Staatspolitisches Handbuch
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und heiß diskutiert wurde, ist<br />
ein Plädoyer für die Abtrennung<br />
der mütterlichen Sphäre<br />
von der weiblichen Identität.<br />
Der Mutterinstinkt sei eine<br />
Erfindung: Mit dieser These<br />
hatte die Philosophin vor dreißig<br />
Jahren Furore gemacht.<br />
Heute beweise die wachsende<br />
Gruppe der childfree – der bewußt<br />
kinderlosen Frauen –,<br />
daß es keine »wesentlichen Eigenschaften«<br />
gebe, die Männer<br />
und Frauen unterscheide. Nun<br />
aber beginnen junge Mütter in<br />
Frankreich ihre Säuglinge vermehrt<br />
zu stillen, immer noch<br />
viel weniger als in anderen europäischen<br />
Ländern, aber mit<br />
steigender Tendenz. Badinter<br />
hält diese »freiwillige Dienstbarkeit«,<br />
initiiert von Hebammen<br />
und anderen »Still-Ayatollahs«,<br />
für brandgefährlich.<br />
Die dreifache Mutter ist enttäuscht,<br />
daß nun selbst – und<br />
gerade! – die Töchter jener Feministinnen,<br />
die sich einst von<br />
der Knechtschaft gegenüber<br />
dem Baby und »den Machos<br />
zu Hause« befreit hätten, sich<br />
dem Druck einer »Gute-Mutter-Ideologie«<br />
beugten.<br />
In ihrer Heimat stieß die emeritierte<br />
Professorin auf ein geteiltes<br />
Echo – und gelangte<br />
zwischen die Fronten. Selbst<br />
emanzipierte Grünen-Politikerinnen<br />
schimpften sie eine<br />
»Steinzeit-Feministin«.<br />
In der Tat fällt<br />
Badinter hinter ihr<br />
Niveau zurück. Ist<br />
es angebracht, die<br />
Richtlinien einer<br />
weltweit tätigen Stillorganisationaufzufächern,<br />
als handle<br />
es sich um eine Terrorgruppe?<br />
Badinter<br />
zählt seitenlang die<br />
»angeblichen« Vorteile<br />
des Stillens auf,<br />
um dann allein eines mit Bestimmtheit<br />
zurückzuweisen:<br />
Stillen macht keine intelligenteren<br />
Kinder. Sie klagt, daß<br />
Eltern, die bereuen, je Kinder<br />
bekommen zu haben, sich<br />
nicht mehr trauten, diesen<br />
Freiheitsverlust einzugestehen.<br />
Noch 1970 hätten 70 Prozent<br />
erklärt, nein, rückblickend<br />
hätten sie besser keine Elternschaft<br />
angestrebt. Der Vollzeitmutter<br />
eines Kleinkinds könne<br />
es noch heute vorkommen, als<br />
würde sie ihren Tag »in Gesellschaft<br />
eines Inkontinenten<br />
und geistig Zurückgebliebenen<br />
verbringen«. Fast scheint<br />
es, als würde Badinter stillende<br />
Frauen, solche, die ohne Narkotika<br />
ihre Kinder zur Welt<br />
bringen und am Ende noch so<br />
verrückt sind, selbst zu kochen,<br />
ebenfalls den Geistesschwachen<br />
zurechnen. Jedenfalls gehören<br />
sie nicht zu den Frauen,<br />
die es sich selbstbewußt herausnehmen,<br />
über ihren »Geist,<br />
ihre physische, emotionale<br />
und sexuelle Energie frei zu<br />
verfügen.«<br />
Hartnäckig hält die Autorin<br />
an ihrer Ansicht fest, daß die<br />
heutige Gesellschaft kinderlose<br />
Frauen »tiefgreifend« ächtet.<br />
Man staunt. Ist das so, in<br />
Frankreich? Gibt es dort keine<br />
Pendants zu unseren Thea<br />
Dorns, Anne Wills und Angela<br />
Merkels, die hierzulande angesehene<br />
Positionen in der Öffentlichkeit<br />
bekleiden?<br />
Ein Punkt in Badinters Buch ist<br />
