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12 HBG LITERATUR<br />
Montag, 16. Juli 2012, Nr. 162 DEFGH<br />
Als ehemaliger Textchef von „Neon“ kennt sich Marc Deckert aus mit dem diffusen Lebensgefühl derjenigen, die einfach nicht erwachsen werden wollen. FOTO: TANJA KERNWEISS<br />
VON MATTHIAS WAHA<br />
In einer Sommernacht mit einem verranzten<br />
japanischen Sportwagen über<br />
oberbayerische Landstraßen heizen<br />
und danach Sterne schauen – so müssen<br />
Freundschaften anfangen. Aus dem Radio<br />
mit Skalenzeiger kommen Stimmen aus<br />
aller Welt, glühen kurz auf und verschwinden<br />
wieder im Äther. Dann, als die Lichtverschmutzung<br />
der Zivilisation überwunden<br />
ist, stehen zwei Jungs in der Pampa<br />
und starren durch ein Teleskop. Philipp,<br />
Endzwanziger, Amateur-Künstler. Tom,<br />
Startzwanziger, Astro-Freak. Was die beiden<br />
verbindet, ist am Anfang nicht viel<br />
mehr als ihre für jedes Assessment-Center<br />
völlig ungeeigneten Biografien. Und eine<br />
Sehnsucht, die nicht recht weiß, nach was<br />
sie sich sehnt. So fliehen sie einfach unters<br />
Himmelszelt.<br />
Tom hat ein seltsames Hobby, denn er<br />
jagt Kometen. Nacht für Nacht der Nervenkitzel,<br />
vielleicht der allererste Mensch zu<br />
sein, der einen neuen Schweifstern entdeckt.<br />
Als Belohnung heißt das Ding dann<br />
nach seinem Entdecker, wie etwa Shoemaker-Levy<br />
9 (offiziell: D/1993 F2). Und<br />
Philipp, der Ich-Erzähler, schlittert zufällig<br />
in diese Kometenjäger-Szene hinein, als<br />
er für einen Illustrationsauftrag recherchiert.<br />
Doch Tom und die Sterne haben auf<br />
ihn eine Magnetwirkung, die ihn nicht<br />
mehr loslässt. Seine Freundin Vera promo-<br />
Wer das Genre der Biografie bedient, der<br />
sollte, ganz egal wie häufig die betreffende<br />
Person bereits porträtiert wurde, eine Neuentdeckung<br />
versuchen. Kurt Tucholsky ist<br />
hier ein besonderer Fall. 1935 gestorben,<br />
ist er vor allem wegen seiner beiden Romane<br />
„Rheinsberg“ und„Schloss Gripsholm“<br />
bis heute ein ungemein populärer Schriftsteller,<br />
und er wird permanent zitiert. Jeder<br />
kennt Tucholsky, meint ihn zumindest<br />
zu kennen. Vielleicht ist das auch einer der<br />
Gründe,warumesüberihnnurwenigeBiografien<br />
gibt. Wer eine wagt, kann also auf<br />
Neuland gewinnen und sich damit große<br />
Verdienste erwerben.<br />
Rolf Hosfeld ist ein exzellenter Kenner<br />
des Tucholskyschen Werkes. Dramaturgischvirtuos,flichtermitbewundernswertem<br />
Überblick Zitate aus den Feuilletons,<br />
Artikeln,BüchernundBriefen,die Tucholsky<br />
in seinem kurzen, aber intensiven LebeningroßerZahlverfassthat,inseineDarstellung<br />
ein. Das sitzt, hat Aplomb, ist gut,<br />
flott und ohne überflüssiges Sentiment geschrieben.<br />
Besonders gelungen ist, wie am<br />
AnfangallerhandtypischeLebens-undLiebeskonstellationen,<br />
die Nähe von Biografie<br />
und Werk also, aus Tucholskys frühem Geniestreich„Rheinsberg“,<br />
seinemauch heutenochbezaubernden„BilderbuchfürVerliebte“<br />
herausdestilliert werden.<br />
Ähnlich dicht geht es in den letzten Abschnitten<br />
zu, in denen der von den Nazis<br />
ausgebürgerte Schriftsteller, in schwedi-<br />
