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Staatspolitisches Handbuch

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nommen); der Freitagnachmittag gehört dem Gespräch und der religiösen<br />

Unterweisung, es wird nicht gearbeitet, nicht gelärmt, nur gesprochen und<br />

studiert; das Sabbat-Mahl folgt strengen Regeln, und wenn man auf Reisen<br />

geht, muß man vorher nach geeigneten Hotels und Restaurants forschen<br />

und für den Mißerfolg gerüstet sein: »Ein koscheres Hotel hatte ich<br />

in der Gegend erwartungsgemäß nicht finden können. Ich mußte mich<br />

selbst versorgen. Meine Frau packte mir eine fürstliche Lunchbox mit gekochten<br />

Eiern, Sandwiches, geschnittenem Obst und vorgeschälten Karotten.<br />

Für den zweiten Tag nahm ich einige Pita-Brote mit, Humus und<br />

Tachina in zwei kleinen Bechern und eine Dose Thunfisch. Verhungern<br />

würde ich jedenfalls nicht.«<br />

Das sicher nicht, und mehr: Während jeder andere Gast zu den Mahlzeiten<br />

in den Speiseraum des Hotels geht und unter anderen Gästen sitzt,<br />

wird Jan Wechsler oder Benjamin Stein oder jeder andere gläubige Jude<br />

sein einsames Mahl auf dem Hotelzimmer einnehmen. Er wird dabei vielleicht<br />

kurz damit hadern, daß er solch strengen Regeln unterworfen ist. In<br />

diesen Hader aber wird sich der Stolz darüber mischen, daß er – der Jude<br />

– derjenige ist, der Regeln einzuhalten vermag, und der mit dieser Disziplin<br />

seinem Gott dient. Jedenfalls wird er während des Mahls und durch<br />

die abgeschottete Situation an den Glauben und an die Zugehörigkeit zu<br />

einer besonderen, gesonderten Gemeinschaft erinnert und knüpft im Vollzug<br />

der Alltagsriten das Band neu und wieder ein Stückchen fester.<br />

Mit Sicherheit laufen solche Bewußtseinsvorgänge in vielen Fällen<br />

und Situationen nicht an der Oberfläche des Bewußtseins ab. Es ist eher<br />

so, daß sich religiöse Vorschriften und Alltagsriten einschleifen, daß sie<br />

ohne betonte Feierlichkeit beachtet und ausgeübt werden. Aber sie sorgen<br />

dafür, daß eine Tradition alltagsregelnd, lebensbegleitend und -bestimmend<br />

bleibt, also in den täglichen Lebens- und Wahrnehmungsvollzug<br />

eindringen konnte und immer wieder zur unbewußten oder bewußten<br />

Unterscheidung von anderen führt. Ein Tischgebet zu Hause gehört zur<br />

Routine, ein Tischgebet in einem öffentlichen Restaurant ist ein gesetzter<br />

Akt, und wenn man in Benjamin Steins Leinwand liest, wie schwierig sich<br />

der Besuch eines Juden selbst bei einem anderen, jedoch nicht ganz so auf<br />

Eß-, Trink- und Hygienevorschriften pochenden Juden anläßt, dann hat<br />

man den Eindruck, hier lebe einer seine Traditionsverfangenheit doch bis<br />

zur Unhöflichkeit aus. »Er begrüßte mich überschwänglich«, heißt es da<br />

an einer Stelle, »und führte mich zuerst in die Küche. Er hatte tatsächlich<br />

eingeschweißtes Einweggeschirr besorgt und sogar eine neue Kaffeemaschine<br />

angeschafft, die er mich auszupacken bat.«<br />

Eingeschweißt, neu, noch original verpackt – alles dreht sich um Reinheit,<br />

um das Unverschmutzte, um eine peinliche Hygiene. Die Fortsetzung<br />

solcher Unbeflecktheit ins Denken und in die Erziehung hinein ist deshalb<br />

nicht verwunderlich. Und in der Tat: Der andere Teil der Leinwand beschreibt<br />

die Lehr- und Wanderjahre eines Sohnes aus orthodoxem Hause,<br />

Amnon Zichroni, der in Jerusalem der Talmud-Schule verwiesen wird, weil<br />

er unter der Bank ein weltliches Buch las. Er wird zu einem Nennonkel in<br />

die Schweiz geschickt, aber dort beginnt nicht etwa das lockere, europäische<br />

Großstadtleben fern von den Zentren der jüdischen Orthodoxie. Vielmehr<br />

gibt es auch in Zürich jede denkbare Möglichkeit der Beschulung junger<br />

Juden, in Anspruch, Strenge und Glaubensexaktheit nicht einen Millimeter<br />

neben dem liegend, was der Schüler in Jerusalem hinter sich ließ.<br />

Die Hoffnung auf mehr Weltlichkeit zerschlägt sich, und die Schilderung<br />

der Zürcher Jahre gipfelt in einem kurzen, rebellischen Moment. Zichroni,<br />

mittlerweile 19, begehrt auf, als ihm sein Onkel mitteilt, welche<br />

streng jüdische Universität er für ihn ausgesucht habe. »Warum, fragte<br />

ich ihn, sollte ich auch in den kommenden Jahren drei Viertel meiner Zeit<br />

über den zwölf Talmud-Bänden und anderen frommen Büchern verbringen,<br />

wenn doch eine unglaubliche Fülle weltlichen Wissens und ein ganzes<br />

Universum großer Literatur auf mich warteten?« Der Onkel verschiebt<br />

die Antwort und nimmt den Rebellen einige Tage später mit in seine Juwelierwerkstatt,<br />

um ihm Demantoide zu zeigen. Diese Steine zeichnen sich –<br />

so wird es beschrieben – durch eine gleichmäßige Reinheit aus, gewinnen<br />

ihre Schönheit aber durch Einschlüsse, das Chrysolith. Der Onkel läßt Zichroni<br />

nun schätzen, wieviel Raum dieses Chrysolith einnähme. Man einigt<br />

sich auf höchstens fünf Prozent, mehr wäre zuviel, mehr würde den<br />

Eindruck des Einsprengsels inmitten der Reinheit zerstören, übertragen:<br />

Kubitschek – Wie etwas bleibt<br />

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