Unser Hausmeister, der Einbrecher Senior Delgado ist jetzt unser Hausmeister. Früher ist er Einbrecher gewesen. Das kam so: Eines Nachts wachte mein Vater auf. Er hatte ein Geräusch im Nebenzimmer gehört. Mit einem Ruck riss er die Tür zum Wohnzimmer auf. Dann knipste er das Licht an. Da stand ein Mann ganz kläglich vor ihm, mit einer Taschenlampe in der einen und einem Sack in der anderen Hand. Er war gerade dabei gewesen, unseren Plattenspieler einzupacken. Der Sack war schon halbvoll. Dem Mann zitterten die Hände. Er ließ den Sack los und die Taschenlampe fallen und hob die Arme. „Nicht schießen“, bat er, „ich habe neun Kinder.“ „Nun packen Sie mal alles wieder aus, was Sie da eingepackt haben“, sagte mein Vater. „Glauben Sie ja nicht“, sagte der Einbrecher plötzlich, „dass ich stehlen würde, wenn ich auf andere Art zu Geld käme.“ Mein Vater schwieg. „Ich habe viele Jahre in einer Fabrik gearbeitet“, sagte der Mann. „Dort sind sie immer zufrieden mit mir gewesen. Aber vor zwei Jahren wurde die Fabrik zugemacht, und ich saß auf der Straße. Ich hab’ danach überall nach Arbeit gesucht, denn mit neun Kindern kann man ja nicht von Luft leben. Ich hatte die Älteren in eine Schule gehen lassen, und alle sind sie gute Schüler gewesen. Aber dann musste ich sie raus nehmen, weil ich die Schule nicht mehr bezahlen konnte. Ich wusste nicht einmal, wo ich das Essen für sie hernehmen sollte. Von Fabrik zu Fabrik bin ich gegangen und hab’ nach Arbeit gefragt. Aber da stehen hier ja überall schon Schlangen von Leuten, die Arbeit suchen. Und ich bin nicht mehr der Jüngste. Als ich dann eins von meinen Kindern erwischte, wie es vor Hunger in einer Bäckerei ein Brötchen klaute, da hab’ ich gedacht, eher gehe ich stehlen, als dass meine Kinder stehlen müssen, und dann fing ich damit an. Senior, Sie haben Glück gehabt. Sie gehören nicht zu den Armen. Aber wenn Sie sehen würden, wie Ihre Kinder vor Hunger Brötchen klauen, und Sie keine andere Wahl hätten, da würden Sie auch Einbrecher werden!“ „Möglich“, sagte mein Vater. „Sehr gut möglich. Sie wissen, wo die Alfa-Seifenfabrik liegt? Gut. Mein Büro ist im ersten Stock. Ich werde meinem Portier sagen, dass ich Sie erwarte. Wie ist Ihr Name?“ ”Pab-Pablo D-Delgado“, stotterte der Einbrecher. ”Ich heiße Alfredo Perez“, sagte mein Vater, „aber Sie brauchen nur nach dem Chef zu fragen. Zwischen zehn und zwölf erwarte ich Sie. Und nun leben Sie wohl, Senior Delgado. Es hat mich gefreut, Sie kennen zu lernen. Vergessen Sie nicht Ihren Sack und die Taschenlampe.“ Seitdem ist Senior Delgado Hausmeister in Vaters Fabrik. Gudrun Pausewang (gekürzt) 114
Frage 111 Was gebietet dir aber Gott in diesem Gebot? Ich soll das Wohl meines Nächsten fördern, wo ich nur kann, und an ihm so handeln, wie ich möchte, dass man an mir handelt. Auch soll ich gewissenhaft arbeiten, damit ich dem Bedürftigen in seiner Not helfen kann. 115