viertgeradeinMünchen,währenderimbeschaulichen Landsberg am Lech kleben<br />
bleibt, und beide sind in der von Liedermacher<br />
Rainald Grebe so schön besungenen<br />
Lebensphase:„Wielangewir wohlnochzusammen<br />
sind? / Na, wir machen Schluss,<br />
oder ein Kind“. Also, was soll’s, Philipp<br />
wehrt sich erst gar nicht gegen den Sog der<br />
Nacht.<br />
Vera wirft ihm dann Weltflucht vor, aber<br />
Weltflucht heute, geht das überhaupt? Das<br />
HornderPostkutschen, dasfürdieRomantiker<br />
die weite Welt verhieß, ist längst verstummt.<br />
Alles ist ja inzwischen ein globaler<br />
Paketdienst. Facebook und Individualreisen,<br />
amerikanische Fernsehserien und<br />
Smartphone-Spielchen, wie viel Flucht<br />
geht, wenn Millionen in dieselbe Richtung<br />
flüchten? DieEntscheidung für ferne Galaxien<br />
erscheint angesichts dessen als eine<br />
der letzten Möglichkeiten. Man selbst da<br />
unten und so klein, das glitzernde Universum<br />
da oben und so groß, wen kümmert da<br />
das nächste Großprojekt oder die Wäsche,<br />
die noch aufs Bügeln wartet. „Warum<br />
glaubst du, sehen sich Leute das an?“, fragt<br />
Vera.UndPhilipp:„Vielleicht,weil esnichts<br />
mit ihrem Leben zu tun hat.“<br />
Es geht in Marc Deckerts sehr gelungenem<br />
Debütroman „Kometenjäger“ also<br />
nicht im Kern um Himmelskörper, wie der<br />
Titel vermuten lässt, sondern um Freundschaft<br />
und um die Suche einer Generation<br />
nach ihrem Platz in der Welt. Mit Letzte-<br />
scher Einsamkeit lebende Tucholsky an<br />
denZeitläuftenverzweifelte.AuchdieSchilderung,<br />
wie der frisch promovierte Dr. jur.<br />
imErstenWeltkriegandieOstfront zog, wo<br />
der lebenslange Erotomane in Riga Mary<br />
Gerold,seinereinzigenwirklichgroßenLiebe<br />
begegnete, liest sich mit Gewinn.<br />
So recht glücklich will man aber doch<br />
nicht mit diesem Buch werden. Es findet<br />
seinen Brenn-, seinen Mittelpunkt nicht,<br />
vielleicht sogar, weil Hosfeld seinen Tucholsky<br />
zu gut kennt und Vieles nur kursorisch<br />
abhandelt. Unter dem Strich versteht<br />
man deshalb kaum, wie Tucholsky zu Tucholsky<br />
werden konnte.<br />
Gewiss wird deutlich, dass er ein außerordentlichbegabter,vorallemvielfältigbegabter<br />
junger Mann war. Denn was konnte,<br />
was war Tucholsky nicht alles zugleich –<br />
Theater- und Literaturkritiker, politischer<br />
Schriftsteller,SchöpfervolkstümlicherLiebesromanzen<br />
auf hohem Niveau in einem<br />
damals ganz neuen Ton, er spielte Klavier<br />
und dichtete Couplets.<br />
Wie und warum Kurt Tucholsky all das<br />
konnteundwarumer–inderWeimarerRepublik<br />
– schnell ein Star wurde, das aber<br />
versteht man nicht recht. Es fehlt an Thesen,<br />
Hypothesen und Parametern, in denen<br />
ein gelebtes Leben zwar nie aufgeht<br />
und in einer Biografie auch nicht aufgehen<br />
soll, ohne die sich aber auch kein Leben in<br />
all seiner Widersprüchlichkeit beschreiben<br />
lässt. Kurz, es gibt keine Entwicklungen<br />
in diesem Buch, „Tucholsky ist inzwischen<br />
eine gefeierte und bekannte Persönlichkeit<br />
in Deutschland“.<br />
Aha, denkt man, interessant; wie es dazu<br />
kam, leuchtet einem aber nicht ein. Rolf<br />
Hosfeld liefert zwar ein gut lesbares Le-<br />
rem kennt sich der einstige Neon-Textchef,<br />
