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Entwickeln, wachsen, reifen ... - bops

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Palliative<br />

Care<br />

Literatur<br />

Antonovsky, A. (1997).<br />

Salutogenese. Zur Entmystifi<br />

zierung der Gesundheit.<br />

Tübingen:<br />

dgvt<br />

Kruse, A. (2007). Das<br />

letzte Lebensjahr. Zur<br />

körperlichen, psychischen<br />

und sozialen<br />

Situation des alten<br />

Menschen am Ende seines<br />

Lebens. Stuttgart:<br />

Kohlhammer.<br />

Lorenz, R. (2005). Salutogenese.<br />

Grundwissen<br />

für Psychologen, Mediziner,<br />

Gesundheits- und<br />

Pfl egewissenschaftler.<br />

München: Reinhardt.<br />

Schiffer, E. (2001). Wie<br />

Gesundheit entsteht.<br />

Salutogenese: Schatzsuche<br />

statt Fehlerfahndung.<br />

Weinheim/Basel:<br />

Beltz.<br />

eine kleine, aber tiefgründige Geschichte:<br />

«Das Konzept der Geschichte entstammt<br />

von Cassells profunder Analyse<br />

(1979) des medizinischen Begriffs<br />

der Kausalität. In dieser berichtet<br />

er von einem älteren Patienten,<br />

der wegen eines ernstzunehmenden<br />

fortgeschrittenen Knieleidens stationär<br />

behandelt wurde. Identifi kation<br />

der Symptome, diagnostische Hypothesen,<br />

deren Bestätigung und Einleitung<br />

angemessener Therapieverfahren<br />

erfolgten kurz hintereinander,<br />

was zur Entlassung führte – und<br />

kurz darauf zur Wiedereinweisung.<br />

Denn was nur zufällig durch einen<br />

Medizinstudenten in Erfahrung gebracht<br />

wurde, war, dass dieser ältere<br />

Herr ein Jahr zuvor Witwer geworden<br />

und in diese fremde Stadt gezogen<br />

war, in der er weder Freunde noch<br />

Verwandte hatte, nur über ein geringes<br />

Einkommen verfügte und im vierten<br />

Stock eines Hause ohne Fahrstuhl<br />

wohnte. Das Knieproblem war sehr<br />

real und sehr ernst. Es war der derzeitige<br />

Anlass zur Einweisung gewesen;<br />

das nächste Mal hätten es<br />

Unterernährung, Lungenentzündung<br />

oder Depression und Suizidversuch<br />

sein können. Der salutogenetische<br />

Ansatz gibt keine Gewähr für die<br />

Problemlösung der komplexen Kreisläufe<br />

im menschlichen Leben, aber<br />

selbst im schlechtesten Fall führt er<br />

zu einem tiefergehenden Verständnis<br />

und Wissen und damit zu einer Voraussetzung,<br />

sich dem gesunden Pol<br />

des Kontinuums nähern zu können“<br />

(Antonovsky, 1997: 24).<br />

Was Antonovsky damit sagen will,<br />

ist, dass es um das tiefere<br />

Verständnis und Wissen vom<br />

Menschsein, seine innersten Quellen<br />

und Reichtümer, um seine unmittelbaren<br />

Lebensbezüge geht.<br />

Im Zuge der radikal zunehmenden<br />

Spezialisierung und Ökonomisierung<br />

im Gesundheitswesen<br />

laufen wir Gefahr, nur noch organ-,<br />

befund-, symptom- oder<br />

problemspezifi sch resp. kommerziell<br />

den Menschen wahrzunehmen,<br />

zu skalieren, zu kontrollieren<br />

und nicht zuletzt zu<br />

managen. Das aktuelle Vokabular<br />

bestätigt es: Es werden Konzepte<br />

für das Schmerz- und Symptommanagement,<br />

Delir- und Demenzmanagement<br />

entwickelt. Pathways<br />

und Guidelines halten Ein-<br />

54 NOVAcura 10|09<br />

zug. Schlagwörter wie «Prozessoptimierung»<br />

beschäftigen inzwischen<br />

ganze Spitäler. Im letzten<br />

Beispiel der Prozessoptimierung<br />

geht es im Grunde genommen um<br />

monetär fokussierte Ablaufprozesse,<br />

und nicht mehr um den<br />

Menschen selbst, das heisst um<br />

ihn als Person. Es geht vielmehr<br />

nur noch um sein Knie, welches<br />

eintritt und unverzüglich wieder<br />

austritt, damit das nächste Knie<br />

kommen kann ...<br />

Die salutogenetische Orientierung<br />

in der Palliative Care Antonovsky<br />

vertritt die Einsicht, dass<br />

es nicht darum geht, Leid, Krankheit<br />

und Krisen «um alles in der<br />

Welt» zu bekämpfen und zu beseitigen.<br />

Vielmehr geht es darum,<br />

