosfeld ist ein exzellenter Kenner<br />

des Tucholskyschen Werkes. Dramaturgischvirtuos,flichtermitbewundernswertem<br />

Überblick Zitate aus den Feuilletons,<br />

Artikeln,BüchernundBriefen,die Tucholsky<br />

in seinem kurzen, aber intensiven LebeningroßerZahlverfassthat,inseineDarstellung<br />

ein. Das sitzt, hat Aplomb, ist gut,<br />

flott und ohne überflüssiges Sentiment geschrieben.<br />

Besonders gelungen ist, wie am<br />

AnfangallerhandtypischeLebens-undLiebeskonstellationen,<br />

die Nähe von Biografie<br />

und Werk also, aus Tucholskys frühem Geniestreich„Rheinsberg“,<br />

seinemauch heutenochbezaubernden„BilderbuchfürVerliebte“<br />

herausdestilliert werden.<br />

Ähnlich dicht geht es in den letzten Abschnitten<br />

zu, in denen der von den Nazis<br />

ausgebürgerte Schriftsteller, in schwedi-<br />

viertgeradeinMünchen,währenderimbeschaulichen Landsberg am Lech kleben<br />

bleibt, und beide sind in der von Liedermacher<br />

Rainald Grebe so schön besungenen<br />

Lebensphase:„Wielangewir wohlnochzusammen<br />

sind? / Na, wir machen Schluss,<br />

oder ein Kind“. Also, was soll’s, Philipp<br />

wehrt sich erst gar nicht gegen den Sog der<br />

Nacht.<br />

Vera wirft ihm dann Weltflucht vor, aber<br />

Weltflucht heute, geht das überhaupt? Das<br />

HornderPostkutschen, dasfürdieRomantiker<br />

die weite Welt verhieß, ist längst verstummt.<br />

Alles ist ja inzwischen ein globaler<br />

Paketdienst. Facebook und Individualreisen,<br />

amerikanische Fernsehserien und<br />

Smartphone-Spielchen, wie viel Flucht<br />

geht, wenn Millionen in dieselbe Richtung<br />

flüchten? DieEntscheidung für ferne Galaxien<br />

erscheint angesichts dessen als eine<br />

der letzten Möglichkeiten. Man selbst da<br />

unten und so klein, das glitzernde Universum<br />

da oben und so groß, wen kümmert da<br />

das nächste Großprojekt oder die Wäsche,<br />

die noch aufs Bügeln wartet. „Warum<br />

glaubst du, sehen sich Leute das an?“, fragt<br />

Vera.UndPhilipp:„Vielleicht,weil esnichts<br />

mit ihrem Leben zu tun hat.“<br />

Es geht in Marc Deckerts sehr gelungenem<br />

Debütroman „Kometenjäger“ also<br />

nicht im Kern um Himmelskörper, wie der<br />

Titel vermuten lässt, sondern um Freundschaft<br />

und um die Suche einer Generation<br />

nach ihrem Platz in der Welt. Mit Letzte-<br />

scher Einsamkeit lebende Tucholsky an<br />

denZeitläuftenverzweifelte.AuchdieSchilderung,<br />

wie der frisch promovierte Dr. jur.<br />

imErstenWeltkriegandieOstfront zog, wo<br />

der lebenslange Erotomane in Riga Mary<br />

Gerold,seinereinzigenwirklichgroßenLiebe<br />

begegnete, liest sich mit Gewinn.<br />

So recht glücklich will man aber doch<br />

nicht mit diesem Buch werden. Es findet<br />

seinen Brenn-, seinen Mittelpunkt nicht,<br />

vielleicht sogar, weil Hosfeld seinen Tucholsky<br />

zu gut kennt und Vieles nur kursorisch<br />

abhandelt. Unter dem Strich versteht<br />

man deshalb kaum, wie Tucholsky zu Tucholsky<br />

werden konnte.<br />

Gewiss wird deutlich, dass er ein außerordentlichbegabter,vorallemvielfältigbegabter<br />

