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FEUILLETON<br />

DEFGH Nr. 162, Montag, 16. Juli 2012 HBG 9<br />

Diebe spielen Theater<br />

Wie Rumänien in die Weltpresse kam Von Richard Swartz<br />

In einem satirischen Theaterstück von Ion<br />

Luca Caragiale, der Gründergestalt des rumänischen<br />

Dramas, kommt ein Mann in<br />

seinen besten Jahren in einen Salon gestürzt,indemdieDamendesHausesmitihren<br />

Handarbeiten und Kaffeetassen herumsitzen.<br />

Warum so empört? Weil er nicht<br />

ins Parlament gewählt worden ist.<br />

Ein Skandal! Er, der Herr des Hauses, Mitglied<br />

aller in diesem Lande existierenden<br />

Parteien!<br />

Ion Luca Caragiale geißelte die rumänische<br />

Gesellschaft des späten 19. Jahrhunderts<br />

um die vorvorige Jahrhundertwende.<br />

Doch haben seine Stücke nichts von ihrer<br />

Aktualität verloren. Die Politik in Rumänien<br />

ist absurdes Theatergeblieben,eine Angelegenheit<br />

nicht für die Gesellschaft, sondern<br />

nur für eine kleine Schar von Eingeweihten.<br />

Der letzte russische Zar war der<br />

gleichen Meinung – auch wenn ihm Caragiales<br />

gutmütiger Zynismus fehlte –, als er<br />

erklärte,eshandlesichimFallderRumänien<br />

nicht um eine Nation, sondern um einen<br />

Beruf.<br />

Das absurde Theaterlebt vom absoluten<br />

Auseinanderfallen von Wirklichkeit und<br />

Schein. So ist es auch in der rumänischen<br />

Politik. Nach dem Fall des Kommunismus<br />

wurde Rumänien zwareineuropäischerdemokratischer<br />

Staat, doch nur auf dem Papier.<br />

Die Hinrichtung des Paares Ceausescu<br />

war ein Fall von Lynchjustiz, das darauf<br />

folgende „Gerichtsverfahren“ eine Technik,<br />

ein paar unbequeme Zeugen aus dem<br />

Weg zu räumen. Die Revolution war – wie<br />

sooftaufdemBalkan–einePalastrevolution.<br />

Wer auf wen schoss und aus welchem<br />

Grund, weiß man immer noch nicht so<br />

recht.<br />

Denn die Aufarbeitung der Vergangenheit<br />

wurde sabotiert von Leuten, die einen<br />

Saulus völlig ohne Schmerzen und Risiken<br />

ineinen Paulus verwandelnwollten.Einige<br />

Archive wurden geöffnet, das ist wahr.<br />

Doch das böswillige, absichtlich gestreute<br />

Gerücht ist noch immer ein wichtigeres<br />

Mittel der Politik als Fakten.<br />

Nastase trug auf der Bahre einen<br />

eleganten Schal – ein Dandy, kein<br />

potenzieller Selbstmörder<br />

Gleichzeitig bestehen die alten Seilschaften<br />

fort, die den Übergang aus einem erstarrtenKommunismusin<br />

eine Welt, inder<br />

alles verkauft oder <strong>gekauft</strong> (oder gestohlen)<br />

werden kann, mit Leichtigkeit bewältigt<br />

haben. Die politische Klasse besteht<br />

praktisch aus zwei Lagern: aus dem postkommunistischen,<br />

mit tiefen Wurzeln in<br />

der vorangehenden Epoche, und aus dem<br />

konservativ-liberalen, das unter den neuen<br />

Verhältnissen aus dem ersteren hervorgegangen<br />

ist. Die Unterschiede zwischen<br />

den Lagern sind oft weniger bedeutsam als<br />

dieUnversöhnlichkeit,mit derbeide Seiten<br />

einander bekämpfen.<br />

Doch im Laufe dieses Frühjahrs sind die<br />

Streitigkeitenrascheskaliert.Derpostkommunistischen<br />

Regierung unter dem jungen<br />

Victor Ponta ist es nun sogar gelungen,<br />

Traian Basescu, den konservativen Präsidenten,<br />

von seinem Amt zu suspendieren.<br />

In einer Volksabstimmung am 29. Juli soll<br />

dessen Schicksal nun entschieden werden.<br />

