Entwickeln, wachsen, reifen ... - bops
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üchen und Verwerfungen der 68er-Jahre war er ein<br />
Leitmotiv der antiautoritären Strömungen und demzufolge<br />
auch ein Reizwort für die konservative Reaktion.<br />
Dabei geht es schlicht nur um die Suche nach<br />
der Ganzheit, um die Mitte des personalen Ichs. Die<br />
Wirklichkeit des Selbst hat nichts zu tun mit Selbstverliebtheit<br />
oder mit Schwärmen in Selbstvergessenheit.<br />
Es handelt sich im Gegenteil um die Herausforderung,<br />
die Ichbezogenheit aufzugeben und sich aus<br />
einer erkennenden Distanz wahrzunehmen. Es ist<br />
somit die Bewegung der Abgrenzung, die aber nicht<br />
zur Ausgrenzung führen soll, sondern zur Einsicht,<br />
dass das Selbst nicht grenzenlos ist und sich nur fi ndet<br />
im Verkehr mit den Andern. Selbstverwirklichung<br />
ist der Versuch des Selbstbezugs im Bemühen,<br />
sich in einer grösseren Ordnung zu orten.<br />
Das Recht auf Entwicklung musste erkämpft werden<br />
Dass die Verwirklichung des Selbst in der<br />
2. Hälfte des 20. Jahrhunderts auch eine Befreiung<br />
aus autoritären gesellschaftlichen Strukturen bedeutet,<br />
ist den Nostalgikern der alten Ordnung ein Dorn<br />
im Auge. Denken wir an die Frauenbewegung, an<br />
den Kampf um die sexuelle Selbstbestimmung, an<br />
die Mitbeteiligung am ökonomischen Aufschwung.<br />
Kurz gesagt: Es ging um den Aufbau einer zunehmenden<br />
Autonomie des Individuums. Ich denke zurück<br />
an meine 60er-Jahre: Zum Glück wusste meine<br />
französische Frau nichts von ihrer rechtlichen Entmündigung<br />
am Tage unserer Zivilheirat! Mit einem<br />
Schlag war sie nicht mehr unterschriftsfähig ohne<br />
mein Einverständnis, und auch die politischen<br />
Rechte waren noch nicht in Reichweite. Küche, Kinder,<br />
Kirche, das war die Losung oder vielmehr das<br />
Los. Die Frau hatte dem Mann den Rücken freizuhalten<br />
wie im Roman von Saint Exupéry «Vol de<br />
Nuit», in dem der Mann mit seinem Flugzeugphallus<br />
in den Himmel sticht, während die Frau an der<br />
Landepiste wartet. Warten auf den Helden und<br />
Heimkehrer. Noch in den 70er-Jahren wurde eine<br />
mir bekannte Mathematikerin an einem Lehrerseminar<br />
angewiesen, sich um ihr zukünftiges Kind zu<br />
kümmern und einem Mann Platz zu machen. Heute<br />
sind diese Kinder 40 Jahre alt und können sich kaum<br />
vorstellen, welche Entwicklung sich damals für eine<br />
Frau als angemessen schickte.<br />
Eine andere Reminiszenz aus meinen Jugendjahren<br />
ist weit entfernt von Selbstverwirklichung und<br />
geht eher in Richtung Selbstverdinglichung: In den<br />
damals grossen Industriewerken in Emmenbrücke<br />
im Kanton Luzern, wo einige Tausend Arbeiter beschäftigt<br />
wurden, gab es den Dreischichtenbetrieb<br />
und die vierzehntägliche gelbe Lohntüte. Der Lohn<br />
wurde auf dem Lohnbüro ohne Zählmaschinen berechnet.<br />
Aufbesserungen gab es manchmal im halben<br />
Rappenbereich. Um sechs Uhr früh traf man<br />
sich beim Schnaps im Spunten. So mussten im<br />
Rhythmus von 14 Tagen einige Arbeiterfrauen ihre<br />
Männer mit List und Takt aus den Beizen holen, damit<br />
das Lohntütlein nicht zu stark entleert wurde.<br />
