Entwickeln, wachsen, reifen ... - bops
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Die Hoffnung nicht aufgeben<br />
Zwischen Machtlosigkeit und «Auferstehung» im Alter<br />
Krankheit, Gebrechlichkeit, Einsamkeit und das Gefühl, auf fremde Hilfe angewiesen zu sein, beeinträchtigen<br />
die Freude am Leben. Menschen, die keine Hoffnung haben, ziehen sich zurück. Was kann Menschen<br />
dazu bewegen, dass sie – trotz allem – wieder am Leben teilnehmen? Welchen Beitrag, kann, muss<br />
und soll das Umfeld leisten? «Manchmal stehen wir auf – stehen wir zur Auferstehung auf – mitten am<br />
Tage ...», so schreibt die Dichterin Maria Luise Kaschnitz. Die Interpretation ihres Gedichts und Beispiele<br />
aus dem Pfl egealltag zeigen Möglichkeiten. Sylke Werner<br />
Sylke Werner ist Altenpfl<br />
egerin, Bachelor of<br />
Science (B. Sc.) Pfl ege-/<br />
Gesundheitsmanagement.<br />
Sylke.Werner63@web.de<br />
Auferstehung<br />
Manchmal stehen wir auf<br />
Stehen wir zur Auferstehung auf<br />
Mitten am Tage<br />
Mit unserem lebendigen Haar<br />
Mit unserer atmenden Haut.<br />
Nur das Gewohnte ist um uns.<br />
Keine Fata Morgana von Palmen<br />
Mit weidenden Löwen<br />
Und sanften Wölfen.<br />
Die Weckuhren hören nicht auf zu ticken<br />
Ihre Leuchtzeiger löschen nicht aus.<br />
Und dennoch leicht<br />
Und dennoch unverwundbar<br />
Geordnet in geheimnisvolle Ordnung<br />
Vorweggenommen in ein Haus aus Licht.<br />
Marie Luise Kaschnitz<br />
Frau Vincenz, 80 Jahre, ist dement. Als sie vor<br />
einem Jahr ins Pfl egeheim kam, sprach sie<br />
kaum, konnte sich nicht selbstständig bewegen,<br />
hatte wenig Appetit.<br />
Mittlerweile antwortet sie je nach Befi nden auf<br />
Fragen, spricht nach, was Schwestern und Bewohner<br />
sagen und gibt deutlich zu verstehen, was sie<br />
möchte und was nicht. Sie läuft am Rollator, manchmal<br />
sogar ein paar Schritte ohne Hilfe.<br />
Frau Harms, 86 Jahre alt, lebt ebenfalls in einem<br />
Pfl egeheim.<br />
Bis zu ihrem Schlaganfall versorgte sie sich selbst,<br />
war mit ihrem Gehstock mobil und äusserte sehr<br />
überzeugend Wünsche und Bedürfnisse. Über einen<br />
Monat weilte sie im Spital. Als sie ins Heim zurückkam,<br />
konnte sie nicht mehr stehen und gehen, war<br />
zeitweise nicht ansprechbar. Ihr rechter Arm war<br />
vollständig gelähmt. Sie benötigte vollständige Unterstützung.<br />
Heute, mehrere Jahre nach dem Schlaganfall,<br />
ist Frau Harms wieder wie früher, schwingt<br />
ihren Gehstock und lässt sich nicht «die Butter vom<br />
Brot nehmen».<br />
Umstände, die zum «Rückzug» führen? Krankheit,<br />
Depression, Einsamkeit und das Gefühl, auf fremde<br />
Hilfe angewiesen zu sein, nehmen die Freude am Leben.<br />
Pfl egebedürftige, die nicht mehr wie früher am<br />
gesellschaftlichen Leben teilnehmen<br />
und um sich selbst kümmern können,<br />
erfahren genau das. Sie fühlen<br />
sich machtlos, denn «... mit einem<br />
12 NOVAcura 10|09<br />
Etikett versehen zu werden, dass mit<br />
Unterlegenheit gegenüber anderen<br />