Pontas Regierung hat Basescu persönlich<br />

angegriffen und, im Widerspruch zur Verfassung,<br />

einen Teil von dessen Aufgaben<br />

übernommen – auf eine Weise, die man einen<br />

verschleierten Putsch nennen könnte.<br />

Dieser Coup wird begleitet von umfassenden<br />

Säuberungen in der Staatsverwaltung<br />

und in den Medien, oft ohne juristischen<br />

Rückhalt, wobei zwischen RegierungsparteiundStaatnichtunterschiedenwird.Tatsächlich<br />

ist Ponta während der vergange-<br />

nen zwei Monate schneller und schärfer<br />

vorangegangen als Viktor Orbán im Nachbarland<br />

Ungarn.<br />

Basescu ist gewiss keine Lichtgestalt<br />

wie Václav Havel. Der frühere Kapitän ist<br />

ein schillernder, theatralischer Politiker,<br />

ein Liebhaber großer Gesten, die oft leer<br />

und gelegentlich brutal sind. Auch in seinem<br />

Lager versteht man viel von Korruption<br />

und Vetternwirtschaft. Doch hat er mit<br />

einem strengen Sparprogramm versucht,<br />

die Wirtschaft des Landes zu sanieren, damit<br />

es nicht ein weiteres Griechenland<br />

wird (der Euro soll <strong>angeblich</strong> 2014 eingeführt<br />

werden). Und er hat den Rechtsstaat<br />

respektiert. Das rumänische Verfassungsgericht<br />

ist ihm darin gefolgt und konnte<br />

dennochnichtverhindern, dassermindestens<br />

bis zum 29. Juli nicht mehr im Amt ist.<br />

Doch nichts von alledem – und auch<br />

nicht die Nachricht, dass Ponta nahezu seinegesamte<br />

Doktorarbeit Wort für Wort abgeschrieben<br />

hat – war skandalös genug,<br />

um die dramatische Steigerung eines viel<br />

älterenKonfliktesaufzuhalten:DieseEskalation<br />

geht ausschließlich auf Korruption<br />

zurück.Und ohnedieseKorruptionundderen<br />

Folgen würde Rumänien sich nicht<br />

plötzlich auf den ersten Seiten der Weltpresse<br />

wiederfinden.<br />

Denn als der frühere Premierminister<br />

Adrian Nastase (der zufällig der akademische<br />

Betreuer der Doktorarbeit Pontas<br />

war) wegen Bestechlichkeit zu zwei Jahren<br />

Gefängnis verurteilt wurde, machte das<br />

postkommunistische Lager mobil. Nastase<br />

ist dessen Pate, Ponta nur ein Handlanger.<br />

Nastase ins Gefängnis zu schicken – das<br />

war ein deutliches Signal, dass sich niemand<br />

in der Kleptokratie des Landes sicher<br />

fühlen konnte. Nicht mehr. Und so<br />

musste sie reagieren.<br />

NastasesimulierteeinenSelbstmordversuch.<br />

Als die Polizei ihn holen wollte,<br />

„schoss“ er sich in den Hals (!) und wurde<br />

daraufhinaufeinerBahrezumKrankenwagen<br />

getragen – eingewickelt in einen eleganten<br />

Schal, der diskret verdeckte, was<br />

wohl gar nicht da war. Ein Dandy, nicht ein<br />

potenzieller Selbstmörder, ließ sich so<br />

transportieren.JetztwirderineinemKrankenhaus<br />

„versorgt“. Und Ponta erhielt den<br />

Auftrag, die Macht der Regierung zu nutzen,<br />

das Rechtswesen unter seine Kontrolle<br />

zu bringen und die Geschäfte der politischen<br />

Mafia ein- für allemal zu sichern.<br />

DarumgehtesbeimMachtkampfinRumänien.<br />

Im Unterschied zu Ungarn muss sich<br />

dieses Land in einem solchen Machtkampf<br />

nicht auf so noble Requisiten wie Nation,<br />

Geschichte oder Vaterland berufen. In einer<br />

Art byzantinischem Postmodernismus<br />

ist dieser Konflikt so radikal, wie es einst<br />

Eugène Ionescos Stücke in Pariser Kellern<br />

waren.<br />

Nichtganzunerwartetstehtdie EuropäischeUnionratlosvordiesemneuen,überraschenden<br />

