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Staatspolitisches Handbuch

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mut Schelsky (1912–1984) überschrieben, der in der Druckfassung gerade<br />

mal vierzig Seiten umfaßt und trotzdem einen ziemlichen Wirbel auslöste.<br />

Wie bei Freyer und Gehlen geht es bei Schelsky um die Verselbständigung<br />

der menschlichen Tätigkeit, die die menschliche Autonomie nicht nur bedrohe,<br />

vielmehr in ein Abhängigkeitsverhältnis verwandelt habe. »In der<br />

technischen Zivilisation tritt der Mensch sich selbst als wissenschaftliche<br />

Erfindung und technische Arbeit gegenüber.« Produktions-, Organisations-<br />

und Humantechniken formierten sich zur einer »universal gewordenen<br />

Technik« mit immer neuen Sachgesetzlichkeiten, die wiederum nur<br />

technisch-wissenschaftlich handhabbar wären. Einen grundsätzlichen<br />

Ausweg gibt es nach Schelsky nicht mehr. »Der Mensch ist den Zwängen<br />

unterworfen, die er selbst als sein Wesen und als seine Welt produziert.«<br />

Aus diesen Überlegungen folgert Schelsky provokant<br />

die Zersetzung der demokratischen Herrschaft.<br />

Auch der Staat müsse sich den in den Sachen und Tatbeständen<br />

liegenden Zwängen beugen; Politik im Sinne einer<br />

normativen Willensbildung falle aus. »Hier herrscht<br />

niemand mehr, sondern hier läuft eine Apparatur, die<br />

sachgemäß bedient sein will«, wenngleich sich die Vertreter<br />

der Gruppeninteressen in den parlamentarischen<br />

Gremien auch heftig dagegen sträubten. »Gegenüber<br />

dem Staat als einem technischen Körper wird die klassische<br />

Auffassung der Demokratie als einem Gemeinwesen,<br />

dessen Politik vom Willen des Volkes abhängt, immer<br />

mehr zu einer Illusion.« Die Meinungsbildung selbst<br />

werde mittels »Meinungsforschung, Information, Propaganda<br />

und Publizistik … zu einem manipulierbaren<br />

Produktionsvorgang«, in dem die vernünftige Urteilsbildung<br />

unterginge. Die Gesinnungsmotive würden zu Erklärungen<br />

und Ideologien dessen verkommen, was ohnehin<br />

geschehe – mit dem Ergebnis einer Entpolitisierung<br />

der Basis.<br />

Drei politische Lager mußten sich gekränkt fühlen:<br />

das bürgerlich-kulturkritische, dem Technik immer noch<br />

als etwas der »Kultur« Unterlegenes, mehr oder weniger<br />

Inhumanes galt; das liberale und sozialdemokratische,<br />

das sein Freiheitspathos in Frage gestellt sah, zu dem<br />

auch die Vorstellung gehörte, daß man sich der Technik<br />

und den Techniken nach Belieben als Werkzeug bedienen könnte, um politische<br />

Ideen und Pläne zu realisieren, und ein altkonservatives, das sich<br />

den Staat als einen über dem gesellschaftlich-industriellen Prozeß stehenden<br />

Souverän dachte oder wünschte. Was allerdings die Kritik durchwegs<br />

nicht beachtete, war Schelskys Einschränkung, er gebe einen in der Alltagswirklichkeit<br />

nicht oder wenigstens noch nicht vollständig erreichten<br />

Zustand wieder.<br />

Diese positivistische Variante vom Absterben des Staates und seiner<br />

Ablösung durch eine Expertokratie befremdete also die meisten Leser,<br />

was Schelsky wohl beabsichtigt hatte. Daß Politiker nur noch das Bewußtsein<br />

der Bevölkerung manipulierten, während das Getriebe einfach weiterliefe<br />

und nur Sachentscheidungen gefällt würden, war selbst für Konservative<br />

des Bösen zuviel. Möglich ist ja auch der Umkehrgedanke – daß<br />

für Sachzwang ausgegeben wird, was politisch-voluntaristisch angestrebt<br />

wird. Schelsky ahnte vor allem die Attacke der Gutmenschen voraus. Aus<br />

dem Abstand eines halben Jahrhunderts klingt folgender, von ihm vorweggenommener<br />

Einwand fast visionär: »Ich bin davon überzeugt, daß<br />

sich mit der technischen Zivilisation auch diese abstrakte Form der Humanität,<br />

die Ideologie, daß der ganze Mensch im Mittelpunkt aller Dinge<br />

zu stehen habe, als globale Überzeugung über die Erde verbreiten wird …<br />

die Dokumentation einer neuen Selbstentfremdung des Menschen, die mit<br />

der wissenschaftlichen Zivilisation in die Welt getreten ist.«<br />

Schelsky hielt in diesem Vortrag drei Optionen einer neuen »Metaphysik«,<br />

das heißt einer Formulierung und Beantwortung der Sinnfrage,<br />

als Reaktion auf die Überlegenheit der verwissenschaftlichten Zivilisation<br />

für nicht unwahrscheinlich. Er nannte sie Solipsismus (ein religiöses Verhalten,<br />

das sich ganz auf den Trägerkreis beschränkt), Nihilismus (eine<br />

in Wort und Tat geäußerte Verneinung des technischen Verhältnisses zur<br />

Technokratie, deutsch;<br />

Umschlag der von<br />

Siemens herausgegebenen<br />

Zeitschrift<br />

Technokratie, 1934.<br />

Waßner – Konservativismus<br />

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