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16 HBG WIRTSCHAFT<br />

Montag, 16. Juli 2012, Nr. 162 DEFGH<br />

INTERVIEW: MARC BEISE UND<br />

KARL-HEINZ BÜSCHEMANN<br />

Ein gewaltiger Raum für ein paar<br />

Irdische. Norbert Lammert, 63,<br />

hatindasweitläufigeRepräsentationszimmer<br />

des Bundestagspräsidenten<br />

im Reichstag gebeten. Hier werden<br />

ausländische Gäste empfangen. Ein großer<br />

runder Tisch und eine ausladende Sitzgruppe<br />

aus schwarzem Leder. In der sitzt<br />

der zweithöchste Repräsentant des Staates<br />

(nach dem Bundespräsidenten), um mit<br />

den Interviewern über Politik und Wirtschaft<br />

zu sprechen. Norbert Lammert beginnt<br />

leise und langsam, wägt jedes Wort.<br />

Im Lauf des Gesprächs wird er Fahrt aufnehmen,eskannsogarheftigwerden.Lammert<br />

sorgt sich um die Akzeptanz der<br />

Marktwirtschaft und der Demokratie. Er<br />

prangert Missstände an.Kürzlich hat er die<br />

unbekümmerteSuspendierungder Altersgrenze<br />

für Manager beim Großkonzern<br />

VW zugunsten des dort allmächtigen<br />

75-jährigen Aufsichtsratschef Ferdinand<br />

Piëch kritisiert, die sogar ohne Begründung<br />

erfolgt sei, „weil es für Außerirdische<br />

offensichtlich gar keiner Begründung bedarf“.<br />

Zum Gebaren von Managern hat der<br />

Bundestagspräsident noch mehr zu sagen,<br />

und auch zur Euro-Rettung und zum Verhältnis<br />

von Markt und Staat.<br />

SZ: Herr Lammert,in der Euro-Krise treiben<br />

die Finanzmärkte die Regierungen<br />

unddiesedieParlamentevorsichher.Entscheidungen<br />

werden durchgepeitscht.<br />

WielangewollenSiealsBundestagspräsident<br />

sich das noch gefallen lassen?<br />

Norbert Lammert: Der Eindruck kann entstehen,<br />

ist aber nicht ganz richtig. Dass in<br />

Krisen Regierungen handeln und Parlamenteeineeherbeobachtendeundeinenotarielle<br />

Rolle haben, ist normal. Deswegen<br />

ist nicht auffällig, dass es einen AktionismusaufRegierungsseitegibt.Deraußergewöhnliche<br />

Punkt ist,dass esin solchen Krisensituationen<br />

zum Ausbau parlamentarischer<br />

Beteiligung kommt.<br />

Die Erkenntnis, dass der Bundestag in<br />

der Krise nicht etwa ohnmächtiger wird,<br />

sondern sogar mehr Macht erhält, haben<br />

Sie exklusiv.<br />

Dasglaubeichnicht.InkeinerLegislaturperiode<br />

hat es einen stärkeren Zuwachs an<br />

parlamentarischer Mitwirkung gegeben<br />

alsindieser,sodassparallelzurMedienvermutung<br />

einer Marginalisierung von Parlamenten<br />

in der Realität das genaue Gegenteil<br />

stattfindet.<br />

Woran machen Sie das fest?<br />

Europäische Angelegenheiten, die bis vor<br />

wenigen Jahren rein exekutives Handeln<br />

waren, sind seit dem Lissabon-Urteil des<br />

Bundesverfassungsgerichts und dem daraus<br />

entwickelten Parlamentsbeteiligungsgesetz<br />

die Umwidmung der Europapolitik<br />

in Innenpolitik mit anderen Mitteln. Seitdem<br />

muss bei allen europäischen InitiativendasParlamentbeteiligtwerden.Wirhaben<br />

in Deutschland zum ersten Mal eine<br />

Rollenverteilung, die in der Parlamentsgeschichteuntypischist,dasswirbeiinternationalen<br />

