Entwickeln, wachsen, reifen ... - bops
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Dr. med. Andreas Gerlach<br />
ist Chefarzt der Abteilung<br />
Geriatrie und Physiotherapie<br />
im St. Marien-Hospital<br />
in Lünen.<br />
gerlach.andreas@hotmail.de<br />
tion aller differenzierten Gewebe begrenzt. Wer das<br />
Glück «guter» Gene hat und mögliche Gen-relevante<br />
Umwelteinfl üsse vermeiden kann, hat vielleicht ein<br />
persönliches Hayfl ick-Limit näher an der Zahl 50;<br />
genetische Pechvögel und/oder besonders belastete<br />
Menschen liegen näher bei 40 Teilungen und erreichen<br />
ihre Alters- und Lebensgrenzen schon früher.<br />
Unsere persönliche genetische Ausstattung ist<br />
nicht messbar; eine aufmerksame Betrachtung des<br />
Stammbaumes darf aber manchmal Hoffnung machen<br />
– auch wenn uralt gewordene Eltern und<br />
Grosseltern noch keine sicheren Rückschlüsse auf<br />
die eigenen Chancen zulassen. Dazu ist die Genetik<br />
dann doch zu vielschichtig und kompliziert.<br />
Noch komplizierter wird es, die Lebens- und Umwelteinfl<br />
üsse erkennen und beeinfl ussen zu wollen.<br />
Zweifellos «verbrauchen» hohen Strahlendosen oder<br />
erhebliche toxische Belastungen zusätzliche Stammzellen<br />
und führen zu früherem Altern. Andererseits<br />
hat die Medizin erst vor relativ kurzer Zeit gelernt,<br />
dass auch ein Mangel an Umweltreizen, beispielsweise<br />
durch übertriebene Hygiene, zu einen unzureichend<br />
geschulten Immunsystem und zu früherer<br />
Alterung führt.<br />
« Kurzfristig gelingt eine bessere,<br />
‹jugendliche› Regeneration der<br />
verschiedenen Gewebe.»<br />
Was soll der Mensch tun? Die Antwort ist einfach:<br />
möglichst gesund leben – was immer die aktuelle<br />
Wissenschaft und das verfügbare Wissen als «gesund»<br />
defi nieren. Dabei geht jedermann das natürliche<br />
Risiko ein, dass unser Wissen unvollständig ist<br />
und sich erheblich ändern kann. Ein anderes Risiko<br />
besteht darin, so zwanghaft gesund leben zu wollen,<br />
dass der Gesundheitsstress jeden Nutzen negativ<br />
weit überwiegt.<br />
Aber das Wissen um das Hayfl ick-Limit bietet<br />
noch mehr. Einige Therapien und Methoden, die das<br />
Altern scheinbar aufhalten, beruhen möglicherweise<br />
auf einer hormonell induzierten vermehrten Aktivierung<br />
und entsprechendem Verbrauch von<br />
Stammzellen. Kurzfristig gelingt eine bessere, «jugendliche»<br />
Regeneration der verschiedenen Gewebe;<br />
später fehlen die verbrauchten Stammzellen dann<br />
aber – das Alter schlägt dann stärker und brutaler zu.<br />
Nun ja: Die Biologie des Menschseins lässt sich nicht<br />
wirklich betuppen.<br />
Die Tücken des Alters Wenden wir den Blick weg<br />
vom gesunden alternden Menschen auf den lebenswirklichen.<br />
Chronische Krankheiten wie Alkoholismus,<br />
Arteriosklerose mit koronarer Herzkrankheit,<br />
arterieller Hypertonie und cerebralem Insult, Demenz,<br />
rheumatische und degenerative Gelenkerkrankungen,<br />
Krebs und Stoffwechselstörungen – alle<br />
diese Krankheiten verbrauchen ihrerseits Stammzellen<br />