Kapitel in der Geschichte der europäischen<br />

Krise. Die europäischen Linksparteien<br />

scheinen die Augenvor Rumänien<br />

zu schließen, die Rechtsparteien vor Ungarn.<br />

Doch ist diese taktische Solidarität<br />

mit Parteifreunden ebenso feige wie kurzsichtig.<br />

In Caragiales Theaterstück vom<br />

Mann, der nicht gewählt wird, gibt es übrigens<br />

einen politischen Wichtigtuer, der in<br />

einem fort zum Handeln aufruft, weil<br />

„brennende Fragen auf der Tagesordnung<br />

stehen“.<br />

Da hat er recht. Aber getan wird nichts.<br />

Der Autor ist Publizist und Schriftsteller.<br />

Zuletzt erschien von ihm auf Deutsch der Erzählungsband<br />

„Notlügen“ (Hanser Verlag,<br />

München 2012). Er war jahrzehntelang Osteuropa-Korrespondent<br />

der schwedischen<br />

Tageszeitung Svenska Dagbladet. Er lebt in<br />

Wien und in Istrien.<br />

Disco statt Kunst<br />

Zu viele „Events“ im Museum – Aufsichtsrat tritt zurück<br />

Eine Ausstellung zu Street Art haben sie<br />

noch mitgetragen. Auch einen zweiwöchigen,<br />

von Mercedes-Benz bezahlten Partymarathon<br />

und eine spaßige Hommage an<br />

JamesDean.DochalsJeffreyDeitch,derDirektor<br />

des einst renommierten Museum of<br />

Contemporary Art (Moca) in Los Angeles<br />

voreinigenTagen ankündigte,erwerdedie<br />

nächste große Ausstellung der Disco-Ära<br />

widmen, war für John Baldessari, Catherine<br />

Opie und Barbara Kruger Schluss. Sie<br />

tratenals TrusteesimAufsichtsratdesMuseumszurück.<br />

Nun istEd Ruscha der einzige<br />

Künstler, der noch Mitglied des Board<br />

ist.<br />

Begonnen hatte die jüngste Episode mit<br />

der Kündigung von Paul Schimmel, dem<br />

Chefkurator des Museums und einem der<br />

angesehensten Museumsleute Amerikas.<br />

Nun scheint Amerikas wichtigste InstitutionfürzeitgenössischeKunstindieZerfallsphase<br />

einzutreten.<br />

Um die Zukunft des Moca wird gestritten,<br />

seit es im Zuge von Misswirtschaft und<br />

Finanzkrise vor drei Jahren kurz vor dem<br />

Bankrott stand. Eli Broad, der Milliardär<br />

und Über-Mäzen von Los Angeles, rettete<br />

das Haus damals mit einer 30-Millionen-<br />

Spritze.Wenigspäterwar seinWunschkandidat,<br />

der New Yorker Kunsthändler Jeffrey<br />

Deitch, als neuer Direktor installiert.<br />

Sein Auftrag, so erklärte Broad kürzlich in<br />

der LA Times,bestehedarin, dasMocazueiner„populistischenstattinsulärenInstitution<br />

machen“, um ihr Überleben zu sichern.<br />

Nun stellt sich allerdings die Frage,<br />

ob die Populismus-Kur den Tod nicht nur<br />

auf andere Weise herbeiführt.<br />

Wie weit kann eine Kunstinstitution gehen,<br />

um die Kassen zu füllen, bis sie ris-<br />

kiert, ihr größtes Kapital, Renommee und<br />

Autorität,zuverlieren?Nichtnurdie amerikanischen<br />

Museen laborieren seit Jahren<br />

andieserFrageherum. DasMoca war keine<br />

Ausnahme.PaulSchimmelselbst kuratierte<br />

nicht nur forschungsintensive Themenschauen,sondernaucheineMurakami-Retrospektive,<br />

an dessen Ende der Besucher<br />

direkt in einen Louis-Vuitton-Laden geschleustwurde.DasNewYorkerMetropolitan<br />