Die Männer waren auf dem Selbstertränkungstrip,<br />
weil sie sich nicht selbst gehörten. Sie waren zuerst<br />
Arbeiter und erst am Sonntag ein wenig Menschen.<br />
Viele wussten nicht, dass sie nur als Verdingmen-<br />
schen gehalten wurden. Hundert Jahre lang waren<br />
sie an ihre Dinglichkeit gewöhnt worden. Ihr Selbst<br />
war zugeschüttet, die Bedürfnisse weggedrückt.<br />
Wurde der Druck zu gross, half das gebrannte Wasser:<br />
Sie konnten eine Stunde lang träumen. Die Befreiung<br />
zu ihrem Selbst musste noch eine Weile warten.<br />
Ein paar Jahrzehnte später brauste eine neue<br />
Welle der Verdinglichung über die westliche Welt:<br />
Das Zeitalter des Konsums hatte das Selbst zugedeckt.<br />
Nach dem Hunger die Verschwendung. Es war<br />
die Zeit der Anhäufung im Materiellen. Mann verwirklichte<br />
sich in den Pferdestärken, und Frau durfte<br />
sich im kurzen Rock auf dem Sozius präsentieren<br />
oder am Strand in Rimini. Nach Theodor W. Adorno<br />
war die Geschichte eine permanente Katastrophe.<br />
Verführt durch den Willen zur Macht, verfi el der<br />
Mensch im Herrschen über die Natur selbst dem<br />
Herrschaftsdenken. Er wurde vom Subjekt zum Objekt,<br />
zum Ding, das von den Dingen aufgefressen<br />
wird. Fortschritt ist in sein Gegenteil umgeschlagen.<br />
Noch etwas später und bis heute kam die Äufnung<br />
von Finanzwerten dazu, bis die Blase der globalen Illusion<br />
platzte und das Selbst nackt da stand. Nun<br />
kommt der Dalai Lama, spricht vor vollen Sälen, und<br />
die Schweizer Regierung ist verhindert. Zum Teil verständlich:<br />
Sie ist mit der UBS in Amerika beschäftigt.<br />
Oder in die chinesische Handelskammer eingeladen.<br />
Auch das ist Entwicklung.<br />
Verklärter Herbst<br />
Gewaltig endet so das Jahr<br />
Mit goldnem Wein und Frucht der Gärten.<br />
Rund schweigen Wälder wunderbar<br />
Und sind des Einsamen Gefährten.<br />
Da sagt der Landmann: Es ist gut.<br />
Ihr Abendglocken lang und leise<br />
Gebt noch zum Ende frohen Mut.<br />
Ein Vogelzug grüsst auf der Reise.<br />
Es ist der Liebe wilde Zeit<br />
Im Kahn den blauen Fluss hinunter.<br />
Wie schön sich Bild an Bildchen reiht.<br />
Das geht in Ruh und Schweigen unter.<br />
Georg Trakel<br />
Wachsen und zum Leben <strong>reifen</strong> Alles, was lebt,<br />
wächst bis zum Er<strong>wachsen</strong>sein, der Mensch, das Tier<br />
wie das Gewächs. Er<strong>wachsen</strong> sein ist folglich ein biologischer<br />
Terminus, wie Reife bzw. Reifung. Es sind<br />
Anleihen aus der Natur, die für den Menschen unzureichend<br />
sind. Die reife Frucht fällt oder wird gepfl<br />
ückt. Die er<strong>wachsen</strong>en Menschen würden sich dagegen<br />
verwahren, mit 20 Jahren gepfl ückt zu werden.<br />
Bei den Franzosen nennt man den Maturus am<br />
Ende des Gymnasiums einen Baccalaureatus, das<br />
heisst der mit Lorbeer Bekränzte. Früher gab es nur<br />
die männliche Form. Heute haben die jungen Frauen<br />
NOVAcura 10|09<br />
Dr. phil. Beat Vonarburg<br />
war während vieler Jahre<br />
in der Lehrerbildung und<br />
in der Bildungsverwaltung<br />
tätig und engagiert<br />
sich heute in Politik und<br />
Philosophie.<br />
bfvonarburg@bluewin.ch<br />
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