Stufen - AA Gruppe Markus Nürnberg
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Vorwort............................................................................................................................................................. 4<br />
1. Biographische Notizen.................................................................................................................................... 5<br />
2. Alkoholismus............................................................................................................................................ 13<br />
A Allgemein.................................................................................................................................................. 13<br />
Der instinktive und der paradoxe Weg ............................................................................................................. 13<br />
1. Der instinktive Weg...................................................................................................................................... 13<br />
2. Flucht in die Gesundheit............................................................................................................................... 13<br />
3. Der innere Konflikt und seine Lösung.......................................................................................................... 14<br />
II. Der paradoxe Weg ....................................................................................................................................... 14<br />
Veränderung durch Annahme........................................................................................................................... 16<br />
Was muss ich nun im Einzelnen Ioslassen? ..................................................................................................... 17<br />
Abschied von der Beschützerrolle .................................................................................................................... 21<br />
Der eigene Wachstumsprozess ......................................................................................................................... 22<br />
B. Alkoholismus eine spirituelle Erkrankung............................................................................................... 22<br />
Was ist Spiritualität?......................................................................................................................................... 23<br />
Spiritualität und Alkoholismus ......................................................................................................................... 24<br />
Alkoholismus, Sucht, Abhängigkeit................................................................................................................. 25<br />
Heilung durch Spiritualität ............................................................................................................................... 26<br />
Heilende Einstellungen..................................................................................................................................... 27<br />
2
Alkoholismus - eine Erkrankung der Tugenden............................................................................................... 29<br />
III. Schritte zur Heilung.................................................................................................................................... 30<br />
Die Zwölf Schritte lauten: ................................................................................................................................ 30<br />
Kapitulation - Gedanken zum 1. Schritt der <strong>AA</strong> .............................................................................................. 31<br />
Der erste Schritt ................................................................................................................................................ 34<br />
Wie geschieht dieses SURRENDER? .............................................................................................................. 35<br />
Der zweite Schritt ............................................................................................................................................. 36<br />
Der dritte Schritt ............................................................................................................................................... 39<br />
Die Schwierigkeit, den eigenen Willen, das eigene Leben zu übergeben ........................................................ 40<br />
Der vierte Schritt............................................................................................................................................... 41<br />
Positive Seiten .................................................................................................................................................. 45<br />
Lebensplan........................................................................................................................................................ 46<br />
Der elfte Schritt - Gebet als Begegnung ........................................................................................................... 47<br />
Ein Weg aus der Verzweiflung......................................................................................................................... 50<br />
Schuldgefühle ................................................................................................................................................... 54<br />
Bewältigung der Schuldgefühle........................................................................................................................ 55<br />
• Bitte um Vergebung ....................................................................................................................................... 55<br />
Selbstannahme des Alkoholikers Selbstverantwortung.................................................................................... 56<br />
Projektion.......................................................................................................................................................... 56<br />
Notwendigkeit der Selbstannahme ................................................................................................................... 57<br />
Vertrauensvolle Beziehung zu Gott.................................................................................................................. 57<br />
Hilfen zur Selbstannahme................................................................................................................................. 57<br />
Umgang mit Gefühlen ...................................................................................................................................... 58<br />
Heilung durch Erinnern .................................................................................................................................... 63<br />
Erinnern schafft Freiheit................................................................................................................................... 64<br />
Wie erinnere ich mich....................................................................................................................................... 64<br />
Mitteilen............................................................................................................................................................ 65<br />
Gewinnen durch Verlieren................................................................................................................................ 65<br />
Schauen wir uns nun einmal die Hilfsquellen an, die zur Verfügung stehen:.................................................. 66<br />
IV. Biblische Impulse ....................................................................................................................................... 70<br />
Heimkehr zur Würde ........................................................................................................................................ 70<br />
Predigt beim Jahrestreffen der Tönissteiner am 23. Oktober 1983 .................................................................. 72<br />
Lazarus.............................................................................................................................................................. 74<br />
Geheilte Sehnsucht - Sehnsucht nach Leben.................................................................................................... 76<br />
Fürchte dich nicht, denn ich bin mit dir............................................................................................................ 78<br />
Du bist geliebt................................................................................................................................................... 80<br />
Du bist geführt .................................................................................................................................................. 81<br />
Woher weiß ich um ein Geführtwerden?.......................................................................................................... 82<br />
Vertrauen und Übergabe................................................................................................................................... 84<br />
Gottes Traum mit uns -..................................................................................................................................... 84<br />
Wege zu meinem wahren Selbst....................................................................................................................... 84<br />
Geheilt von meiner Blindheit............................................................................................................................ 86<br />
Befreit von der Lähmung.................................................................................................................................. 89<br />
Die Heilung der gekrümmten Frau am Sabbat - Einhergehen mit erhobenem Haupt - ................................... 91<br />
Geheilte Augen ................................................................................................................................................. 92<br />
Befreiung aus der Entfremdung........................................................................................................................ 94<br />
Jesus hatte nämlich zu ihm gesagt: Verlass diesen Mann, du unreiner Geist! ................................................. 95<br />
V. Wie alles begann.......................................................................................................................................... 96<br />
Das Minnesota-Modell ..................................................................................................................................... 98<br />
Das Konzept von Hazelden .............................................................................................................................. 99<br />
3
Die Umsetzung des Hazelden-Konzeptes in Bad Tönisstein ......................................................................... 101<br />
Vom Römerbad zur Fachklinik - Die Geschichte von Bad Tönisstein - ........................................................ 102<br />
Vorwort<br />
Als ich im Sommer 1975 in Hazelden, einem angesehenen Therapiezentrum für die Behandlung<br />
von Alkohol- und Tablettenabhängigkeit in Minnesota (USA), zur Ausbildung weilte, erreichte<br />
meinen Ausbildungsleiter Reverend Gordon Grimm ein Brief von Frau Dr. Inge Lange-Treschhaus,<br />
der Mitgründerin und ersten Chefärztin der Fachklinik Bad Tönisstein. In diesem Brief fragte sie bei<br />
Gordon Grimm an, ob er nicht einen Ausbildungskandidaten habe, der Deutsch spräche und<br />
Interesse hätte, in Deutschland an der Fachklinik Bad Tönisstein zu arbeiten. Damals hörte ich<br />
zum ersten Mal etwas von der Klinik in der Eifel, hatte aber keine Ahnung, welche Bedeutung<br />
Tönisstein schon bald in meinem Leben haben würde. Es dauerte noch zwei Jahre, bis ich in<br />
Tönisstein als Suchtkranken-Therapeut arbeiten konnte.<br />
Eine Besonderheit im Therapiekonzept von Bad Tönisstein sind die täglichen Vorträge. Morgens,<br />
mittags und abends kommen alle Patienten im Vortragssaal zu den Vorträgen zusammen.<br />
Diese werden von den Therapeuten und Ärzten gehalten und behandeln Fragen der Sucht und der<br />
Therapie. Durch diese Vorträge sollen die Patienten angeregt werden, sich auch auf der rationalen<br />
Ebene mit ihrer Krankheit auseinander zu setzen.<br />
Die in diesem Buch enthaltenen Beiträge sind zu einem großen Teil Vorträge und Meditationen, die<br />
ich im Laufe der Jahre in Tönisstein gehalten habe.<br />
Meine Kollegin, Beate Kittel, kam eines Tages auf die Idee, diese verschiedenen Beiträge in einem<br />
Buch zusammen zu fassen. Sie machte sich auch schnell an die Arbeit, und so konnte dank ihrer<br />
Zielstrebigkeit das Buch geboren werden. Herzlichen Dank, liebe Beate.<br />
Wir haben die Vorträge in ihrer ursprünglichen Form belassen, um von der Lebendigkeit des<br />
gesprochenen Wortes so viel wie möglich zu erhalten.<br />
Ein besonderer Dank geht an Renate Deinert für die redaktionelle Bearbeitung des gesamten<br />
Buchtextes, die Gestaltung des Umbruchs, die Korrekturarbeit und für so manche gute Anregung.<br />
Mario von Baratta hat sein Foto vom Brunnentempel (1700), dem Wahrzeichen von Alt- und Neu-<br />
Tönisstein, zur Verfügung gestellt, die Endredaktion durchgeführt und den Druck des Buches<br />
betreut.<br />
Danke Mario.<br />
Die Arbeit mit Alkoholikern hat meinem Leben eine neue Richtung und einen neuen Sinn gegeben.<br />
Ich durfte viele Patienten auf ihrem Weg in die Trockenheit und zufriedene Nüchternheit begleiten.<br />
Ich habe aber auch viel von ihnen lernen dürfen und bin stolz darauf, eine große Zahl von<br />
zufriedenen nüchternen Alkoholikern zu meinen Freunden zu zählen.<br />
4
So möchte ich dieses Buch den ehemaligen und gegenwärtigen Patienten von Tönisstein widmen.<br />
Mögen diese Texte ein kleiner Beitrag zur Vertiefung ihrer Nüchternheit sein.<br />
1. Biographische Notizen<br />
Vom Klinikpfarrer zum Suchtkrankentherapeuten<br />
Als ich am 11. Mai 1952 in Freising durch Kardinal Michael von Faulhaber zum Priester geweiht<br />
wurde, konnte ich noch nicht ahnen, dass ich einmal als Suchtkrankentherapeut arbeiten würde.<br />
Ich war zunächst als Kaplan in meiner Heimatdiözese München tätig, später als Studentenpfarrer<br />
an der Pädagogischen Hochschule in München und zuletzt als geistlicher Begleiter (Spiritual) im<br />
Priesterseminar meiner Heimatdiözese. Dann kam aber alles ganz anders.<br />
Seelsorge und Psychologie<br />
Im Jahre 1970 lernte ich den evangelischen Pfarrer Helmut Harsch kennen, der mich einlud,<br />
gemeinsam mit zwölf evangelischen Vikaren eine Fortbildung in seelsorglicher Praxis zu machen.<br />
Wir trafen uns drei Jahre lang regelmäßig und besprachen jeweils bestimmte Fälle aus unserer<br />
seelsorgerischen Praxis. Hier lernte ich die Bedeutung der Psychologie für die Seelsorge kennen.<br />
Das war eine sehr wichtige Erfahrung, die mich bis zum heutigen Tag begleitet hat. Helmut<br />
Harsch, unser Leiter, ging dann 1972 für ein halbes Jahr in die USA, um einen Kursus in klinischer<br />
Seelsorge zu absolvieren. Eines seiner Ausbildungszentren war die Klinik für Alkoholiker Hazelden<br />
in Minnesota. Als Helmut Harsch nach Deutschland zurückkam, schwärmte er von seiner Zeit in<br />
den USA und besonders von Hazelden.<br />
Krankenhausseelsorge<br />
Ich beendete gerade meine Arbeit als Spiritual im Priesterseminar und wechselte in die<br />
Krankenhausseelsorge in München- Harlaching. Noch immer hatte ich keine Ahnung von<br />
Alkoholismus und Alkoholikern. Zwar kamen während meiner Zeit als Spiritual einige sehr<br />
sympathische Mitglieder einer <strong>AA</strong>-<strong>Gruppe</strong> (Anonyme Alkoholiker) in das Seminar, um uns über<br />
Alkoholismus und die <strong>AA</strong>-Bewegung zu informieren, aber das war auch schon alles.<br />
Als Krankenhausseelsorger wurde mir sehr bald mein Mangel an fachlicher Kompetenz deutlich.<br />
So hielt ich Ausschau nach einer intensiveren Ausbildung und erinnerte mich dabei an die klinische<br />
Seelsorgeausbildung, die in den USA an verschiedenen Zentren angeboten wurde. Die Seelsorger<br />
und Theologen der USA waren uns Deutschen in der seelsorglichen Praxis weit überlegen. Seit<br />
den 1930er Jahren hatten sie Methoden und Erfahrungen der Psychologie in die Seelsorge<br />
integriert.<br />
Unruhige Zeiten<br />
Es waren zudem unruhige Zeiten in Gesellschaft und Kirche. Die 1968er- Studentenunruhen<br />
schlugen auch Anfang der 1970er Jahre noch hohe Wellen. Fragen nach einer zeitgemäßen<br />
Priesterausbildung bewegten uns sehr. Die Diskussion um den Zölibat und ein neues Priesterbild<br />
verunsicherten mich in meinem eigenen Priestersein. Ich schrieb damals einen Artikel für die<br />
Münchener Katholische Kirchenzeitung über Zulassungsbedingungen zum Priesteramt. Dabei<br />
stellte ich fest, dass drei Filter vor der Zulassung zum Priester wegfallen sollten: Zölibat,<br />
männliches Geschlecht und Abitur.<br />
5
So waren es eigentlich zwei Motivationen, die mich veranlassten, meinen Bischof um ein Freijahr<br />
in den USA zu bitten: Zuerst Vertiefung meiner fachlichen Kompetenz und dann aber auch Klärung<br />
meiner eigenen beruflichen Identität.<br />
Houston/Texas<br />
Ich ging am 1. Oktober 1973 bis Mai 1974 an das Institute of Religion and Human Development in<br />
Houston/Texas. In diesen Monaten lernte ich am Institut und vor allem in der Krebs-Klinik MD<br />
Anderson, in der ich meine praktische Arbeit tat, eine Menge über mich selbst und über den<br />
Umgang mit kranken Menschen. Ich hatte sehr nette Kollegen, die mich als Ausländer freundlich<br />
und liebevoll aufgenommen hatten. Auch wohnte ich zunächst bei einer gastfreundlichen Familie<br />
und<br />
anschließend in einer kleinen Gemeinschaft der Dominikaner. Einer der Patres, ein Jurist und<br />
Anwalt für arme Leute, besaß zwei Affen, die zunächst in seinem Wohn-/Schlafzimmer<br />
herumturnten. Auf Protest der Hausangestellten hin wurden die beiden Affen in einen Käfig im<br />
Garten einquartiert. Dort haben sie mich öfters zu einem herzlichen Lachen gebracht. Trotz<br />
alledem hatte ich immer noch das Gefühl, dass auf mich noch eine andere Aufgabe wartet, dass<br />
ich noch etwas anderes lernen müsse. Fast erging es mir wie in manchen Märchen, in denen die<br />
Protagonisten immer wieder aufbrechen müssen, um neue Abenteuer zu bestehen und um endlich<br />
ans Ziel zu kommen.<br />
Hazelden taucht auf<br />
Und da kam auch schon ein neues Abenteuer, eine neue Herausforderung auf mich zu: Es war im<br />
Frühjahr 1974. Ich hatte schon mehr als die Hälfte des Trainingsprogramms in Houston<br />
durchlaufen, als mir plötzlich mein Lehrer und Freund Helmut Harsch und dessen Begeisterung<br />
über Hazelden einfiel. Ich beschloss spontan, meine letzte Trainingseinheit in Hazelden zu<br />
absolvieren. Minnesota kam mir auch aus klimatischen Gründen entgegen, da der Sommer in<br />
Houston unerträglich feucht-heiß sein sollte. Ich hatte bisher bereits unter der unglaublichen<br />
Schwüle in Houston gelitten und war durch den Wechsel zwischen den klimatisierten Innenräumen<br />