und lassen viele Patienten im wahrsten Sinne des<br />
Wortes älter, alt oder vorgealtert erscheinen.<br />
16 NOVAcura 10|09<br />
Unverkennbar haben wir die «Patientenversion»<br />
des alten Menschen vor uns: Leben und Krankheiten<br />
haben die Stammzell- und Regenerationsreserven<br />
weitgehend erschöpft, an allen Ecken und Ende<br />
fehlt dem Körper die Kraft zum Erhalten und Erneuern<br />
– eine Schwäche gebiert die nächste Krankheit,<br />
diese wiederum schafft eine neue Insuffi zienz mit<br />
wiederum zusätzlichen Problemen; kurzum: Das<br />
Kartenhaus des lange gelebten Lebens droht an vielen<br />
Stellen einzustürzen. Erfahrungen, die in der<br />
Pfl ege oder medizinischen Betreuung älterer und alter<br />
Menschen täglich gemacht werden und sicherlich<br />
ganz erheblich dazu beitragen, dass Alter eine<br />
Lebensphase ist, vor der viele Menschen am liebsten<br />
weglaufen möchten.<br />
Gesellschaft macht das Alter nicht einfacher Jung-<br />
Senioren mögen ob ihrer hohen Rente inzwischen<br />
als Konsumenten akzeptiert und umworben sein,<br />
alle anderen Alten sind es kaum. Grünert 2 weist dabei<br />
auf einen interessanten sprachlichen Zusammenhang<br />
hin: Das Wort Alter geht auf den Wortstamm<br />
«al» zurück und bedeutet somit Wachstum<br />
und Reife. In viele Kulturen hatten daher die weisen<br />
erfahrenen Menschen besondere Stellungen, waren<br />
hochgeschätzte Berater, teilweise sogar Regierende.<br />
Zu den Gemeinheiten der modernen Zeit gehört<br />
es aber leider, dass die Zeit so schnell verläuft und<br />
sich so dynamisch verändert, dass das kumulierte<br />
Wissen und die mühsam erworbene Erfahrung nur<br />
noch sehr begrenzt nützlich sind. Der Romancier<br />
Dick Francis beschreibt: »Da lernen Sie Ihr ganzes<br />
Leben, perfekte Langbögen herzustellen, und irgendwer<br />
erfi ndet einfach das Schiessgewehr» (in Dick<br />
Francis: Proof) 3 . Oder für unsere Zeit: Welche mühsam<br />
erworbene und teilweise teuer bezahlte Lebenserfahrung<br />
ermöglicht der 75-Jährigen, Handy, Computer<br />
und Internet erfolgreich zu bedienen und<br />
damit überhaupt erst den Kontakt zu den Enkeln zu<br />
erhalten, die vielleicht, aber auch nur ganz vielleicht,<br />
von den gesammelten Erfahrungen der Grossmutter<br />
profi tieren könnten (und wollen?)?<br />
« Dummerweise ist ein Gegenprogramm<br />
für ein ‹gutes› Alter nur<br />
in Teilen entwickelt und kaum<br />
als Lebensentwurf akzeptiert.»<br />
Also, her mit Hormonen, Viagra, Botox, Melatonin,<br />
Wachstumhormonen und allen anderen Modedrogen,<br />
die Alter tatsächlich kurzfristig aufhalten<br />
können, deren Wirkungen aber günstigstenfalls begrenzte<br />
Zeit anhalten und deren langfristige Nebenwirkungen<br />
offensichtlich weit unterschätzt werden?<br />
Der Geschichtsprofessor Michael Stürmer betont auf<br />
Geriatriekongressen immer wieder den «Schrecken<br />
und Charme der Patina». Wer alte Möbel einige Male<br />
abschleift, hat nur noch das Blindholz vor sich, wer<br />
feuervergoldete Beschläge nachvergoldet, verdirbt<br />
sie, und wer altes Silber konsequent überarbeitet, re-