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Staatspolitisches Handbuch

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Editorial<br />

von Karlheinz Weißmann<br />

Sezession 38 · Oktober 2010 | Editorial<br />

»Die Welt wird reißend konservativ …«. Die Formulierung stammt aus einer<br />

Ansprache Rudolf Borchardts, gehalten im Sommer 1930, angesichts der<br />

großen Krise der ersten deutschen Republik. Man kann gegenwärtig einen<br />

ähnlichen Eindruck haben. In beschwörendem Tonfall wird auf den Unmut<br />

von frustrierten Liberalen, traditioneller SPD-Wählerschaft, verprellten<br />

CDU-Mitgliedern, Bürgerlichen, Lebensschützern und praktizierenden Katholiken<br />

hingewiesen, die in den vergangenen beiden Jahrzehnten das Vertrauen<br />

in die Volksparteien und in die Politik überhaupt verloren haben, entweder<br />

gegen ihre Überzeugung weiter zur Urne gehen oder sich dem riesigen<br />

Lager der Nichtwähler anschließen. Die Welt am Sonntag sprach von einem<br />

»Aufstand der Konservativen«, die taz erwartet einen »Dammbruch«. Jedenfalls<br />

hängt der Vorgang ganz wesentlich mit den Hoffnungen zusammen, die<br />

Thilo Sarrazin durch sein Buch Deutschland schafft sich ab geweckt hat.<br />

Ihm ist gelungen, eine Debatte anzustoßen, die das Land verändern wird;<br />

ein Grund für uns, in einer Sondernummer der Sezession den »Fall Sarrazin«<br />

zu klären (Sarrazin lesen. Was steckt in »Deutschland schafft sich ab«?, erscheint<br />

Mitte Oktober)<br />

Trotz der dezidierten Weigerung des neuen Volkshelden, eine Parteigründung<br />

in Erwägung zu ziehen, hat sich die Überzeugung verbreitet, daß<br />

die Entstehung einer derartigen Formation in der Logik in der Entwicklung<br />

läge; auf der Linken kursierte schon die Mutmaßung, eine nationalpopulistische<br />

Bewegung könnte in Deutschland auf Anhieb zwanzig Prozent der<br />

Stimmen gewinnen. Das ist leider übertrieben, realistischer schon die Annahme<br />

der bedrängten BdV-Chefin Erika Steinbach, daß »jemand, der sich<br />

mit etwas Charisma und Ausstrahlung auf den Weg begeben würde, eine<br />

neue wirklich konservative Partei zu gründen, die Fünfprozenthürde spielend<br />

überspringen könnte«.<br />

Aufmerksamkeit verdient auch Steinbachs Analyse des eigenen Irrwegs,<br />

die verklausulierten, aber hinreichend deutlichen Feststellungen über die Abdrängung<br />

des rechten Flügels, die Instrumentalisierung durch die Kanzlerin,<br />

den taktischen Fehler, sich mit Figuren der Gegenseite zusammenzutun, um<br />

das Projekt der Stiftung der Vertriebenen überhaupt durchzusetzen, und die<br />

Fehleinschätzung, das bewußte Verschweigen der Fakten könne die Hüter<br />

der politischen Korrektheit beschwichtigen.<br />

Eher am Rande kam Steinbach auch auf die strukturelle Verlogenheit der<br />

Parteifreunde zu sprechen, die rechts leben und links reden. Man hat es dabei<br />

mit einer besonderen Schwäche zu tun, die auf den Mangel an metapolitischer<br />

Orientierung zurückzuführen ist. In der Mitte und rechts davon hat man seit<br />

’45, aber ganz gewiß seit ’68 immer darauf setzt, daß sich der Utopismus der<br />

anderen mit den Jahren verliere, daß es die normative Kraft des Ökonomischen<br />

schon richten werde, daß das Zeitalter der Ideologien vorbei sei. Das<br />

war eine Illusion, aber eine schwer korrigierbare, wahrscheinlich gar nicht<br />

durch Argumente oder pädagogisches Instrumentarium, sondern nur durch<br />

Verschärfung der Lage. Daß die bevorsteht, ist wenigstens wahrscheinlich.<br />

Zu Borchardts Diagnose gehörte auch, daß das Konservativ-Werden ein<br />

»Selbstschutz« sei, keine Überzeugungstat, keine Nostalgie, sondern Einsicht<br />

in die Alternativlosigkeit. Es ist die Bereitschaft, sich einer unbequemen Lehre<br />

zu unterwerfen, die weder ein »Weiter so«, noch pausbäckigen Optimismus<br />

erlaubt, keine Erlösungsversprechen, nicht einmal die Prognose baldiger Abhilfe.<br />

Wenn das Konservative weder als Dekoration noch als übliches Pendant<br />

zum Progressiven betrachtet wird, sondern als Weltanschauung des »gesunden<br />

Menschen« (Ricarda Huch), dann erst kann begriffen werden, daß sein<br />

Fehlen Symptom einer Krankheit ist, einer hochansteckenden und sehr gefährlichen,<br />

die unser Volk, unseren Staat, unsere Kultur befallen hat.<br />

Editorial<br />

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