und den schwül-warmen Außentemperaturen dauernd erkältet. So fragte ich im Frühjahr 1974 in<br />
Hazelden an, ob ich das Sommer-Semester dort absolvieren könnte. Ich erhielt eine Zusage und<br />
nach einem tränenreichen Abschied von den Dominikanern und von meinen Kolleginnen und<br />
Kollegen, mit denen ich sehr verbunden war, kam ich am Pfingstsamstag 1974 in Hazelden an,<br />
einem Therapiezentrum für Alkoholiker und Tablettenabhängige.<br />
In Hazelden<br />
Hazelden liegt weitab von Dörfern an einem idyllischen See und bestand damals aus fünf im<br />
Bungalow-Stil gebauten ,Units'. Herausgewachsen war Hazelden aus einem alten Bauernhaus<br />
(Old Lodge), das von einigen trockenen Alkoholikern in den 50er Jahren zu einem <strong>AA</strong>-<br />
Therapiehaus umfunktioniert wurde. Daraus entstand im Laufe der nächsten 20 Jahre ein<br />
professionelles Therapiezentrum, das nach dem Minnesota-Modell arbeitete. Davon wusste ich<br />
zum Zeitpunkt meiner Ankunft aber noch nichts.<br />
Patientenstatus<br />
Ich wurde freundlich empfangen und gleichzeitig wurde mir mitgeteilt, dass ich nun die nächsten<br />
drei Wochen als Patient in einer Unit die Therapie mitmachen müsste. Das war für mich zunächst<br />
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eine ,kalte Dusche'. Ich hatte gedacht, ich könnte gleich als Seelsorger arbeiten, insbesondere, da<br />
ich in Houston ein Zertifikat des Institute of Religion and Human Development ausgehändigt<br />
bekommen hatte, das mir die Befähigung zur Gesprächsführung testierte. Zudem war ich ja selbst<br />
kein Alkoholiker. Mein Ärger wurde noch etwas größer, als man mein Gepäck durchsuchte und<br />
eine Packung ,Librium' zu Tage förderte und mir unter die Nase hielt. Mein Arztbruder Georg hatte<br />
mir diese Packung mitgegeben. Er sprach von einer ,psychischen Sonnenbrille', um einen<br />
eventuellen ,culture-shock' zu überwinden. Den hatte ich allerdings in den ersten Wochen in<br />
Washington, wo ich einen achtwöchigen Intensiv-Sprachkurs absolvierte. Geholfen hat mir jedoch<br />
mehr die freundliche Aufnahme bei den Jesuiten in Washington als das ,Librium'. Ich stellte meinen<br />
Widerstand und meine Befremdung ein und akzeptierte die Tatsache.<br />
Am nächsten Tag war Pfingstsonntag und ich wollte als katholischer Priester natürlich zur Messe<br />
gehen. Auch das wurde mir nicht erlaubt, da ich mich noch in der Aufnahmestation befände und da<br />
gäbe es keinen Ausgang.<br />
Im Birdcage (Vogelkäfig)<br />
Da ich keinen Entzug hatte, wurde ich bereits am nächsten Tag, von der Aufnahmestation in meine<br />
Stamm-,Unit', die ,Old Lodge', verlegt, die Ursprungszelle von Hazelden. Ich wurde in ein<br />
Fünfmannzimmer einquartiert. Der Name Birdcage machte mich darauf aufmerksam, dass hier<br />
bunte Vögel zu wohnen schienen. So wurde ich einer von ihnen.<br />
Das war für mich zunächst eine ziemlich neue Erfahrung, denn ich war es seit meiner<br />
Priesterweihe 1952 gewohnt, ein Zimmer für mich allein zu haben. Jetzt hatte ich die Bescherung.<br />
Keine Schwüle mehr, dafür aber fünf Mann im Birdcage. Auch das konnte ich akzeptieren, obwohl<br />
wir einen fürchterlichen Schnarcher bei uns hatten. Ich fühlte mich schon sehr bald von den<br />
Männern meiner Unit - wir waren zusammen 18 - angenommen.<br />
Struktur der Therapie<br />
Die Therapie in Hazelden verlief sehr strukturiert. Nach einer kurzen Entgiftungsphase in der<br />
Aufnahmestation kamen die Patienten meist schon nach wenigen Tagen in die Stammgruppe.<br />
Einzelgespräche mit dem Counselor (Therapeut), Kleingruppen, Meetings und Unit-<br />
Versammlungen wechselten sich ab. Am neunten Tag bekam jeder Patient eine schriftliche und<br />
mündliche Rückmeldung von der Unit. Am Abend zuvor hatte jeder Patient seine Trinkgeschichte<br />
zu erzählen. Jeder Patient musste auch einen Persönlichkeitstest ausfüllen (MMPI), dessen<br />
Ergebnisse eine wichtige Hilfe für die Erstellung eines Therapieplans war. Dieser Therapieplan<br />
bezog sich in erster Linie auf die Frage der Akzeptanz der eigenen Abhängigkeit, dann aber auch<br />
auf Charakterdefekte, Beziehungsprobleme etc.<br />
„Spirituell bankrott“<br />
Ich nahm also an den <strong>Gruppe</strong>n-Sitzungen teil, hörte zum ersten Mal etwas Konkretes über<br />
Alkoholismus, hörte etwas über die Verletzungen und Verwundungen, die meine Mitpatienten sich<br />
und anderen durch ihr exzessives Trinken zugefügt hatten.<br />
Auch ich musste von meinem Leben berichten. Es war keine Trinkgeschichte, aber die<br />
Lebensgeschichte eines Priesters, mit Höhen und Tiefen und manchen Umwegen. Am neunten<br />
Tag war dann meine Rückmeldung: ,Hot-Seat' genannt. Die <strong>Gruppe</strong> gab mir sehr offen und ehrlich<br />
,Feed-back' über mich, meine Stärken und Schwächen. Noch heute habe ich die Hot-Seat-Papers<br />
bei mir und schaue sie manchmal an.<br />
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Mein Counselor (Ed) meinte nach unserem ersten Gespräch, dass ich doch eigentlich spirituell am<br />
Ende sei. Er formulierte es sehr konkret: „you are spiritual bankrupt” (du bist spirituell bankrott). Ich<br />
wollte natürlich wissen, woran er dies denn ausmachen würde. Seine Antwort war kurz und bündig:<br />
„Du hast kein Vertrauen zu Gott.” Ich war sehr betroffen von dieser Aussage. Schließlich war ich<br />
seit über 20 Jahren Priester und zuletzt Spiritual im Priesterseminar, wo es ja gerade um die<br />
spirituelle Ausbildung der Theologiestudenten ging. Zur Betroffenheit kam auch Arger über meinen<br />
Counselor.<br />
Umdenken<br />
So ging ich mit diesen gemischten Gefühlen einige Tage umher. Sicherlich wollte er mich mit<br />
dieser scharfen Formulierung herausfordern, was ihm auch wirklich gelungen ist. Ich wollte das<br />
aber zunächst nicht akzeptieren. Nach einigem Nachdenken und Meditieren wurde mir aber klar,<br />
dass mit meinem Gottesbild etwas nicht in Ordnung war. Ich hatte Angst vor der Hingabe an Gott.<br />
Ich schreckte davor zurück, Gott mein Leben und meinen Willen ganz anzuvertrauen. Langsam<br />
verflog der Ärger und mein Verstand tauchte wieder auf. Hatte dieser Ed vielleicht doch ein wenig<br />
Recht? War ich nicht beim Lesen des dritten Schrittes der <strong>AA</strong> - ,wir fassten den Entschluss, unser<br />
Leben und unseren Willen der Sorge Gottes anzuvertrauen' - zusammengezuckt? Und will ich<br />
das? Was wird Gott mit mir machen, wenn ich ihm eine Blankovollmacht über mein Leben<br />
ausstelle. Sicher wird er ziemlich Schweres und Leidvolles von mir verlangen.<br />
Es gab in Hazelden einen Slogan, der hieß: ,Go out of the driver Beat' (geh' aus dem Fahrersitz<br />
heraus); überlasse Gott den Führersitz und setze du dich daneben. Aber gerade das wollte ich<br />
eigentlich nicht, ich wollte das ,Lenkrad meines Lebens-Autos' nicht abgeben. Mir wurde in diesen<br />
Tagen klar, dass mein Gottesbild immer noch sehr strenge und strafende Züge trug. Zwar sprach<br />
ich in meinen Predigten häufig vom liebevollen und barmherzigen Vater, aber für mich konnte ich<br />
das noch nicht annehmen.<br />
Kapitulation<br />
Dann kam für mich die Kapitulation. Ich ging an einem schönen Maimorgen vor der Old Lodge auf<br />
und ab und war in meine Gedanken vertieft. Da traf mein Auge eine kleine Statue des Heiligen<br />
Franziskus, meines Namenspatrons, die in die Höhlung eines Baumes eingefügt war.<br />
Wahrscheinlich hatte sie ein dankbarer Patient dort zurückgelassen. Ich hatte sie vorher nie<br />
wahrgenommen. In diesem Augenblick wurde mir klar, Ed hat recht. Ich war wirklich spirituell<br />
bankrott, denn ich konnte mich und mein Leben nicht vertrauensvoll übergeben. Ich hatte zwar<br />
Theologie studiert und viel über Gott gelesen, aber immer noch war da so eine Angst vor dem<br />
Gott, der viel Leid auferlegt. Diese Angst verschwand in diesen Tagen und ich konnte mein Leben<br />
,surrendern' (übergeben). Langsam wurde mir klar, dass ich auf dem Holzweg war, und ich<br />
entdeckte Gott als den Liebhaber des Lebens, als den gütigen und fürsorglichen Vater. Was ich in<br />
meinem Studium zwar rein kognitiv gelernt hatte, wurde mir durch die Schritte der <strong>AA</strong> und die<br />
<strong>Gruppe</strong>n-Sitzungen der Alkoholiker zu einem Herzenswissen. Ich fing an, mich immer mehr in die<br />
Hände meines gütigen Vaters zu legen.<br />
Dabei half mir auch eine sehr weltliche Erfahrung. Ich ging manchmal nach Dienst an den St.-<br />
Croix-Fluss. Sauber und gemächlich floss er in Richtung St. Paul, wo er in den Mississippi fließt.<br />
Ich schwamm in die Mitte des Flusses und ließ mich von der Strömung tragen. Ich brauchte keine<br />
Schwimmbewegungen mehr zu machen, ich vertraute mich einfach der Strömung an. Sie trug<br />
mich. Das war für mich ein Bild für Anvertrauen, sich dem Leben übergeben. Loslassen und sich<br />
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überlassen. Dieses ging hier Hand in Hand. So war es auch ein Bild für Gott, der unter und über<br />
allem Leben steht.<br />
Dieses Wort ,surrender' spielte eine große Rolle in der Therapie von Alkoholikern, war aber auch<br />
wichtig für meine eigene Therapie.<br />
In dieser Zeit wurde ich auch mit den Zwölf Schritten der <strong>AA</strong> bekannt gemacht. Die Therapie in<br />
Hazelden fußte auf den ersten fünf Schritten des Programms der Anonymen Alko-<br />
holiker (<strong>AA</strong>), die mit den Erkenntnissen der Psychologie (Verhaltenstherapie) gekoppelt waren.<br />
Durch die Schritte der <strong>AA</strong> spielte auch die Spiritualität eine wichtige Rolle in der Therapie. Für mich<br />
war das alles weitgehend Neuland und ich machte täglich wichtige Erfahrungen. Besonders<br />
beeindruckt hatten mich der zweite und dritte Schritt. Thema dieser beiden Schritte waren ja das<br />
Vertrauen und die Hingabe an Gott. Das w a r ja gerade mein Problem und gleichzeitig die Antwort<br />
darauf.<br />
Die drei Wochen im Patientenstatus vergingen wie im Fluge und entwickelten sich für mich zu<br />
einer wirklichen Therapie. Hatte ich am Anfang dieser Zeit noch eine Menge Bedenken und<br />
Vorbehalte, so waren sie am Ende alle verflogen. Ich hatte viele Freunde gewonnen, hatte mich<br />
selbst mehr und mehr erkannt und mein Bild von Gott und meine Beziehung zu ihm hatten sich<br />
mächtig verändert.<br />
Zwar hatte ich weder mit Alkohol noch mit Tabletten ein Problem - als Bayer trank ich halt ab und<br />
zu meine halbe Maß Bier und auch zwei - aber das war es dann auch; aber ich habe eine für mich<br />
wichtige Therapie machen können.<br />
Mein erster und letzter Rausch<br />
Vielleicht war es der erste und einzige Rausch meines Lebens, der mir einen schmerzlichen<br />
Denkzettel verpasste, den ich nie mehr vergessen habe. Ich war damals 16 Jahre alt und<br />
Luftwaffenhelfer in einer Batterie der Schweren Flak vor den Toren Augsburgs. Es war das Jahr<br />
1944, Alkohol gab es zu dieser Zeit überhaupt nicht. Da bekam unsere Batterie an Ostern ein<br />
ganzes Fass Rotwein als ,Osterei' zugeteilt. Jeder Soldat und jeder Luftwaffenhelfer bekam davon<br />
ein Kochgeschirr voll ab - 1 1 Liter! Wir waren natürlich hellauf begeistert, als richtige Männer<br />
behandelt zu werden, und tranken am selben Abend die ganze Ration aus. Die Folge war, dass ich<br />
ziemlich betrunken ins Bett fiel und einschlief. In jener Nacht gab es Fliegeralarm. Feindliche<br />
Bomber waren im Anflug gemeldet. Wir mussten an die Geschütze. Meine Aufgabe als K6 war es,<br />
den Zünder der schweren 8,8-Granaten einzustellen. Als ich an das Geschütz kam, drehte sich<br />
plötzlich das Geschütz um mich, ich drehte mich auch, ich versuchte das Geschütz festzuhalten,<br />
aber es drehte sich und drehte sich. Meinen Kameraden, die andere Funktionen am Geschütz zu<br />
erfüllen hatten, ging es nicht viel anders. Der Geschützführer, ein älterer Unteroffizier, meldete:<br />
„Geschütz Berta feuerbereit”. Wir waren aber überhaupt nicht feuerbereit. Wir Luftwaffenhelfer, die<br />
ja 95 Prozent der Geschützbedienung ausmachten, waren schlichtweg betrunken. Ein gnädiges<br />
Geschick hat die Bomber auf ein anderes Ziel gelenkt, so dass wir in dieser Nacht nicht zum<br />
Einsatz kamen und nicht schießen mussten. Gott Lob! Ich hatte am anderen Tag einen richtigen<br />
Kater, fühlte mich hundeelend und war offensichtlich für den Rest meines Lebens vorgewarnt.<br />
Arbeit am vierten und fünften Schritt<br />
9
Nach drei Wochen war meine Zeit in der Old Lodge abgelaufen. Es war für mich eine ungemein<br />
wichtige Zeit gewesen. Ich hatte viel über Alkoholismus und Alkoholiker gelernt, aber nicht aus<br />
Büchern, sondern aus den oft sehr bewegenden Geschichten meiner Mitpatienten. Ich habe auch<br />
viel über mich selbst erfahren und über meine Beziehung zu Gott und zu den Menschen. Die<br />
restlichen zwei Monate arbeitete ich dann als Geistlicher auf einer Langzeit-Unit. Meine Aufgabe<br />
war es, fünfte Schritte des <strong>AA</strong>-Programms zu hören. Zum Abschluss der Therapie gehörte es, den<br />
vierten und fünften Schritt zu machen. Der vierte Schritt heißt: „Wir machten eine gründliche und<br />
furchtlose Inventur in unserem Innern” und der fünfte Schritt: „Wir gaben Gott, uns selbst und<br />
einem anderen Menschen gegenüber unverhüllt unsere Fehler zu”.<br />
Eine Begebenheit, die ich in diesem Zusammenhang erlebt habe, möchte ich noch berichten: Ich<br />
wurde eines Tages in eine andere Unit gerufen, um bei einem Patienten den fünften Schritt zu<br />
hören. Bevor wir mit diesem Schritt begannen, erzählten wir einander ein wenig über unser Leben.<br />
Der Patient berichtete mir, dem Priester aus Deutschland, unter anderem, dass er während des<br />
Zweiten Weltkriegs Bomberpilot gewesen sei. Ich fragte ihn darauf, ob er auch bei dem schweren<br />
Angriff auf Augsburg im Februar 1944 dabei gewesen sei. Nach kurzem Nachdenken bestätigte er<br />
es mir.<br />
Ich erzählte ihm darauf, dass ich damals als Flak-Helfer auf der anderen Seite gewesen sei und<br />
gegen die Bomber geschossen habe. In diesem Augenblick waren wir beide sehr bewegt. Die<br />
Feinde von damals waren jetzt Freunde und bereit, vor Gott unsere Fehler unverhüllt zuzugeben.<br />
Es war ein guter fünfter Schritt, und ich hoffe und wünsche von Herzen, dass mein Freund von<br />
damals noch am Leben ist und trocken und zufrieden ist.<br />
Abschied von Hazelden<br />
Rückblickend kann ich sagen, dass diese drei Monate in Hazelden die wichtigsten in diesem Jahr<br />
der klinischen Seelsorgeausbildung waren. In mir war eine Sehnsucht ein-gepflanzt, die mich nun<br />
nicht mehr Ioslassen sollte. Schweren Herzens nahm ich Abschied von meinen Unit-Freunden und<br />
arbeitete anschließend noch zweieinhalb Monate als geistlicher Begleiter in der Langzeittherapie<br />
von Hazelden.<br />
Zurück in München<br />
Im Oktober 1974 kehrte ich dann mit vielen neuen Erfahrungen in meine Heimatdiözese München<br />
zurück und begann meine Arbeit als Klinikpfarrer am neu eröffneten Klinikum Groß-Hadern in<br />
München. Ich war mit dabei, als die ersten Patienten in die Klinik kamen. Heute kann diese Klinik<br />
etwa 1800 Patienten aufnehmen. Im Krankenhaus-Jargon spricht man von 1800 Betten.<br />
Zusammen mit meinem evangelischen Kollegen, Waldemar Pisarski, der zwei Jahre vor mir die<br />
klinische Seelsorgeausbildung in den USA absolviert hatte, waren wir ein gutes, freundschaftliches<br />
Team. Ich erinnere mich noch sehr gerne an diese Zeit.<br />
Auf der Suche<br />
Dennoch drängte sich in mir immer mehr das Gefühl auf: ,Das ist nicht der richtige Platz für dich.'<br />
Die Erinnerung an Hazelden und meine Arbeit mit Alkoholikern trat immer mehr in den<br />
Vordergrund. Mir fiel ein, dass es in Hazelden auch eine Ausbildung zum<br />
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Suchtkrankentherapeuten gab. War das mein Weg? Ich schrieb an Gordon Grimm, den Leiter des<br />
Trainingsprogramms, der mich aus dem Jahr zuvor kannte, und ich bekam eine Zusage, obwohl<br />
ich nicht abhängig war. Bis zu diesem Zeitpunkt waren alle Auszubildenden ,recovered alcoholics',<br />
also trockene Alkoholiker. Mit mir wollten sie einen Versuch und eine Ausnahme machen.<br />
Die erste Hürde war genommen. Was würde aber mein Bischof, Kardinal Döpfner, zu einem<br />
neuerlichen Aufbruch in die USA sagen? Ich hatte ein mulmiges Gefühl. Trotzdem meldete ich<br />
mich bei Generalvikar Dr. Gruber an und trug ihm mein Anliegen vor. Zwar war er mir sehr wohl<br />
gesonnen und hatte meine erste ,Auszeit' 1973/74 nach den USA unterstützt, sah jedoch jetzt<br />
keine Möglichkeit, dies vor dem Bischof und dessen Beratern zu befürworten.<br />
#Ich wollte aber unbedingt diese Ausbildung machen und so offenbarte ich ihm meinen inneren<br />
Zweifel und Konflikt, ob ich noch Priester bleiben wollte oder doch mein Amt niederlegen sollte. Ich<br />
wollte mir klarer werden und eine Alternative zu meinem Priesterberuf suchen, um eine klare<br />
Entscheidung treffen zu können. Als ich Dr. Gruber meinen Konflikt offen darlegte, meinte er, dass<br />
dann die Sache anders liegen würde und mir die Möglichkeit eines weiteren Jahres gegeben<br />
werden sollte. Die Kosten für die Ausbildung und den Lebensunterhalt müsste ich natürlich selber<br />
tragen. Die Sozialabgaben würde aber die Diözese weiter bezahlen. Ich empfand dies als eine<br />
faire Lösung und bin noch heute mit Dr. Gruber in freundschaftlichem Kontakt. Ich bin rückblickend<br />
fest davon überzeugt, dass es auch Gottes Wille war, mich für die Arbeit mit Alkoholikern zu<br />
entscheiden.<br />
Wieder in Hazelden<br />
Ende September 1975 traf ich wieder in Hazelden ein. Zunächst wiederholte sich so ziemlich das<br />
gleiche wie bei meinem ersten Besuch: Aufnahmegruppe und drei Wochen Patientenstatus;<br />
danach begann die Ausbildung zum Counselor. Wir waren eine <strong>Gruppe</strong> von etwa 20 Auszubildenden.<br />
Ich war als einziger nicht abhängig. Ich war für<br />
Hazelden so eine Art Experiment. Anfangs waren meine Ausbilder noch skeptisch, ob ein nicht<br />
Abhängiger die notwendigen Voraussetzungen mitbringt, auf diesem Feld erfolgreich zu arbeiten.<br />
Im Unterschied zu meiner Ausbildung zum Priester, die stark von der Theorie her kam und wenig<br />
Praxis beinhaltete, war die Ausbildung in Hazelden von Anfang an praxisorientiert. Wir begannen<br />
mit kleinen Interviews, holten neue Patienten von der Aufnahmestation ab, zeigten ihnen das<br />
Haus, werteten MMPI-Fragebogen aus, waren bei den Unit-Versammlungen und Kleingruppen<br />
dabei und lernten einfach ,by doing'. Hazelden hatte damals fünf Units, die im Bungalow-Stil<br />
jeweils um einen großen Wohnraum (hall) ausgerichtet waren. Schlafräume der Patienten, Büros<br />
der Counselor, Unit-Büro und <strong>Gruppe</strong>nräume lagen alle in diesem Unit-Bereich. Jede Unit war ein<br />
eigenes Therapie-Zentrum mit eigenem Stil und abgeschlossen von den anderen Units. Nur<br />
Speisesaal und Vortragssaal wurden von allen Patienten benutzt. Die Units waren nach<br />
Geschlechtern getrennt; Fraternisierung war streng verboten.<br />
Ausbildung zum Counselor<br />
Die Ausbildung war ziemlich hart. Ich war ja jetzt nicht mehr der Priester, den man zum Anhören<br />
von fünften Schritten einsetzte und der relativ selbständig arbeiten konnte, sondern der Azubi<br />
Franz, der von Alkoholismus keine oder nur sehr wenig Ahnung hatte, und der von der Pieke auf<br />
lernen musste. Zweimal wollte ich das Handtuch werfen und nach Deutschland zurückkehren. Ich<br />