interessant: Sie konstatiert, daß<br />
sich das Idealbild der Mutter<br />
nicht mit dem der zeitgenössischen<br />
Frau decke. Dadurch<br />
verschrieben sich Frauen häufig<br />
einer »Logik des Alles-oder-<br />
Nichts.« Heißt: Sich hervorragend<br />
auf dem Arbeitsmarkt zu<br />
positionieren ist eine ähnlich<br />
lebensfüllende Aufgabe<br />
wie die, eine<br />
1a-Mutter zu sein.<br />
Beides zugleich –<br />
schwierig! Die Französinnen<br />
seien deshalb<br />
so kinderreich,<br />
weil hier die frühe<br />
Fremdbetreuung der<br />
Kinder nie übel beleumundet<br />
war und<br />
die meisten Mütter<br />
vollzeiterwerbstätig<br />
sind. Umgekehrt ist<br />
es in den »gebärfaulen« Ländern<br />
wie Deutschland und Italien.<br />
Dort sind bzw. waren<br />
Krippen eine Rarität, darum<br />
zögerten Frauen die Geburt<br />
auch nur eines Kindes heraus.<br />
Die Argumentation besticht an<br />
der Oberfläche. Erweitert man<br />
aber den Blick – etwa auf die<br />
Verhältnisse im frauenerwerbsreichen,<br />
aber kinderarmen Mitteldeutschland,<br />
auf die hohen<br />
Geburtenziffern in den USA bei<br />
einer mäßigen Frauenerwerbsquote,<br />
auf die Situation in Rußland<br />
– dann beginnt auch diese<br />
Theorie zu schwanken.<br />
Ellen Kositza<br />
Religion als System<br />
Mircea Eliade und Ioan P.<br />
Culianu: <strong>Handbuch</strong> der Religionen,<br />
Frankfurt a.M.: Verlag<br />
der Weltreligionen/Suhrkamp<br />
2010. 430 S., 16 €<br />
Die Angabe der beiden Verfassernamen<br />
läßt nicht deutlich<br />
erkennen, daß dieses <strong>Handbuch</strong><br />
eigentlich von Culianu<br />
abgefaßt wurde, während die<br />
Idee auf Eliade zurückging,<br />
der einige Jahre vor seinem<br />
Tod den Plan hatte, seine Geschichte<br />
der religiösen Ideen in<br />
einem Band zu komprimieren.<br />
Sein Meisterschüler Culianu<br />
unternahm letztlich die Arbeit,<br />
da Eliade selbst mit anderen<br />
Projekten beschäftigt war.<br />
Wie sehr die Darstellung Eliades<br />
Ansatz verpflichtet ist,<br />
kann man daran erkennen,<br />
daß die Gliederung der Geschichte<br />
weitgehend beibehalten,<br />
auch Eliades Vorstellung<br />
von der Religion als »System«<br />
übernommen wurde, was besagt,<br />
»daß die gegebenen Tatsachen<br />
der Religion synchron<br />
sind, ihre diachrone Verteilung<br />
aber einen Vorgang darstellt,<br />
dessen Ursachen und Gründe<br />
keiner genaueren Analyse bedürfen.«<br />
Unternimmt man eine<br />
solche Analyse trotzdem, verliert<br />
man sich rasch in der Unübersichtlichkeit<br />
der Entfaltungen<br />
von archaischen und rezenten<br />
Glaubensformen, Theologien<br />
des Hinduismus, Buddhismus,<br />
Islam oder Christentums<br />
und sieht sich zu einer »historizistischen«<br />
Interpretation verführt,<br />
die Culianu wie Eliade<br />
kritisierten, weil sie den Blick<br />
auf die Religion verstellt, die<br />
den Menschen mit dem Übergeschichtlichen<br />
in Berührung<br />
bringt. Das <strong>Handbuch</strong> versucht<br />
deshalb eine mittlere Linie<br />
zu halten zwischen Charakteristik,<br />
lexikalischem<br />
Überblick und Entwurf jenes<br />
»Romans« der Weltreligionen,<br />
von dem Eliade geträumt hat.<br />
Karlheinz Weißmann<br />
Rezensionen<br />
49