junger Mann war. Denn was konnte,<br />

was war Tucholsky nicht alles zugleich –<br />

Theater- und Literaturkritiker, politischer<br />

Schriftsteller,SchöpfervolkstümlicherLiebesromanzen<br />

auf hohem Niveau in einem<br />

damals ganz neuen Ton, er spielte Klavier<br />

und dichtete Couplets.<br />

Wie und warum Kurt Tucholsky all das<br />

konnteundwarumer–inderWeimarerRepublik<br />

– schnell ein Star wurde, das aber<br />

versteht man nicht recht. Es fehlt an Thesen,<br />

Hypothesen und Parametern, in denen<br />

ein gelebtes Leben zwar nie aufgeht<br />

und in einer Biografie auch nicht aufgehen<br />

soll, ohne die sich aber auch kein Leben in<br />

all seiner Widersprüchlichkeit beschreiben<br />

lässt. Kurz, es gibt keine Entwicklungen<br />

in diesem Buch, „Tucholsky ist inzwischen<br />

eine gefeierte und bekannte Persönlichkeit<br />

in Deutschland“.<br />

Aha, denkt man, interessant; wie es dazu<br />

kam, leuchtet einem aber nicht ein. Rolf<br />

Hosfeld liefert zwar ein gut lesbares Le-<br />

rem kennt sich der einstige Neon-Textchef,<br />

Jahrgang 1970, ja aus, mit dem diffusen<br />

Lebensgefühl derjenigen, die zwischen<br />

Mitte zwanzig und Mitte dreißig einfach<br />

nicht erwachsen werden wollen oder können.<br />

Doch steckt noch mehr dahinter: Das<br />

Kometen-Thema taugt grundsätzlich zur<br />

Erhellung anthropologischer Aspekte. Der<br />

Weltraum hat mit Sehnsüchten zu tun,<br />

nach Größe und Unendlichkeit, und unwiderruflich<br />

auch mit der alltäglichen<br />

Ernüchterung,sichzufühlen„wie einKinobesucher<br />

beim Verlassen des Saals“. Dass<br />

Deckert diese Verbindung aktualisiert, ist<br />

seine große Leistung. Und so gelingt ihm<br />

ein Gegenwartsroman, der auch tatsächlich<br />

etwas über die Gegenwart auszusagen<br />

vermag.<br />

„Kometenjäger“ lässt sich vielleicht beschreiben<br />

als Mischung aus Wolfgang<br />

Herrndorfs Erfolgsroman „Tschick“ und<br />

der Philosophie Hans Blumenbergs. Wie<br />

beijenemgehtes umdenverrücktenRoad-<br />

Trip zweier ungleicher Freunde. Und wie<br />

bei diesem schwingt durch den ganzen Roman<br />

atmosphärisch die Melancholie über<br />

dieUnausweichlichkeit dersäkularisierten<br />

und technisierten Moderne. Auch wenn<br />

benspanorama,indieTiefegehteraberselten. Ein Beispiel: Tucholsky war ein enthusiastischer<br />