Verhandlungen quasi mit am<br />

Tisch sitzen, und am Ende über einen Vertragstext<br />

votieren, dessen Entstehen wir<br />

begleitet haben.<br />

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Innenpolitischhat dieses Verfahren aber<br />

einen Preis. Die Menschen haben den<br />

Eindruck,dassalleuntereinerDeckestecken,dassfürRettungsschirmeundBanken<br />

Milliarden Euro dasind und für soziale<br />

Probleme kein Geld.<br />

Das ist wohl wahr. Eine Wirtschaftsordnung<br />

verliert Akzeptanz, wenn den Leuten<br />

die Plausibilität der Zusammenhänge abhandenkommt.DiemeistenMenschenwollen<br />

nicht alle Einzelheiten übersehen, aber<br />

siewollendenEindruckhaben,dassdie Akteure<br />

mit der gebotenen Sorgfalt und Redlichkeit<br />

am Werk sind.<br />

Diesen Eindruck haben viele Bürger erkennbar<br />

nicht mehr. Für wie gefährlich<br />

halten Sie diese Erosion des Systems?<br />

Die halte ich für beachtlich. Das ist nichteine<br />

kurzfristige Schlechtwetterfront, sondern<br />

ein seit langem erkennbarer Klimawechsel.<br />

Nicht irreversibel, aber sehr ernst<br />

zu nehmen.<br />

Ist der zunehmende Zweifel an der Wirtschaftsordnung<br />

sogar eine Gefahr für<br />

die Demokratie?<br />

Im Ergebnis ja. Wenn das Grundvertrauen<br />

in die Wirtschaftsordnung verloren ginge,<br />

Der CDU-Politiker Norbert Lammert im Reichstag in Berlin, hinter sich das Bundeskanzleramt. Krisenzeiten sind Sternstunden der Exekutive, aber der Deutsche Bundestag<br />

schlägt sich nicht schlecht, findet dessen Präsident. „Wir sitzen bei internationalen Verhandlungen quasi mit am Tisch“, sagt Lammert.<br />

„Gigantische Einkommensunterschiede,<br />

die nicht zu rechtfertigen sind“<br />

Verdacht der Selbstbedienung: Bundestagspräsident Norbert Lammert kritisiert die Managergehälter,<br />

beklagt einen Vertrauensverlust für das Wirtschaftssystem und beschreibt die Rolle des Parlaments bei der Euro-Rettung<br />

hätte das Folgen für das politische System.<br />

Die Systeme sind zu eng miteinander verbunden.<br />

Dazwischen kann man keine<br />

Brandmauern errichten.<br />

Wie kann man das Vertrauen in die Wirtschaftsordnungwiederfestigen?SindIhnen<br />

die Spitzenkräfte der deutschen<br />

Wirtschaft dabei eine Hilfe?<br />

Wirkönnen,was Qualifikationund Verantwortungsbewusstsein<br />

des deutschen Managements<br />

angeht, mit anderen Ländern<br />

gut mithalten. Leider werden aber einige<br />

Übertreibungen, die in anderen Ländern<br />

begonnenhaben,auchin deutschenUnternehmen<br />

praktiziert.<br />

Sie denken an die Spitzengehälter?<br />

Ja, da gibt es seit Jahren einen fröhlichen<br />

Überbietungswettbewerb, der nicht immer<br />

mit stichhaltigen Begründungen die<br />

Unvermeidlichkeit einer Einkommensspirale<br />

nach oben vortäuscht.<br />

VW-Vorstandschef Martin Winterkorn<br />

hat einen Rekordgewinn von 16 Milliarden<br />

Euro geschafft. Dann kann er doch<br />

17 Millionen Euro verdienen?<br />

Ich will mich nicht zu einzelnen Fällen äußern,<br />

aber gerne etwas zu den Corporate-<br />

Governance-Vereinbarungen sagen, die<br />

dieManageralsSelbstregulierungderWirtschaftöffentlichverkündethaben.Dazugehörtauch<br />

