Staatspolitisches Handbuch
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Wir 45er: Zwischen Preußentum<br />
und Nackenfett<br />
Friedrich Sieburg: Die Lust<br />
am Untergang. Selbstgespräche<br />
auf Bundesebene.<br />
Mit einem Vorwort und einem<br />
Nachwort von Thea<br />
Dorn, Frankfurt a.M.: Eichborn<br />
2010. 418 S., 32 €<br />
Friedrich Sieburg (1893–1964)<br />
war der Edelstein, ja: ein Solitär<br />
der nichtlinken Nachkriegspublizistik.<br />
Wegen seiner<br />
unklaren Rolle in der NS-Zeit<br />
war er bis 1948 mit einem Publikationsverbot<br />
belegt. Wolf<br />
Jobst Siedler titulierte den<br />
konservativen Essayisten und<br />
Literaturkritiker der Nachkriegszeit<br />
einmal als »linksschreibenden<br />
Rechten«. Sieburg<br />
war ein brillanter Stilist,<br />
seine Feder und Gedanken von<br />
einer gleichsam elastischen<br />
Gespanntheit; polternde Polemik<br />
war ebensowenig seine<br />
Sache wie der langweilig-dogmatische<br />
Duktus herkömmlicher<br />
Konservativer. Weniger<br />
aus Sturheit denn mit würdiger<br />
Gelassenheit pflegte er sich<br />
zwischen jene Stühle zu setzen,<br />
die die gesellschaftliche Nachkriegsordnung<br />
bereithielt. Die<br />
großen Namen seiner Zeit zogen<br />
teils den Hut vor seinem<br />
Scharfsinn (Thomas Mann<br />
schrieb in seinem Tagebuch,<br />
Die Lust am Untergang erinnere<br />
ihn an seine Betrachtungen<br />
eines Unpolitischen), andere<br />
zahlten ihm harsch zurück,<br />
was er austeilte: Kein anderer<br />
Literaturkritiker ging so<br />
erbarmungslos wie Sieburg mit<br />
den Vertretern der Gruppe 47<br />
ins Gericht.<br />
Man mag nicht glauben, daß<br />
56 Jahre seit der Erstveröffentlichung<br />
des vorliegenden<br />
Bandes vergangen sind! Die<br />
Fragen, denen Sieburg sich<br />
hier in neun Kapiteln (etwa<br />
»Die Kunst, Deutscher zu<br />
sein«, »Vom Menschen zum<br />
Endverbraucher«) widmet, lesen<br />
sich nicht als Rückblick<br />
auf Gefechte von gestern. Sie<br />
sind noch ebensogut unsere<br />
Themen: Identitätssuche, Vergangenheitsbewältigung,Konsumwahn,<br />
die Grenze zwischen<br />
Privatheit und Öffentlichkeit.<br />
Auch wo seine Ange-<br />
legenheiten einmal der unmittelbaren<br />
Aktualität entbehren<br />
– etwa in seiner bemerkenswerten<br />
Replik auf Curzio<br />
Malaparte (d.i. K.E. Suckert)<br />
oder in seinen Einlassungen<br />
zum Verlust der Ostgebiete –<br />
nickt man staunend.<br />
Ohne Twitter oder Ryan Air<br />
gekannt zu haben, spottet Sieburg<br />
über »das Management<br />
des Vergnügens«, die »Mechanisierung<br />
der Freizeit«.<br />
Er meinte damit<br />
– wie bescheiden<br />
aus heutiger Warte! –<br />
»Betriebsausflüge an<br />
den Comer See« und<br />
Klassenfahrten in<br />
die Alpen. »Der Vorschlag,<br />
die Kinder<br />
sollten an der Nidda<br />
Blumen suchen,<br />
würde heute auf allen<br />
Seiten große Heiterkeit<br />
hervorrufen.«<br />
Für Sieburg waren<br />
die Deutschen »ein<br />
Volk ohne Mitte«:<br />
»Im Deutschen, so glaubte die<br />
Welt gestern noch, ist mehr<br />
Explosivstoff angehäuft als<br />