Leser Knut Hamsuns, von dem<br />

ersich,alssichdernorwegischeSchriftsteller<br />

nach 1933 als Hitler-Verehrer präsentierte,<br />

enttäuschtund angewidert abwandte.<br />

Was Tucholsky an der Romankunst<br />

Hamsuns faszinierte, erfährt man jedoch<br />

nicht. Es hätte eine Spur zum Verständnis<br />

des recht widersprüchlichen Tucholskyschen<br />

Charakters sein können.<br />

Typ wie Typus, kämpferisch und zartfühlend,<br />

das war Tucholsky. Eine Ausnah-<br />

klar ist, dass es keine großen Geheimnisse<br />

und Ordnungen mehr gibt, muss man das<br />

erst einmal verarbeiten. So ist das Halali<br />

der Kometenjäger, die mit selbstgebauten<br />

Teleskopen und bloßem Auge den Himmel<br />

absuchen, auch eine Auflehnung gegen<br />

den Fortschritt und Ausdruck einer Suche,<br />

dienichtunbedingtetwasmitHimmelskörpern<br />

zu tun hat. Kometen findet man ja auf<br />

Hawaii oder in Chile längst mit Riesenteleskopen,<br />

die mit computergesteuerten<br />

Suchprogrammen arbeiten. Im Roman<br />

heißt es: „Der Jäger näherte sich dem Himmel<br />

wie ein Bedürftiger. Er sehnte sich<br />

nacheinem Blickauf die andere Seite, nach<br />

einer Erfahrung, die ihn vervollständigte.“<br />

Die Astronomen-Clique erschaut die göttliche<br />

Transzendenz noch ganz wörtlich,<br />

nämlich mit dem Teleskop.<br />

Bemerkenswert ist auch Deckerts Gabe,<br />

Menschen in wenigen Worten so zu beschreiben,<br />

dass man sie wie gemalt vor sich<br />

sieht. Etwa in dieser Szene vom Anfang:<br />

EineSchiffspartyaufdemAmmersee,viele<br />

Leute, Alpenpanorama in der Dämmerung.<br />

Da wird Philipps Blick von jemandem<br />

an der Reling angezogen: „Das Mädchen,<br />

in Jeans und Kapuzenpulli, war sehr<br />

hübsch. Schwarzhaarig, aber blass mit<br />

Sommersprossen. Typ israelische Wehrdienstleistende.“<br />

Braucht es mehr?<br />

Die zweite Hälfte des Romans spielt<br />

dann in den USA. Hier soll Toms antikes<br />

und wertvolles Clark-Teleskop verkauft<br />

Er war und blieb ein Berliner<br />

meerscheinung zwar, seine auffälligsten<br />

Charakterzügehatteer abermiteinigenanderen<br />

publizistischen Großen des Weimarer<br />

Jahrzehnts gemein. Unstet und reisefreudig,<br />

leidend an Deutschland, ihrer Zeit,<br />

das waren auch Walter Benjamin, Franz<br />

Hessel oder Joseph Roth.<br />

Die liebenswürdige Hochstapelei, die<br />

sich in Tucholskys zahlreichen PseudonymenwiedennichtminderzahlreichenLiebschaftenunddendamitverbundenenKomplikationen<br />

äußerte, zeigt eine gewisse Nähe<br />

zur Erzählkunst eines Walter Serner wie<br />

werden,eineschwere Trennung,abererbenötigt<br />

das Geld für eine Operation seines<br />

Vaters. Mit dem Wechsel des Kontinents<br />

scheint es, als bräuchten Tom und Philipp,<br />

je weiter sie ihrem unbekannten Ziel näher<br />

kommen, immer längere Straßen für ihre<br />

Sinn-Suche. Erst geht es durch Oberbayernund<br />

Schwaben,dann durch Kalifornien<br />

und Arizona. Von den Sternen inspiriert,<br />

versuchen sie eine konstante Bewegung<br />

ins Unendliche.<br />

Doch irgendwann ist selbst der längste<br />

Highway zu Ende. Sie haben einen Unfall,<br />

der Wagen stürzt in eine Schlucht. Dieses<br />

Schlüsselereignis ist gleichzeitig die Neuerzählung<br />

einer uralten Geschichte, nämlich<br />

der vom antiken Philosophen Thales<br />

von Milet, der vor lauter Himmelsbetrachtungen<br />

auf den Weg zu achten vergisst und<br />

in einen Brunnen fällt. Für die beiden Wolkenkuckucksheimer<br />

ist es höchste Zeit,<br />

mit sich selbst ins Reine zu kommen.<br />

Kundig erzählt Rolf Hosfeld das Leben von Kurt Tucholsky – und kommt dessen widersprüchlichem Charakter doch nicht richtig nahe<br />

Was war Tucholsky nicht alles:<br />

Kritiker, politischer Schriftsteller,<br />

Autor von Liebesromanzen<br />

Lichtjahre<br />

Sie wollen nach den Sternen greifen und kriegen doch den Hintern nicht hoch: Marc Deckerts gelungener Debütroman<br />

„Die Kometenjäger“ über zwei Freunde, die ihre Ziele im Leben noch nicht kennen und erst mal den Kopf in den Wolken haben<br />