Personen konnotiert ist ...» (z.B. bei<br />
Demenz oder körperlichen Behinderungen)<br />
oder «... als erniedrigend<br />
empfundene Tätigkeiten/Rollen übernehmen<br />
müssen und frühere befriedigende<br />
und geschätzte Tätigkeiten/<br />
Rollen nicht mehr ausüben zu können»<br />
führen zur Machtlosigkeit (Fitzgerald<br />
Miller, S. 170). Betroffene fühlen<br />
sich inkompetent und nutzlos.<br />
Chronische Krankheiten sind eine<br />
Ursache für Machtlosigkeit bei älteren<br />
Menschen. Sie können gewohnten<br />
Aktivitäten nur noch in begrenz-<br />
tem Umfang nachgehen, sind zunehmend auf<br />
fremde Hilfe angewiesen und in ihrer Entscheidungsfähigkeit<br />
eingeschränkt. Kontrolle über das eigene<br />
Leben zu haben, Unabhängigkeit und die Fähigkeit,<br />
sich selbst zu versorgen, sind wichtige Aspekte<br />
in unserem Leben.<br />
«Machtlosigkeit ist eine der häufi gsten Pfl egediagnosen<br />
bei Senioren, die in eine Akutpfl egeeinrichtung<br />
kommen» (Fitzgerald Miller, S. 171).<br />
Auch Frau Vincenz war machtlos, als sie ins Pfl egeheim<br />
kam. Doch sie «stand wieder auf», nimmt<br />
am Alltag im Heim teil und wirkt zufrieden. Vielleicht<br />
dachte sie an Momente eines erfüllten Lebens<br />
zurück, an ihre Kindheit, ihre Eltern, an gemeinsame<br />
Erlebnisse mit ihrem Mann und spürte die Sorge der<br />
Pfl egenden, die mit ihr sprachen und sich mit ihr<br />
beschäftigten. Das liess sie hoffen und «auferstehen».<br />
Verliert ein Mensch die Hoffnung, kann das zum<br />
Rückzug und sogar zum vorzeitigen Tod führen.<br />
Heimbewohner, die heute in eine stationäre Pfl egeeinrichtung<br />
einziehen, versterben häufi g innerhalb<br />
eines relativ kurzen Zeitraums. Ein unfreiwilliger<br />
Umzug in ein Pfl egeheim nimmt einem alten Menschen<br />
den letzten Rest von Kontrolle. Für die meisten<br />
alten Menschen bedeutet das Pfl egeheim die<br />
letzte Station in ihrem Leben. Sie nehmen ihre Situation<br />
bewusst war, vergleichen die Gegenwart mit der<br />
Vergangenheit und nehmen kleinste Veränderungen<br />
ihres Gesundheitszustandes sofort wahr, was sich<br />
unmittelbar auf ihr seelisches Befi nden auswirkt.<br />
Frau Friedrich war eine lustige und aktive Frau.<br />
Sie war Diabetikern. Ausserdem war sie auf regelmässige<br />
Dialyse angewiesen. Frau Friedrich schöpfte ihre<br />
Ressourcen aus und versorgte sich weitestgehend<br />
selbst. Sie nahm nur kleine Hilfestellungen in Anspruch.<br />
Unsere Hilfe benötigte sie, wenn sie Schmerzen<br />
hatte oder sich ihren Kummer von der Seele reden<br />
musste. Sie weinte oft. Vier Wochen nach ihrem<br />
Einzug, um die Weihnachtszeit, zog sie sich während<br />
eines Ausfl uges mit Angehörigen einen Schenkelhalsbruch<br />
zu.<br />
Aus dem Spital kam sie nicht mehr zurück ...<br />
Frau Vincenz und Frau Harms, beide psychisch<br />
krank, sind dagegen voller Lebensmut. Frau Vincenz<br />
geniesst es, Mitbewohner, Pfl egepersonal und Angehörige<br />
mit ihren kecken Sprüchen zu überraschen.