pdf-Datei: Anbahnung - Heidelberger Katechismus
pdf-Datei: Anbahnung - Heidelberger Katechismus
pdf-Datei: Anbahnung - Heidelberger Katechismus
Erfolgreiche ePaper selbst erstellen
Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.
Ich muss etwas zu ihm sagen, dachte Ralf, damit er mich sieht. Und er räusperte sich und sagte:<br />
„Guten Morgen.“ Dabei war es Nachmittag. So verwirrt war er. Der Mann richtete seine Augen auf<br />
ihn und ächzte: „Junge, bist du allein hier?“<br />
Ralf nickte.<br />
„Ist es weit zum Dorf?“<br />
Ralf nickte wieder.<br />
Der Mann schloss die Augen. Ralf blieb still stehen und wartete. Nach einer Weile öffnete der<br />
Mann seine Augen wieder und sah ihn an.<br />
„Mit mir ist es aus“, flüsterte er mühsam. „Junge, du könntest mir noch einen Gefallen tun: Sag<br />
ihm, es täte mir leid, dass - na, das weiß er schon. Also sag ihm, es täte mir leid. Vergiss es nicht,<br />
hörst du? Es ist mir wichtig, dass er’s erfährt.“<br />
„Wer?“ fragte Ralf.<br />
„Wer wohl“, stöhnte der Mann ungeduldig. “Gott natürlich - “<br />
„Warum sagst du’s ihm nicht selber?“ fragte der Junge.<br />
Der Mann starte in die Luft und keuchte: „So direkt, das hab ich nie gekonnt. Und ich glaub, er ist<br />
auch nicht gut auf mich zu sprechen, nach allem - “<br />
Der Junge sah, wie dem Mann Schweißperlen auf die Stirn traten.<br />
„Ja“, sagte er schnell, „ich sag’s ihm.“<br />
„Danke“, flüsterte der Mann und schloss die Augen.<br />
„Willst du Wasser trinken?“ fragte Rolf und hob seinen Stiefel. Aber der Mann antwortete nicht<br />
mehr. Nur seine Finger zuckten noch ein paar mal, dann lagen sie still. Ein paar Fliegen umschwärmten<br />
ihn und ließen sich auf dem Blutgerinnsel an seinen Wangen nieder. Ralf scheuchte<br />
sie behutsam fort. Aber sie ließen sich kaum vertreiben. Immer mehr Fliegen umschwärmten das<br />
reglose Gesicht. Ralf musste den vollen Stiefel abstellen, musste sich neben den Kopf kauern<br />
und ununterbrochen mit den Händen wedeln.<br />
Plötzlich sah er, dass die Augen des Mannes nicht mehr geschlossen waren. Die Lieder hatten<br />
sich halb geöffnet. Darunter konnte der Junge die Pupillen erkennen. Sie bewegten sich nicht,<br />
sie starrten immerzu auf dieselbe Stelle, irgendwo auf den Hang, über den er herabgestürzt war.<br />
„Du“, flüsterte Ralf, „du -“<br />
Aber der Mann rührte sich nicht.<br />
Da begriff Ralf, dass der Mann tot war. Er zog sein Hemd aus und breitete es über das Gesicht,<br />
damit die Fliegen sich nicht darauf niederlassen konnten. Dann schüttete er das Wasser aus<br />
dem Stiefel, zog ihn an und rannte auf dem Wiesenpfad talabwärts bis zum Dorf. Dort stürzte er<br />
zu seinem Vater, der gerade in der Werkstatt an der Säge stand, packte ihn am Arm und schrie<br />
ihm beim Lärm der Säge etwas zu. Der Vater begriff, als er das Gesicht seines Jungen sah, dass<br />
etwas Schreckliches geschehen sein mußte. Er stellte die Säge ab und ließ sich alles genau<br />
berichten. Ralf zitterte und schluchzte, und der Vater brauchte eine Weile, bis er alles aus ihm<br />
heraus gefragt hatte.<br />
„An der oberen Kurve, sagst du?“ fragte er.<br />
46