Museum ließ sich eine Alexander<br />

McQueen-Ausstellung vom Haus Alexander<br />

McQueen nicht nur bezahlen, es überließ<br />

den McQueen-Leuten auch das Ausstellungsdesign.<br />

Und das Guggenheim erklärte<br />

mit „The Art of the Motorcycle“ das<br />

Motorrad zur Kunstform, nur weil BMW-<br />

Geld winkte. Alle drei Ausstellungen wurden<br />

von Besuchern überrannt.<br />

Man hat sich mittlerweile fast daran gewöhnt,<br />

diese Ethik-Brüche zu akzeptieren<br />

–solangesiealsMassenspektakelSpaßmachenundhelfen,anspruchsvollereAusstellungen<br />

zu finanzieren. Am Moca verhält es<br />

sich anders: Mit dem Rauswurf von Paul<br />

Schimmel und den Abgängen von Philipp<br />

Kaiser zum Museum Ludwig und von Ann<br />

Goldstein zum Stedelijk Museum ist klar,<br />

dass Deitch nicht beabsichtigt, je wieder<br />

ProjektewiediederzeitlaufendeLand-Art-<br />

Ausstellung „Ends of the Earth“ anzugehen.<br />

Das ist, so lautet eine Theorie, auch<br />

deshalb im Interesse von Broad, weil das<br />

Museum,dasersichfürseineriesigeKunstsammlung<br />

zur Zeit direkt gegenüber des<br />

Moca bauen lässt, dannerst richtig glänzen<br />

wird. Und sollte der Platz für all seine glänzenden<br />

Jeff-Koons-Hasen nicht reichen,<br />

kann er ja die alte Moca-Hülle mieten.<br />

JÖRG HÄNTZSCHEL<br />

„Beten kann nicht schaden, aber wenn mich eine Religion auf die Knie zwingt, ist sie schlecht.“ – Frank Ocean FOTO: UNIVERSAL<br />