Herrndorfs „Tschick“<br />

trifft hier auf die Philosophie<br />

von Hans Blumenberg<br />

Kämpferisch und zartfühlend, Typ wie Typus, eine Ausnahmeerscheinung:<br />

Kurt Tucholsky (1890-1935). FOTO: ULLSTEIN<br />

Marc Deckert: Die Kometenjäger.<br />

Roman. btb<br />

Verlag, München 2012.<br />

416 Seiten, 19,99 Euro.<br />

dem Lebenswandel des ebenfalls klein gewachsenen,<br />

zu dicken und stets eleganten<br />

Frauenbetörers und Vielschreibers Gottfried<br />

Benn.<br />

Hinweise auf solche Korrespondenzen<br />

gibtesinHosfeldsBuchnicht.Hieraberhätte<br />

sich ein interessantes Feld generationeller<br />

Differenzen wie Gemeinsamkeiten erschließen<br />

lassen, aus einem individuellen<br />

Schriftsteller-hätteeinGenerationen-,daraus<br />

ein Zeitporträt entstehen können.<br />

Mehrnoch,dasPorträteines mitseiner Geburtsstadt<br />

innig verbundenen jüdischen<br />

Mannes, der Deutschland 1924 verließ,<br />

aber immer eines blieb – Berliner, wie der<br />

fast durchgängige Gebrauch der heimischen<br />

Mundart in seinen publizistischen<br />

Texten wie auch persönlichen Briefen<br />

zeigt.<br />

Ja,Berlin,daswiederfastsogroßundbedeutendistwie<br />

ehedem.Mithilfe dieserKapitalehättensichPeterPanter,TheobaldTiger,<br />

Ignaz Wrobel, Kaspar Hauser, wie Tucholskys<br />

Pseudonyme lauteten, näher an<br />

den Leser heranrücken lassen. Tucholsky,<br />

einer, der durch die Straßen Berlins geht<br />

wie Du und ich, ferne Zeiten nahgestellt.<br />

Hat da nicht einer vergebens versucht, zu<br />

Hause zu sein?<br />

Ohnesolcheinetopographisch-biografische<br />

Empathie hinterlässt Hosfelds Buch<br />

mehr Fragen als Antworten. Vielleicht<br />

nicht das Schlechteste, um sich wieder einmal<br />

ausführlich dem Original zu widmen.<br />

THOMAS MEDICUS<br />

RolfHosfeld: Tucholsky. Ein deutsches Leben. Biografie.<br />

Siedler Verlag, München 2012. 318 Seiten. 21,99<br />

Euro.<br />

Leichtigkeit und<br />

Schadenfreude<br />

Ein italienischer Bestseller sucht<br />

die Augenblicke des Glücks<br />

Seit jeher zerfällt die Philosophie in zwei<br />

ethische Lager. Die einen erklären die Tugend,die<br />

anderen dieLustoderdasGlück–<br />

hier schwankt die Terminologie – für den<br />

Daseinszweck und das höchste Ziel des<br />

Menschen.<br />

In der Antike hießen die einen Stoiker,<br />

die anderen Epikureer, aber der Grundunterschied<br />

der zwei Lager besteht fort bis<br />

auf den heutigen Tag. Doch ebenso hat die<br />

Schule der Lust in der Philosophie schon<br />

immer die Tendenz gehabt, ihrer Konkurrentin<br />

ähnlicher zu werden, als ihr lieb sein<br />

konnte: Denn wer das Glück so ernst<br />

nimmt, wie es das verdient, der fängt an,<br />

Programme aufzustellen und Pläne zu<br />

schmieden, die ihm eine ziemliche Konsequenz<br />

abverlangen, diese bekanntlich anstrengendste<br />

aller Tugenden. Trinkt ruhig<br />

Wein, bescheidet Epikur seine Schüler,<br />

aber trinkt nicht zu viel, denn der Kater<br />

morgen wird ein größeres Übel sein, als der<br />

Rausch ein Gut war! Und so läuft auch hier<br />

alles zuletzt auf das langweilige Maßhalten<br />

hinaus.<br />

Wer das ändern und das Glück in seiner<br />

wahren, seiner spontanen und flüchtigen<br />

Gestalt treffen will, der sollte sich des<br />

Wunschs nach Dauer und System enthalten.<br />

So nennt der Schriftsteller und Drehbuchautor<br />

Francesco Piccolo sein jetzt auf<br />

Deutsch erschienenes Büchlein nicht „Vom<br />

Glück“,sondern„VonGlücksmomenten“–<br />

wohlwissend,dassmandemGlückeherbegegnet,<br />

wenn man Geistes- und Seelengegenwart<br />

hat, als dass man es mit einer ausgeklügelten<br />

Diät herbeizwingt.<br />

Kein Zufall dürfte es sein, dass dieser<br />

Autor aus Italien stammt, wo das Buch ein<br />

Bestseller wurde: Dort stehen die großen<br />

ZeichenderzeitaufResignation–umsoverlockender<br />

erscheint die Aussicht, im Kleinen<br />

darunter wegzutauchen. Und dann ist<br />