hatte es satt, mich dauernd kommandieren und konfrontieren zu lassen. Aber auf Zureden guter<br />
Freunde bin ich geblieben und habe die Ausbildung durchgezogen. Ende September 1976 bekam<br />
ich dann in einem feierlichen Akt im Vortragssaal mit drei anderen ,Trainees' - so war unsere<br />
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offizielle Bezeichnung - mein Zertifikat überreicht. Ich war darauf, und bin es auch heute noch,<br />
ungemein stolz. Es war die anstrengendste Ausbildung meines Lebens.<br />
Bei einer anschließenden kleinen Feier sagte mir einer meiner Ausbilder, mit dem ich ziemlich gut<br />
bekannt war: „Franz, am Anfang deiner Ausbildung habe ich gedacht: ,Das wird nichts mit dem<br />
Franz', doch jetzt weiß ich, du bist gut in deiner Arbeit als Counselor für Alkoholiker.” Und er fügte<br />
noch hinzu: „Stay in the field” (bleib in dem Feld). Wahrscheinlich wusste er nicht, dass er mit dem<br />
letzten Satz eine Art prophetischer Verpflichtung ausgesprochen hatte. Denn tatsächlich bin ich<br />
seit 1976 - das sind über dreißig Jahre - in diesem Feld tätig und hoch zufrieden.<br />
Priester und Theologe<br />
So hatte ich denn einen zweiten Beruf, und ich hätte meinen Priesterberuf aufgeben können. Aber<br />
im Laufe des Jahres wurde mir immer klarer, dass der ,Priester' zu mir gehört und das Aufgeben<br />
dieses Berufes eine Amputation sein würde. So hatte ich nun zwei Teilpersönlichkeiten, den<br />
Priester und den Therapeuten. Beide schlossen Freundschaft miteinander und gaben meiner<br />
Persönlichkeit eine ganz besondere Farbe. Diese Freundschaft zwischen den beiden ist im Laufe<br />
der Zeit immer mehr gewachsen, und ich bin Gott und vielen guten Freunden dankbar, dass ich<br />
Priester geblieben und Therapeut geworden bin.<br />
Auf der Suche<br />
Nach München zurückgekehrt wollte ich natürlich sofort mit Alkoholikern arbeiten. Ich dachte an<br />
den Aufbau einer ambulanten Therapie in München. Ich hatte in Hazelden von einem so<br />
genannten ,out-patient-treatment' gehört und dort auch eine Woche gearbeitet. Die Patienten<br />
kamen für 6 bis 8 Wochen täglich (Ausnahme Wochenende) von 18.00 bis 21.00 Uhr oder von<br />
9.00 bis 12.00 Uhr zur Therapie. Das Konzept war dem von Hazelden ähnlich, nur dass die<br />
Patienten zu Hause wohnten und zur Arbeit gingen. Die Erfolge dieser Art der Therapie konnten<br />
sich sehen lassen. Leider oder Gott sei Dank scheiterten meine Pläne. Ein solches Konzept schien<br />
damals für Deutschland noch völlig unmöglich zu sein.<br />
In diesen Tagen erinnerte ich mich an einen Brief, den die Chefärztin der Fachklinik Bad<br />
Tönisstein, Inge Lange-Treschhaus, 1975 nach Hazelden schrieb mit der Anfrage, ob dort ein<br />
Counselor wäre, der Deutsch spricht und bereit wäre, für einige Zeit in Bad Tönisstein zu arbeiten.<br />
Nachdem meine Pläne in München gescheitert waren, nahm ich Kontakt auf mit Bad Tönisstein<br />
und besuchte im November 1976 die Klinik. Leider war die Gründerin und erste Chefärztin<br />
inzwischen verstorben. Ihr Konzept, das dem in Hazelden sehr glich, wurde aber weitergeführt.<br />
Wenn ich auch als geborener Münchener an meiner Vaterstadt hing und mich viele Erlebnisse und<br />
Erfahrungen mit ihr verbanden, entschied ich mich dennoch, Abschied von München zu nehmen,<br />
und begann dann im März 1977, zunächst an der Fachklinik Bad Fredeburg und ab 1. Mai 1977 in<br />
der Fachklinik Bad Tönisstein zu arbeiten. Seitdem arbeite ich hauptamtlich (bis 1989) bzw.<br />
nebenamtlich (seit 1991) an der Fachklinik Bad Tönisstein und ich hoffe, so Gott will, noch einige<br />
Jahre nebenamtlich in der Fachklinik tätig sein zu können.<br />
Zweite Heimat Kell<br />
Das nahe der Klinik gelegene Dorf Kell ist seitdem zu meiner zweiten Heimat geworden. Auch zu<br />
meiner religiösen Heimat. Denn seit fast 30 Jahren halte ich hier Gottesdienste und bin in der<br />
Gemeinde als der „Franz von Tönisstein” bekannt.<br />
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Wenn ich heute auf mein Leben zurückblicke - und dabei besonders auf die letzten drei Jahrzehnte<br />
- , bin ich froh und dankbar gegenüber Gott, der mich so liebevoll geführt hat, dankbar aber auch<br />
vielen guten Freunden, die meinen Weg als Schutzengel begleitet haben.<br />
2. Alkoholismus<br />
A Allgemein<br />
Der instinktive und der paradoxe Weg<br />
In meiner Ausbildung zum Suchtkrankentherapeuten in Hazelden (USA), kam ich in Berührung mit<br />
den Zwölf Schritten der Anonymen Alkoholiker (<strong>AA</strong>), einem psychologisch, spirituellen Wegweiser<br />
für Alkoholiker, um den Weg aus dem zwanghaften Trinken zu finden.<br />
Ich möchte in den folgenden Ausführungen anhand der Schritte eins bis drei der <strong>AA</strong> zwei<br />
gegensätzliche Wegrichtungen beschreiben - den instinktiven Weg und den paradoxen Weg.<br />
1. Der instinktive Weg<br />
1. Problemerkenntnis und Ersthoffnung<br />
Der instinktive Weg, mein Alkoholproblem lösen zu wollen, setzt voraus, dass ich dieses Problem<br />
erkannt habe, besser gesagt, dass ich erkannt habe, dass ich Alkoholiker bin und dass<br />
Weitertrinken gleichbedeutend wäre mit Selbstmord. Zu dieser Erkenntnis kommt eine<br />
Ersthoffnung, die zwar noch sehr oberflächlich aufbricht, aber doch vorhanden sein muss; eine<br />
Hoffnung, dass es einen Weg weiter gibt. In dieser Situation glaubt der Patient, nur zwei<br />
Wahlmöglichkeiten zu haben: Entweder der Alkohol vernichtet mich, oder ich bekämpfe und<br />
vernichte den Alkohol. Da diese erste Möglichkeit dem Selbstmord gleichkäme, bleibt scheinbar<br />
nur der zweite Weg: Kampf gegen die Abhängigkeit, Kampf gegen den Alkohol. Offensichtlich ist in<br />
uns Menschen eine ganz starke instinktive Tendenz, diesen Kampfweg zu gehen: den instinktiver<br />
Weg. Der Mensch, der angegriffen wird, wehrt sich und schlägt instinktiv zurück. Angriff ruft<br />
Gegenangriff hervor.<br />
Die Worte, die in diesem Stadium gebraucht werden, heißen etwa: „Ich muss es schaffen und ich<br />
will es schaffen, das weiß ich ganz genau”, oder: „ich muss eben meinen Willen einsetzen, um<br />
mein Problem zu lösen.” „Ich muss stärker sein als der Alkohol und ihn besiegen”, oder: „ich muss<br />
mich in jeder Weise kontrollieren, um dadurch meine Abhängigkeit in den Griff zu bekommen.".<br />
Die Umgebung des Abhängigen, die solche Worte aus seinem Munde hört, ist begeistert. Endlich<br />
gebraucht er seinen Willen!<br />
2. Flucht in die Gesundheit<br />
Jeder von Ihnen weiß, dass dieser instinktive Weg eben kein echter Ausweg ist, sondern eine<br />
Flucht nach vorne, eine Flucht in die Gesundheit. Die Entscheidung gegen die Abhängigkeit zu<br />
kämpfen, führt zu keiner echten Nüchternheit. Sie kann zu einer oft erstaunlich langen Trockenheit<br />
führen, aber die Gefahr des Rückfalles liegt auf der Hand. Daher ist der instinktive Weg im Grunde<br />
eine äußerst gefährliche Falle. Fragen wir uns nun, warum ist dieser Kampfweg ein Irrweg?<br />
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a) Dieser Weg übersieht ganz einfach, dass ein wesentliches Symptom dieser Krankheit eben der<br />
Kontrollverlust ist, d.h. die Unfähigkeit, mit dem Willen die Trinkmenge zu bestimmen. Flucht in die<br />
Gesundheit ist der aussichtslose Versuch, Freiheit in einem Bereich zu etablieren, wo eben keine<br />
Freiheit vorhanden ist.<br />
b) Der instinktive Weg übersieht, dass die Abhängigkeit den ganzen Menschen erfasst, dass es<br />
nicht nur darum geht, nicht mehr zu trinken, sondern sich zu verändern. Ohne Veränderung gibt es<br />
keine Nüchternheit (Trockenrausch).<br />
c) Der instinktive Weg ist ein Alleingang: Ich schaffe es mit meinem Willen. Der Abhängige<br />
übersieht dabei, dass er alleine nicht aus der Misere herauskommt. Der Alleingang programmiert<br />
den Rückfall. (Es gibt verschiedene Schattierungen des Alleinganges. Unter Umständen kann auch<br />
einer, der zu einer Selbsthilfegruppe geht, noch im Alleingang stehen, dann nämlich, wenn er im<br />
Grunde keine Hilfe annehmen will)<br />
3. Der innere Konflikt und seine Lösung<br />
Wir haben bisher den instinktiven Weg beschrieben, und ihn in seiner Fragwürdigkeit und auch<br />
Gefährlichkeit dargestellt. Was geht aber in einem Menschen vor, der diesen Weg geht? Dieser<br />
Mensch lebt in einer Gespaltenheit. Vom Verstand her sieht er ein, dass er kapitulieren muss, dass<br />
er Alkoholiker ist, dass er machtlos ist gegenüber dem Alkohol. In den tieferen Schichten, in den<br />
Gefühlsschichten, ich sage es schlicht einfach: im Bauch, steckt noch ein NEIN. Nennen Sie es<br />
Stolz, nennen Sie es den KING in uns oder nennen Sie es das grandiose Allmachtsgefühl, das<br />
spielt hier keine Rolle. Im Kopf ist also ein JA, im Bauch ist ein NEIN, das macht die Gespaltenheit<br />
aus, die Spannung, die Verkrampfung, in der ein solcher Mensch lebt. Außerdem sagt dieses<br />
NEIN, dass ich noch nicht bereit bin, meine Abhängigkeit als einen Teil meiner Persönlichkeit voll<br />
zu akzeptieren.<br />
Arger, Angst und Zorn, die Abhängigkeit loszulassen und sich auf die eigenen Füße zu stellen,<br />
sind noch zu stark. Dieser Zustand der Gespaltenheit ist für die meisten Patienten der Therapie<br />
zutreffend. Mit einem Teil sagen sie Ja zu der chronischen Krankheit, aber der andere Teil sagt<br />
weiterhin Nein. Dieser Teil ist tief unten im Menschen. Viel schwerer zugänglich als der Verstand.<br />
Dieser Zustand ist ein sehr schwieriger, aber für die meisten Patienten ein unvermeidlicher. Ich<br />
habe den Eindruck, dass nur sehr wenige Patienten zu einer unmittelbaren Kapitulation, also zu<br />
einem JA im Kopf und im Bauch kommen. Die meisten Patienten machen wohl den Umweg, den<br />
mittelbaren Weg über den instinktiven Weg. Aufgabe der Therapie ist es, sich mit dieser<br />
Gespaltenheit auseinander zu setzen und zu einer vollen Annahme im Kopf und im Bauch zu<br />
kommen. Damit wären wir nun schon bei dem zweiten Weg, bei der Frage, wie kommt es zu einer<br />
ganzen Annahme der Kapitulation. Dieser Weg unterscheidet sich wesentlich vom instinktiven<br />
Weg; er ist eigentlich gegen den so genannten gesunden Menschenverstand, deshalb nenne ich<br />
ihn den paradoxen Weg.<br />
II. Der paradoxe Weg<br />
Ich möchte Ihnen einige Gedanken zu diesem paradoxen Weg vorlegen. Paradox nenne ich ihn<br />
deshalb, weil er unseren gesunden Menschenverstand durchkreuzt, weil er uns in eine Richtung<br />
führt, die wir zunächst als die Gegenrichtung ansehen und die wir peinlichst meiden.<br />
Der paradoxe Weg hat zwei Elemente. Diese Elemente sind in den Schritten eins, zwei und drei<br />
der <strong>AA</strong> (siehe die Zwölf Schritte) enthalten. Ich möchte mich jetzt auf die Schritte eins und drei<br />
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konzentrieren. In Schritt eins geben wir zu, dass wir dem Alkohol gegenüber machtlos und nicht<br />
fähig sind, unser Leben zu meistern. Zugeben der Machtlosigkeit ist das Kernwort.<br />
Im dritten Schritt übergebe ich mich an eine Macht, größer als ich selbst. Die Amerikaner haben für<br />
diesen Vorgang, der sowohl in Schritt eins als auch in Schritt drei zum Tragen kommt, das Wort<br />
„surrender”. Surrender beinhaltet einerseits das Zugeben von Machtlosigkeit, also die Kapitulation,<br />
das Aufgeben des Kampfes; andererseits aber enthält dieses Wort auch die Vorstellung, sich an<br />
eine andere Macht zu übergeben. Das scheint mir ein Vorteil gegenüber unserem deutschen Wort<br />
,Kapitulation' zu sein, das eigentlich nur den ersten Schritt umfasst.<br />
1. Zugeben der Niederlage<br />
Beginnen wir mit dem Zugeben der Niederlage, mit dem Zugeben der Machtlosigkeit, gegenüber<br />
den Gedanken und dem Satz „Ich muss den Alkohol besiegen, ich muss es schaffen.”. Genau das<br />
Gegenteil steht am Anfang des Weges: das Zugeben der Niederlage. Verstandesmäßig aber auch<br />
gefühlsmäßig muss ich zugeben, dass der Alkohol stärker ist als ich, dass der Kampf vorüber ist,<br />
dass ich absolut machtlos gegenüber dem Alkohol bin.<br />
Die Schritte der Anonymen Alkoholiker beginnen gerade nicht mit dem Wort „Ich darf oder ich will<br />
nicht mehr trinken”, sondern schlicht einfach mit dem „Wir haben zugegeben”. Schon hierin ist eine<br />
Paradoxie deutlich. Eine Anerkennung von Machtlosigkeit, ein Zugeben der Niederlage<br />
widerspricht dem Menschen zutiefst. Wir sind erzogen, uns zu behaupten und uns durchzusetzen.<br />
Schwäche zu zeigen erscheint uns als höchst verdächtig. So kämpft der Abhängige einen langen<br />
Kampf gegen die Machtlosigkeit. Sie erscheint ihm als Schwäche und die will er sich nicht<br />
zugestehen: „ Ich darf nicht schwach sein.” Schwäche ist gerade für den Abhängigen etwas, was<br />
ihn geradezu ,panikt'. Schauen wir etwas genauer hin, was es dem Alkoholiker so schwer macht,<br />
zu kapitulieren und seine Machtlosigkeit zuzugeben. (Dasselbe gilt auch für einen nicht<br />
Abhängigen; er hat es genau so schwer, seine Machtlosigkeit, seine Unfähigkeit, ein glückliches<br />
Leben aus eigener Kraft zu führen, zuzugeben. Der nicht Abhängige hat nur leichtere Fluchtwege;<br />
er kann sich um diese Erkenntnis leichter drücken, indem er sich in von der Gesellschaft mehr<br />
tolerierte Fluchthaltungen als den Alkoholismus begibt.)<br />
Allmachtsgefühl gegen Realität<br />
Der amerikanische Psychiater Tiebout, der einige wichtige Artikel über das ,Surrender-Phänomen'<br />
geschrieben hat, spricht von dem ,aufgeblähten ICH' (,inflated ego'), das den Alkoholiker hindert,<br />
seine Machtlosigkeit zuzugeben. Aufgeblähtes ICH oder KING-Baby. Was ist damit gemeint?<br />
Damit ist das Allmachtsgefühl gemeint, alles unter Kontrolle haben zu müssen. Jene Haltung, die<br />
etwa sagt: „Mein Wille geschehe.” Theologisch ausgedrückt: Der Abhängige kann sich nicht als ein<br />
von Gott geschaffenes und damit abhängiges Wesen verstehen, sondern er will selber Gott sein.<br />
Er will selber seine Höhere Macht sein. Er hat eine gewisse Unfähigkeit, die Höhere Macht Höhere<br />
Macht sein zu lassen und sich dieser anzuvertrauen. Dieses KING-Verhalten, dieses Allmachtsgefühl<br />
ist aber absolut realitätsfremd. Die Realität sagt dem Alkoholiker: „Du kannst nicht normal<br />
trinken”, „Du hast so viele Beweise dafür, es ist immer wieder schief gegangen.” Das<br />
Allmachtsgefühl sagt: „Dieses Mal gelingt es, dieses Mal werde ich es unter Kontrolle bekommen.<br />
Es wäre doch gelacht. Ich und machtlos, ich habe so viel in meinem Leben geleistet, ich werde<br />
auch die Kontrolle des Alkohols schaffen.” Ein unheimlicher Kampf zwischen Realität und<br />
Allmachtsgefühl spielt sich im Inneren des Alkoholikers ab. Für einen Außenstehenden nicht mehr<br />
verstehbar, für einen trockenen Alkoholiker rückschauend ein Albtraum. Kein Wunder, dass ein<br />
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Mensch, der in so einem verzweifelten Kampf zwischen Wirklichkeit und seinem Kontrollbedürfnis<br />
steht, diese Verzweiflung auch in seinem ganzen Verhalten widerspiegelt: Aggressionen,<br />
Verspannung, Depression.<br />
Im ,Surrender' wird dieser Kampf zwischen Wirklichkeit und Allmachtsgefühl Iosgelassen. Das<br />
dicke ICH, der Trotz wird entmachtet und die Wirklichkeit anerkannt. Das Ende des Kampfes ist<br />
Ruhe und innerer Friede. Wird das dicke ICH nicht aufgegeben, so kann es zwar auch zur<br />
vorübergehenden Trockenheit kommen, aber der Bürgerkrieg geht weiter. Man hat diesen Zustand<br />
mit dem Wort ,Trockenrausch' (Drydrunk-Symptom) benannt. Der Abhängige trinkt zwar nicht, aber<br />
sein altes Verhalten, sein innerer Kampf geht weiter.<br />
Paradoxie<br />
Kommen wir noch einmal auf die Paradoxie dieses Weges zurück. Wir sehen, dass gerade in der<br />
Anerkennung der Machtlosigkeit und der Schwäche die Stärke liegt. Indem ich meine Niederlage<br />
eingestehe, gewinne ich. Nicht in dem Sinn, dass ich nun den Alkohol kontrollieren kann. Das<br />
niemals mehr, aber in dem Sinn, dass ich ein zufriedenes und beglückendes Leben führen kann,<br />
dass ich von einem Verlierer zu einem Gewinner werde. Dies aber nicht gerade durch Kampf,<br />
sondern indem ich aufgebe und kapituliere.<br />
Veränderung durch Annahme<br />
Fritz Peris, der Begründer der Gestalttherapie, hat dies in einem anderen Zusammenhang einmal<br />
beschrieben. Er sagt in seinem Buch 'Gestalttherapie in Aktion': „Wir sind alle mit der Idee der<br />
Veränderung beschäftigt und die meisten gehen da heran, indem sie Programme machen.” Sie<br />
wollen sich ändern: „Ich sollte so sein” usw. Was aber tatsächlich geschieht, ist dass die Idee einer<br />
vorsätzlichen Änderung niemals, nie und nimmer funktioniert. Sobald man sagt: „Ich möchte mich<br />
ändern” und ein Programm aufstellt, wird eine Gegenkraft in einem erzeugt, die von der<br />
Veränderung abhält. Änderungen finden von selbst statt. Wenn man tiefer in sich hineingeht, in<br />
das, was man ist, wenn man annimmt, was da vorhanden ist, dann ereignet sich der Wandel von<br />
selbst. Das ist das Paradoxe des Wandeins. Vielleicht kann ich das mit einem guten alten<br />
Sprichwort untermauern, das folgendes sagt: ,Der Weg zur Hölle ist mit guten Vorsätzen<br />
gepflastert!'<br />
Peris beschreibt hier genau den paradoxen Weg. Mit dem Willen, mit dem Planen, gelingt es dem<br />
Alkoholiker nicht, von seiner Abhängigkeit wegzukommen. Erst in der Annahme der Krankheit, in<br />
der Annahme der Abhängigkeit kommt es zur Heilung. Indem ich kapituliere, „Ja” sage zu meiner<br />
Krankheit, sie nicht mehr als einen Feind sehe, den ich bekämpfen muss, sondern als Stück<br />
meiner Persönlichkeit, werde ich zum Gewinner, zum Menschen mit neuem Leben.<br />
Lassen Sie mich das noch einmal theologisch kurz beschreiben: Jesus sagte einmal: „Wer sein<br />
Leben hergibt, wird es gewinnen, wer aber sein Leben behalten will, wird es verlieren.” (<strong>Markus</strong><br />
8,35) Das ist der paradoxe Weg. Wer von seinem hohen Ross herunterkommt, sein dickes ICH<br />
loslässt, der wird sich selber gewinnen. Wer aber droben bleiben will und der alte bleiben will, der<br />
wird sein Leben verlieren. (Vergleiche St. Martin, der von seinem Ross heruntersteigt und sich dem<br />
Bettler - das ist der Bettler in mir - zuwendet.) Ein Symbol des paradoxen Weges ist das Kreuz.<br />
Hier wird der instinktive Weg durchkreuzt.<br />
Leben kommt im Loslassen des eigenen Willens. Sie erinnern sich vielleicht an die<br />
Versuchungsgeschichte aus der Bibel, wo der Teufel Jesus auf einen Berg führt und ihn versucht.<br />
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Ich habe den Eindruck, dass genau das der instinktive Weg ist. Der Teufel will Jesus zum<br />
instinktiven Weg, oder zum Weg des Eigenwillens verführen. Jesus geht den anderen Weg. „Dein<br />
Wille geschehe” ist der Weg des Kreuzes, aber es ist letztlich der Weg zum Leben.<br />
2. Zugeben der Machtlosigkeit<br />
Der paradoxe Weg spitzt sich im dritten Schritt nochmals zu. Im ersten Schritt gebe ich meine<br />
Machtlosigkeit, meine Niederlage zu, und im dritten Schritt entscheide ich mich, meinen Willen und<br />
mein Leben Gott, wie ich ihn verstehe, zu übergeben.<br />
Was ist damit eigentlich gemeint?<br />
Annahme von Hilfe:<br />
Gegenüber alten Einstellungen und Verhalten, die alle in die Richtung laufen, 'ich bin meine eigene<br />
Höhere Macht, ich weiß auf alle Fragen die richtige Antwort', muss ich mir klar werden, dass meine<br />
eigene Weisheit und Führung mich immer mehr in die Verliererposition gebracht haben und dass<br />