Jahrgang 1970, ja aus, mit dem diffusen<br />
Lebensgefühl derjenigen, die zwischen<br />
Mitte zwanzig und Mitte dreißig einfach<br />
nicht erwachsen werden wollen oder können.<br />
Doch steckt noch mehr dahinter: Das<br />
Kometen-Thema taugt grundsätzlich zur<br />
Erhellung anthropologischer Aspekte. Der<br />
Weltraum hat mit Sehnsüchten zu tun,<br />
nach Größe und Unendlichkeit, und unwiderruflich<br />
auch mit der alltäglichen<br />
Ernüchterung,sichzufühlen„wie einKinobesucher<br />
beim Verlassen des Saals“. Dass<br />
Deckert diese Verbindung aktualisiert, ist<br />
seine große Leistung. Und so gelingt ihm<br />
ein Gegenwartsroman, der auch tatsächlich<br />
etwas über die Gegenwart auszusagen<br />
vermag.<br />
„Kometenjäger“ lässt sich vielleicht beschreiben<br />
als Mischung aus Wolfgang<br />
Herrndorfs Erfolgsroman „Tschick“ und<br />
der Philosophie Hans Blumenbergs. Wie<br />
beijenemgehtes umdenverrücktenRoad-<br />
Trip zweier ungleicher Freunde. Und wie<br />
bei diesem schwingt durch den ganzen Roman<br />
atmosphärisch die Melancholie über<br />
dieUnausweichlichkeit dersäkularisierten<br />
und technisierten Moderne. Auch wenn<br />
benspanorama,indieTiefegehteraberselten. Ein Beispiel: Tucholsky war ein enthusiastischer<br />
Leser Knut Hamsuns, von dem<br />
ersich,alssichdernorwegischeSchriftsteller<br />
nach 1933 als Hitler-Verehrer präsentierte,<br />
enttäuschtund angewidert abwandte.<br />
Was Tucholsky an der Romankunst<br />
Hamsuns faszinierte, erfährt man jedoch<br />
nicht. Es hätte eine Spur zum Verständnis<br />
des recht widersprüchlichen Tucholskyschen<br />
Charakters sein können.<br />
Typ wie Typus, kämpferisch und zartfühlend,<br />
das war Tucholsky. Eine Ausnah-<br />
klar ist, dass es keine großen Geheimnisse<br />
und Ordnungen mehr gibt, muss man das<br />
erst einmal verarbeiten. So ist das Halali<br />
der Kometenjäger, die mit selbstgebauten<br />
Teleskopen und bloßem Auge den Himmel<br />
absuchen, auch eine Auflehnung gegen<br />
den Fortschritt und Ausdruck einer Suche,<br />
dienichtunbedingtetwasmitHimmelskörpern<br />
zu tun hat. Kometen findet man ja auf<br />
Hawaii oder in Chile längst mit Riesenteleskopen,<br />
die mit computergesteuerten<br />
Suchprogrammen arbeiten. Im Roman<br />
heißt es: „Der Jäger näherte sich dem Himmel<br />
wie ein Bedürftiger. Er sehnte sich<br />
nacheinem Blickauf die andere Seite, nach<br />
einer Erfahrung, die ihn vervollständigte.“<br />
Die Astronomen-Clique erschaut die göttliche<br />
Transzendenz noch ganz wörtlich,<br />
nämlich mit dem Teleskop.<br />
Bemerkenswert ist auch Deckerts Gabe,<br />
Menschen in wenigen Worten so zu beschreiben,<br />
dass man sie wie gemalt vor sich<br />
sieht. Etwa in dieser Szene vom Anfang:<br />
EineSchiffspartyaufdemAmmersee,viele<br />
Leute, Alpenpanorama in der Dämmerung.<br />
Da wird Philipps Blick von jemandem<br />
an der Reling angezogen: „Das Mädchen,<br />
in Jeans und Kapuzenpulli, war sehr<br />
hübsch. Schwarzhaarig, aber blass mit<br />
Sommersprossen. Typ israelische Wehrdienstleistende.“<br />
Braucht es mehr?<br />
Die zweite Hälfte des Romans spielt<br />
dann in den USA. Hier soll Toms antikes<br />
und wertvolles Clark-Teleskop verkauft<br />
Er war und blieb ein Berliner<br />