dieses Land die alte Heimstattdes „Furbo“,<br />

des Schlaukopfs und Schelmen, der<br />

gewandt improvisierend seinen Vorteil<br />

sucht, aber zugleich durch seinen Charme<br />

zu verhindern weiß, dass man es ihm je<br />

übel nimmt. Nicht nur nimmt er es sich<br />

heraus, in zweiter Reihe zu parken, sondern<br />

er lässt die Leute auch ruhig erst mal<br />

hupen, trinkt in Ruhe seinen Kaffee aus<br />

und hebt dann – ganz wichtig! – die Hand<br />

in einer Geste, die als Entschuldigung firmiert,<br />

vor allem aber die Zufriedenheit mit<br />

sichselbst bekundet.Das isteinGlücksmoment<br />

für den eingefleischten italienischen<br />

Stadtbewohner, da erfährt er sich selbst<br />

und seine Stadt.<br />

Wie schön ist das: In zweiter<br />

Reihe parken. Und die Leute<br />

erst mal ruhig hupen lassen<br />

Auch sehr zartfühlend kann er sein, ja<br />

es wohnen ihm erlösende Fähigkeiten inne.<br />

„Alle Menschen, die nicht gut aussehen<br />

oder hässlich sind, werden, wenn du sie<br />

dann kennenlernst, auf einmal schöner, jedes<br />

Mal.“ In seinem Erstaunen über diesen<br />

Tatbestand ahnt man etwas von dem Geschenk,<br />

dass er seinem Gegenüber zu machen<br />

versteht.<br />

Aber zum Tugendbolzen wird er darüber<br />

nicht. Er weiß, wie viel Augenwischerei<br />

und Selbsttäuschung in der üblichen<br />

höflichen Rücksichtnahme liegt. „Auf Zehenspitzen<br />

über den frisch gewischten Boden<br />

zu laufen, mit einer Muskelanspannung,<br />

die einem vormachen möchte, man<br />

sei so leicht geworden, dass der Boden<br />

nichtschmutzigwird.“DieserVorgangwürdenichtausnahmslosjedenbeglücken,keinesfalls<br />

den Nordländer mit seinem unironischen<br />

Schwergewicht, der die Zerstörung<br />

des fremden Reinigungswerks nur in<br />

Bekümmerung vollzöge. Man muss den<br />

Wunsch, man wäre leicht, wie eine echte<br />

Leichtigkeit erleben und zugleich über deren<br />

illusorischen Charakter lachen können,<br />

damit man die kleine Komödie genießt<br />

und die Putz- oder Hausfrau einlädt,<br />

mitzulachen.<br />

Generell, das lernt man in diesem Buch,<br />

sind es seelisch komplexe und schwebende<br />

Zustände, die das Glück anziehen wie der<br />

Blitzableiter den Blitz. Schadenfreude gehört<br />

ganz gewiss zu den unschönsten<br />

menschlichen Zügen. Aber auch sie hat ihre<br />

anmutigen Augenblicke. Wenn man beispielsweise<br />

im Zug eine Platzreservierung<br />

hat, finde man sich erst im letzten Moment<br />

ein. Der Platz ist dann natürlich längst von<br />

einem unbefugten Zeitgenossen okkupiert,<br />

der auf die Uhr blickt und inständig<br />

hofft, der rechtmäßige Eigentümer möge<br />

nicht kommen. Früher, berichtet Francesco<br />

Piccolo, wäre ihm ein solches Zusammentreffen<br />

peinlich gewesen. „Heute, da<br />

ich ein Arsch geworden bin, freut es mich.<br />

‚Entschuldigen Sie, aber dieser Platz ist eigentlichbesetzt.‘UndichzückedieFahrkarte.<br />

Ich sage extra eigentlich, damit er noch<br />

eine Sekunde länger hoffen kann, ich würde<br />

hinzufügen: Aber das macht nichts.<br />

Doch ich rühre mich nicht von der Stelle.<br />

Und er macht sich davon, gekränkt, fast als<br />

würde er abhauen, auf der Suche nach einem<br />

anderen Platz.“<br />

Man lausche dem beiläufig geäußerten,<br />

aber tiefen Wohlgefühl, mit der hier ein<br />

Arschsichalssolcheneinbekennt.Nicht naturwüchsig<br />

ist er es, sondern geworden in<br />

einem langen Prozess der Reifung und Befreiung.<br />

Ja, man muss sich wohl doch<br />

grundsätzlich entscheiden, ob man im Leben<br />

die Tugend oder das Glück will. Und<br />

will man das Glück, dann gewährt das Laster,<br />

obschon in kleinen Dosen, eine besondere<br />

Befriedigung. BURKHARD MÜLLER<br />

Francesco Piccolo: Von Glücksmomenten. Aus dem<br />

Italienischen von Birte Völker. Insel Verlag, Berlin<br />

2012. 141 Seiten, 14,95 Euro.

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!