es nur einen Weg da heraus gibt, nämlich mich einer besseren und höheren Weisheit zu<br />
überlassen. Ich bin bereit, Hilfe von außen anzunehmen. Diese Hilfe kann verschiedene Seiten<br />
haben:<br />
• Therapieprogramm<br />
• andere Menschen<br />
• transzendente Quellen (siehe Seite 129).<br />
b) Loslassen der Kontrollhaltung<br />
Das sich einer Höheren Macht überlassen heißt zugleich Loslassen des eigenen ich-gewollten<br />
Lebensentwurfes, Loslassen der Kontrollhaltung. Der nasse Alkoholiker lebt von der Illusion und<br />
dem Wunsch alles zu kontrollieren, die Menschen um ihn herum, seine Gefühle, das Ergebnis<br />
seiner Handlungen. Der Alkoholiker hat zwar in einem Punkt die. Kontrolle verloren, nämlich dem<br />
Alkohol gegenüber, im übrigen ist er ein überkontrollierter Mensch. Auch den Weg zur Trockenheit<br />
möchte er kontrollieren und mit seinem Willen managen. Den paradoxen Weg einschlagen heißt,<br />
diese Kontrollhaltung loszulassen. Anders ausgedrückt: nicht nur seine Machtlosigkeit dem Alkohol<br />
gegenüber zugeben, sondern auch gegenüber weiten Gebieten des Lebens.<br />
Die amerikanischen <strong>AA</strong> umschreiben den dritten Schritt mit einem sehr einfachen Slogan: ,Let Go -<br />
Let God'.<br />
Was muss ich nun im Einzelnen Ioslassen?<br />
• Andere Menschen<br />
Eine meiner wichtigsten Erkenntnisse als Therapeut war es, meine Machtlosigkeit anderen<br />
Menschen gegenüber zuzugeben. Ich war bitter enttäuscht, wenn einer meiner<br />
Patienten nach der Kur rückfällig wurde. Ich sah dies als ein persönliches Versagen von meiner<br />
Seite. Heute weiß ich, ich bin machtlos über meine Patienten. Wenn diese sich entscheiden, nach<br />
der Therapie wieder zu trinken, kann ich überhaupt nichts machen.<br />
Ich werde alle meine Fähigkeiten einsetzen, um eine gute Therapie zu machen, aber darüber<br />
hinaus bin ich völlig machtlos. Diese Haltung macht mich ruhiger und freier. Ich komme mir nicht<br />
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mehr als der große Retter vor, der die anderen heilt. Ich sehe meine Grenzen und mute den<br />
anderen mehr zu. Loslassen der Kontrolle über den anderen heißt, dem anderen zu erlauben, das<br />
eigene Lied zu singen, den eigenen Weg zu gehen. Und es heißt auch, Vertrauen zu setzen in die<br />
Möglichkeiten des anderen.<br />
• Meine Gefühle<br />
Der nasse Alkoholiker führt einen verzweifelten Kampf, seine Gefühle zu kontrollieren. Durch<br />
Alkohol und Medikamente möchte er sich immer wieder wohl fühlen. Gerade dieser<br />
Kontrollversuch macht ihn aber zum Sklaven seiner Gefühle. Gebe ich meine Machtlosigkeit<br />
gegenüber meinen Gefühlen zu, also höre ich auf, sie zu kontrollieren, fange ich an, meine Gefühle<br />
anzunehmen, so wie sie eben in mir aufsteigen, ohne Abwehr und ohne Verdrängung. Dann<br />
werden sie meine Freunde und beherrschen mich nicht mehr.<br />
• Ergebnisse meiner Handlungen<br />
Auch gegenüber den Ergebnissen meiner Handlungen bin ich zu einem großen Teil machtlos. Ich<br />
kann mich um eine Stelle bewerben, ob ich diese dann bekomme, liegt nicht mehr in meiner<br />
Macht. Ich werde eine gute Bewerbung aufsetzen, ich werde mich selbst in einer positiven Weise<br />
darstellen und dann muss ich loslassen. Die Aufgabe der Kontrollhaltung macht es mir möglich,<br />
mich dem Leben anzuvertrauen, anstatt es kontrollieren zu wollen. Im Ablegen der Kontrolle<br />
komme ich mir selbst, den anderen Menschen und auch Gott nahe. Ich lasse sie heran. Auf diese<br />
Weise werde ich fähig, mich dem Fluss des Lebens zu überlassen. Tiebout spricht vom ,Surrender<br />
to Life'. Das ist dann genau das Gegenteil vom instinktiven Weg. Bei diesem wird versucht, durch<br />
Kontrolle meiner Gefühle und der Menschen den Alkohol schließlich zu besiegen, zu kontrollieren.<br />
Im paradoxen Weg höre ich auf zu kontrollieren und werde daher fähig, ohne Alkohol zu leben. Die<br />
Aufgabe der Kontrolle macht die Kräfte frei, die sonst in einem hoffnungslosen Kampf gebunden<br />
sind. Zuletzt scheint es mir noch wichtig zu sagen, dass dieser Weg nicht nur ein Weg in ein Leben<br />
ohne Alkohol und Tabletten ist, sondern in ein zufriedenes, gelassenes und glückliches Leben.<br />
Tiebout beschreibt einen Menschen der ,surrendert', d.h. also der den paradoxen Weg geht, mit<br />
folgenden Worten: „Er hat sein verkrampftes, aggressives und forderndes Ich, das sich isoliert und<br />
im Kampf mit der Umwelt fühlt, losgelassen und ist weit geöffnet gegenüber der Wirklichkeit des<br />
Lebens. Er kann zuhören und lernen, ohne gleich zurückzuschlagen. Er entwickelt ein Gefühl von<br />
Zugehörigkeit, das die Quelle eines inneren Friedens und einer inneren Gelassenheit ist. Wer<br />
,surrendert', der kämpft nicht mehr länger gegen das Leben, sondern er nimmt es liebevoll an".<br />
Loslassen - Gedanken zum Leben mit einem Abhängigen<br />
Wer mit einem Alkohol- oder Tablettenabhängigen zusammen lebt oder mit ihm befreundet ist,<br />
weiß, dass die Krankheit der Abhängigkeit die ganze Familie befällt. Es entsteht eine<br />
Wechselwirkung zwischen der Abhängigkeit des Abhängigen und den Angehörigen. Im Laufe<br />
unserer Überlegungen werden wir immer deutlicher erkennen, dass die Symptome des<br />
Abhängigen denen der übrigen Familie ziemlich ähnlich sind, z.B. Verleugnung. Der Abhängige<br />
verleugnet, dass er Alkoholiker ist, die Familie verleugnet dies ebenfalls: „Er trinkt eben etwas viel,<br />
aber Alkoholiker ist er doch nicht.” Der Abhängige versucht seinen Alkoholkonsum zu kontrollieren,<br />
die Familie sucht den Abhängigen und sein Trinkverhalten zu kontrollieren. Beide tun es ohne<br />
langfristigen Erfolg. Der Abhängige fühlt sich mies, schuldig und reagiert häufig aggressiv. Die<br />
Familie des Abhängigen fühlt sich genauso mies und schuldig, weil sie die Schuld bei sich sucht.<br />
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Die Symptome sind fast austauschbar. Es ist eine Krankheit, welche die ganze Familie erfasst:<br />
Abhängigkeit.<br />
Wenn wir im Folgenden von Abhängigkeit sprechen, meinen wir Alkohol-, Tabletten- und<br />
Drogenabhängigkeit. Es handelt sich hier um die gleiche Krankheit, nur die jeweils benutzte<br />
chemische Substanz ändert sich: bei dem einen heißt sie Alkohol, bei dem anderen Tabletten oder<br />
harte Drogen. Unter Angehörigen verstehen wir alle Personen, die im engen Kontakt mit dem<br />
Abhängigen sind und an seinem Leben teilnehmen. Das kann die Familie im engeren Sinn sein,<br />
das können aber auch Freunde, Verwandte oder Arbeitskollegen sein.<br />
Die folgenden Überlegungen sind herausgewachsen aus der Arbeit mit Angehörigen in der<br />
Fachklinik Bad Tönisstein und in der Fachklinik Hazelden in Minnesota/USA. Sie wollen dem<br />
Angehörigen ein Stück Hoffnung vermitteln, Hoffnung, dass es einen Weg aus dem Teufelskreis<br />
herausgibt, dass die Familie wieder gesunden kann und dass diese Gesundung nicht nur von der<br />
Tatsache abhängt, ob der Angehörige nicht mehr trinkt, sondern von der neuen Einstellung der<br />
Familie.<br />
Der Holzweg<br />
Bei den Angehörigenseminaren in Bad Tönisstein stellen wir den Teilnehmern öfter folgende<br />
Frage: „Auf welche Weise habe ich versucht, meinen abhängigen Angehörigen vom Trinken<br />
wegzubringen? Wie habe ich mich dabei gefühlt und wie erfolgreich bin ich bei meinen Aktionen<br />
gewesen?” Darf ich Sie bitten, hier eine kleine Pause einzulegen, bevor Sie weiter lesen und diese<br />
Fragen für sich in aller Ruhe zu beantworten - Danke!<br />
Wird ein Mitglied der Familie abhängig, so bemühen sich die anderen Mitglieder mit viel<br />
Anstrengung und Mühe, den Alkohol- und Tablettenkonsum des Abhängigen unter Kontrolle zu<br />
bringen. Dabei werden die verschiedensten Möglichkeiten gebraucht: z.B. Ausschütten des<br />
Alkohols, die Tabletten wegwerfen, verstecken des Alkohols, aufsuchen und aufspüren der<br />
verschiedenen Verstecke, mittrinken, bitten, versprechen, fordern, schimpfen, beschuldigen,<br />
drohen. Die Versuche der Familie, den Alkoholismus eines Mitgliedes der Familie in den Griff zu<br />
bekommen, bestimmen immer mehr das gesamte Denken, Fühlen und Handeln der Familie. Immer<br />
neue Versuche werden unternommen, immer neue Hoffnungen geweckt, immer neue<br />
Enttäuschungen werden dabei erfahren. Der Abhängige wird mehr und mehr zur Mitte des<br />
Familienlebens. Die Gefühle, welche die Familienmitglieder bei diesen Versuchen erfassen, sind<br />
denen des Abhängigen sehr ähnlich. Die Familie fühlt sich hilflos, schuldig, wertlos und frustriert.<br />
Hinzu kommen oft ein massiver Ärger und Wut. Der Erfolg bei all diesen Bemühungen ist auf die<br />
Dauer gesehen gleich Null.<br />
Machtlosigkeit der Angehörigen<br />
Vielleicht gelingt es durch massive Drohungen oder andere Manipulationen den Abhängigen für<br />
kurze Zeit zu einer Änderung seines Trinkverhaltens zu bewegen, aber nach kurzer Zeit ist alles<br />
wieder beim alten. Damit beginnt das Spiel von neuem: Kontrollversuche auf Seiten der Familie,<br />
Misserfolg und Gefühl von Traurigkeit, Enttäuschung, Arger und Schuld. Bei diesen dauernden<br />
Misserfolgen ergibt sich nun die Frage: „Wieso versucht die Familie eigentlich immer wieder, den<br />
Abhängigen zu kontrollieren, obwohl sie immer wieder Misserfolge erfährt. Warum gibt sie nicht<br />
einfach auf?” Hier läuft ein ähnlicher Mechanismus ab wie beim Abhängigen. Der Abhängige<br />
19
macht seinerseits die Erfahrung, dass er unfähig ist, kontrolliert zu trinken. Diese Erfahrung macht<br />
er immer wieder. Auf der anderen Seite ist er so gefangen in seinem Abwehrdenken und Fühlen,<br />
dass er die illusionäre Hoffnung hat, dass seine Versuche, kontrolliert trinken zu können, das<br />
nächste Mal gelingen. Natürlich gelingen sie nicht, was aber nicht zum Aufgeben seines<br />
illusionären Denkens und Fühlens führt, sondern zu einem neuen Versuch. Etwas Ähnliches<br />
geschieht bei den Angehörigen. Sie haben immer wieder die Erfahrung gemacht, dass sie ihrem<br />
Abhängigen durch ihre verschiedenartigen Versuche nicht helfen konnten. Verstandesmäßig ist<br />
ihnen auch klar, dass sie ihm nicht helfen können. Aber bei ihnen ist ein ähnliches Abwehrsystem<br />
wie beim Abhängigen vorhanden. Dieses Abwehrsystem lässt die Erkenntnis ihrer Machtlosigkeit<br />
nicht aufkommen. Auch sie bleiben bei dem illusionären Hoffen hängen: „Das nächste Mal werden<br />
unsere Bemühungen Erfolg haben.” „Wir müssen nur klüger oder sensibler vorgehen oder zu<br />
einem besseren Zeitpunkt mit dem Abhängigen sprechen.” Natürlich geht es auch mit dem<br />
nächsten Mal schief, und die Angehörigen fühlen sich immer hilfloser und enttäuschter. Dies führt<br />
aber nicht zur Aufgabe ihrer Bemühungen, sondern zu einem neuen Versuch. Damit wird die<br />
Familie in ihrem Denken, Fühlen und Handeln immer mehr von dem Abhängigen abhängig. Der<br />
Abhängige ist abhängig vom Alkohol bzw. von den Tabletten; die Familie ist abhängig von dem<br />
Alkoholiker. Der Hauptgrund für diese Abhängigkeit der Familie liegt in dem dauernden Bemühen,<br />
den Abhängigen in seinem Trinkverhalten zu verändern. Die Familie will die Verantwortung für den<br />
Abhängigen übernehmen. Die Familie verhält sich so, als ob sie für den Abhängigen und sein Tun<br />
verantwortlich wäre. Sie behandelt den Abhängigen wie ein kleines Kind, das für sich nicht mehr<br />
Verantwortung tragen kann. Das stimmt natürlich auf der einen Seite. Der Abhängige benimmt sich<br />
weitgehend unverantwortlich und wie ein Kind und lädt damit die Familie ein, für ihn die<br />
Verantwortung zu übernehmen. Auf der anderen Seite unterstützt die Familie durch die<br />
Übernahme der Verantwortung das Trinkverhalten des Abhängigen. Er hat keinen Grund<br />
aufzuhören, da die negativen Folgen seines Verhaltens weitgehend von der Familie ausgebügelt<br />
werden, z.B., die Ehefrau ruft am Montag im Geschäft an, dass der Ehemann Grippe hat, obwohl<br />
er an den Folgen seines Trinkens am Wochenende erkrankt ist und unfähig ist, zur Arbeit zu<br />
gehen. So paradox und ernüchternd es klingt, die Familie verlängert ungewollt das Trinken des<br />
Abhängigen durch ihre Tendenz, Verantwortung für diesen zu übernehmen. Das ist für viele<br />
Angehörige eine bestürzende und schmerzhafte Erkenntnis, dass all ihr Einsatz und ihre Mühe das<br />
Gegenteil von dem bewirkt haben, was sie eigentlich wollten. Damit wären wir bei der Frage nach<br />
einer Lösung. Gibt es eine Lösung aus diesem Teufelskreis? In welcher Richtung könnte diese<br />
Lösung liegen?<br />
Wege nach vorne<br />
Wir sind bei unseren Überlegungen im ersten Teil häufig auf Parallelen im Verhalten und Fühlen<br />
von Abhängigen und Angehörigen gestoßen. Damit ist schon eine Richtung hin zur Lösung<br />
angezeigt. Anders ausgedrückt: Nicht nur das Problem zeigt Parallelen, sondern auch die Lösung<br />
des Problems.<br />
Zugeben der Machtlosigkeit<br />
Am Beginn jeder Therapie für Alkoholiker liegt die Krankheitseinsicht. Dem Abhängigen wird<br />
zusehends klar, dass er alkoholkrank ist, d.h. dass er unfähig ist, zu bestimmen, wann und wie viel<br />
er trinkt. Er ist machtlos gegenüber dem Alkohol. Dieses Eingeständnis der Niederlage ist die<br />
unverzichtbare Voraussetzung für eine erfolgreiche Therapie. Mit diesem Zugeben der<br />
Machtlosigkeit begibt sich der Abhängige aus dem Abwehrsystem der Verleugnung heraus und<br />
20
stellt sich der Wirklichkeit. Seine illusionäre Hoffnung, das nächste Mal werde er den Alkohol<br />
kontrollieren, bricht zusammen. Die Überzeugung bricht auf: „Ich werde niemals mehr kontrolliert<br />
trinken können.”<br />
Versuchen Sie, diese Einsichten auf die Angehörigen zu übertragen. Auch diese müssen zugeben,<br />
dass sie machtlos sind. Machtlos gegenüber dem Alkoholiker bzw. dem Tablettenabhängigen.<br />
Auch bei ihnen ist es notwendig, dass sie sich zu ihrer Niederlage bekennen, zu der Tatsache,<br />
dass alle Kontrollversuche fehlgeschlagen sind und immer fehlschlagen werden. Gegen dieses<br />
Zugeben der Niederlage und der Machtlosigkeit sträubt sich alles in uns. Wir wollen es nicht<br />
wahrhaben. Hierin gleicht der Angehörige dem Abhängigen sehr stark. Zugeben der Niederlage ist<br />
demütigend. Dennoch führt an dieser Einsicht kein Weg zur Gesundung der Familie vorbei.<br />
Hier begegnet uns eine merkwürdige Paradoxie. So lange wir gegen die Abhängigkeit unseres<br />
Angehörigen kämpfen, bleiben wir in der Verliererposition. Wenn wir unsere Machtlosigkeit<br />
eingestehen, führt ein Weg aus der Verliererposition heraus. ,Gewinnen durch Verlieren.' So heißt<br />
ein kleines Buch über die Therapie von Alkoholikern in Hazelden/USA. Genau dasselbe Motto<br />
können wir über die Therapie der Familie schreiben: ,Gewinnen durch Verlieren.' Auch wenn der<br />
Abhängige weiter trinkt, kann die Familie ihren Frieden gewinnen. Schauen wir das noch etwas<br />
genauer an.<br />
Abschied von der Beschützerrolle<br />
Bei der Therapie des Abhängigen genügt die Krankheitseinsicht alleine noch nicht. Er wird<br />
Entscheidungen fällen müssen, Entscheidungen zur Nüchternheit, Entscheidungen zur<br />
Veränderung, die Entscheidung zur Aufgabe der Kontrollhaltung. Das gleiche gilt auch für die<br />
Angehörigen: Einsicht in die Machtlosigkeit und Vergeblichkeit ihrer redlichen Bemühungen alleine<br />
genügt nicht. Dies könnte auch zu Resignation und Verzweiflung führen. War das bisherige<br />
Verhalten der Angehörigen gezeichnet von Festhalten und Kontrolle, so ist das neue Ziel:<br />
Loslassen, dem Abhängigen seine Verantwortung nicht mehr abnehmen, sondern sie ihm<br />
zumuten. Fangen wir also mit dem Loslassen der Beschützerrolle an.<br />
Zunächst möchten wir sehr klar sagen, dass wir den Angehörigen in keiner Weise einen Vorwurf<br />
machen wollen, dass sie diese Beschützerrolle übernommen haben. Sie waren im guten Glauben,<br />
ihren Angehörigen zu helfen. Sie haben viel Kraft, Zeit und Schmerz in diese Rolle investiert.<br />
Wichtig ist, dass sie heute bereit sind, Abschied von dieser Beschützerrolle zu nehmen, dass sie<br />
ihren Abhängigen Ioslassen und aufhören, für ihn die Verantwortung zu übernehmen.<br />
Wahrscheinlich steigt jetzt eine Menge Widerstand in Ihnen hoch. Fragen wie etwa folgende: „Was<br />
wird aus dem Abhängigen, wenn ich mich nicht mehr um ihn kümmere?” Vielleicht ist es auch die<br />
andere Frage: „Wenn ich loslasse, muss ich mich nicht dann von meinem Mann oder von meiner<br />
Frau trennen?” Die letztere Frage macht deutlich, dass viele Angehörige hier nur ein ,entweder -<br />
oder' sehen. Entweder sie spielen die Beschützerrolle, oder sie lassen sich scheiden. Das ist aber<br />
eine einseitige Sicht des Problems. Es gibt noch eine Menge Alternativen. Ich nenne eine: Ich<br />
gebe meine Beschützerrolle auf und behandle meinen Partner als selbstverantwortlichen<br />
Menschen. Dieser Weg kommt aus der Erkenntnis, dass ich andere Leute nicht ändern kann und<br />
dass meine Beschützerrolle zu keinem bleibenden Erfolg geführt hat. Gerade nach Beendigung<br />
der Therapie ist die Frage nach Trennung oder Scheidung verfrüht. Erst sollte der Versuch<br />
gemacht werden, bei dem jeder als selbstverantwortlicher Mensch lebt und nicht Verantwortung für<br />
den anderen übernimmt. Sollte dies dann auf die Dauer nicht möglich sein, kann immer noch eine<br />
Trennung oder Scheidung ins Auge gefasst werden. Viel wahrscheinlicher aber ist es, dass die<br />
Ehe, auf die Basis der Selbständigkeit und Selbstverantwortung gestellt, besser gelingt als vorher.<br />
21
Natürlich ist das ein langer und oft mühsamer Weg, wie ja überhaupt Loslassen ein mühseliges<br />
Geschäft ist.<br />
Die andere Frage war: „Was wird aus dem Abhängigen, wenn ich nicht mehr die Beschützerrolle<br />
spiele”? Fragen wir uns aber zuerst, was ist aus ihm geworden, so lange wir diese Rolle gespielt<br />
haben: nichts Gutes! Ist für den Abhängigen kein Beschützer mehr da, besteht gute Aussicht, dass<br />
er selbst diese Rolle übernimmt. Er fängt an, für sich selbst Verantwortung zu übernehmen, da die<br />
anderen müde sind, es für ihn zu tun.<br />
Der eigene Wachstumsprozess<br />
Hat der Angehörige angefangen, seinen abhängigen Partner Ioszulassen, wird er fähig, für sich<br />
selbst etwas zu tun. Jahrelang, ja oft jahrzehntelang waren die Gedanken und Gefühle des<br />
Angehörigen besetzt mit der ängstlichen Sorge um den trinkenden Partner. Für sich selbst und<br />
seine Reifung und sein eigenes emotionales Wachstum blieb wenig Zeit und Kraft. Will der<br />
Angehörige auf die Dauer gesund bleiben, muss er anfangen, für sich und sein Wachstum etwas<br />
zu tun. Ein guter Teil der Kraft, die in die Helferrolle geflossen ist, kann nun dem Wachstum der<br />
eigenen Persönlichkeit zugute kommen.<br />
Konkret heißt das zunächst, dass der Angehörige aus seiner Isolation herauskommt und sich<br />
Freunde sucht. Alte Freundschaften, die durch den Alkoholismus des Partners eingefroren wurden,<br />
können erneuert, neue Freundschaften angeknüpft werden. Eine besondere Rolle spielt hier eine<br />
,Support-<strong>Gruppe</strong>'. Der Angehörige braucht neben einem Bekanntenkreis auch einen Kreis von<br />
Menschen, die unter dem gleichen Problem leiden wie er selbst. Eine solche Selbsthilfegruppe<br />
wäre etwa die ,AI-Anon-<strong>Gruppe</strong>', eine Parallelgruppe zu den Anonymen Alkoholikern. Diese<br />