meerscheinung zwar, seine auffälligsten<br />
Charakterzügehatteer abermiteinigenanderen<br />
publizistischen Großen des Weimarer<br />
Jahrzehnts gemein. Unstet und reisefreudig,<br />
leidend an Deutschland, ihrer Zeit,<br />
das waren auch Walter Benjamin, Franz<br />
Hessel oder Joseph Roth.<br />
Die liebenswürdige Hochstapelei, die<br />
sich in Tucholskys zahlreichen PseudonymenwiedennichtminderzahlreichenLiebschaftenunddendamitverbundenenKomplikationen<br />
äußerte, zeigt eine gewisse Nähe<br />
zur Erzählkunst eines Walter Serner wie<br />
werden,eineschwere Trennung,abererbenötigt<br />
das Geld für eine Operation seines<br />
Vaters. Mit dem Wechsel des Kontinents<br />
scheint es, als bräuchten Tom und Philipp,<br />
je weiter sie ihrem unbekannten Ziel näher<br />
kommen, immer längere Straßen für ihre<br />
Sinn-Suche. Erst geht es durch Oberbayernund<br />
Schwaben,dann durch Kalifornien<br />
und Arizona. Von den Sternen inspiriert,<br />
versuchen sie eine konstante Bewegung<br />
ins Unendliche.<br />
Doch irgendwann ist selbst der längste<br />
Highway zu Ende. Sie haben einen Unfall,<br />
der Wagen stürzt in eine Schlucht. Dieses<br />
Schlüsselereignis ist gleichzeitig die Neuerzählung<br />
einer uralten Geschichte, nämlich<br />
der vom antiken Philosophen Thales<br />
von Milet, der vor lauter Himmelsbetrachtungen<br />
auf den Weg zu achten vergisst und<br />
in einen Brunnen fällt. Für die beiden Wolkenkuckucksheimer<br />
ist es höchste Zeit,<br />
mit sich selbst ins Reine zu kommen.<br />
Kundig erzählt Rolf Hosfeld das Leben von Kurt Tucholsky – und kommt dessen widersprüchlichem Charakter doch nicht richtig nahe<br />
Was war Tucholsky nicht alles:<br />
Kritiker, politischer Schriftsteller,<br />
Autor von Liebesromanzen<br />
Lichtjahre<br />
Sie wollen nach den Sternen greifen und kriegen doch den Hintern nicht hoch: Marc Deckerts gelungener Debütroman<br />
„Die Kometenjäger“ über zwei Freunde, die ihre Ziele im Leben noch nicht kennen und erst mal den Kopf in den Wolken haben<br />
Herrndorfs „Tschick“<br />
trifft hier auf die Philosophie<br />
von Hans Blumenberg<br />
Kämpferisch und zartfühlend, Typ wie Typus, eine Ausnahmeerscheinung:<br />
Kurt Tucholsky (1890-1935). FOTO: ULLSTEIN<br />
Marc Deckert: Die Kometenjäger.<br />
Roman. btb<br />
Verlag, München 2012.<br />
416 Seiten, 19,99 Euro.<br />
dem Lebenswandel des ebenfalls klein gewachsenen,<br />
zu dicken und stets eleganten<br />
Frauenbetörers und Vielschreibers Gottfried<br />
Benn.<br />
Hinweise auf solche Korrespondenzen<br />
gibtesinHosfeldsBuchnicht.Hieraberhätte<br />
sich ein interessantes Feld generationeller<br />
Differenzen wie Gemeinsamkeiten erschließen<br />
lassen, aus einem individuellen<br />
Schriftsteller-hätteeinGenerationen-,daraus<br />
ein Zeitporträt entstehen können.<br />
Mehrnoch,dasPorträteines mitseiner Geburtsstadt<br />
innig verbundenen jüdischen<br />
Mannes, der Deutschland 1924 verließ,<br />
aber immer eines blieb – Berliner, wie der<br />
fast durchgängige Gebrauch der heimischen<br />
Mundart in seinen publizistischen<br />
Texten wie auch persönlichen Briefen<br />
zeigt.<br />
Ja,Berlin,daswiederfastsogroßundbedeutendistwie<br />
ehedem.Mithilfe dieserKapitalehättensichPeterPanter,TheobaldTiger,<br />
