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Staatspolitisches Handbuch

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störung entgangen waren, konnten die Sieger jederzeit die Hand darauf legen.<br />

So gewiß das Dritte Reich ein Willkürstaat gewesen war, gingen mit<br />

ihm jegliche Reste deutscher Staatlichkeit dahin, die den Bürgern Schutz<br />

bieten konnte vor den Begehrlichkeiten der Sieger. Deutschland war nun<br />

reduziert auf den Objekt- und Beutecharakter. Unmittelbar galt das für<br />

seine Ostgebiete, seine Industrieanlagen, seine wissenschaftlichen Kapazitäten,<br />

seine Arbeitskräfte, für seine Frauen, die insbesondere in Ost- und<br />

Mitteldeutschland massenhaft Opfer von Vergewaltigungen wurden.<br />

Das Kriegsende war Erlösung und Niederlage – dieser Doppelcharakter<br />

läßt sich um so weniger auftrennen, als viele Maßnahmen und Unterlassungen<br />

der Alliierten darauf angelegt waren, die Hunger- und Trümmerexistenz<br />

der Besiegten und damit zugleich das Bewußtsein ihres Unwerts<br />

und ihrer Abhängigkeit zu verlängern. Konrad Adenauer klagte im<br />

März 1949 in einer Rede in Bern die Alliierten an, die Baustoffproduktion<br />

und den Wohnungsbau zu sabotieren. Die Hauptsorge der Deutschen<br />

nach 1945 war es, die grundlegenden animalischen Bedürfnisse zu stillen.<br />

Für einen politischen Ehrgeiz, der sie womöglich noch in Gegensatz<br />

zu den Siegern bringen würde, von denen ihr Überleben abhing, war kein<br />

Platz. Woran hätte er sich nach dem allgemeinen Zusammenbruch auch<br />

aufrichten sollen?<br />

In seinen Individuen und als Ganzes war Deutschland Verfügungsmasse.<br />

Diese Situation wurde schnell begriffen und verinnerlicht. Der<br />

Schweizer Journalist Hans Fleig berichtete über ein Gespräch, das er wenige<br />

Wochen nach der Kapitulation mit einem amerikanischen Offizier<br />

geführt hatte. Dieser war überrascht, »wie butterweich und gefügig die<br />

Deutschen bei sich zu Hause seien, die er auf dem Schlachtfeld als so martialische,<br />

kantige Gestalten kennengelernt habe. Es sei, wie wenn man<br />

einen Kuchenteig in den Händen halte. Man könne ihn mit dem Messer<br />

nach Belieben zerteilen, ihn zusammenknüllen, als Ballen aufs Brett<br />

schmeißen oder ihn aufessen. Immer geschehe das gleiche: nämlich gar<br />

nichts. Dieser Teig lasse alles mit sich geschehen, ohne zu explodieren, zu<br />

reagieren oder zu protestieren.« Auch das war eine geschichtliche Schicksalserfüllung.<br />

In der Beobachtung des Amerikaners war bereits enthalten,<br />

daß die Deutschen der Teilung des Rumpflandes keinen Widerstand und<br />

nationalen Behauptungswillen entgegensetzen würden.<br />

Seit seiner Gründung 1871 hatte das Deutsche Reich in dem Zwiespalt<br />

gestanden, zu groß zu sein, um sich in das europäische Gleichgewicht<br />

einzufügen, und zu klein, um auf dem Kontinent als Hegemonialmacht<br />

zu fungieren. Aufgrund seiner Größe und Dynamik mußte es in<br />

den Fokus vor allem Großbritanniens geraten, dessen außenpolitisches<br />

Mantra darin bestand, Koalitionen gegen die jeweils stärkste Kontinentalmacht<br />

zu schmieden und auf diese Weise einen Machtkonkurrenten zu<br />

verhindern, der den Kontinent gegen England und seine globale Seeherrschaft<br />

mobilisieren konnte. Bismarcks Politik war permanent bemüht, die<br />

europäische Staatenwelt so zu sortieren, daß keine antideutsche Koalition<br />

zustande kam. Zu dieser Politik gehörte es, immer wieder die Saturiertheit<br />

des Reiches zu betonen. Allerdings stieß sie an ihre Grenzen, weil –<br />

wie der Historiker Wilhelm Schüssler analysierte – Deutschland nun mal<br />

nicht in derselben machtpolitischen Liga spielte wie England und Rußland.<br />

Das galt im Zweiten Weltkrieg genauso, weshalb die vierte, 1940<br />

erschienene Auflage seines Buches Deutschland zwischen Rußland und<br />

England an entscheidenden Stellen geschwärzt wurde. Das Menetekel<br />

sollte nicht zu deutlich werden.<br />

Bildungslandschaft 1945<br />

– Vorplatz der Humboldt-<br />

Universität in Berlin,<br />

damals noch Friedrich-<br />

Wilhelms-Universität<br />

Hans Fleig: Der deutsche<br />

Teig, in: Hermann<br />

Rauschning, Hans Fleig,<br />

Margret Boveri, J.A. von<br />

Rantzau: … mitten ins<br />

Herz. Über eine Politik<br />

ohne Angst, Berlin 1954.<br />

Konrad Canis: Von<br />

Bismarck zur Weltpolitik:<br />

Deutsche Außenpolitik<br />

1890 bis 1902, Berlin 1999.<br />

Ders.: Bismarcks<br />

Außenpolitik 1870–1890.<br />

Aufstieg und Gefährdung,<br />

Paderborn 2004.<br />

Wilhelm Schüssler:<br />

Deutschland zwischen<br />

Rußland und England.<br />

Studien zur Außenpolitik<br />

des Bismarckischen<br />

Reiches 1879–1914, vierte<br />

Auflage, Leipzig 1940.<br />

Hinz – Der Bruch<br />

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