VON JAN KEDVES<br />

Wie hört sich vollständige Isolation<br />

an, kurz vor dem inneren Kollaps?<br />

Wer davon einen Eindruck<br />

bekommen will, der steuere doch bitte<br />

Track 14 an von Frank Oceans Debütalbum<br />

„ChannelOrange“(Universal):Eineelektrische<br />

Kirchenorgel leiert da los, dann steigt<br />

ein junger Afroamerikaner in ein Taxi und<br />

sagt zum Fahrer: „Entschuldigen Sie, dass<br />

ich Sie für eine Stunde als Seelenklempner<br />

missbrauche, nehmen Sie ruhig viele Umwege<br />

und lassen Sie die Uhr laufen – aber<br />

umfahren Sie bitte großräumig meine Dämonen!“<br />

Diese Dämonen heißen gleichgeschlechtliches<br />

Begehren und unerwiderte<br />

Liebe, und sie wollen raus, Hauptsache anonym.<br />

Der Taxifahrer dreht sich rum und<br />

sagt: „Allahu Akbar“ – Gott ist größer. Der<br />

Junge solle beten.<br />

Man wartet in diesem Stück die ganze<br />

Zeit darauf, dass es knallt, dass Bremsen<br />

quietschen, Gewalt angedroht wird. Denn<br />

während sich zum Moll der Kirchenorgel<br />

noch das traurigste Streichquartett gesellt,<br />

das man seit langem im Pop gehört hat, erwidert<br />

der Junge auf der Rückbank: „Beten<br />

kann nicht schaden, aber wenn mich eine<br />

Religion auf die Knie zwingt, ist sie<br />

schlecht.“ Dann singt er in schmerzlichstem<br />

Falsett von einem „one man cult“, womit<br />

Religion genauso gemeint sein könnte<br />

wie eine enttäuschte Liebe. Der Angehimmelte<br />

könnte Gott oder Allah sein. Natürlich<br />

hält man das, was Frank Ocean hier<br />

singt, für autobiografisch. Schließlich hat<br />

der aus New Orleans stammende und in<br />

Los Angeles mit dem Hip-Hop-Kollektiv<br />

Odd Future bekannt gewordene Sänger am<br />

3.JuliinpoetischraffiniertenZeilenöffentlich<br />

gemacht, dass seine erste, unglückliche<br />

Liebe mit 19 ein Mann war.<br />

Das amerikanische Publikum scheint<br />

„Bad Religion“ exakt so zu verstehen – wie<br />

vorletzten Samstag deutlich wurde, als<br />

OceandasStückzumerstenMalinderLate-<br />

Night-Show von Jimmy Fallon live sang,<br />

grandios begleitet von Fallons Hausband<br />

The Roots. Der Jubel im Studio war euphorisch,<br />

als seien die zementierten Moralvorstellungen<br />

und Geschlechterbilder, die in<br />

weiten Teilen der amerikanischen Gesellschaft<br />

und im R&B und Hip-Hop noch immer<br />

herrschen, mit dieser einzigen, kaum<br />

drei Minuten langen Klage endgültig zerschmettert<br />

worden, als müsse sich in Zukunft<br />

niemand mehr von unaussprechlichen<br />

Tabus befreien. Das Debütalbum des<br />

24-Jährigen wurde noch während der Ausstrahlung<br />

der Show um Mitternacht digital<br />

veröffentlichtundstandam nächstenMorgen<br />

schon auf dem ersten Platz der amerikanischen<br />

iTunes-Charts.<br />

Nein, sein Coming-out hat Ocean, der<br />

neue große Star des R&B, bislang nicht geschadet.<br />

Sie passt fast zu perfekt auch zu<br />

ObamasjüngstenWahlkampf-Bekenntnissen<br />

zur gleichgeschlechtlichen Ehe. Die<br />

Welle der Ermutigungen und Glückwünsche<br />

vonRussell Simmons, Jay-Z,Beyoncé,<br />

California Noir<br />

Der amerikanische Sänger Frank Ocean legt mit seinem Debütalbum<br />

„Channel Orange“ das erste echte Pop-Meisterwerk des Jahres vor<br />

Tyler The Creator und vielen anderen war<br />

überwältigend – obwohl eigentlich gar<br />

nicht so klar ist, was dabei ans Licht kam.<br />

Ist er jetzt schwul, bisexuell oder einfach<br />

nicht so ganz festgelegt? Das Rätsel deutetesichimvergangenenJahrschonan,<br />

alser<br />

auf seinem Mixtape „Nostalgia, Ultra“ eine<br />

Zeile sang, die sich als Plädoyer für die Homo-Ehe<br />

lesen ließ: „I believe that marriage<br />

isn’t between a man and woman, but between<br />

love and love“. Fest steht: Frank<br />

Ocean hat die Aufmerksamkeit nun umso<br />

mehr auf sein phantastisches Debüt gelenkt,<br />

auf ein Album, das mit einer Ode an<br />

einenMannbeginnt(„Thinkin’AboutYou“),<br />

aufdem abergenauso Frauen begehrt werden,<br />

ein Album, das neu bestimmt, was<br />

R&B heute sein kann – und ein Album, das<br />

eine Abneigung gegenüber dieser Genre-<br />

Zuschreibung genauso zeigt wie ein Unbehagen<br />

an fixierten Identitäten.<br />

Die Sache mit dem R&B wird am klarsten<br />

im zweiteiligen Zehn-Minuten-Epos<br />

„Pyramids“, dem Herzstück des Albums:<br />

eingebettet in luxuriös schimmernden Digitalsound,<br />

folgen wir hier einer Stripperin<br />

namens Kleopatra auf dem Weg zur Arbeit<br />

im Club Pyramid in Las Vegas. Zwischen<br />

rückwärts gedrehten Funk-Beats, zwischenStrophe<br />

undRefrain,schrillt ein harter<br />

Rave-Synthesizer hervor. Das ist kein<br />

Zugeständnis an den aktuellen Sound der<br />

Billboard-Charts, wo Kirmes-Techno-Referenzen<br />

im R&B längst zum guten Ton gehören.<br />

Eher unterstreicht die Techno-Sirene<br />

Oceans Erzählung, als wolle er sagen:<br />

„Hört genau hin, so klingt das, was ihr heuteR&Bnennt,esscheppertbilligundistdazu<br />