<strong>Gruppe</strong> ist ausschließlich für die Angehörigen von Alkoholikern gedacht. Diese können hier offen<br />
über ihre Probleme, ihre Gefühle und Frustrationen sprechen und an ihrem eigenen emotionalen<br />
Wachstum arbeiten. Daneben gibt es die örtlichen Selbsthilfegruppen des ,Blauen Kreuzes', der<br />
,Guttempler' und der ,Freundeskreise'. Auch gehen die örtlichen Beratungsstellen häufig dazu<br />
über, eigene <strong>Gruppe</strong>n für Angehörige einzurichten.<br />
Der Angehörige hat lange Zeit seine eigenen Wünsche und Bedürfnisse zurückgestellt. In diesem<br />
Stadium sollte er sich die Frage stellen: „Was möchte ich für mich tun”? Die Antwort darauf mag für<br />
den einen der Besuch eines Konzertes oder eines Theaters bedeuten, für den andern ein<br />
Abendkurs in Englisch, für den dritten die Aufnahme einer beruflichen Tätigkeit und vieles andere.<br />
Emotionales Wachstum kann in die Richtung einer tieferen Annahme seiner selbst gehen oder in<br />
Richtung eines besseren Umgangs mit Ärger und Frustration oder in einer tieferen Erfahrung von<br />
Intimität und Partnerschaft. Noch einmal sei es gesagt, dieses Wachstum und diese Veränderung<br />
ist unabhängig von der Trockenheit des Partners. Auch, wenn der Alkoholiker sich entscheidet,<br />
wieder oder weiter zu trinken, kann der Angehörige aus dem Kreis der Abhängigkeit aussteigen,<br />
sich verändern und sich auf seine eigenen Füße stellen. Häufig wird die neue Einstellung und<br />
Haltung des Angehörigen aber auch eine Hilfe für den Alkoholiker sein, sich seinerseits auf seine<br />
eigenen Füße zu stellen und gemeinsam mit seinem Partner den Weg in die Nüchternheit,<br />
Zufriedenheit und Reife zu gehen.<br />
B. Alkoholismus eine spirituelle Erkrankung<br />
22
„Spiritus contra Spiritum” - Heilung durch Spiritualität<br />
In den vergangenen 30 Jahren sind in Deutschland zahlreiche Bücher über Alkoholismus und<br />
Drogenabhängigkeit geschrieben worden. Das gilt sowohl für die wissenschaftlichen, als auch für<br />
die für ein breiteres Publikum gedachten Publikationen. Schon allein daraus wird deutlich, dass<br />
sich auf dem Sektor Forschung, Therapie und Hilfe für Alkoholiker in den letzten Jahrzehnten eine<br />
Menge getan hat. Ähnliches gilt auch für die in diesem Zeitraum entstandenen neuen<br />
Therapieeinrichtungen für Alkoholiker. Eine von diesen ist die 1974 gegründete Fachklinik Bad<br />
Tönisstein, in der ich seit 1977 arbeiten durfte.<br />
Wenn man die Literatur zum Thema Alkoholismus allerdings genauer betrachtet, so fällt auf, dass<br />
der spirituelle Aspekt der Erkrankung und der Heilung nur selten berücksichtigt wird. Damit sollen<br />
die Verdienste der Alkoholismus-Forschung und ihrer Anwendung in der Praxis nicht geschmälert<br />
werden; aber es soll notwendige Ergänzung angeboten werden. Alkoholismus ist eben nicht nur<br />
eine Erkrankung des Verstandes, des Körpers und der Gefühle, sondern auch eine spirituelle<br />
Erkrankung. Mir als Seelsorger und Theologen war der Zusammenhang zwischen der Krankheit<br />
Alkoholismus und der Spiritualität von Anfang an von großer Bedeutung3.<br />
Auch in Hazelden, einer Therapieeinrichtung für Alkoholiker in Minnesota (USA), in der ich meine<br />
Ausbildung zum Alkoholiker-Counselor gemacht habe, war der Zusammenhang zwischen<br />
Alkoholismus und Spiritualität ein ganz wichtiger Teil in der Therapie. Dort wurden die Schritte der<br />
Anonymen Alkoholiker (<strong>AA</strong>) als eine Säule der Therapie verwandt. Die Zwölf Schritte der <strong>AA</strong> - wir<br />
werden noch näher darauf zu sprechen kommen - sind ja im wesentlichen ein spirituelles<br />
Programm der Genesung.<br />
Besonders beeindruckt hat mich ein Buch von Gerald May4. Der US-amerikanische Psychiater<br />
befasst sich darin mit der Frage nach dem Zusammenhang zwischen Spiritualität und<br />
Alkoholismus. Ihm verdanke ich eine Reihe von Einsichten, die ich in der Folge verwendet habe.<br />
In einem Brief des Schweizer Psychotherapeuten C.G. Jung aus dem Jahr 1961 schreibt er an<br />
den Mitbegründer der <strong>AA</strong>, William („Bill") W.: „Alkohol entspricht dem lateinischen Wort Spiritus,<br />
und man gebraucht das selbe Wort für die höchste religiöse Erfahrung (Heiliger Geist) ebenso wie<br />
für das erniedrigendste Gift. Die hilfreiche Formel für die Therapie von Alkoholikern ist daher:<br />
Spiritus contra Spiritum.” C.G.<br />
Jung sieht in dem Drang des Alkoholikers nach Alkohol ein Äquivalent (etwas Gleichwertiges) für<br />
den spirituellen Durst unseres Wesens nach Ganzheit - in der mittelalterlichen Sprache ausgedrückt:<br />
Nach der Einigung mit Gott.<br />
Was ist Spiritualität?<br />
Was versteht man unter Spiritualität? Heute wird das Wort Spiritualität in vielfältiger Weise<br />
verwendet. Es ist zu einer Art Modewort geworden und hat die Worte Religiosität oder Frömmigkeit<br />
weitgehend verdrängt.<br />
Ich möchte das Wort von seinem Ursprung her als die geistlich-religiöse Dimension des Menschen<br />
verstehen. Spiritualität ist abgeleitet von dem lateinischen Wort ,spiritus' (Geist) und meint den<br />
Heiligen Geist, den Gottesgeist, der durch die Taufe im Menschen wohnt. Wir wissen aber auch,<br />
dass dieser Geist lebt wo er will, auch außerhalb der Kirche und außerhalb der Christenheit. In der<br />
23
Spiritualität geht es um die Beziehung des Menschen zu dem unbegreiflichen Geheimnis, das wir<br />
Gott nennen; und daraus folgend, um die geisterfüllte Beziehung zum Mitmenschen, zu sich selbst<br />
und zur Welt. Wir können auch sagen: Ein spiritueller Mensch ist ein Mensch, der aus der Liebe<br />
lebt. Denn Gott ist die Liebe.<br />
Anders ausgedrückt: Es geht in der Spiritualität um etwas, dass mehr ist als der Mensch, das ihn<br />
übersteigt und ihm Ganzheit und Sinn schenkt.<br />
Spiritualität und Alkoholismus<br />
Was kann Spiritualität zum Verständnis des Alkoholismus beitragen? Ich gehe bewusst von einem<br />
biblischen Verständnis des Menschen aus, wie es uns die jüdisch-christliche Tradition aufzeigt. Die<br />
Grundaussage über den Menschen lautet: Gott hat den Menschen nach seinem Bild und Gleichnis<br />
erschaffen. Da Gott die Liebe ist, hat er den Menschen aus Liebe und zum Lieben geschaffen6.<br />
Dieses ,von Gott geliebt sein' ist die Grundlage christlicher Spiritualität. Der Mensch als ,Liebling<br />
Gottes'. Gott hat eine tiefe Sehnsucht nach dem Menschen. Das macht auch letztendlich die<br />
Würde des Menschen aus. Weil von Gott geschaffen und geliebt, ist der Mensch unendlich<br />
wertvoll.<br />
Daraus resultiert beim Menschen eine tiefe Sehnsucht nach etwas, das mehr ist als er selbst, das<br />
ihn übersteigt, nach dem unbegreiflichen Geheimnis, das wir Gott nennen. (Vergleiche den Psalm<br />
42: „Wie der Hirsch lechzt nach frischem Wasser, so lechzt meine Seele Gott nach Dir.”) Diese<br />
Sehnsucht nach Gott ist der große Schatz und das Erbe, das wir in uns tragen. Aus der Tatsache,<br />
dass wir von Gott aus Liebe und zum Lieben erschaffen wurden, ergibt sich auch das<br />
Grundbedürfnis des Menschen nach Lieben und Geliebtwerden. Glück und Gelingen des Lebens<br />
hängt weithin davon ab, ob er dieses Grundbedürfnis realitätsgerecht erfüllen kann und will. Alles,<br />
was der Mensch tut, kommt letztlich aus dem Verlangen nach Liebe und Geliebtwerden. Im<br />
Tiefsten sind Glück und Liebe identisch. Der Weg zum Glück führt über die Liebe, und zwar in ihrer<br />
dreifachen Gestalt: der Gottes-, der Nächsten- und der Selbstliebe.<br />
Wenn wir uns selbst, unsere Mitmenschen und unsere Gesellschaft betrachten, müssen wir<br />
feststellen, dass wir unsere tiefe Sehnsucht nach Glück und gelingendem Leben durch Liebe<br />
häufig nicht realitätsgerecht und verantwortungsbewusst erfüllen. Alles Leid im Leben des<br />
Menschen kommt letztlich vom Mangel an Liebe. Der Mensch, aus Liebe und zum Lieben von Gott<br />
erschaffen, geht häufig seine eigenwilligen Wege. Er sucht sein Glück in einer falschen Richtung -<br />
in einer egozentrischen Richtung. Sein Verlangen nach Glück kann so nicht tief und dauerhaft<br />
erfüllt werden. Es kommt höchstens zu ,Eintagsfliegen' des Glücks. In der Schilderung vom<br />
,Sündenfall Adams und Evas' wird dieser Irrweg, dieser eigenwillige Weg beschrieben - der Weg<br />
der egozentrischen Autonomie. Natürlich ist die Erzählung von Adam und Eva kein historischer<br />
Bericht, sondern eine bildhafte Erklärung der Tatsache, dass wir Menschen - obgleich zum Lieben<br />
erschaffen - uns oft so gegenteilig verhalten. Der zum vertrauten Umgang mit Gott erschaffene und<br />
begnadete Mensch verliert durch sein Fehlverhalten diese Nähe zu Gott, zu den Mitmenschen und<br />
zu sich selbst. Aus dem Paradies wird eine fremde und feindliche Welt, und der Mensch selbst ist<br />
sich entfremdet.<br />
Liebe hat etwas mit dem Willen zu tun. Mehr mit dem freien und guten Willen. Die mittelalterlichen<br />
Theologen ordnen die Liebe dem Willen zu. Lieben hat mit dem Wohlwollen zu tun. Liebe ist nicht<br />
in erster Linie ein Gefühl, das ist es auch, sondern eine Entscheidung, eine Tugend des Willens.<br />
24
Alkoholismus, Sucht, Abhängigkeit<br />
Die Sucht pervertiert unsere tiefe Sehnsucht nach Liebe. Sie bindet unsere Liebesenergie an<br />
niedere Bedürfnisse und Zwänge. Die Energie zum Lieben wird dadurch fehlgeleitet und es bleibt<br />
immer weniger Kraft für die eigentlichen Objekte der Liebe - Gott und die Menschen. Gerald May<br />
beschreibt diese Tatsache folgendermaßen: ,Sucht ist ein Zustand der Voreingenommenheit,<br />
Zwanghaftigkeit oder Besessenheit, der unser Wollen und Streben verfremdet. Dabei<br />
vernachlässigen wir unsere eigentlichen Anliegen, nämlich zu lieben und gut zu sein. Wir<br />
unterliegen einer Macht, die unsere Antriebskräfte an einzelne Gewohnheiten, Dinge oder<br />
Menschen kettet. Diese Bindungen missbrauchen unsere Sehnsucht und erzeugen Sucht''.<br />
Diese Fehlleitung geschieht beim Alkoholiker nicht bewusst, das heißt, überlegt und völlig freiwillig.<br />
Eigentlich bewusst wird ihm diese Fehlleitung und die daraus erfolgende Abhängigkeit erst, wenn<br />
er bereits im Netz der Sucht gefangen ist. Die Sucht missbraucht unsere Freiheit und veranlasst<br />
uns zu tun, was wir eigentlich nicht wollen.<br />
Auch der Apostel Paulus beschreibt diese Erfahrung im Römerbrief (Kapitel 7,15-25)9. Spirituell<br />
gesehen, ist die Sucht die Verschiebung der Liebe auf die Objekte der Abhängigkeit. In unserem<br />
Fall sind das der Alkohol, oder die Droge, oder die Tablette. Sie werden die ,Götter' - oder besser<br />
die ,Götzen' -, von denen man Glück, Leben und Zufriedenheit erhofft. Sie bekommen eine<br />
,letztgültige Bedeutung', die eigentlich nur Gott, dem Summum Bonum, dem höchsten Gut,<br />
zukommt. Diesem Götzen bringt der Abhängige gewaltige Opfer dar: Familie, Beruf, Gesundheit,<br />
Zeit und Kraft.<br />
Im ,Drogenpsalm' wird diese Verschiebung in erschütternde Worte gefasst:<br />
Ich liebe dich, Droge, meine Stärke!<br />
Du bist mein Halt, meine Zuflucht, mein Erretter!<br />
Ohne dich bin ich wie einer, der schon gestorben ist.<br />
Ich bin geworden wie ein kraftloser Mann.<br />
Ich suche dich am Morgen und am Abend.<br />
Meine Seele dürstet nach dir.<br />
Mein Leib schmachtet nach dir,<br />
wie dürres lechzendes Land ohne Wasser.<br />
Was gibt es für mich außer dir?<br />
Wenn ich nur dich habe,<br />
frage ich nach sonst nichts auf Erden.<br />
Mag Leib und Seele mir schwinden,<br />
wenn du bei mir bist, bin ich getröstet.<br />
In diesem Psalm wird der Verlust der Ziel- und Sinnorientierung überdeutlich. Nicht mehr Gott, die<br />
Mitmenschen und sein wahres Selbst sind Ziel der Liebes- und Sinnenergie des Alkoholikers,<br />
sondern die Droge. Von ihr erhofft er sich Erfüllung und Leben. Die Droge wird zu einem<br />
Heilbringer hochstilisiert: ,Du sollst keine fremden Götter neben mir haben', meint ja nicht nur<br />
Götzen aus Holz und Stein, sondern genau so auch Drogen, Ideologien, Menschen. Natürlich ist<br />
sich der ,nasse' Alkoholiker der Tatsache des Götzendienstes nicht bewusst. Erst im Stadium der<br />
Genesung können ihm diese Zusammenhänge aufgehen. Erst jetzt wird ihm klar, dass er zutiefst<br />
etwas ganz anderes gesucht hat, nämlich Glück, Liebe, Ganzheit und Geborgenheit - ja<br />
wahrscheinlich auch Gott.<br />
25
Alkohol und Drogen sind aber nur ein Objekt der Sucht. Viele andere kommen dazu: Arbeit, Essen,<br />
Sex, Leistung, Macht und Menschen. Sie können den Menschen fesseln und abhängig machen.<br />
Wir leben heute in einer Gesellschaft, die in vielfältiger Weise abhängig ist.<br />
Der Alkoholiker spürt natürlich, dass mit seinem Trinken etwas nicht in Ordnung ist. Schon sehr<br />
früh bekommt er Schuldgefühle wegen der Art seines Trinkens. Aber er ist nicht mehr in der Lage,<br />
sein Trinken mit seinem Willen zu kontrollieren. Obwohl er bei der Beschaffung von Alkohol einen<br />
äußerst starken Willen aufweist, ist er machtlos gegenüber der Kontrolle seines Alkoholkonsums.<br />
Diese Tatsache will er aber nicht wahrhaben, und so kämpft er mit viel Energie aber ohne Erfolg<br />
gegen den Alkoholismus an. Ich nenne diesen Weg des Kampfes den ,instinktiven' Weg, weil er<br />
aus dem Instinkt des sich Wehrens gegen eine Macht, gegen einen machtvollen Gegner kommt.<br />
Diesen instinktiven Weg gehen Alkoholiker oft viele Jahre, bis sie endlich ihre Machtlosigkeit<br />
gegenüber dem Alkohol einsehen, zugeben, und zur Kapitulation bereit sind.<br />
Zusammenfassend kann man sagen: Der Mensch, der von Gott aus Liebe und zum Lieben<br />
erschaffen wurde, richtet in der Sucht seine Sehnsucht und Liebeskraft auf Objekte, die diese Kraft<br />
immer mehr austrocknen. Statt Gott und den Mitmenschen zu dienen, verliert er sich an Götzen,<br />
die - nach anfänglichem Wohltun - bald ihr wahres Gesicht zeigen und den Abhängigen zu<br />
zerstören drohen.<br />
Heilung durch Spiritualität<br />
Ich möchte die Heilung" des Alkoholikers durch Spiritualität an den ersten drei Schritten der <strong>AA</strong><br />
aufzeigen.<br />
1. Zunächst muss der Alkoholiker zugeben, dass er sich auf einem Irrweg befindet, der ihn immer<br />
weiter in die Verzweiflung treibt. Anders ausgedrückt, er muss das Scheitern seines<br />
Lebensentwurfes zugeben und sich von dem Irrweg endgültig verabschieden. Auf dem Weg des<br />
Alkohols kann er sein Grundbedürfnis nach Liebe nicht erfüllen.<br />
2. Diese Einsicht ist die Voraussetzung für alles andere, dennoch ist es noch lange nicht alles. Die<br />
Liebesenergie des Alkoholikers, die so lange auf ein falsches Objekt gerichtet war, muss in eine<br />
neue Richtung fließen, dorthin, wo sie wirklich hingehört: auf die Mitmenschen, auf Gott und sich<br />
selbst. Dies ist die Grundbestimmung des Menschen, Gott und den Nächsten zu lieben.<br />
Wohlgemerkt, zu lieben und sich nicht von Menschen abhängig zu machen oder sie benutzen.<br />
Geschieht diese Umlenkung nicht, so besteht die Gefahr, dass der Süchtige sich neue Objekte<br />
seiner Sucht sucht, und das Spiel beginnt von neuem. Der Alkoholiker wird zum ,Workaholiker', der<br />
Tablettensüchtige steigt auf Alkohol um, der Esssüchtige sucht sein Heil in Tabletten. Die Macht<br />
der Liebe und des Vertrauens sind die einzigen Mächte, die den Süchtigen aus dem Teufelskreis<br />
herausführen.<br />
Im zweiten Schritt der Anonymen Alkoholiker wird diese Neuorientierung der Liebes- und<br />
Vertrauensenergie deutlich ausgesprochen: ,Wir kamen zu dem Glauben, dass eine Macht, größer<br />
als wir selbst, uns unsere geistige Gesundheit wiedergeben kann.' Da ist die Rede von einer<br />
Macht, größer als wir selbst, die den Alkoholiker heilen kann. Damit ist ein Zweifaches ausgesagt:<br />
u 1. Schritt der <strong>AA</strong>: Wir gaben zu, dass wir dem Alkohol gegenüber machtlos (powerless) sind und<br />
unser Leben nicht mehr meistern konnten (unmanageable).<br />
26
• Erstens, die Macht, größer als wir selbst, kann nicht der Alkohol oder die Droge sein. Sie sind<br />
zwar unheimliche Mächte, größer als wir selbst, aber sie führen nicht zur geistigen Gesundheit,<br />
sondern zu geistigem und körperlichem Tod.<br />
• Zweitens, die Neuorientierung seines Lebens kann der Alkoholiker nicht aus eigener Kraft<br />
vollbringen. Zwar muss er seine ganze Kraft einsetzen und eine Menge tun, um zu dieser geistigen<br />
Gesundheit zu gelangen - ein passives Abwarten auf Hilfe von Oben würde den zweiten Schritt<br />
gründlich missverstehen -, aber letztendlich ist das Gelingen ein Geschenk, eine Gnade. Gerald<br />
May sagt: „Gnade ist die einzige Chance für den Alkoholiker, um mit seiner Sucht fertig zu<br />
werden.” Ignatius von Loyola spricht in diesem Zusammenhang folgendes: „Handle so, als ob alles<br />
von Dir abhinge und vertraue Gott so, als ob alles von ihm abhinge.”<br />
3. Im dritten Schritt der <strong>AA</strong> „Wir fassten den Entschluss, unseren Willen und unser Leben der<br />
Sorge Gottes - wie wir ihn verstanden - anzuvertrauen” wird dieser höheren Macht ein deutlicher<br />
Name gegeben: Gott, wie wir ihn verstehen. Für die Väter und Mütter der Zwölf Schritte, die<br />
allesamt einen christlichen Background hatten, war diese höhere Macht natürlich der Gott der<br />
jüdisch-christlichen Tradition, den sie im Religionsunterricht und der kirchlichen Glaubenspraxis<br />
erlernt und erfahren hatten. Auf diesen barmherzigen Vater, der trotz aller Irrwege und Umwege<br />
des Alkoholikers eine tiefe Sehnsucht nach diesem hat, setzten sie ihr Vertrauen. Das Gleichnis<br />
von der Heimkehr des verlorenen Sohnes zum Vater erschien dabei als eine Art Modell.<br />
„Schließen Sie sich einer religiösen Gemeinschaft an.”, so hatte auch C.G. Jung einem<br />
alkoholkranken Patienten geraten, der immer wieder rückfällig geworden war und dann in der<br />
Oxford-Bewegung eine religiöse Heimat gefunden hatte und trocken blieb. Später stießen zu den<br />
Anonymen Alkoholikern auch Agnostiker und Atheisten, die keinen Zugang zu dem Gott der Bibel<br />
hatten. Um auch diesen Menschen die Heilkraft der Zwölf Schritte zu erschließen, erweiterten die<br />
Gründer der <strong>AA</strong> das Wort Gott mit dem Zusatz ,wie wir ihn verstehen'. Damit sollte nicht einer<br />
Beliebigkeit und Unverbindlichkeit das Wort geredet werden, sondern der Alkoholiker vor die Frage<br />
gestellt werden: „Was ist für mich Gott?”, oder anders ausgedrückt: „Was ist Gott für mich? - Was<br />
geht mich unbedingt an? - Welcher Kraft in meinem Leben vertraue ich wirklich?° Wichtig ist vor<br />
allem die Erkenntnis: „Ich bin nicht meine eigene höhere Macht.” Wer so denkt, dem können die<br />
Schritte nicht zur Heilung helfen, gleich ob er Christ oder Atheist ist, denn er nimmt das spirituelle<br />
Herz aus dem Leib der Schritte.<br />
Der Vater wartet voll Sehnsucht auf die Heimkehr des Sohnes. Er sieht ihn schon von weitem<br />
kommen und läuft ihm entgegen.12 Der Vater war mit seiner Liebe immer bei dem Sohn. Dieser<br />
musste sich aber erst seinem Tiefpunkt stellen und dann aufbrechen und zu seinem Vater<br />
heimkehren. Dort erfährt er die vergebende Liebe des Vaters und wird in seine Würde als Sohn<br />
wieder eingesetzt (Schuhe, Gewand, Ring).13<br />
Heilende Einstellungen<br />
Der Alkoholiker kann sich der heilenden und befreienden Liebe Gottes sicher sein. Gott will ihn<br />
befreien aus der Gefangenschaft der Sucht.14 In diesem Vertrauen und Kraft dieser Gnade kann<br />
der Alkoholiker den neuen Weg, den heilenden Heimweg antreten. Dieser heilende Heimweg wird<br />
