Österreichweite Repräsentativerhebung <strong>zu</strong> <strong>Substanzgebrauch</strong> ǀ AlkoholTeilt man die befragten Personen in vier Alterskohorten auf (vgl. Abb. 13 und Abb. 14), stelltman fest, dass das Alter, ab dem Kinder anfangen, erste Erfahrungen mit Alkohol <strong>zu</strong> machen(ungefähr um das 10. Lebensjahr), im Wesentlichen konstant bleibt (keine Verschiebung derEinstiegskurve). Ungefähr ab dem 13. Lebensjahr ist jedoch bei den jüngeren Geburtsjahrgängendie Zahl Jener, die bereits mindestens einmal ein ganzes Glas Alkohol getrunken haben,weit höher als bei früheren Generationen (stärkerer Anstieg der der Einstiegskurve =„Akzelerationshypothese“). Bei Frauen sind die Veränderungen von einer Geburtsjahrgangsklasse<strong>zu</strong>r nächsten besonders stark ausgeprägt, weil hier neben dem Akzelerationseffekt auchder Emanzipationseffekt (Angleichung der Geschlechter in Be<strong>zu</strong>g auf Konsumverhalten) <strong>zu</strong>mTragen kommt.Die deutliche Akzeleration, d.h. die kontinuierliche Vorverschiebung des Alters, in dem <strong>zu</strong>mersten Mal ein ganzes Glas Alkohol konsumiert wird, ist allerdings nicht mit einer <strong>zu</strong> erwartenden<strong>zu</strong>künftigen Zunahme des Alkoholkonsums in der Bevölkerung gleich<strong>zu</strong>setzen. Die Tatsache,dass das Konsumausmaß in der über 15-jährigen Bevölkerung trotz Akzeleration seit 30Jahren rückläufig ist (Uhl et al., 2009b), spricht gegen die populäre These, dass frühere Ersterfahrungmit Alkoholkonsum zwangsläufig <strong>zu</strong> stärkerem Konsum im Erwachsenenalter und <strong>zu</strong>mehr Problemen im Zusammenhang mit Alkohol im späteren Lebensverlauf führen wird (vgl.Uhl et al., 2009b).3.9 Alterseffekte und ÜbermortalitätsbiasBei Aussagen <strong>zu</strong>m Alkoholkonsum im höheren Alter muss berücksichtigt werden, dass Personen,die besonders oft und viel Alkohol trinken, im Vergleich <strong>zu</strong>r Gesamtbevölkerung durchschnittlicherheblich früher sterben. So haben etwa männliche Alkoholiker eine um 17 Jahregeringere Lebenserwartung und weibliche Alkoholikerinnen eine um 20 Jahre geringere Lebenserwartungals NichtalkoholikerInnen (vgl. Uhl et al., 2009b).Betrachtet man also den Alkoholkonsum eines Geburtsjahrgangs (Alterskohorte) über den gesamtenLebensverlauf, so führt die Übermortalität der AlkoholikerInnen ab dem 50. Lebensjahrautomatisch <strong>zu</strong> einer systematischen Unterschät<strong>zu</strong>ng des Alkoholkonsums ab diesem Alter(Übermortalitätsbias). Um es präzise <strong>zu</strong> formulieren: In höheren Altersgruppen wird infolgedes Übermortalitätsbias zwar durchschnittlich tatsächlich weniger getrunken, aber nicht deswegen,weil die einzelnen Personen durchschnittlich weniger trinken, sondern weil jene, diebesonders viel getrunken haben, überproportional stark wegsterben und somit in dieser Altersklassenicht mehr repräsentiert sind. Der Übermortalitätsbias fällt insbesondere denDurchschnittskonsum betreffend stark ins Gewicht, da AlkoholikerInnen in etwa ein Drittel undAlkoholmissbraucherInnen ein weiteres Drittel der in Österreich insgesamt getrunkenenReinalkoholmenge konsumieren; einzelne Personen wirken sich also bereits erheblich auf denGesamtkonsum aus.Der Einfluss des Übermortalitätsbias wird modellhaft in Abb. 15 abgebildet: Die durchgehendeLinie in der Grafik stellt dabei eine Prognose – unter Berücksichtigung der Übersterblichkeitder Alkoholiker und Alkoholmissbraucher ab ca. 50 Jahren – der künftigen durchschnittlichenAlkoholkonsummenge für eine Alterskohorte von 50-jährigen Männern dar, die ihr Alkoholkonsumverhaltenbis <strong>zu</strong> ihrem Tod konstant halten. Die gestrichelte Line zeigt jenen Durchschnittskonsuman, der sich ergeben würde, wenn es keinen Übermortalitätsbias gäbe, d.h.wenn Alkoholiker kein überproportional hohes Sterberisiko hätten (Uhl et al., 2005a, Uhl et al.,2009b).27
Österreichweite Repräsentativerhebung <strong>zu</strong> <strong>Substanzgebrauch</strong> ǀ AlkoholAbb. 15: Übermortalitätsbias – AlkoholikerInnenanteil (Modell)50 g/Tag45 g/Tag40 g/Tag35 g/Tag30 g/Tag25 g/Tag20 g/Tag15 g/Tag10 g/Tag5 g/Tag0 g/Tagtheoretisch ohne Übermortalitäterwartet wegen Übermortalitätsbias50 J. 55 J. 60 J. 65 J. 70 J. 75 J.Tabelle übernommen aus Uhl et al. (2005a)Zeigt sich in empirischen Daten eine fallende Tendenz (wie dies sowohl bei der Repräsentativerhebung2004 als auch <strong>2008</strong> der Fall war), die nicht so stark fällt wie durch die durchgezogeneLinie in Abb. 15 dargestellt, so bedeutet das, dass der Alkoholkonsum jener, die nicht gestorbensind, durchschnittlich <strong>zu</strong>genommen hat. Die Nicht-Berücksichtigung des Übermortalitätsbiaswürde <strong>zu</strong>m Fehlschluss führen, dass Personen ab dem 50. Lebensjahr im Durchschnitt wenigertrinken. Eine der relevantesten Folgen des Übermortalitätsbias ist somit, dass das tatsächlicheAusmaß des Alkoholproblems im Alter in der Regel erheblich unterschätzt wird (Uhlet al., 2009b).Dies gilt es bei der Interpretation der durchschnittlichen Konsummenge pro Tag <strong>zu</strong> beachten,wenn diese für unterschiedliche Altersgruppen berechnet wird (vgl. Abb. 16). Der deutlicheRückgang des durchschnittlichen Alkoholkonsums ab der Altersgruppe der 55- bis 64-Jährigenist in diesem Sinne <strong>zu</strong> relativieren.Abb. 16: Alkoholdurchschnittskonsum nach Alter und Geschlecht in Gramm Reinalkohol pro Tag60g/Tag50g/Tag56g40g/Tag47g45g30g/Tag32g33g35g38g20g/Tag10g/Tag15g16g12g13g17g17g9g0g/Tag15-19 J. 20-24 J. 25-34 J. 35-44 J. 45-54 J. 55-64 J. 65 oder älterMännerFrauenQuelle: Repräsentativerhebung <strong>2008</strong>, berechnet aus den Variablen f28, f30, f37uuu; Vergessens-, Undersampling- und Underreportingkorrektur28