dem Menschen wieder menschenfreundliche<br />

Bedingungen und<br />

Unterstützung anzubieten, um<br />

Leid(en), Krankheit, Krisen, Abschied,<br />

Trauer, Sterben und Tod<br />

verstehend, umgänglich und<br />

sinn erschliessend gestalten zu<br />

können: «Ich gehe davon aus,<br />

dass Heterostase, Ungleichgewicht<br />

und Leid inhärente Bestandteile<br />

menschlicher Existenz<br />

sind, ebenso wie der Tod […] (Lorenz<br />

a.a.O., S. 23 in Antonovsky<br />

1993 S. 8 f). Dieses Zitat korrespondiert<br />

mit dem Konzeptelement<br />

der WHO-Defi nition zu Palliative<br />

Care (2002): «Palliative<br />

Care an erkennt das Leben, betrachtet<br />

Sterben und Tod als einen<br />

natürlichen Prozess.» Man könnte<br />

hineinlesen: Palliative Care anerkennt<br />

das Leben mit seinen Krisen<br />

und Krankheiten, Leiden und Abschieden.<br />

Die Herausforderung<br />

besteht wieder darin, anzuerkennen,<br />

dass es in unterschiedlicher<br />

Dichte und Intensität Herausforderungen<br />

und Krisen im Leben eines<br />

jeden Menschen gibt. Antonovsky<br />

möchte den Blick wieder<br />

weiten auf die Endlichkeit und<br />

Sterblichkeit menschlichen Lebens.<br />

Zugleich aber auch darauf,<br />

dass der Mensch als Träger des<br />

Lebens immer auch Träger von<br />

Gesundheit ist – auch und gerade,<br />

wenn er schwer erkrankt,<br />

schwach, alt oder sterbend ist. Die<br />

salutogenetische Orientierung in<br />

der Palliative Care eröffnet den<br />

Blick für den ganzen Menschen<br />

mit seinen physischen, psychosozialen,<br />

geistigen, kulturellen und<br />

spirituellen Möglichkeiten, Ressourcen<br />

und Leiden. Sie schaut<br />

nicht nur auf Symptome wie<br />

Schmerz, Übelkeit oder Atemnot,<br />

sondern nähert sich stets einem<br />

Menschen, welcher unter Schmerzen,<br />

Übelkeit oder Atemnot leidet.<br />

Sie salutogenetische Orientierung<br />

in der Palliative Care konzentriert<br />

sich nicht darauf, alle<br />

Probleme und Symptome zu<br />

«kontrollieren» resp. zu eliminieren,<br />

in der Annahme, damit Lebensqualität,<br />

Würde und ein Sterben<br />

in Frieden zu generieren. Es<br />

lohnt sich, der Bedeutung des Kohärenzkonzeptes<br />

in der Palliative<br />

Care weiter nachzugehen: Es eröffnet<br />

ungeahnte Möglichkeiten<br />

für die Pfl egenden und Betreuenden<br />

in der Pfl ege und Begleitung<br />

von schwer kranken, alten und<br />

sterbenden Menschen. Die salutogenetisch<br />

orientierte Pfl ege und<br />

Begleitung in der Palliative Care<br />

könnte zu einem Meilenstein werden,<br />

um dem Menschen und seinen<br />

Zu- und Angehörigen zu helfen,<br />

seine und ihre Situation ein<br />

wenig besser zu verstehen, sie hilfreicher<br />

zu handhaben und ihr<br />

eine einvernehmliche Bedeutung<br />

zuzusprechen. Dies erfordert, dass<br />

man sich den Menschen nochmals<br />

mit einer anderen Haltung<br />

und Kultur nähert. Die Begegnung,<br />

das Anamnese- oder Trauergespräch<br />

kann sich dann nicht<br />

mehr nur auf Probleme und belastende<br />

Symptome, auf Defi zite und<br />

die offensichtlichen Störungen<br />

konzentrieren. Das salutogenetisch<br />

orientierte Gespräch interessiert<br />

sich für die Geschichte des<br />

ganzen Menschen, um ihn physisch,<br />

psychosozial, geistig, kulturell<br />

und spirituell darin zu unterstützen,<br />

besser zu erkennen und<br />

zu verstehen, einen hilfreicheren<br />

Umgang zur Gestaltung des Ereignisses<br />

zu fi nden und für sich persönlich<br />

dem Erleben eine Bedeutung<br />

geben zu können. Die Salutogenese<br />

ist darum bemüht, den<br />

schwer kranken, alten und sterbenden<br />

Menschen darin zu unterstützen,<br />

aktiv und individuell mit<br />

zu gestalten und zu erschliessen,<br />

was für ihn wahrhaft am Ende seines<br />

Lebens zählt. Der Mensch<br />

wird wieder angesehen, und das<br />

schenkt ihm Ansehen und würdigt<br />

ihn im Menschsein bis zuletzt.<br />

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