die Vereinbarung vonGehaltsbegrenzungen,<br />

von denen sich Unternehmen<br />

aber, wenn es halt nicht passt, möglichst<br />

unauffällig verabschieden.<br />

WelchesGehaltist angemessen?17Millionen<br />

sicher nicht – kann man das so sagen?<br />

Sie können das so sagen, und manche langjährige<br />

Spitzenmanager sagen das inzwischenöffentlichauch.Ichsageesso:Esgibt<br />

gigantische Einkommensunterschiede in<br />

denUnternehmen,selbstzwischenderersten<br />

und der zweiten Leitungsebene. Das ist<br />

nicht zu rechtfertigen, schon gar nicht mit<br />

entsprechenden Leistungs- und Verantwortungsdifferenzen.<br />

Das ist die Verselbständigung<br />

der Gehaltsfindung, die den<br />

Verdacht der Selbstbedienung nahe legt.<br />

Sind Sie über diese Entwicklung als Politiker<br />

richtig sauer?<br />

Ich bin gelegentlich fassungslos über die<br />

Gedankenlosigkeit oder die Skrupellosigkeit,<br />

mit der solche Ansprüche geltend gemacht<br />

und durchgesetzt werden. Das gilt<br />

insbesondere für Klagen zu verweigerten<br />

Bonizahlungen der Finanzmakler, die offenkundig<br />

kein Problem damit haben, die<br />

Folgen ihrer eigenen Fehleinschätzungen<br />

und misslungenen Wettgeschäfte beim<br />

Steuerzahler anzumelden und gleichzeitig<br />

ihrevertraglichbegründetenBonusleistungenbeiordentlichenGerichtenfürsichpersönlich<br />

einzufordern.<br />

Noch einmal: Was ist ein gerechtes Gehalt?<br />

Was ist Ihr Maßstab?<br />

Ich bin nicht treuherzig genug, um eine bestimmtemathematischeRelationalsangemessen<br />

oder ethisch begründbar auszugeben.<br />

Da traue ich dem Wettbewerb mit sei-<br />

nem Kontrollmechanismus mehr Augenmaß<br />

und Steuerungskraft zu als noch so<br />

gut gemeinten statistischen Vorgaben. Es<br />

gibtjaauchlängstinderWirtschafteineDebatte,<br />

auch wenn ich nicht erkennen kann,<br />

dasssiesichinverändertenVerhaltensmustern<br />

niederschlägt.<br />

Sondern?<br />

Es ist doch offensichtlich so, dass die erstaunliche<br />

Wiederherstellung der Wettbewerbsfähigkeit<br />

der deutschen Wirtschaft,<br />

die noch vor 15 Jahren im Ausland als kranker<br />

Mann Europas galt, ganz wesentlich<br />

der Lohn- und Gehaltsdisziplin der Beschäftigten<br />

zu verdanken ist, deren ReallöhnesichindiesemZeitraumkaumverändert<br />

haben. Die einzige auffällige Veränderung<br />

hat in den Vorstandsetagen stattgefunden.<br />

Was folgt daraus?<br />

EsgibtinUmfragenseiteinigenJahrenstabile<br />

hohe Mehrheiten, die die UngerechtigkeitderEinkommens-undVermögensverteilung<br />

beklagen. Der geringste Anteil befindet<br />

sich bei FDP-Wählern, und selbst<br />

hier liegt er bei 65 Prozent. Der Krug geht<br />

so lange zum Brunnen, bis er bricht.<br />

In der Wirtschaft selbst sehen manche<br />

Manager dieses Problem auch. Sie setzenauffreiwilligeVerhaltensregeln.Reichen<br />

Appelle noch?<br />

IchhabenichtdenEindruck,dassdieSelbstverpflichtungen<br />

wirklich ernst genommen<br />

werden. Ich kann den Unternehmen nur<br />

empfehlen, die öffentliche Wirkung ihrer<br />

Entscheidungen nicht zu unterschätzen.<br />

Sie müssen statt gesetzlicher Regelungen<br />

eigene ethische Ansprüche wirtschaftlichen<br />

Handelns Realität werden lassen.<br />

Wenn es aber freiwillig nicht geht, brauchenwirdanndochmehrgesetzlicheRegeln<br />