von bestimmten Grundeinstellungen begleitet.<br />
a) Wahrhaftigkeit und Ehrlichkeit<br />
27
Der Heimkehrende muss seine Verleugnung und Verharmlosung aufgeben und sich seiner<br />
Wahrheit stellen. Nur die Wahrheit wird ihn freimachen. Im Prozess dieser Wahrheitsfindung wird<br />
er sich seines Tiefpunktes und der Verletzungen bewusst, die er sich und anderen zugefügt hat.<br />
b) Demut<br />
Der ,nasse' Alkoholiker versucht immer noch, seine Situation selbst in den Griff zu bekommen.<br />
Sein falscher Stolz hindert ihn, demütig seine Begrenzung anzuerkennen. Demut heißt, sich in<br />
seiner Begrenzung anzunehmen. Die Begrenzung des Alkoholikers heißt: Machtlosigkeit<br />
gegenüber dem Alkohol.<br />
c) Vertrauen<br />
Ein Wesenszug des Alkoholikers ist der Mangel an Vertrauen. Vertrauensvoll mit dem Leben, mit<br />
sich selbst, mit anderen und mit Gott umzugehen, ist für den ,nassen' Alkoholiker schier unmöglich.<br />
Im Prozess der Genesung geht es um den Aufbau des Vertrauens. Dieses wird bestärkt in der<br />
Bereitschaft, Hilfe anzunehmen. Hier spielen Therapie und Selbsthilfegruppen eine entscheidende<br />
Rolle. Gegenüber dem alkoholisierten Allmachtsdenken der ,nassen' Phase ist der Alkoholiker jetzt<br />
bereit, sich vertrauensvoll auf eine <strong>Gruppe</strong> und damit auf andere Menschen einzulassen. Damit<br />
verbunden ist aufkeimendes Vertrauen in einen Weg aus der Verzweiflung durch ein<br />
Therapieprogramm und durch das Modell langjährig trockener Alkoholiker. In dieser Phase<br />
bekommt für viele genesende Alkoholiker das Gebet eine neue Bedeutung - Gebet im Sinne des<br />
Vertrauens, dass Gott mir die Kraft zur Genesung schenkt.<br />
d) Liebe geben und Liebe empfangen<br />
Der genesende Alkoholiker bricht aus seiner Eingeschlossenheit in sein ICH auf und beginnt, sein<br />
Grundbedürfnis nach Liebe und Geliebtwerden realitätsgerecht zu erfüllen. Er beginnt sich<br />
mitzuteilen und trägt Fürsorge. für sich und andere. Diese Selbstüberschreitung ist ein wesentlicher<br />
Schritt zur Genesung<br />
e) Loslassen, sich überlassen<br />
In der ,nassen' Phase meint der Abhängige, er könne das Leben ,managen', er habe alles im Griff.<br />
In der Genesungsphase beginnt er zu akzeptieren, dass er sein Trinken nicht kontrollieren konnte,<br />
aber auch über viele andere Bereiche des Lebens keine Macht hat (andere Menschen, eigene<br />
Gefühle etc.).<br />
Gibt der Abhängige seine Kontrollhaltung auf und erkennt demütig seine Begrenzungen an, dann<br />
kommt es zu einer gelassenen und friedlichen Haltung. In diesem Prozess des Loslassens spielt<br />
der religiöse Glaube wieder eine wichtige Rolle. Der Abhängige kann loslassen, weil er darauf vertraut,<br />
nicht in einen Abgrund zu stürzen, sondern von der liebevollen Umarmung Gottes<br />
aufgefangen zu werden.17 (Er lief dem Sohn entgegen, fiel ihm um den Hals und küsste ihn.)<br />
Die vertrauensvolle Übergabe des Lebens an Gott wirkt präventiv gegenüber Rückfällen und ist<br />
gleichzeitig ein Weg zum gelingenden Leben.<br />
Wir haben uns Gedanken gemacht über die Bedeutung der Spiritualität im Heilungsprozess von<br />
Alkoholikern. Zuletzt muss noch deutlich gemacht werden, dass dieser Weg kein Gegensatz zu<br />
28
therapeutischen Wegen der Psychologie ist, sondern einen integrativen Beitrag darstellt. Erst wenn<br />
Leib, Gefühle, Verstand, Wille, soziale Beziehungen und Spiritualität in einen integrativen<br />
Wachstumsprozess einbezogen werden, besteht Aussicht auf eine zufriedene Nüchternheit; das<br />
gilt auch im besonderen Maße für die Erhaltung der Trockenheit und das Gewinnen einer<br />
zufriedenen Nüchternheit!<br />
.<br />
Alkoholismus - eine Erkrankung der Tugenden<br />
Alkoholismus als eine spirituelle Erkrankung zeigt sich auch in der Verwundung und Erkrankung<br />
der Tugenden. Tugend ist eine Tauglichkeit - eine feste, beständige Neigung des Verstandes und<br />
des Willens, das Gute zu tun. 'Tugenden können die horizontale personale Ebene betreffen oder<br />
die vertikale transpersonale Ebene. Auf beiden Ebenen wirkt sich der Alkoholismus zerstörerisch<br />
aus. Der Alkoholiker verliert immer mehr die feste Neigung, das Gute zu tun. Wir konzentrieren uns<br />
jetzt auf die Erkrankung der transpersonalen, der göttlichen Tugenden: Glaube, Hoffung und Liebe.<br />
Glaube<br />
Glaube ist eine Gabe des Heiligen Geistes. Er befähigt uns, unser Leben und unseren Willen - also<br />
unser ganzes Wesen - Gott anzuvertrauen und Ja zu sagen zu seiner Botschaft.19 In der<br />
vertrauensvollen Hingabe an Gott erfährt der Mensch Leben, Wachstum und einen neuen Weg.<br />
Glaube ist aber auch ein verantworteter Sprung, verantwortet durch den Sprung selbst. Der<br />
Glaubenssprung führt uns in die Teilnahme am göttlichen Leben. Glauben ist zutiefst ein<br />
Geschenk, eine Gnade, die wir ,gratis' bekommen, für die wir aber geöffnete Hände und Herzen<br />
haben müssen.<br />
Ohne Vertrauen in Gott und - daraus hervorgehend - Vertrauen zu den Mitmenschen und zu sich<br />
selbst kann Leben nicht gelingen; der Mensch bleibt in sich eingeschlossen.<br />
Der Alkoholiker setzt sein Vertrauen in den ,Stoff'. Von ihm erhofft er sich Leben, Trost,<br />
Wohlbefinden und Zufriedenheit. Der Stoff wird zum Heilbringer und Götzen. Damit verliert der<br />
Alkoholiker aber seine Fähigkeit, Gott zu vertrauen, immer mehr. Seine Beziehung zum wahren<br />
Gott wird immer brüchiger. Seine Seele erkrankt. Zwar kommt es manchmal zu einem ,Aufschrei<br />
zu Gott', dies ist aber meist nur vorüber-gehend. Der Götze Alkohol zersetzt die Glaubenskraft und<br />
Glaubensfreude.<br />
Hoffnung<br />
Ähnliches gilt für die zweite göttliche Tugend, die Hoffnung. Diese hängt eng mit dem Vertrauen<br />
zusammen. Sie ist eigentlich nur das in die Zukunft, das Morgen gerichtete Vertrauen: Gott wird<br />
mich auch in Zukunft nicht im Stich lassen, wenn ich mich an ihm festhalte. Dieses hoffende<br />
Vertrauen ist wiederum Geschenk des Heiligen Geistes und nicht unser eigenes Verdienst.<br />
Der nasse Alkoholiker hält sich jedoch nicht an einem gütigen Gott fest, sondern an der ,Flasche',<br />
von der er sich getröstete Zukunft erhofft. Diese Hoffnung wird aber von der Realität Lügen<br />
gestraft. Das Morgen des ,nassen' Alkoholikers wird immer mehr zu einem Albtraum. Der<br />
Hoffnungsträger Alkohol führt in die Dunkelheit und Trauer und nicht in das Leben. Die Quelle<br />
wahrer Hoffnung - Gott - tritt immer mehr in den Hintergrund und verliert sich in der Pseudo-<br />
Hoffnung, dass der Alkohol doch noch alles gut machen kann.<br />
29
Liebe<br />
Liebe ist die größte aller Tugenden. Alle anderen Tugenden, auch die horizontalen - wie Tapferkeit,<br />
Freundlichkeit, Gehorsam, Zucht und Maß - müssen in sich die Liebe haben.<br />
Dies gilt auch für die Tugend der Trockenheit und Nüchternheit eines genesenden Alkoholikers.<br />
Gottes Liebe zu uns ist in unsere Herzen ausgegossen.20 Die Liebe, mit der Gott liebt, hat auch<br />
unser Herz getroffen und ist in unserem Herzen. Dadurch - und nicht durch unser Verdienst - sind<br />
wir schon jetzt liebende Menschen. Liebe in diesem Sinn meint nicht in erster Linie ein Gefühl,<br />
sondern ein aus sich herausgehendes Wohlwollen und Mitfühlen. Der Weg zum Glück und zum<br />
gelingenden Leben führt über den frohen, manchmal auch recht beschwerlichen Weg der Liebe.<br />
Beim nassen Alkoholiker wird diese Kraft der Liebe fehl-geleitet: Nicht Gott und die Mitmenschen<br />
sind Adressaten seiner Liebe, sondern der Stoff, dem seine ganze Liebe gilt. Auf ihn und seinen<br />
Besitz richten sich seine Gedanken, bei Tag und bei Nacht. So wird er immer weniger fähig, sein<br />
Grundbedürfnis nach Liebe und Geliebtwerden zu erfüllen. Das führt schließlich zu einem immer<br />
stärkeren Eingeschlossensein in sich selbst. Der nasse Alkoholiker ist ein zutiefst einsamer<br />
Mensch, auch wenn er vielleicht (am Tresen) lauthals parliert.<br />
Die Krankheit des Alkoholikers besteht somit weitgehend in seiner Unfähigkeit zur Liebe zu Gott,<br />
zu den Menschen und zu sich selbst. Er verliert immer mehr den Sinn seines Lebens. Denn der<br />
Sinn und das Ziel des Lebens sind in dem Doppelgebot zusammengefasst: Liebe Gott mit deiner<br />
ganzen Kraft und liebe deinen Nächsten.<br />
III. Schritte zur Heilung<br />
Die Zwölf Schritte der Anonymen Alkoholiker<br />
Die Zwölf Schritte der Anonymen Alkoholiker, 1939 in den USA erstmals veröffentlicht und von den<br />
Verfassern - als Rückblick - in der Vergangenheitsform abgefasst, sind ein Lernprogramm für einen<br />
alternativen Lebensstil, das dazu anleitet, neue Orientierungen und Einstellungen zu finden, um<br />
intensiver und erfüllter zu leben (mehr Kontakt mit mir, den anderen und der weiteren Umwelt).<br />
Wichtig ist, dass man die Reihenfolge der Schritte einhält, denn jeder weitere Schritt baut auf dem<br />
vorhergehenden auf. Der erste Schritt ist also die Grundlage für das ganze Programm. Wichtig ist<br />
auch, dass man sich für jeden Schritt ausreichend Zeit nimmt, denn in jedem Schritt geht es um<br />
bestimmte Wachstumsprozesse, die Zeit erfordern, und um Auseinandersetzung mit bisherigen<br />
Einstellungen und Verhaltensweisen, die nicht so schnell verschwinden. Die Beschäftigung mit den<br />
Zwölf Schritten ist ein lebenslanger Prozess - nicht nur eine Episode während eines<br />
Klinikaufenthaltes. Wichtig ist ferner, dass man die Arbeit an den Zwölf Schritten nicht allein tut,<br />
sondern in einer von ihrem Geist geprägten <strong>Gruppe</strong>, so dass man dort Annahme und Konfrontation<br />
erfährt, die die Grundlage jeden persönlichen Wachstums sind.<br />
Die Zwölf Schritte lauten:<br />
1. Wir gaben zu, dass wir dem Alkohol gegenüber machtlos sind - und unser Leben nicht mehr<br />
meistern konnten.<br />
30
2. Wir kamen zu dem Glauben, dass eine Macht, größer als wir selbst, uns unsere geistige<br />
Gesundheit wiedergeben kann.<br />
3. Wir fassten den Entschluss, unseren Willen und unser Leben der Sorge Gottes - wie wir ihn<br />
verstanden - anzuvertrauen.<br />
4. Wir machten eine gründliche und furchtlose Inventur in unserem Inneren.<br />
5. Wir gaben Gott, uns selbst und einem anderen Menschen gegenüber völlig unverhüllt<br />
unsere Fehler zu.<br />
6. Wir waren völlig bereit, all diese Charakterfehler von Gott beseitigen zu lassen.<br />
7. Demütig baten wir ihn, untere Mängel von uns zu nehmen.<br />
8. Wir machten eine Liste aller Personen, denen wir Schaden zugefügt hatten, und wurden<br />
willig, ihn bei allen wieder gut zu machen.<br />
9. Wir machten bei diesen Menschen alles wieder gut - wo immer es möglich war -, es sei<br />
denn, wir hätten dadurch sie oder andere verletzt.<br />
10. Wir setzten die Inventur bei uns fort, und wenn wir Unrecht hatten, gaben wir es sofort zu.<br />
11. Wir suchten durch Gebet und Besinnung die bewusste Verbindung zu Gott - wie wir ihn<br />
verstanden - zu vertiefen. Wir baten ihn nur, uns Seinen Willen erkennbar werden zu lassen,<br />
und uns die Kraft zu geben, ihn auszuführen.<br />
12. Nachdem wir durch diese Schritte ein seelisches Erwachen erlebt hatten, versuchten wir,<br />
diese Botschaft an Alkoholiker weiterzugeben und unser tägliches Leben nach diesen<br />
Grundssätzen auszurichten.<br />
Kapitulation - Gedanken zum 1. Schritt der <strong>AA</strong><br />
Liebe Patientinnen und Patienten,<br />
in meiner therapeutischen Arbeit habe ich Elemente der Psychotherapie, wie etwa der<br />
Verhaltenstherapie, der Realitätstherapie oder der Gestalttherapie mit den Schritten der Anonymen<br />
Alkoholikern verbunden. Ich habe das in meiner Ausbildung in Hazelden gelernt. Ich glaube, dass<br />
die Zwölf Schritte der Anonymen Alkoholiker (<strong>AA</strong>) ein wichtiger Beitrag zur Behandlung des<br />
Alkoholismus geworden sind.<br />
Ich würde Euch bitten, die ersten drei Schritte auswendig zu lernen. Wer sich über diese Schritte<br />
informieren will, liest am besten das Buch von Helmut Harsch: ,Alkoholismus'. Ich möchte in den<br />
31
kommenden Vorträgen über diese Schritte sprechen und sie auf ihre Bedeutung für die Therapie<br />
hin auslegen. Fangen wir heute mit dem ersten Schritt an. Er lautet:<br />
Wir gaben zu, dass wir dem Alkohol gegenüber machtlos sind - und unser Leben nicht mehr<br />
meistern konnten.<br />
Dieser Schritt hat zwei Teile. Bei dem ersten Teil geht es um die Machtlosigkeit gegenüber dem<br />
Alkohol. Im zweiten Teil geht es um die Unfähigkeit, das Leben zu meistern. Beides hängt zwar<br />
eng miteinander zusammen, ist aber doch sehr verschieden. Beim heutigen Vortrag möchte ich<br />
mich auf den ersten Teil des ersten Schrittes beschränken.<br />
Der erste Schritt beginnt mit dem Wort ,wir'. Wir, das heißt in der Vergangenheit die Gründer der<br />
Anonymen Alkoholiker, Bob und Bill und wie diese ersten Leute hießen. Etwa 1936 trafen sich zwei<br />
,hoffnungslose Alkoholiker' zu einem Gespräch und erzählten sich ihren Leidensweg. Dieses<br />
gegenseitige Mitteilen der Trinkgeschichte hatte zur Folge, dass der Trinkwunsch deutlich<br />
nachließ. Das war wohl die Geburtsstunde der Anonymen Alkoholiker. Nach einigen Jahren haben<br />
sich dann diese Mitglieder gefragt: „Wie sind wir eigentlich trocken geworden?”. Es wäre etwa so,<br />
als wenn Du dich nach Deiner Therapie oder vielleicht auch ein halbes Jahr danach hinsetzen<br />
würdest, Deine Aufzeichnungen nähmst und Dir Gedanken machtest, wie das eigentlich passiert<br />
ist, dass aus einem nassen Alkoholiker ein trockener geworden ist. Wie waren diese Schritte bei<br />
Dir? - So ähnlich haben das diese Anonymen Alkoholiker gemacht und dann diese Zwölf Schritte<br />
aufgestellt. Da handelt es sich nicht um eine Theorie, sondern um ein Nachbuchstabieren eines<br />
Erfahrungsweges.<br />
Ich möchte da kurz noch ein Wort sagen zu der religiösen Sprachform der Schritte. Manche von<br />
Euch fühlen sich etwas abgestoßen von den religiösen Formulierungen der Zwölf Schritte der<br />
Anonymen Alkoholiker. Ich kann das durchaus verstehen. Diese Selbsthilfebewegung ist auch aus<br />
einer religiösen Erweckungsbewegung, der so genannten Oxford-Bewegung entstanden und hat<br />
damit auch das religiöse Sprachkleid übernommen. Wichtig ist allerdings für mich, dass dieses<br />
Sprachkleid nicht einfach übernommen werden muss, um trocken zu bleiben. Auch jemand, der<br />
nicht mehr viel mit dem Wort Gott oder Religion oder Glauben verbindet, kann aufgrund dieses<br />
Therapieprogramms trocken werden. Aus diesem Grund haben die Verfasser der Schritte auch<br />
immer von ,Gott - wie wir ihn verstehen' - gesprochen, d.h. Du musst Dir klar werden, was für Dich<br />
Dein höchster Wert ist oder, wie Paul Tillich es ausdrückt: ,das was Dich unbedingt angeht'. Um<br />
das kommst Du allerdings nicht herum. Wer glaubt, dass er nur durch einige Korrekturen seines<br />
Verhaltens lange Zeit trocken bleiben kann, liegt meiner Ansicht nach falsch. Es geht um eine<br />
Neuorientierung meines Lebens auf Werte hin, bzw. auf meinen höchsten Wert.<br />
In der Gegenwart bedeutet das w i r nun die Therapiegruppe in Bad Tönisstein. Ich bin der<br />
Meinung, dass die <strong>Gruppe</strong> in Bad Tönisstein das wichtigste Instrument der Therapie ist. Sicherlich<br />
haben die Therapeuten auch ihre Bedeutung. Ich möchte das nicht herunterspielen; aber die<br />
Frage, ob einer letztlich trocken bleibt, liegt an der intensiven Mitarbeit in der <strong>Gruppe</strong>. Und zwar<br />
meine ich das in doppelter Weise: dass ich von mir in der <strong>Gruppe</strong> mitteile, dass ich mich öffne und<br />
meine Ängste und Schwierigkeiten und Fragen anspreche. Gleichzeitig aber ist wichtig, dass ich<br />
mich für die anderen interessiere, dass ich Interesse habe an dem Schicksal der anderen. Ich<br />
weiß, dass dies nicht so leicht ist. Viele kommen hier mit einer Menge Angst nach Bad Tönisstein.<br />
Der erste Tag oben auf der Aufnahmestation ist für viele sehr beängstigend. Kaum habt Ihr dann<br />
Wurzeln geschlagen in der <strong>Gruppe</strong>, kommt Ihr wieder in eine neue Therapiegruppe, und wieder<br />
beginnt ein Stück Angst. Trotzdem ist es wichtig, dass Du Dich von dieser Angst nicht bestimmen<br />
lässt, sondern Dich langsam öffnest.<br />
32
Viele von uns haben die Erfahrung gemacht, dass nach etwa sechs oder sieben Wochen ein<br />
Gefühl von Traurigkeit aufkommt beim Gedanken, die <strong>Gruppe</strong> zurückzulassen. Für viele ist es zum<br />
ersten Mal im Leben, dass sie sich so offen und so nah gezeigt haben. Viele gehen nach acht<br />
Wochen keineswegs mit einer großen Begeisterung weg, sondern haben gleichzeitig Traurigkeit im<br />
Herzen. Der Gedanke, der am Anfang da war: „Hoffentlich geht die Therapie möglichst schnell<br />
vorbei”, sieht am Ende der Therapie ganz anders aus.<br />
Für die Zukunft heißt das w i r meine Selbsthilfegruppe draußen nach der Therapie. Es wäre falsch<br />
zu glauben, dass die <strong>Gruppe</strong> nur in Bad Tönisstein Wichtigkeit hat. Auch draußen - gerade<br />
draußen - brauche ich Menschen, mit denen ich vertrauensvoll über meine Probleme sprechen<br />
kann. Ich will nicht behaupten, dass jemand, der in keine <strong>Gruppe</strong> geht unbedingt rückfällig werden<br />
muss, das stimmt auch nicht. Ich weiß aber, dass die meisten Patienten, die rückfällig geworden<br />
sind und wieder nach Bad Tönisstein kamen, sagten, dass sie von irgendeinem Zeitpunkt an die<br />
<strong>Gruppe</strong> nicht mehr besucht haben oder überhaupt in keine gegangen sind. Sicherlich kann ich das<br />
<strong>AA</strong>-Programm z.B. oder auch ein anderes Programm alleine leben. Ich kann es täglich lesen, ich<br />
kann mich danach verhalten, aber ich glaube, dass dieses Programm notwendig das Miteinander<br />
von Menschen voraussetzt: das gilt nebenbei bemerkt auch für das Neue Testament. Natürlich<br />
kann ich allein die Bibel lesen, aber die Bibel setzt eine <strong>Gruppe</strong> voraus, mit der ich darüber<br />
spreche, die sich auch gegenseitig stützt.<br />
Jetzt wollen wir uns dem Zentrum des ersten Schritts nähern. Es heißt da zunächst einmal<br />
,zugegeben': zugeben ist mehr als erkennen. Erkannt hast Du schon lange, dass Du abhängig bist,<br />
dass Du mit dem Stoff nicht umgehen kannst, aber zugeben, anderen mitteilen, das war nicht<br />
möglich. Du hast immer noch gemeint, es allein zu schaffen und hast Dich abgestrampelt.<br />
Zugeben ist etwas Schmerzliches. Es kommt nicht allein vom Kopf her, sondern auch vom Bauch.<br />
Natürlich muss ich den Kopf einsetzen, im Kopf muss ich anfangen zu erkennen, dass ich<br />
abhängig bin. Ich muss mir die Ereignisse klar machen, in denen ich das deutlich erfahren habe.<br />
Dann aber muss diese Erkenntnis in den Bauch rutschen.<br />
Das Zentralwort im ersten Schritt heißt ,Machtlosigkeit gegenüber dem Alkohol'. Das ist das große<br />
Problem. Niemand will machtlos sein, wir wollen alle Kontrolle haben, wir wollen Macht haben über<br />
unser Verhalten und auch über den Alkohol. Das ist etwas, was Dich sehr gedemütigt hat, zu<br />
erkennen, dass Du mit dem Stoff nicht umgehen kannst. In einem Alkoholiker sind gleichsam zwei<br />
Teilpersönlichkeiten: ,Der Realist', der nach langen Jahren des Leidens erkennt, dass er mit<br />
diesem Stoff nicht umgehen kann, und der ,Illusionist' - das ist jener Teil, der sagt, Du kannst es<br />
doch, Du musst es nur etwas geschickter anfassen. Du darfst eben keinen Schnaps mehr trinken,<br />