in jedem anderen Erdenbewohner.<br />
Hat sich diese Ansicht<br />
geändert, sind beim Anblick<br />
des fleißigen und lammfrommen<br />
Bundesdeutschen,<br />
der sogar den Karneval straff<br />
organisiert und wirtschaftsbewußt<br />
dem Konsum dienstbar<br />
macht, der das Wort Europa<br />
dauernd im Mund führt,<br />
(…) den kein Aufmarsch mit<br />
Fahnen mehr aus seinem Wochenendhaus,<br />
seinem Faltboot<br />
und Volkswagen herauslokken<br />
kann, der nur noch zu den<br />
Vertretern versunkener Fürstenhäuser<br />
und zu Filmstars<br />
aufschaut, der einen harmonischen<br />
Bund zwischen Preußentum<br />
und Nackenfett eingegangen<br />
ist, (…) der vom Golf von<br />
Neapel bis zum Nordkap die<br />
schnellsten Wagen fährt, sich<br />
in Capri bräunen läßt (…), der<br />
sich aus Ordnungssinn mit der<br />
abstrakten Kunst und dem Nihilismus<br />
beschäftigt – sind, so<br />
frage ich, beim Anblick dieses<br />
Musterknaben, der sich in der<br />
Schule der Demokratie zum<br />
Primus aufarbeitet, alle Ängste<br />
und mißtrauische Befürchtungen<br />
verschwunden? Ich antworte,<br />
nein.«<br />
Sieburg, der Frankophile,<br />
liebte seine Heimat und litt<br />
an ihr, an diesem Volk, das<br />
sich nun in einer Müdigkeit<br />
und Geschichtslosigkeit zeige,<br />
»die mit einer nie dagewesenen<br />
Nüchternheit« gepaart sei.<br />
»Nur der Deutsche schwärzt<br />
seinen Landsmann bei Fremden<br />
an, nur der Deutsche verständigt<br />
sich lieber mit einem<br />
Exoten als mit einem politischen<br />
Gegner eigenen<br />
Stammes (…),<br />
nur der Deutsche<br />
verleugnet Flagge,<br />
Hymne und Staatsform<br />
des Mutterlandes<br />
vor Dritten.« Als<br />
»dümmstes Schlagwort«<br />
seiner Zeit<br />
erschien dem Publizisten<br />
der schon damals<br />
opportune Vorwurf,<br />
»restaurative<br />
Tendenzen« zu befördern.<br />
Alles Große,<br />
Geniale, das Heldenhafte<br />
ohnehin, dessen<br />
die Deutschen einst fähig<br />
waren, werde nun verhöhnt<br />
und gegeißelt unter dem Vorwand,<br />
»daß die alten Zeiten<br />
nicht wiederkommen dürfen«.<br />
Ja, und wie furchtbar war<br />
auch der »deutsche Spießer!«<br />
Allerdings, so Sieburg, sei zu<br />
befürchten, daß der Spießer in<br />
neuem Gewand, nämlich mit<br />
»heraushängendem Hemd«<br />
nach US-Vorbild wiedergekehrt<br />
sei, und daß die »Vorurteilslosigkeit<br />
in der Kleidung, im<br />
Umgang mit dem anderen Geschlecht<br />
und den Nerven der<br />
Mitmenschen nicht eine höhere<br />
sittliche Freiheit und einen<br />
souveränen Geist« mit sich<br />
führe.<br />
Die Krimiphilosophin und TV-<br />
Talkerin Thea Dorn durfte<br />
man bislang für eine wohl<br />
kluge, aber strikt den Kategorien<br />
aktueller Meinungsmoden<br />
hingegebene Zeitgenossin halten.<br />
Nun hat sie uns mit geradezu<br />
schwärmerischer Geste<br />
– Vor- und Nachwort, vereinzelt<br />
nur gespickt mit zeitgeistigen<br />
Kotaus, stammen aus ihrer<br />
Feder – den nahezu radikalen<br />
Widerborst Sieburg wiederentdeckt.<br />
Ein Glücksfall!<br />
Ellen Kositza<br />
Rezensionen<br />
45