Ignaz Wrobel, Kaspar Hauser, wie Tucholskys<br />
Pseudonyme lauteten, näher an<br />
den Leser heranrücken lassen. Tucholsky,<br />
einer, der durch die Straßen Berlins geht<br />
wie Du und ich, ferne Zeiten nahgestellt.<br />
Hat da nicht einer vergebens versucht, zu<br />
Hause zu sein?<br />
Ohnesolcheinetopographisch-biografische<br />
Empathie hinterlässt Hosfelds Buch<br />
mehr Fragen als Antworten. Vielleicht<br />
nicht das Schlechteste, um sich wieder einmal<br />
ausführlich dem Original zu widmen.<br />
THOMAS MEDICUS<br />
RolfHosfeld: Tucholsky. Ein deutsches Leben. Biografie.<br />
Siedler Verlag, München 2012. 318 Seiten. 21,99<br />
Euro.<br />
Leichtigkeit und<br />
Schadenfreude<br />
Ein italienischer Bestseller sucht<br />
die Augenblicke des Glücks<br />
Seit jeher zerfällt die Philosophie in zwei<br />
ethische Lager. Die einen erklären die Tugend,die<br />
anderen dieLustoderdasGlück–<br />
hier schwankt die Terminologie – für den<br />
Daseinszweck und das höchste Ziel des<br />
Menschen.<br />
In der Antike hießen die einen Stoiker,<br />
die anderen Epikureer, aber der Grundunterschied<br />
der zwei Lager besteht fort bis<br />
auf den heutigen Tag. Doch ebenso hat die<br />
Schule der Lust in der Philosophie schon<br />
immer die Tendenz gehabt, ihrer Konkurrentin<br />
ähnlicher zu werden, als ihr lieb sein<br />
konnte: Denn wer das Glück so ernst<br />
nimmt, wie es das verdient, der fängt an,<br />
Programme aufzustellen und Pläne zu<br />
schmieden, die ihm eine ziemliche Konsequenz<br />
abverlangen, diese bekanntlich anstrengendste<br />
aller Tugenden. Trinkt ruhig<br />
Wein, bescheidet Epikur seine Schüler,<br />
aber trinkt nicht zu viel, denn der Kater<br />
morgen wird ein größeres Übel sein, als der<br />
Rausch ein Gut war! Und so läuft auch hier<br />
alles zuletzt auf das langweilige Maßhalten<br />
hinaus.<br />
Wer das ändern und das Glück in seiner<br />
wahren, seiner spontanen und flüchtigen<br />
Gestalt treffen will, der sollte sich des<br />
Wunschs nach Dauer und System enthalten.<br />
So nennt der Schriftsteller und Drehbuchautor<br />
Francesco Piccolo sein jetzt auf<br />
Deutsch erschienenes Büchlein nicht „Vom<br />
Glück“,sondern„VonGlücksmomenten“–<br />
wohlwissend,dassmandemGlückeherbegegnet,<br />
wenn man Geistes- und Seelengegenwart<br />
hat, als dass man es mit einer ausgeklügelten<br />
Diät herbeizwingt.<br />
Kein Zufall dürfte es sein, dass dieser<br />
Autor aus Italien stammt, wo das Buch ein<br />
Bestseller wurde: Dort stehen die großen<br />
ZeichenderzeitaufResignation–umsoverlockender<br />
erscheint die Aussicht, im Kleinen<br />
darunter wegzutauchen. Und dann ist<br />
dieses Land die alte Heimstattdes „Furbo“,<br />
des Schlaukopfs und Schelmen, der<br />
gewandt improvisierend seinen Vorteil<br />
sucht, aber zugleich durch seinen Charme<br />
zu verhindern weiß, dass man es ihm je<br />
übel nimmt. Nicht nur nimmt er es sich<br />
heraus, in zweiter Reihe zu parken, sondern<br />
er lässt die Leute auch ruhig erst mal<br />
hupen, trinkt in Ruhe seinen Kaffee aus<br />
und hebt dann – ganz wichtig! – die Hand<br />
in einer Geste, die als Entschuldigung firmiert,<br />
vor allem aber die Zufriedenheit mit<br />
sichselbst bekundet.Das isteinGlücksmoment<br />