sondern nur noch Bier, dann wirst Du es schon schaffen. Diese beiden Seiten stehen im Kampf;<br />
und dieser Kampf dauert oft jahrelang, ja oft über ein Jahrzehnt.<br />
Ich vergleiche es oft mit dem Boxkampf mit Cassius Clay. Cassius Clay ist zwar heute nicht mehr<br />
der berühmte Boxer, aber für uns ist er immer noch ein Symbol, ein Champion. Stell Dir einmal vor,<br />
Du würdest Cassius Clay zum Boxkampf einladen. Du kannst Dir denken, was er mit Dir macht. In<br />
einer Minute bis Du KO, und die Leute auf den Rängen werden Dich bedauern und sagen: „Dieser<br />
arme Kerl, Mut hat er, aber er ist KO”. Und Du würdest ins Krankenhaus kommen und würdest<br />
einigermaßen wieder hergestellt sein, und jedermann würde denken: „Der hat genug für immer.”<br />
Nicht so Du! Du gehst in die Straße, in der Cassius Clay wohnt, Du kennst genau den Eingang und<br />
Du kennst genau das Schild und Du drückst auf die Klingel und Cassius schaut zum Fenster<br />
heraus und Du sagst wieder: „Cassius, lets go” ... und er schlägt Dich wieder zusammen. Das geht<br />
dreimal so und geht fünfmal so und das geht zehnmal so - und immer wieder, wenn Du<br />
einigermaßen auf den Beinen bist, dann gehst Du in diese Gasse und drückst auf die Klingel und<br />
33
Cassius schaut ,zum Fenster raus und dann schlägt er Dich zusammen. Das geht solange, bis Du<br />
eines Tages das demütigende Wort sagst: „Cassius, du bist stärker als ich. Ich habe verloren. Ich<br />
gebe zu, dass ich der Schwächere bin.”<br />
Um dieses Eingestehen der Schwäche und um dieses Eingestehen der Niederlage hast Du Dich<br />
jahrelang herumgedrückt. Ich kann das gut verstehen, aber das ist das Problem. Du hast Dich<br />
herumgedrückt, weil Du gedacht hast, dann bricht mein ganzes Leben auseinander. Und diese<br />
Angst war der Grund, warum Du immer wieder in den Ring getreten bist, und dann machst Du<br />
plötzlich die Erfahrung, dass Deine Angst nicht stimmt. In dem Augenblick, in dem Du nämlich<br />
zugegeben hast, dass Cassius stärker ist als Du, in dem Augenblick kommt es zu einer inneren<br />
Ruhe und Zufriedenheit. Nicht Dein Leben bricht zusammen, sondern es bricht Hoffnung auf, ein<br />
Weg nach vorn wird deutlich, den Du bisher nie gesehen hast. Das Paradoxe geschieht, dass<br />
durch das Zugeben der Niederlage ,Leben' entsteht. Der Verlierer wird zum Gewinner.<br />
Die äußere Situation hat sich nicht geändert. Du bleibst nach wie vor Alkoholiker. Aber Du musst<br />
nicht mehr trinken, Du stehst nicht mehr unter dem Zwang, es beweisen zu müssen, dass Du<br />
mächtig bist. Das ist nebenbei bemerkt auch der Sinn des Wortes Jesu: „Wer sein Leben besitzen<br />
will, wird es verlieren, wer es hingibt, wird es gewinnen.” Oder noch deutlicher wird es im<br />
Geschehen am Kreuze. Kreuz heißt: Zugeben der Machtlosigkeit. Gerade im Kreuz kommt es<br />
dann zur Auferstehung. Dieses Haus hier ist für mich ein Haus der Auferstehung. Viele Patienten<br />
kamen am Ende ihrer Kraft hierher, voller Verzweiflung und voller Angst. Sie haben das Haus<br />
verlassen voller Hoffnung, voller Fantasie und voller Initiative.<br />
Ich wünsche Ihnen allen, dass Sie diese Erfahrung des neuen Lebens in Trockenheit und<br />
Nüchternheit machen. Ich möchte es aber noch einmal sagen, dass nur in dem Durchgang durch<br />
die Kapitulation dieses neue Leben zu gewinnen ist. Wer sich aus Angst vor Schmerz vor der<br />
Kapitulation bewahren möchte, wird irgendwann einmal neue bittere Erfahrungen machen müssen.<br />
Ich glaube, dass Sie alle genug Erfahrungen gesammelt haben und keine neuen mehr brauchen.<br />
Der erste Schritt<br />
Meine Damen und Herren,<br />
ich möchte Sie in den nächsten Wochen mit den verschiedenen Schritten der Anonymen<br />
Alkoholiker bekannt machen. Heute möchte ich mit dem ersten Schritt beginnen. Der erste Schritt<br />
heißt:<br />
Wir gaben zu, dass wir dem Alkohol gegenüber machtlos sind - und unser Leben nicht mehr<br />
meistern konnten.<br />
Eingeständnis der Machtlosigkeit<br />
Ich habe bei vielen Patienten in der Therapie eine Beobachtung gemacht. Sie kamen in das Haus,<br />
aggressiv, fordernd, ungeduldig, voller Misstrauen gegenüber den Mitpatienten, den Therapeuten,<br />
um sich selbst kreisend mit einer Menge Selbstmitleid.<br />
Nach ein oder zwei Wochen ging eine Veränderung vor sich. Eine Veränderung, die auch im<br />
äußeren Verhalten deutlich wurde. Anstelle des aggressiven, ungeduldigen, verspannten<br />
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Menschen kam ein offener, natürlicher und entspannter Mensch heraus, der aufhörte, pausenlos<br />
zu kritisieren und fähig war, andere zu tolerieren.<br />
Was ist mit einem solchen Menschen passiert? Die Amerikaner haben ein Wort dafür SUR-<br />
RENDER. Wir können dies im Deutschen übersetzen mit: Übergabe oder Loslassen oder auch<br />
Kapitulieren.<br />
Schauen wir uns an, was bei diesem SURRENDER passiert. Hier handelt es sich um einen<br />
inneren Kampf. Der Kampf zwischen der Wirklichkeit und dem Allmachtsgefühl. Die Wirklichkeit<br />
sagt, du kannst nicht mehr normal trinken. Du hast so viele Beweise dafür.<br />
Das Allmachtsgefühl sagt: Ich kann es doch, das wäre doch gelacht ... ich und machtlos ...<br />
nimmermehr! Ich habe so viel geleistet in meinem Leben. Ich werde doch wohl auch noch Herr<br />
werden über diese lächerliche Flasche. Ich kann meinen Alkoholkonsum kontrollieren. Ein<br />
unheimlicher Kampf zwischen Wirklichkeit und dem Allmachtsgefühl! Für einen Außenstehenden<br />
nicht mehr verstehbar, für einen trockenen Alkoholiker rückschauend ein Alptraum.<br />
Kein Wunder, dass ein Mensch, der in einem so verzweifelten Kampf zwischen Wirklichkeit und<br />
seinem Allmachtsgefühl steht, diese Verzweiflung auch in seinem ganzen Verhalten widerspiegelt.<br />
Was steht dem SURRENDER im Wege?<br />
Was macht es dem Alkoholiker so schwer, zu übergeben, obwohl er sich so unglücklich fühlt?<br />
Der amerikanische Psychiater Tiebout spricht von dem ,aufgeblasenen ICH'. Er meint damit nicht,<br />
das gesunde Selbstbewusstsein, sondern einen Überanspruch (KING). Schauen wir uns das etwas<br />
näher an.<br />
Der Alkoholiker erfährt zwar an einem Punkt einen Kontrollverlust, nämlich im Verhältnis zum<br />
Alkohol; dafür will er in allen übrigen Gebieten die Kontrolle haben. Ein Alkoholiker ist nicht ein<br />
Mensch mit zu wenig Kontrolle, sondern mit zu viel. Alles und Alle sollen gehen wie er es will. Er<br />
hat seinen verborgenen König in sich, KING! Dem König darf sich niemand entgegenstellen, alle<br />
müssen seinen Befehlen und seiner Kontrolle gehorchen. Der Alkoholiker hat Schwierigkeiten, auf<br />
eine ganz normale menschliche Weise glücklich zu sein. Er will etwas Besonderes. Er ist<br />
unglücklich, wenn sich jemand seinen Wünschen widersetzt. Im Alkoholiker ist ein unbefriedigter<br />
König, der dauernd fordert. Das wird deutlich in seiner Unfähigkeit, Frustrationen zu ertragen.<br />
Niemand darf dem Willen des Königs widersprechen. Alles wird in Eile getan; ich will, was ich will,<br />
sofort: keine Zeit zum Warten. Wir können auch sagen, der Alkoholiker ist ein Baby. Ein Baby<br />
erwartet, dass alle Dinge so gehen, wie es dies will. Ein Baby erwartet, dass alle, die Eltern, die<br />
Geschwister, sich um es kümmern. Für ein Baby ist das nett und erfreulich, und alle tun es gern;<br />
wenn ein Baby aber 40 Jahre alt ist, ist das weniger angenehm. Also, was hindert den Alkoholiker,<br />
den Kampf aufzugeben? Es ist der King-Anspruch, es ist seine Kontrollhaltung.<br />
Wie geschieht dieses SURRENDER?<br />
Zunächst ist wichtig, dass ich dieses ,Baby in mir' akzeptiere, dass ich erkenne, dass dieser<br />
Anspruch so sehr KING in mir ist. Ich kann nichts ändern, bevor ich es akzeptiert habe.<br />
Das zweite ist die Übergabe der Kontrollorientierung, d.h. zugeben, dass ich nicht nur machtlos bin<br />
gegenüber Alkohol, sondern auch machtlos gegenüber vielen Bereichen meines Lebens. Der<br />
zweite Teil des ersten Schrittes scheint mir besonders wichtig zu sein. Er ist oft schwieriger zu<br />
akzeptieren als der erste Teil. Die Machtlosigkeit gegenüber Alkohol ist vielen von Ihnen klar<br />
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geworden. Machtlosigkeit gegenüber dem Leben dagegen ist schwierig zu akzeptieren. Was ist<br />
gemeint?<br />
Ich kann mein Leben nicht mehr meistern, ich trinke, auch das ist relativ einfach zu akzeptieren;<br />
aber auch wenn ich nicht trinke, oder bevor ich getrunken habe? Schauen wir uns das genauer an:<br />
• Ich bin machtlos über meine Gefühle<br />
Gefühle sind ein Naturereignis. Ich habe Ärger, ich habe Trauer, ich habe Freude. Dagegen kann<br />
ich gar nichts tun. Ich bin machtlos über meine Gefühle. Damit ist nicht gemeint, dass ich aufgrund<br />
meines Ärgers danach handeln muss, dass ich einem anderen Menschen ins Gesicht schlagen<br />
muss; das ist nicht gemeint. Gemeint ist, dass ich Gefühle habe und dass ich über diese Gefühle<br />
und das Kommen der Gefühle machtlos bin. Wenn ich das einmal akzeptiere, dann versuche ich<br />
nicht mehr unnötige Kraft in das Kontrollieren meiner Gefühle zu legen. Ich kann sie einfach<br />
akzeptieren.<br />
• Ich bin machtlos gegenüber anderen Menschen<br />
Das ist eine äußerst wichtige Erkenntnis. Der Alkoholiker möchte so gerne andere Menschen<br />
kontrollieren. Nicht nur der Alkoholiker, aber er besonders. Wenn ich einmal erkenne, dass ich<br />
anderen Menschen zu etwas raten kann, dass ich sie aber nicht zwingen kann, sie nicht<br />
kontrollieren kann, dann fällt eine große Last von mir ab.<br />
• Machtlosigkeit über die Ergebnisse meiner Bemühungen<br />
Das ist ein anderer Punkt, an dem ich eine Machtlosigkeit erfahre. Was ist damit gemeint?<br />
Ich kann etwas tun. Ich kann z. B. einen Brief schreiben; ich weiß aber nicht, wie der Empfänger<br />
diesen Brief aufnimmt.<br />
Ich kann einen Vortrag halten, ich kann mich gut vorbereiten; ich weiß aber nicht, welche Wirkung<br />
dieser Vortrag auslöst. Die meisten Ergebnisse meiner Handlungen sind nicht mehr in meiner<br />
Hand.<br />
Warum rede ich von dieser Machtlosigkeit? Ich glaube, es ist wichtig, weil es uns entlastet. Es<br />
entlastet mich, wie ein Zirkusdirektor alles um mich herum tanzen zu lassen. Ich kann gelassen die<br />
Dinge und die Menschen erleben und leben lassen. Loslassen können, darum geht es im ersten<br />
Schritt. Simpel anerkennen: ich bin machtlos über Menschen, ich bin machtlos über meine<br />
Gefühle, ich bin machtlos über die Ergebnisse. Damit ist keine Resignation gemeint, sondern die<br />
Gelassenheit. Ich muss etwas tun, aber dann muss ich das Ergebnis der höheren Macht<br />
überlassen. Erst dann, wenn ich mein Kontrollbedürfnis gegenüber Alkohol und dem Leben<br />
aufgegeben habe, wenn ich aus tiefstem Herzen sage, ich bin machtlos, erst dann kann eine neue<br />
Kraft, die Kraft aus meiner Tiefe, hervorbrechen und meinem Leben eine neue Richtung geben.<br />
Wenn ich aber selbst das Steuerrad in der Hand behalten will und mein Leben mit meinem Willen<br />
und mit meiner Kraft managen will, verbaue ich mir selbst den Weg zu einer tieferen Kraft und<br />
damit zur Gesundung.<br />
Der zweite Schritt<br />
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Liebe Patientinnen und Patienten,<br />
wir kommen heute zum zweiten Schritt. Der zweite Schritt heißt: Wir kamen zu dem Glauben (oder<br />
wir können auch sagen: zu dem Vertrauen), dass eine Macht, größer als wir selbst, uns unsere<br />
geistige Gesundheit wiedergeben kann.<br />
Im ersten Schritt ging es um das Zugeben der Machtlosigkeit dem Alkohol gegenüber, das ,Nicht-<br />
mehr- meistern- können' des Lebens. Das heißt: im ersten Schritt geht es um Wahrheit. Der nasse<br />
Alkoholiker ist im allgemeinen - man kann sagen grundsätzlich - nicht fähig zur Wahrheit: er<br />
verleugnet, er verharmlost, er verdrängt. Im ersten Schritt geht es darum, dass der Alkoholiker die<br />
Wahrheit über sein Trinken, die Wahrheit über seinen Trümmerhaufen anschaut. Nur wenn er<br />
diese Wahrheit erkennt, hat er eine Chance zur Trockenheit und zur Nüchternheit. Die Wahrheit in<br />
diesem Sinne macht frei.<br />
Jetzt geschieht meistens etwas Merkwürdiges nach der Annahme des ersten Schrittes. Wenn ein<br />
Patient die Wahrheit erkennt und sieht, welchen Trümmerhaufen er hinterlassen hat, dann wird er<br />
depressiv. Das war ja der Grund, warum er so sehr verleugnet hat. Er wollte die Traurigkeit<br />
verhindern. Diese Traurigkeit ist aber eine heilsame Traurigkeit. Der Patient, der zum ersten Mal<br />
mit offenen Augen, ohne Verleugnung die Folgen seines Trinkens anschaut, wird traurig, aber das<br />
ist heilsam: diese Traurigkeit dauert nicht lange, meistens nur einige Tage. Dann kommt es zu<br />
einer neuen Hoffnung, zu einem neuen Weg nach vorn. Und über diesen neuen Weg möchte ich<br />
jetzt sprechen.<br />
In diesem zweiten Schritt, um den es jetzt geht, kommt eine Formulierung vor, die vielen Patienten<br />
Schwierigkeiten bereitet: nämlich die ,Höhere Macht'. Um was geht es hier?<br />
Wichtig ist, dass es hier nicht darum geht, Religion und Kirche neu ins Spiel zu bringen. Es geht<br />
vielmehr um Spiritualität. Spiritualität ist weiter als Religion und kirchlicher Glaube. Es ist<br />
sozusagen eine Basiserfahrung. Spiritualität hat zu tun mit meiner Beziehung zu dem oder zu der<br />
Person, die am Wichtigsten ist in meinem Leben. Es geht also darum zu erkennen: ,Was ist<br />
wirklich wichtig in meinem Leben. Worauf setze ich meine Hoffnung. Worauf setze ich mein<br />
Vertrauen. Was stelle ich in meinem konkreten Verhalten in den Mittelpunkt.' Das ist so etwas wie<br />
Höhere Macht.<br />
Wenn Ihr jetzt einmal schaut, werdet Ihr merken, dass Ihr bereits Erfahrungen habt mit einer<br />
höheren Macht, allerdings im negativen Sinn: nämlich mit dem Alkohol und den Medikamenten.<br />
Der Alkohol war für Euch etwas ungeheuer Wichtiges, etwas worauf Ihr Euer Vertrauen gesetzt<br />
habt. Denn am Anfang klappte dies ja auch. Ihr habt getrunken und Ihr fühltet Euch besser. Die<br />
Ängste waren weg, oder zumindest geringer. Ihr konntet leichter auf andere Menschen zugehen,<br />
oder was auch immer. Der Alkohol war eine gewaltige Macht in Eurem Leben. Denn wenn er das<br />
nicht gewesen wäre, dann hättet Ihr nicht für diesen Alkohol so viel geopfert. Da seht Ihr auch<br />
wieder: Opfer und höhere Macht gehören zusammen.<br />
Ihr habt Euren Beruf aufs Spiel gesetzt, Eure Familie, die Kinder, nur um weiter zu trinken. Ich<br />
mache Euch dafür keinen Vorwurf, weil es ja eine Krankheit ist, für die Ihr nichts könnt. Wichtig ist<br />
nur, dass Ihr es seht. In Eurem Leben ist diese höhere Macht längst da gewesen, nämlich in der<br />
Form von Alkohol. Irgendwann hat sich diese höhere Macht nicht mehr als hilfreich erwiesen,<br />
sondern als zerstörerisch, als ein Dämon. Diese höhere Macht hat Euch gehindert, Mensch zu<br />
sein, zu Euch selbst zu stehen und liebevoll mit anderen umzugehen. Ihr habt durch die Droge<br />
37
versucht, Eure Grenzen zu erweitern und eine größere Freiheit zu bekommen. Das Ende war aber<br />
nicht Freiheit, sondern Gefangenschaft und Versklavung.<br />
Vor diesem Hintergrund wollen wir uns jetzt die Frage neu stellen: Was kann mir meine<br />
Gesundheit, meine Freiheit, meine Lebendigkeit wieder zurückgeben?<br />
Da sagt der zweite Schritt: ,Eine Macht, größer als wir selbst'. Das heißt also, wir selbst können es<br />
nicht aus eigener Kraft. Ich habe es versucht mit meinem Eigenwillen, aber es hat nicht geklappt.<br />
Ich möchte Euch jetzt einen Vorschlag machen, eine Hilfe anbieten. Ich verstehe zunächst einmal<br />
unter höherer Macht das ,Vertrauen'. Vertrauen steht gegen ,Angst' und ,Misstrauen'. Gerade das<br />
ist es ja, was den Alkoholiker so sehr belastet. Dieser Mangel an Vertrauen, dieses ,weder sich<br />
selbst, noch anderen, noch Gott vertrauen'. Das gehört zu dieser Krankheit, das macht sie ja so<br />
isolierend und bestürzend.<br />
Also Vertrauen: worauf kann ich mein Vertrauen setzen? Da will ich einmal beginnen mit einem<br />
Therapieprogramm: Ich vertraue, dass ein Therapieprogramm, wie es zum Beispiel hier in<br />
Tönisstein angewendet wird, hilfreich ist; oder Vertrauen auf andere: auf meine <strong>Gruppe</strong>, dass ich<br />
eine vertrauensvolle Beziehung zu diesen Männern und Frauen meiner <strong>Gruppe</strong> aufbaue. Manche<br />
Patienten meinen, das Vertrauen würde am Ende der Therapie oder gar erst, wenn man entlassen<br />
ist, beginnen. Nein, hier ist der Ort, an dem Vertrauen wächst, und ich meine, das wichtigste<br />
Instrument der Therapie ist die <strong>Gruppe</strong>, der vertrauensvolle Umgang miteinander. Vertrauen zu<br />
Euch selbst. Das wäre einmal ein Stück höherer Macht: Vertrauen.<br />
Dann möchte ich noch ein zweites sagen, das auch in diese Richtung geht: nämlich ,Liebe'.<br />
Vertrauen und hoffende Liebe, oder hoffendes Vertrauen und Liebe. Das sind die entscheidenden<br />
Haltungen. Liebe ist eigentlich die Grundsehnsucht des Menschen. Jeder von uns hat ein tiefes<br />
Bedürfnis nach Liebe und Geliebtwerden. Wenn dieses Bedürfnis nicht gestillt wird, wird er krank,<br />
und dann sucht der Mensch sich irgendwo Ersatz, z.B. den Alkohol. Alkohol kann Ersatz für<br />
Beziehung sein, für Liebe, für Wärme, für Trost, aber er ist eben nur Ersatz, und in Wirklichkeit<br />
tröstet er nicht, sondern er macht am Schluss den Menschen kaputt.<br />
Die höhere Macht ist die Liebe, und zwar die Liebe, die anfängt bei mir selbst: Selbstliebe. Früher<br />
habe ich immer gemeint, lieben heißt zunächst einmal den anderen lieben. Das ist richtig, zum<br />
Lieben gehört auch die Nächstenliebe. Aber anfangen muss ich bei mir selbst. Ich muss mich<br />
selbst mögen, ich muss mich selbst annehmen, mit meinen Schwierigkeiten, mit meinen Grenzen,<br />
mit meiner Schuld. Ich darf allerdings da nicht stehen bleiben. Mich selbst lieben, aber auch den<br />
anderen lieben. Die Frage ist, wie geht das, den anderen lieben?<br />
Da haben mir die Amerikaner geholfen. Sie kennen zwei Worte, die sehr genau umschreiben, was<br />
Liebe heißt, nämlich ,Sharing' und ,Caring'. To share heißt: sich mitteilen. Ich glaube, das ist etwas<br />
ganz Grundlegendes der Liebe: dass der Liebende sich dem anderen mitteilt, nicht verschließt,<br />
nicht hinter seiner Mauer, seinem Schild stehen bleibt, sondern sich öffnet, sich mitteilt. Ich erlebe<br />
immer wieder in den Familienseminaren, wie wenig die Ehepartner voneinander wissen, wie selten<br />
sie offen miteinander sprechen. Manchmal sagen mir Paare nach dem Seminar: so haben wir noch<br />
nie in unserer langjährigen Ehe gesprochen, so offen. Wir haben uns noch nie so viel mitgeteilt von<br />
uns selbst. Kein Wunder, dass eine Ehe, in der kein Sharing passiert, leidet, dahinsiecht. Sharing<br />
gilt aber nicht nur für die Ehe, es gilt genauso für die <strong>Gruppe</strong> hier. Wenn ich dem anderen nicht<br />
mitteile, was mit mir ist, was mich bewegt, dann wird nicht viel laufen in meiner Therapie. Das eine<br />
ist also Sharing; und das andere ist Caring: to care. Wir kennen es von den Care-Paketen.<br />
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To care heißt: Sorge tragen für den anderen; ich bin interessiert am Wohlergehen des anderen, ja<br />
dass es ihm wohl geht; und das ist etwas, was für mich wichtig ist. Das gilt für die Ehe, für eine<br />
Freundschaft, das gilt auch für die <strong>Gruppe</strong>. Ich bin interessiert an den <strong>Gruppe</strong>nmitgliedern, das<br />