- auch zur Gehaltsfindung?<br />

Ich würde eine nichtgesetzliche Regelung,<br />

die begründete Flexibilitäten erlaubt, einer<br />

gesetzlichen Regelung vorziehen, die<br />

der Natur der Sache nach ausnahmslos gilt<br />

und keine Berücksichtigung von Einzelfällengestattet.AberwennessolcheVerpflichtungen<br />

nicht gibt oder sie in der Realität<br />

leerlaufen, dann wächst der Druck zu gesetzlichen<br />

Regelungen.<br />

In der Wirtschaft hört man oft die Klage,<br />

die meisten Politiker hätten keine Ahnung<br />

von Wirtschaft,fürdie Zusammenhänge<br />

beim Euro gelte das erst recht …<br />

WärederüberlegeneSachverstanddervermeintlichen<br />

Experten die natürliche<br />

GrundlagefürzielgerichtetesHandeln, hätte<br />

esdieTurbulenzen aufden Finanzmärkten<br />

nie geben dürfen. Ich erinnere mich,<br />

dass der verzweifelte Appell der Finanzakrobaten<br />

an den Staat, den diese für das<br />

letzte verbliebene Hindernis für die Effizienz<br />

der Märkte gehalten haben, den totalen<br />

Zusammenbruch der Finanzmärkte<br />

erst verhindert hat. Soviel zum Thema,<br />

dass die einen was von der Sache verstehen<br />

und die anderen ahnungslos sind.<br />

Der Versuch, die europäische Schuldenkrise mit immer mehr Geld zu lösen, ist gescheitert,<br />

sagt Norbert Lammert. „Unser Problem ist nicht, dass zu wenig Geld im<br />

System ist, sondern dass es zu wenig Regeln gibt.“ FOTOS: JENS NEUMANN/VISUM<br />