gemacht, Frauen in Strip-Clubs auszuziehen.“<br />

Ein wenig Afrozentrismus gehört<br />

natürlich auch dazu, wenn die schwarze<br />

Heldin des Songs genauso heißt wie jene<br />

Königin, die dem Geschichtsverständnis<br />

der Nubier nach in Ägypten einst die Krone<br />

der Zivilisation trug. Was, scheint Ocean zu<br />

fragen, hat Amerika, was haben Jahrhunderte<br />

Sklaverei und Prostitution aus unserer<br />

Kleopatra gemacht?<br />

Frank Ocean bestimmt in<br />

jeder Hinsicht ganz neu, was<br />

R&B heute sein kann<br />

Es ist keineswegs übertrieben, aus<br />

„Channel Orange“ ein solches Bewusstsein<br />

für Geschichte und Gesellschaft herauszuhören<br />

– auch an anderen Stellen des Albums<br />

scheint diese historische Sensibilität<br />

auf, besonders dort, wo Ocean Gefühle für<br />

Männeräußert.Ertutdiesnieexplizit. Hätte<br />

man in den vergangenen zwei Wochen<br />

nichts über sein <strong>angeblich</strong>es Bekenntnis<br />

zum Schwulsein gehört, würde man an<br />

manchen Stellen nicht auf Ideen kommen.<br />

Ocean scheint sich hier auf genau jenem<br />

Grat bewegen zu wollen, der Homosozialität<br />

von Homophobie trennt. Häufig ist zu<br />

hören, dieTrennlinie, von deran die Zuneigung<br />

unter Männern unter Verdacht steht,<br />

werde besonders in afroamerikanischen<br />

Gemeinschaften, somit auch im Hip-Hop<br />

undR&B,geradezuparanoidbewacht.Religion<br />

mag dafür ein Grund sein, und es gibt<br />

auch die These, im afroamerikanischen<br />

Männerbild stecke noch das Trauma der<br />

„entmännlichenden“ Versklavung.<br />

Das alles mag fraglich sein. Dennoch<br />

scheint sich Ocean zu überlegen, was eigentlich<br />

genau das gesellschaftliche Problem<br />

mit der Männlichkeit ist – zum Beispiel,<br />

wenn er im Song „Forrest Gump“<br />

sein Begehren in ein Footballstadion verfrachtet,<br />

wo die Menge demselben Spieler<br />

zujubelt wie er. Großartig, wie er sich hier<br />

ganze Fan-Chöre dazugebastelt hat, die in<br />

seinen nervös verliebten Refrain einstimmen.<br />

Und das ist nur einer der Sample-<br />

Tricks, die aus diesem Album fast ein Hörspielmachen.<br />

Dazu schraubensich die Melodien<br />

jedes einzelnen Songs tief ins Hirn,<br />

nichts klingt zu süßlich, alles ist mit einer<br />

leicht bitteren Note überzogen. Ocean etabliert<br />

mit „Channel Orange“ für den R&B<br />

tatsächlich einen neuen Stil. Man könnte<br />

ihn California Neo-Noir nennen.<br />

Das einzig Merkwürdige an diesem frühen<br />

Meisterwerk ist, dass am Ende noch<br />

einvölligüberflüssiger,versteckterBonus-<br />

Trackwartet: „Golden Girl“ spielt aneinem<br />

verlockend rauschenden Traumstrand auf<br />

einer Trauminsel, Ocean bezirzt zu lässigem<br />

karibischen Hängemattenbeat eine<br />

Traumfrau, mit der sich Kinder kriegen<br />

und gemeinsam alt werden lässt. Das<br />

Stück ist keineswegs schwach, weil er sich<br />

hier als Familienvater imaginiert. Nur:<br />

Muss die Auserwählte unbedingt in Gold<br />

aufgewogen werden? So wertvoll wie ein<br />

24-Karat-Edelstein sei sie, singt Ocean.<br />

Wo ist da die metaphorische Finesse,<br />

mit der Kleopatra vorher in ihre 15-Zentimeter-Heels<br />

schlüpfte oder mit der Ocean<br />

zuvor den Materialismus ironisiert? „SuperRich<br />

Kids“handelt zu Beginnvontrostlos<br />