für den eingefleischten italienischen<br />
Stadtbewohner, da erfährt er sich selbst<br />
und seine Stadt.<br />
Wie schön ist das: In zweiter<br />
Reihe parken. Und die Leute<br />
erst mal ruhig hupen lassen<br />
Auch sehr zartfühlend kann er sein, ja<br />
es wohnen ihm erlösende Fähigkeiten inne.<br />
„Alle Menschen, die nicht gut aussehen<br />
oder hässlich sind, werden, wenn du sie<br />
dann kennenlernst, auf einmal schöner, jedes<br />
Mal.“ In seinem Erstaunen über diesen<br />
Tatbestand ahnt man etwas von dem Geschenk,<br />
dass er seinem Gegenüber zu machen<br />
versteht.<br />
Aber zum Tugendbolzen wird er darüber<br />
nicht. Er weiß, wie viel Augenwischerei<br />
und Selbsttäuschung in der üblichen<br />
höflichen Rücksichtnahme liegt. „Auf Zehenspitzen<br />
über den frisch gewischten Boden<br />
zu laufen, mit einer Muskelanspannung,<br />
die einem vormachen möchte, man<br />
sei so leicht geworden, dass der Boden<br />
nichtschmutzigwird.“DieserVorgangwürdenichtausnahmslosjedenbeglücken,keinesfalls<br />
den Nordländer mit seinem unironischen<br />
Schwergewicht, der die Zerstörung<br />
des fremden Reinigungswerks nur in<br />
Bekümmerung vollzöge. Man muss den<br />
Wunsch, man wäre leicht, wie eine echte<br />
Leichtigkeit erleben und zugleich über deren<br />
illusorischen Charakter lachen können,<br />
damit man die kleine Komödie genießt<br />
und die Putz- oder Hausfrau einlädt,<br />
mitzulachen.<br />
Generell, das lernt man in diesem Buch,<br />
sind es seelisch komplexe und schwebende<br />
Zustände, die das Glück anziehen wie der<br />
Blitzableiter den Blitz. Schadenfreude gehört<br />
ganz gewiss zu den unschönsten<br />
menschlichen Zügen. Aber auch sie hat ihre<br />
anmutigen Augenblicke. Wenn man beispielsweise<br />
im Zug eine Platzreservierung<br />
hat, finde man sich erst im letzten Moment<br />
ein. Der Platz ist dann natürlich längst von<br />
einem unbefugten Zeitgenossen okkupiert,<br />
der auf die Uhr blickt und inständig<br />
hofft, der rechtmäßige Eigentümer möge<br />
nicht kommen. Früher, berichtet Francesco<br />
Piccolo, wäre ihm ein solches Zusammentreffen<br />
peinlich gewesen. „Heute, da<br />
ich ein Arsch geworden bin, freut es mich.<br />
‚Entschuldigen Sie, aber dieser Platz ist eigentlichbesetzt.‘UndichzückedieFahrkarte.<br />
Ich sage extra eigentlich, damit er noch<br />
eine Sekunde länger hoffen kann, ich würde<br />
hinzufügen: Aber das macht nichts.<br />
Doch ich rühre mich nicht von der Stelle.<br />
Und er macht sich davon, gekränkt, fast als<br />
würde er abhauen, auf der Suche nach einem<br />
anderen Platz.“<br />
Man lausche dem beiläufig geäußerten,<br />
aber tiefen Wohlgefühl, mit der hier ein<br />
Arschsichalssolcheneinbekennt.Nicht naturwüchsig<br />
ist er es, sondern geworden in<br />
einem langen Prozess der Reifung und Befreiung.<br />
Ja, man muss sich wohl doch<br />
grundsätzlich entscheiden, ob man im Leben<br />
die Tugend oder das Glück will. Und<br />
will man das Glück, dann gewährt das Laster,<br />
obschon in kleinen Dosen, eine besondere<br />
Befriedigung. BURKHARD MÜLLER<br />
Francesco Piccolo: Von Glücksmomenten. Aus dem<br />
Italienischen von Birte Völker. Insel Verlag, Berlin<br />
2012. 141 Seiten, 14,95 Euro.