Heißt das auch, dass Sie auf den Rat von<br />

Wirtschaftsvertretern nichts geben? Wo<br />

suchen Sie persönlich Rat?<br />

Selbstverständlich haben wir alle unsere<br />

Kontakteauch indieWirtschaft.Politikfindet<br />

doch nicht unter einer Glasglocke statt,<br />

sondern als dauerhafter Feldversuch mit<br />

ständigen absehbaren und nicht absehbaren<br />

Herausforderungen und Konfrontationen.<br />

Das spürt doch jeder Abgeordnete,<br />

wenn Unternehmen in seinem Wahlkreis<br />

Schwierigkeiten haben und sich melden<br />

und viele auch den regelmäßigen Kontakt<br />

pflegen, weil sie am Ort eine besondere Bedeutung<br />

haben. Immer, wo es Branchenproblemegibt,gibtesdenorganisiertenDialog.<br />

Es gibt ja auch die Gespräche mit Verbänden.<br />

ManchePolitikerbeklagendenvielstimmigen<br />

Chor der Experten.<br />

Ich tue das nicht. Ich wäre eher erstaunt,<br />

wennalleeinerMeinung wären. Aber wenn<br />

die Fachleute zu sehr unterschiedlicher<br />

Einschätzung der Lage und extrem unterschiedlichen<br />

Handlungsempfehlungen<br />

kommen, dann sollte man der Politik nicht<br />

den Vorwurf machen, sie folge mit mangelndem<br />

eigenen Sachverstand nicht den<br />

luziden Empfehlungen der Wissenschaften.<br />

Wenn nicht einmal die Experten wissen,<br />

wo es langgeht, wie können Sie dann als<br />

Politiker überhaupt zuverlässige Entscheidungen<br />

treffen?<br />

Politische Entscheidungen sind in erheblichem<br />

Ausmaß kollektive Plausibilitätstests.<br />

Klingt gut. Was heißt das konkret?<br />

Das Geheiminis der erfolgreichen Arbeit<br />

vonParlamenten besteht darin,dass regelmäßig<br />

eine kleine Gruppe von tatsächlichen<br />

oder vermeintlichen Experten einer<br />

wesentlich größeren Zahl von Kolleginnen<br />

undKollegen,dienichtExpertensind,plausibel<br />

zu machen versucht, warum sie sich<br />

so oder anders verhalten sollen. Sie müssen<br />

90 Prozent der Kollegen überzeugen,<br />

die mit so simplen Fragen kommen wie:<br />

Warum? Warum jetzt? Warum so? Dieser<br />

Test auf den gesunden Menschenverstand<br />

isteinesognadenloseundzugleichsoeffiziente<br />

Form der kollektiven Urteilsbildung,<br />

dassdarauszwar seltengenialische Lösungen<br />

kommen, aber auch ganz selten große<br />

Flops.<br />

Könnte es nicht sein, dass dieses System<br />

beim Euro an seine Grenze kommt? Die<br />

Fragen sind so kompliziert, und der<br />

Druck der Finanzmärkte ist so groß wie<br />

nie zuvor.<br />

Es spricht genauso viel für die umgekehrte<br />

These, dass gerade bei einem so komplexen<br />

Thema, bei dem die Risiken so hoch<br />

sind,beidemderRatderExpertensouneinheitlich<br />

ist wie bei diesem, das von mir geschilderte<br />

Verfahren umso dringlicher ist.<br />

Wie funktioniert das beim Euro?<br />

Es gibt kein anderes Thema, um das sich so<br />

vieleKollegenjenseitsihrerjeweiligenfachlichen<br />

Ausrichtung so intensiv kümmern,<br />

mit dem sie sich so quälen wie mit diesem,<br />

von dem die allermeisten in einem ruhigen<br />

Gespräch sagen würden: Ich habe davon<br />

keine ausreichende Kenntnis, aber ich<br />

weiß, dass ich dazu votieren muss, und ich<br />

will es wenigstens subjektiv mit gutem Gewissen<br />

zu tun. Deshalb ist der Vorwurf des<br />

Durchpeitschens auch so falsch.<br />

Sie fühlen sich nicht unter Zeitdruck gesetzt?<br />

Naklar, wir allestehen pausenlos durch die<br />

Entwicklung der Märkte unter Zeitdruck.<br />

Ich würde es sehr begrüßen, wenn wir uns<br />

mal wieder anderen Themen mit ähnlicher<br />

Liebe zuwenden können, wie wir es jetzt<br />

seit vier Jahren mit den Themen des Finanzmarktes<br />

machen, wo uns der erdrückende<br />

Sachverstand derjenigen, die davon<br />

mehr verstehen als die Politiker, von<br />

Monat zu Monat mit neuen Fragestellungen<br />

beglückt.<br />

Was war für Sie die schwierigste Entscheidung<br />

in der Finanzkrise?<br />

Die dramatischste Situation, die ich je erlebt<br />

habe, war diese berühmte Woche im<br />

Herbst 2008, als wir zur Abwehr eines drohenden<br />

Kollaps der Weltfinanzmärkte mal<br />

eben in fünf Tagen einen Rettungsschirm<br />

über 480 Milliarden Euro errichtet haben.<br />

Eine Summe, beinahe doppelt so hoch wie<br />

der damalige Bundeshaushalt. Diese EntscheidungwarsichernichtüberjedenZweifel<br />

erhaben, aber ich halte sie für eines der<br />

Glanzstücke unseres politischen Systems,<br />

auch unter dem Aspekt der Belastbarkeit<br />

unserer politischen Kultur. Schließlich haben<br />

alle Fraktionen und alle Angeordneten,<br />

unabhängig von ihrer späteren EntscheidunginderSache,ineinembeispiellosen<br />

Verfahren der Verkürzung aller üblichen<br />

parlamentarischen Fristen zugestimmt.<br />

Nun allerdings hält das Bundesverfassungsgericht<br />

das ganze Verfahren auf,<br />

es berät womöglich länger über den zwischen<br />

den Regierungen bereits ausgehandelten<br />

Rettungsschirm ESM, als die<br />

Finanzmärkte Geduld haben.<br />

Das werden die Märkte wohl aushalten<br />

müssen.IchhabedieBerechtigungderKläger,<br />

das Euro-Thema dem höchsten deutschen<br />

Gericht vorzulegen, immer vertreten,<br />

auch wenn ich ihre Einschätzung nicht<br />

teile.Karlsruhe sollnichtden Sachverständigenrat<br />

ersetzen. Es hat die Aufgabe, VerträgeundGesetzeaufihreVerfassungskonformität<br />