reichen Bälgen, die inLader Fights,dem<br />

„schwarzen Beverly Hills“ von Los Angeles,<br />

kistenweise Paradeweinrunterkippen, ohne<br />

überhaupt dessen Namen richtig aussprechen<br />

zu können. Ein Bild vollständiger<br />

Leere, für das sich Ocean den Refrain von<br />

Mary J. Bliges „Real Love“ leiht, einem<br />

Glanzstück des R&Bs der neunziger Jahre,<br />

in dem erfolglos nach der wahren Liebe gesucht<br />

wird. Ganz am Ende des Albums in<br />

„Golden Girl“ soll sich die Suche dann aber<br />

doch abkürzen lassen, ganz einfach mit<br />

Kreditkarte und einem Besuch beim örtlichen<br />

Juwelier?<br />

Es ist eigentlich nicht vorstellbar, dass<br />

dieser schiefe Schlussakkord – der auf einer<br />

LP von Usher vermutlich zu den besseren<br />

Songs gehörte – keine bewusste Entscheidung<br />

war. Sicher wollte Ocean, während<br />

ihn manche längst als neuen Marvin<br />

Gaye oder Stevie Wonder bejubeln, eine<br />

weitere, allzu klare Zuschreibung im großen<br />

Bogen umsteuern – nämlich die, dass<br />

erein unfehlbarespoetischesGenieist.Niemand<br />

soll offenbar behaupten können, er<br />

sei mit seinem allerersten Album schon direkt<br />

bei der Perfektion angekommen.<br />

Feuilleton<br />

Die Stadt Nancy ehrt Jean Prouvé,<br />

den Zenmeister des Blechs<br />

in der Architektur 10<br />

Feuilleton<br />

Die Geigerin Julia Fischer<br />

triumphiert bei den Münchner<br />

Philharmonikern 11<br />

Literatur<br />

Marc Deckerts<br />

gelungener Debütroman<br />

„Die Kometenjäger“ 12<br />

Wissen<br />

Seit der Antike suchen<br />

Naturforscher nach Symmetrie<br />

im Universum 14<br />

R www.sz.de/kultur<br />

HEUTE<br />

NACHRICHTEN<br />

AUS DEM NETZ<br />

So also vergeht der Ruhm in<br />

der digitalen Welt. Noch vor<br />

wenigen Jahren war Digg eines<br />

der vielversprechenden<br />

Phänomene desSocial Web.Auf 150Millionen<br />

Dollar wurde der Wert des Unternehmens2008geschätzt.EsgibtsogarGerüchte,<br />

dass Google im selben Jahr kurz davor<br />

stand, die Seite für 200 Millionen Euro zu<br />

übernehmen. Digg war damals nicht so bedeutend<br />

wie Facebook, nicht einmal so<br />

wichtig wie Twitter. Aber die Seite gehört<br />

zu den Diensten, die am erfolgreichsten<br />

das Setzen von Lesezeichen für andere, das<br />

sogenannte Social Bookmarking, etabliert<br />

haben. Die Idee war es, dass die Community<br />

durch das Drücken des „Digg“-<br />

Knopfes Texte von überall aus dem Netz<br />

aufderSeitehoch–oderrunterwählensollte.<br />

Je populärer sie wurden, desto mehr<br />

Traffic erhielten die Originalartikel.<br />

Am vergangenen Donnerstag wurde<br />

Digg nun für magere 500 000 Dollar, so berichtet<br />

es das Wall Street Journal, an Betaworks<br />

verkauft, das den Digg-Dienst mit<br />

seinem eigenen Angebot News.me verschmelzen<br />

will. Die Häme bei Twitter war<br />

gewaltig, vor allem weil sich viele noch an<br />

ein Titelbild der Zeitschrift Business Week<br />

ausdemJahr<strong>2006</strong>erinnerten,aufdemMitgründer<br />

Kevin Rose als „Kid“ mit Baseball-<br />

Kappe vorgestellt wurde, „das 60 Millionen<br />

Dollar in 18 Monaten verdient“ habe.<br />

Etwas höher als eine halbe Million Dollar<br />

dürfte der Preis in Wahrheit vermutlich<br />

schongewesensein.AnteilspaketewechseltendenBesitzerundwieTechcrunchberichtet,<br />