zu überprüfen. Je wichtiger ein<br />

Thema ist, desto angemessener ist doch eine<br />

solche Prüfung.<br />

Der ehemalige Bundesverfassungsrichter<br />

Paul Kirchhof sagt, eine Instabilität<br />

desRechtswiegeschwereralseineInstabilität<br />

der Finanzen. Um die Herrschaft<br />

des Rechts wieder herzustellen, müsse<br />

man notfalls sogar Wohlstandsverluste<br />

in Kauf nehmen. Stimmt das?<br />

Selbstverständlich. Wenn überhaupt, ist<br />

eher hinzunehmen, dass die Erwartungen<br />

der Märkte durch unsere Rechtsordnung<br />

enttäuscht werden, als umgekehrt unsere<br />

Rechtsordnung durch die Verselbständigung<br />

der Märkte. Unser Problem ist nicht,<br />

dass zu wenig Geld im System ist, sondern<br />

dass es zu wenig Regeln gibt. Der Versuch,<br />

die Probleme mit immer mehr Geld zu lösen,<br />

ist erkennbar gescheitert.<br />

TragendiePolitikernichteineMitverantwortung,<br />

weil sie durch großzügige<br />

Schuldenpolitik einen Beitrag zur Finanzkrise<br />

geleistet haben?<br />

Zweifellos. Aber es geht eben nicht nur um<br />

Staatsschulden, sondern auch um eine Finanzkrise<br />

wegen nicht ausreichender Regulierung.<br />

Die Ökonomen haben uns vor<br />

zehnJahrenweisgemacht,dieFinanzmärkte<br />

müssten immer weiter liberalisiert werden.<br />

Die Politik hat diesem Trend zu großzügig<br />

nachgegeben mit der Folge, dass sich<br />

die Gewichte verschoben haben. DeswegenhabenauchbeideSeitenAnlasszurDemutund<br />

vergleichsweise wenig Grund,mit<br />

stolz geschwellter Brust über das makelloseVerhalteninderVergangenheitaufdiejeweils<br />

andere Adresse zu zeigen.<br />

Und wie geht es nun weiter?<br />

NunmüssenwirdieverschobenenGewichte<br />

zwischen Staat und Markt in eine neue<br />

Balance bringen. Das ist eine mühsame<br />

Aufgabe. Aber sie ist nicht aussichtslos.<br />

Norbert Lammert<br />

Der CDU-Politiker stammt aus dem Ruhrgebiet.<br />

In Bochum wurde er 1948 als erstes von<br />

siebenKindern geboren,dort ist er bis heute –<br />

nunmit eigenerFamilie, Frauund viererwachsenen<br />

Kindern – zu Hause. Sein Vater war Bäckermeister,<br />

der Sohn ging auf das altsprachlich-humanistische<br />

Gymnasium. Er studierte<br />

Politik, Soziologie, Geschichte und Sozialökonomie,<br />

1972 promovierte er zum Doktor der<br />

Sozialwissenschaften. Früh fand er indie Politik.<br />

Zunächst neben der freiberuflichen Tätigkeit<br />

als Dozent in der Erwachsenenbildung,<br />

stieg er in der Kommunal- und Landespolitik<br />

rasch auf. 1980 wurde er erstmals in den Bundestaggewählt.<br />

Inder Ära Kohlwar der „geübte<br />

Strippenzieher“ (so die Einschätzung von<br />

Kollegen) lange JahreStaatssekretär, nacheinanderin<br />

den Ministerienfür Bildung-und Wissenschaft,<br />

Wirtschaft und Verkehr. In der rotgrünen<br />

Ära war er kultur- und medienpolitischer<br />

Sprecher der CDU/CSU-Fraktion, seit<br />

2005 ist er Präsident des Deutschen Bundestags.<br />

Lammert gilt als ehrlich, fachkundig,<br />

selbstbewusst bis eigensinnig, das Gegenteil<br />

eines„Parteisoldaten“.Die Bundestagsdebatten<br />

lockert er mit seinem Sinn für Ironie und<br />

seinem Humor auf. In diesem Jahr entließ er<br />

seine Abgeordneten mit der Mahnung in die<br />

Sommerpause, sie möchten mit Sondersitzungen<br />

wegen des Euro rechnen: „Schwimmen<br />

Sie nicht zu weit hinaus und achten Sie<br />

darauf, das Handgepäck immer griffbereit zu<br />

haben.“ Und tatsächlich: In dieser Woche tritt<br />

der Bundestag wieder zusammen – außerplanmäßig,<br />

um über die Milliardenhilfe für<br />

Spaniens Banken zu entscheiden.

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