waren Teile von Digg (die Techniker,<br />

diePatente) schonin denvergangenenMonaten<br />

an andere Käufer veräußert worden,<br />

zusammen wohl für bis zu 16 Millionen.<br />

Ist das Schicksal von Digg ein<br />

Zeichen für die Entbehrlichkeit<br />

jedes großen Netz-Dienstes?<br />

Dennoch: Die bloß sechsstellige Summe<br />

für die Überreste eines einst vielbeachteten<br />

Unternehmens des Social Web schwarz<br />

aufweißzusehen,wirktaufmanchenBeobachter<br />

jetzt wie der Anblick eines Vanitas-<br />

BildesfürdieSocial-Media-Szene.40Millionen<br />

Nutzer im Monat hatte Digg einmal,<br />

unddasist erstgutzweiJahreher.Nochimmer<br />

sollen es 16 Millionen sein, aber eine<br />

Rolle für die Trends des Netzes spielen sie<br />

nicht mehr. Ist das ein düsterer Vorbote für<br />

die Entbehrlichkeit jedes derzeit großen<br />

Dienstes, ähnlich wie die untote Existenz<br />

des einstigen Social-Network-Giganten<br />

Myspace?<br />

Der Guardian erinnerte daran, dass<br />

schon vor zwei Jahren die ersten Kritiker<br />

das Ableben von Digg aufgrund um sich<br />

greifender„Social-Müdigkeit“vorhersagten.<br />

Das demokratische Mitbestimmen<br />

über den Erfolg von Inhalten verlor nach<br />

dieser Lesart viel von seinem Reiz, als das<br />

KlickenaufdenLike-ButtonzurFließbandtätigkeit<br />

der Online-Existenz wurde.<br />

AlexisMadrigal,derMannfürdasDigitale<br />

beim Atlantic,sieht den Abstieg vonDigg<br />

zum Ramschartikel dagegen als exemplarischfürdieRisikeneinerWirtschaft,dieihren<br />

Erfolg nur zu einem sehr geringen Teil<br />

auf einer bestimmten Technologie, sondern<br />

vielmehr auf dem fortwährenden Interesse<br />

einer Nutzergemeinschaft aufbaut.<br />

Es war unter anderem ein von den Nutzern<br />

abgelehntes Redesign im Jahr 2010, das<br />

den massenhaften Exodus von der Plattform<br />

ausgelöst haben soll. Digg habe zunehmend<br />

den Eindruck vermittelt, Verlage<br />

und clevere Vermarkter bestimmten, welche<br />

Inhalte auf der Seite gut zu laufen hätten,<br />

nicht mehr die Nutzer selbst: „Sie waren<br />

keine selbstbewussten Netzbürger auf<br />

Besuch aus der Zukunft, sondern Trottel,<br />

die von Digg und einer Bande von ,Social-<br />

Media-Beratern‘ an der Nase herumgeführt<br />

wurden.“<br />

Die Nutzer wandten sich ab, und das,<br />

was Digg am Ende verkaufen konnte, sei,<br />

so Madrigal, nur noch die technische Hülle<br />

gewesen.Und diehabe eben beieiner Community-Seite<br />

ohne echte Community keinen<br />

höheren Wert als 500 000 Dollar.<br />

KevinRose,dasschlaue„Kid“vom Business-Week-Cover,<br />

hat das Unternehmen<br />

übrigens schon im vergangenen Jahr verlassen.<br />

Seit einigen Monaten ist er Angestellter<br />

beim Suchmaschinen-Konzern<br />

Google und dort für das Wagniskapital zuständig.<br />

45 Millionen Wagniskapital hat<br />

Digg einst kassiert. NIKLAS HOFMANN

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