heißt Liebe.<br />
Und ich möchte das Ganze abrunden: Liebe zu mir selbst, Liebe zu dem Nächsten, Liebe zu Gott.<br />
Für mich ist Gott nichts anderes als die Liebe. So definiert Johannes in seinem Evangelium Gott.<br />
Gott ist die Liebe. Überall dort wo Liebe ist, wo ein Mensch sich für andere einsetzt, sich selbst<br />
annimmt, ist auch Gott im Spiel, weil wir Kinder Gottes sind, Geschöpfe Gottes. Weil wir nach dem<br />
Plan Gottes geschaffen sind: er ist die Liebe.<br />
Wir haben uns gefragt, was ist höhere Macht, was macht mich gesund? Ich habe versucht, eine<br />
Antwort zu geben im Sinne von hoffendem Vertrauen und Liebe. Wenn einer diesen Weg des<br />
Vertrauens und der Liebe geht, dann hat er eine hohe Chance zur Trockenheit und vor allem zur<br />
Nüchternheit. Nüchternheit setzt Vertrauen und Liebe voraus und das wünsche ich Euch allen.<br />
Der dritte Schritt<br />
Ich möchte Ihnen heute einige Gedanken über den dritten Schritt vorlegen. Die ersten drei Schritte<br />
sind eine Einheit. Es kann sein, dass ich einige Gedanken von den letzten beiden Vorträgen<br />
wiederhole. Hören Sie zunächst einmal den Schritt:<br />
Wir fassten den Entschluss, unseren Willen und unser Leben der Sorge Gottes - wie wir ihn<br />
verstanden - anzuvertrauen.<br />
Der dritte Schritt hat zwei Teile:<br />
1. Wir fassten den Entschluss, 2. unseren Willen und unser Leben der Sorge Gottes<br />
anzuvertrauen.<br />
1. Wir fassten den Entschluss<br />
In der amerikanischen Fassung heißt das: ,Made a decision', d.h. fällten eine Entscheidung. Sehen<br />
wir das im Zusammenhang der ersten drei Schritte, dann können wir sagen: Alles geht auf diese<br />
Entscheidung zu. Im ersten Schritt erkenne und bekenne ich meine Machtlosigkeit, im zweiten<br />
Schritt sehe ich einen Weg aus dem Zusammenbruch heraus; Hoffnung bricht auf. Im dritten<br />
Schritt treffe ich eine Entscheidung, mich diesem Weg der Hoffnung und des Vertrauens und der<br />
Liebe zu überlassen. Sehen Sie die Entwicklung?<br />
Es ist ein großer Unterschied zwischen einem Aufkommen von Hoffnung und dem klaren und<br />
festen Entschluss, diesen Weg anzugehen.<br />
2. Übergabe meines Lebens an den Willen und an die Sorge Gottes<br />
Ich komme noch einmal auf das SURRENDER zurück, auf die Übergabe, das Sich-überlassen.<br />
Manche Patienten, die ehrlich erkannt haben, dass sie abhängig vom Alkohol sind und das ein<br />
Weitertrinken gleichbedeutend ist mit Selbstmord, glauben, sie müssten gegen ihre Krankheit<br />
kämpfen. Sie sagen: „Ich muss meine gesamte Willenskraft gebrauchen, um mein Trinkproblem zu<br />
meistern” oder „ich muss mich selbst und die anderen Menschen kontrollieren, um mein<br />
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Trinkproblem zu bearbeiten`. Wer so denkt, meint: Die Lösung meines Problems liegt darin, dass<br />
ich dagegen kämpfe. Dies scheint auf den ersten Blick eine gute Lösung zu sein. In Wirklichkeit ist<br />
es eine Falle. Eine gut verkleidete Falle, in die nicht wenige Alkoholiker fallen: ,Flucht in die<br />
Gesundheit' nennen es die Amerikaner. Dies bringt keine lang dauernde Nüchternheit. Wenn Sie in<br />
diese Richtung denken, machen Sie sich das bewusst!<br />
Doch nun weiter zu dem Wort Gott. Zum ersten Mal in unserem Programm kommt das Wort Gott<br />
vor. Denken Sie an das, was ich in der letzten Woche über die ,Macht, größer als wir selbst' gesagt<br />
habe. Das setzen Sie hier ein, bei dem Wort Gott: <strong>Gruppe</strong>, <strong>AA</strong>-Programm, Gott, Liebe. Da ist kein<br />
Unterschied zwischen dem zweiten und dritten Schritt. Wir brauchen nicht mehr groß darüber<br />
sprechen. Der Unterschied liegt in der Entscheidung zu diesem Gott, zu dieser Liebe, zu diesem<br />
Weg. Der dritte Schritt ist der Schritt der klaren Verbindlichkeit. Liebe ist nicht nur eine Idee und ein<br />
Gefühl: Liebe ist eine Entscheidung, und Liebe ist eine konkrete Lebensform.<br />
Die Schwierigkeit, den eigenen Willen, das eigene Leben zu übergeben<br />
Hier kommen wir an den Nerv des dritten Schrittes: Übergabe meines Willens. Da zucken wir<br />
zurück. Das geht nicht! Obwohl wir unser Leben durch unseren Eigenwillen mit in eine Katastrophe<br />
gesteuert haben - aber das Leben übergeben? Nein! Was hindert uns? Was ängstigt uns, das zu<br />
tun? Ich möchte es Ihnen aus meiner eigenen Erfahrung mitteilen.<br />
Ich habe die Erfahrung gegenüber Gott gemacht. Sie können die gleiche Erfahrung mit der Liebe,<br />
mit einer <strong>Gruppe</strong>, mit einem Programm machen.<br />
Als ich vor vielen Jahren nach Hazelden kam und wie jeder andere Patient erst einmal vier<br />
Wochen die Behandlung mitmachen musste, sagte mir mein Counselor: „Franz, Du bist spirituell<br />
völlig am Ende”. Ich fragte ihn, wie er auf diesen Einfall käme. Der Berater antwortete mir: „Du<br />
traust Gott nicht.” Ich wurde ärgerlich, ich war 23 Jahre Priester, war die letzten Jahre Spiritual im<br />
Priesterseminar in München, und ich sollte spirituell am Ende sein? Ich kämpfte gegen diese Botschaft;<br />
mein aufgeblähtes ICH sträubte sich gegen eine solche Einsicht. Das dauerte etwa drei<br />
Tage. Eines Morgens ging mir die Einsicht auf. Der Berater hat Recht, ich traue diesem Gott nicht.<br />
Ich erkannte, ich habe Angst, mein Leben und meinen Willen herzugeben und Gott zu übergeben.<br />
Der Grund war, weil ich nicht wusste, was er dann tut, was dann in meinem Leben passiert. Ich<br />
hatte bis dahin mein Leben wirklich nicht großartig gesteuert. Ich litt unter Depressionen und<br />
überlebte mehr, als ich wirklich lebte. Dennoch, meinen Willen und mein Leben richtig zu<br />
übergeben...? Ich hatte einfach Angst, Angst was würde passieren? Ich hatte kein Vertrauen, dass<br />
dieser Gott ein liebender Gott ist, ein Gott, der nur mein Bestes will. Ich hatte die Vorstellung von<br />
Gott als einem strafenden und einem richtenden Gott. Kein Wunder, dass ich nicht Ioslassen<br />
wollte. Ich habe viel über Gott gelernt in diesen Wochen. Heute kann ich ein Stück Ioslassen. Ich<br />
habe immer noch Schwierigkeiten, ich habe immer noch Angst, manchmal sogar sehr; aber ich<br />
weiß, ich bin auf dem Weg.<br />
Eine ähnliche Angst entsteht, wenn ich mich der Liebe öffne. Was geschieht, wenn ich nicht mehr<br />
mit meinem Egoismus, mit meinem aufgeblähten Ich mein Leben kontrollieren kann, wenn ich mich<br />
dem Leben anvertraue, wenn ich mich in den Strom des Lebens einschwinge: wird es mich tragen,<br />
wenn ich die Kontrolle aufgebe? Das sind die großen Ängste. Diese Ängste stehen dem SUR-<br />
RENDER entgegen. Hier gibt es nur einen Weg: anfangen und probieren. Leben beginnt dann erst<br />
richtig. Ich kann Ihnen nicht garantieren, dass Sie damit großen Reichtum ernten, oder ein Leben<br />
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in großer Mächtigkeit führen. Ich kann Ihnen nur eines sagen, dass Ihre innere Ruhe und Freude<br />
wächst.<br />
Wenn Sie Gelassenheit, innere Ruhe und inneren Frieden als Reichtum ansehen, dann gehen Sie<br />
getrost diesen Weg. Dass Sie Angst haben ist OK, das ist normal. Wer lässt sich das schon gerne<br />
gefallen? Wer verzichtet schon leicht auf die äußeren und inneren Sicherheiten, mit denen wir uns<br />
umgeben?<br />
Lassen Sie mich noch ein Wort als Theologe sagen: Als ich an dem dritten Schritt gearbeitet habe,<br />
ist mir ein Wort Jesu eingefallen, das ich nie recht verstanden habe. Sie werden erstaunt sein, aber<br />
durch die Schritte ist mir manches Wort der Schrift neu aufgegangen. Das Wort heißt:<br />
Wer sein Leben behalten will, wird es verlieren, wer sein Leben aber darangibt, wird es gewinnen!<br />
Genau das ist die Weisheit des dritten Schrittes. Wer sein Leben mit seinem Eigenwillen leben will,<br />
wird es nicht schaffen, er wird sein Leben im eigentlichen Sinne verlieren. Wer aber aufhört, sein<br />
Leben selbst mit seinem aufgeblasenen ICH zu dirigieren und zu kontrollieren, der wird anfangen<br />
wirklich zu leben. Genau das ist es auch, was wir mit dem Wort von Tod und Auferstehung meinen.<br />
Das nur im Sterben des Eigenwillens das neue Leben geschieht, und das wünsche ich Ihnen und<br />
mir in diesen Tagen.<br />
Der vierte Schritt<br />
Der vierte Schritt lautet: Wir machten eine gründliche und furchtlose Inventur in unserem Inneren.<br />
Der vierte Schritt ist ein Schritt zu größerer Ehrlichkeit. Es geht darum, dass ich mein Verhalten,<br />
meine Gefühle und meine Einstellungen erkenne und annehme. Ziel dieser Inventur ist nicht, die<br />
Verurteilung meiner selbst, sondern die Tatsache, dass ich Verantwortung übernehme für das, was<br />
ich getan habe und nicht die Umstände, oder andere Menschen dafür verantwortlich mache. Nur<br />
wenn ich mich selbst erkenne und mich auch in meinen Fehlern und Schwächen annehme, kann<br />
ich mich verändern und innerlich wachsen. So steht der vierte Schritt auch im Dienst der<br />
Veränderung und des inneren Wachstums.<br />
Der vierte Schritt baut auf den ersten drei Schritten auf, d.h. zunächst einmal auf der Überzeugung,<br />
dass wir dem Alkohol gegenüber machtlos sind und dass wir unfähig waren, unser Leben<br />
verantwortungsbewusst zu leben. Dazu kommt ein tiefes Vertrauen, dass es für mich einen neuen<br />
Weg zum Leben gibt, wenn ich bereit bin, Hilfe anzunehmen und bereit bin, mich dem Leben neu<br />
anzuvertrauen.<br />
Seien Sie so konkret wie möglich, bringen Sie zu jedem der folgenden Punkte zwei konkrete<br />
Ereignisse aus Ihrem Leben. Verallgemeinerungen, wie etwa: ich war egoistisch, helfen Ihnen nicht<br />
weiter. In der Beschreibung eines konkreten Ereignisses werden Sie Ihrer selbst wirklich ansichtig.<br />
Zu einem konkreten Ereignis gehören: Wann geschah dies? Wo geschah es? Wer war beteiligt?<br />
Wie verhielt ich mich? Schreiben Sie die Ereignisse auf. Wenn ich ein Ereignis mir gegenüber auf<br />
dem Papier geschrieben sehe, kann ich besser und leichter dafür Verantwortung übernehmen.<br />
Der vierte Schritt ist der Anfang einer immer größeren Selbsterkenntnis, auf die hin wir Tag für Tag<br />
vorwärts schreiten sollten (vgl. zehnten Schritt).<br />
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Vielleicht empfinden Sie während der Arbeit am vierten Schritt ein Gefühl von Depression,<br />
Schmerz und Schuld, oder auch den Gedanken, ein Versager zu sein. Das ist normal. Zu lange<br />
haben wir die Augen vor uns selbst verschlossen. Teilen Sie Ihre Gefühle in der <strong>Gruppe</strong> mit oder<br />
sprechen Sie mit Ihrem Berater.<br />
Fehlhaltungen<br />
Die nachfolgend aufgeführte Liste von Fehlhaltungen kann Ihnen eine gute Starthilfe für die<br />
Erforschung Ihrer Persönlichkeit sein. Sie ist zwar nicht erschöpfend, kann Ihnen aber Anregungen<br />
für andere Problemfelder bieten. Beginnen Sie sich am Anfang zu fragen, inwieweit sich diese<br />
Fehlhaltungen auf Ihre Familie ausgewirkt haben, dann auf Ihren Beruf und anschließend auf<br />
andere Gebiete des Lebens (Freunde, Nachbarn, Gemeinde). Bevor Sie weiterlesen, fragen Sie<br />
sich:<br />
• Was belastet mich am allermeisten?<br />
• Welches Fehlverhalten habe ich bisher noch niemandem gesagt?<br />
Schreiben Sie das vor allem anderen einmal auf.<br />
1. Selbstsucht (Egoismus)<br />
Ich bin in erster Linie an meiner eigenen Bequemlichkeit, meinen Wünschen und meinen<br />
Bedürfnissen interessiert. Die anderen kommen viel später. Ich bin mehr darauf bedacht, wie ich<br />
mich fühle, als die anderen. Meine Umgebung sieht mich als uninteressiert an anderen Menschen.<br />
Ich möchte gerne im Mittelpunkt stehen, bedarf der andauernden Zustimmung meiner Umgebung.<br />
Wie hat sich dies ausgewirkt in der Familie, im Beruf, bei Freunden oder in Gesellschaft?<br />
2. Ausreden (unehrliches Denken)<br />
Damit sind alle Versuche gemeint, unser Verhalten und Trinken zu entschuldigen oder zu<br />
rechtfertigen. Ausreden, andere beschuldigen (Manchmal mögen die Anschuldigungen teilweise<br />
berechtigt sein, dennoch ist das nicht der wahre Grund.), der Wahrheit davonlaufen etc..<br />
Welche Ausreden und Alibis haben Sie benutzt? Verwenden Sie auch heute noch solche Ausreden<br />
(Familie, Beruf, Freunde)?<br />
3. Falscher Stolz (Arroganz, Überheblichkeit)<br />
Sehen Sie sich besser als den Durchschnittsmenschen? Der Stolz verhindert eine Genesung<br />
durch Mangel an Bereitschaft, sich zu ändern und die Dinge so zu sehen wie andere Menschen.<br />
Bin ich zu stolz um zuzugeben, dass ich ein Alkoholproblem habe? Werden Sie ärgerlich, wenn<br />
einer Ihrer Fehler entdeckt wird? Haben Sie ein geheimes, inneres Gefühl, dass Sie den meisten<br />
anderen Menschen überlegen sind? Ich bin ganz anders, ich bin eine Ausnahme.<br />
Wie hat sich diese Haltung ausgewirkt gegenüber Familie, Beruf und Freunden?<br />
4. Groll oder Ärger<br />
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Groll darüber, dass die Dinge nicht so laufen, wie ich will. Groll entsteht oft, wenn ich mich nicht<br />
direkt und verantwortlich mit meinem Ärger, Zorn und Schmerz auseinandersetze. Groll vergiftet<br />
meine gesamte Persönlichkeit und verhindert in mir eine echte und tiefgreifende Veränderung.<br />
Füttern Sie Ihren Groll und Ärger oder möchten Sie ihn wirklich loslassen?<br />
Gegen wen oder was haben Sie Groll im Herzen (Familie, Beruf, Freunde)?<br />
5. Intoleranz<br />
Lehnen Sie Gebräuche, Sitten, Glauben, Rassen etc. ab, die verschieden sind von Ihren eigenen<br />
Vorstellungen? Intoleranz tritt leicht dann auf, wenn andere Menschen eine von mir verschiedene<br />
Art des Denkens oder des Lebens haben. Neigen Sie zur Intoleranz gegenüber Menschen, die<br />
Ihnen nahe stehen und die wichtig für Ihr persönliches Leben sind? Hinter Intoleranz steht oft ein<br />
falsches Überlegenheitsgefühl.<br />
In welcher Weise waren Sie intolerant (Familie, Beruf, Freunde)?<br />
6. Ungeduld<br />
Ich will, was ich will ... sofort. Ich bin nicht bereit, eine Verzögerung, ein Warten oder eine<br />
Gegenmeinung auf mich zu nehmen. Einem König sollte nicht widersprochen werden. -<br />
Beschreiben Sie einige Situationen, in denen Ihre Ungeduld Schaden für Sie und andere<br />
verursachte (Familie, Beruf, Freunde).<br />
7. Neid<br />
Negatives besetzt sein über den persönlichen oder wirtschaftlichen Besitz eines anderen<br />
Menschen. Dahinter steht Unzufriedenheit mit der eigenen Lebenssituation. Ich setze einen<br />
anderen herunter, weil ich diesen um seine Fähigkeiten beneide. Neid lässt mich nur sehen, was<br />
ich nicht habe, anstatt mich meiner Vorzüge zu erfreuen. Neid kommt immer aus einem falschen<br />
Vergleichen heraus.<br />
Wem gegenüber habe ich neidische Gefühle oder neidische Handlungen (Familie, Beruf,<br />
Freunde)?<br />
8. Unechtheit (Fassade)<br />
Damit ist das Bedürfnis gemeint, besser, erfahrener, gescheiter erscheinen zu wollen, als ich<br />
wirklich bin. Ist es für mich nicht genug, ich selbst zu sein? Baue ich eine unechte Fassade auf?<br />
Unechtheit ist ein Zeichen dafür, dass ich unfähig bin, mich anzunehmen wie ich bin.<br />
Wie belastet dieses unechte Verhalten und Denken mein Leben in Familie, Beruf und<br />
Freundschaft?<br />
9. Aufschieben<br />
Oft schieben wir Dinge vor uns her und warten, bis wir in der rechten Stimmung sind. Dabei<br />
machen wir die Erfahrung, dass wir eigentlich nie so recht in der Stimmung sind, und schieben es<br />
weiter auf. Wenn die Zeit dann drängt, werde ich nervös, ungeduldig und leiste schlechte Arbeit.<br />
Geben Sie Beispiele von Arbeiten, die Sie aufgeschoben haben. Wie fühlten Sie sich, wenn Sie<br />
dabei in Zeitdruck kamen?<br />
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10. Selbstmitleid<br />
Niemand gibt dieses Gefühl gerne zu. Ja, wir tun uns auch schwer, es ehrlich zu erkennen.<br />
Gemeint ist ein Gefühl, das sich etwa ausdrückt in: Ich Armer, ich bin benachteiligt, ich habe es so<br />
schwer im Leben, niemand versteht mich, alle hacken sie auf mir herum. Selbstmitleid macht mich<br />
passiv. Ich bin das Opfer äußerer Umstände und anderer Menschen. Ich übernehme keine<br />
Verantwortung für mein Leben, für meine Lebenssituation.<br />
In welchen Bereichen haben Sie Selbstmitleid und Gefühle (Elternhaus, Familie, Beruf und<br />
Freunde)?<br />
11. Überempfindlichkeit<br />
Damit ist gemeint, dass ich auf Blicke, Worte oder Handlungen überempfindlich und zu verletzlich<br />
reagiere. Meine Umgebung muss mich wie ein rohes Ei behandeln, mich mit Glacehandschuhen<br />
anfassen. Oft ist Überempfindlichkeit ein Zeichen dafür, dass ich zu sehr von meinen eigenen<br />
Wünschen und Bedürfnissen beherrscht bin und wenig Interesse für die Wünsche anderer<br />
Menschen aufbringe.<br />
In welchem Bereich bin ich überempfindlich (Familie, Beruf, Freunde)?<br />
12. Ängste<br />
Manchmal fürchten wir uns vor ganz bestimmten Dingen, z.B. dass wir zurückgewiesen werden,<br />
dass eine Bemühung ohne Erfolg bleibt. Manchmal aber haben wir Angst in einer mehr<br />
allgemeinen und unbestimmten Weise, etwa dass alles schief läuft, dass ein Unglück passieren<br />
würde etc.. Angst ist die Unfähigkeit, sich selbst, den anderen oder Gott gegenüber wirklich zu<br />
vertrauen. Es ist auch ein Widerstand, sich ehrlich mit den eigentlichen Problemen auseinander zu<br />
setzen.<br />
Denken Sie über Ihre Ängste nach, schreiben Sie einige<br />
auf.<br />
13. Perfektionismus<br />
Damit ist gemeint, dass wir viel zu viel von uns und anderen Menschen fordern. Es ist ein Mangel<br />
an Bereitschaft, sich selbst und anderen das Recht auf Fehler zuzugestehen. In hohem Maße<br />
kritisch, möchten wir so gut oder besser als Gott sein. Dahinter stehen der Stolz und der<br />
Widerstand, das Leben so zu sehen, wie es nun einmal ist, nämlich unvollkommen.<br />
In welcher Weise hat Ihr Streben, perfekt zu sein, Ihnen, Ihrer Familie und Ihren Freunden<br />
Schaden zugefügt?<br />
14. Schuldgefühle<br />
Fragen wir uns, was wir von unseren Schuldgefühlen haben. Mittels des Schuldgefühls können wir<br />
uns weiterhin mies fühlen und haben damit eine gute Ausrede, weiterhin nichts Konstruktives zu<br />
tun und uns mit dem Schuldgefühl zufrieden zu geben. Schuldgefühle, besonders wenn man lange<br />
Zeit daran festhält, sind oft eine Flucht vor der konkreten Arbeit an einem Problem oder einer<br />
schmerzhaften Veränderung.<br />
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Beschreiben Sie Schuldgefühle, die Sie haben. Schuldgefühle, die sich beziehen auf Familie, Sie<br />
selbst, Beruf etc..<br />
Positive Seiten<br />
Sie haben bisher über Ihre Fehlhaltungen nachgedacht, ohne an Ihre positiven Seiten zu denken.<br />
Nun wird es Zeit, dass Sie dies tun. Sie haben eine Menge guter Seiten und gutes Verhalten. Ohne<br />
einen Blick auf die positiven Seiten Ihrer Persönlichkeit würde diese Inventur unvollständig und<br />
auch deprimierend sein. Denken Sie immer daran, Sie sind mehr als Ihr Verhalten. Sie sind eine<br />
wertvolle und wichtige Persönlichkeit. Denken Sie auch daran, dass es oft nur einer Kleinigkeit<br />
bedarf, um aus einer Schwäche eine Stärke zu machen.<br />
Bevor Sie weiterlesen, fragen Sie sich:<br />
• Was sind meine starken Seiten?<br />
• Was mag ich an mir selbst?<br />
Schreiben Sie das vor allem anderen einmal auf.<br />
Die folgende Aufzählung Ihrer positiven Seiten soll eine Anregung sein. Sie können diese beliebig<br />
vermehren. Wir haben den vorangegangenen Fehlhaltungen jeweils die entsprechende positive<br />
Haltung gegenübergestellt, z.B. Demut gegen falschen Stolz.<br />
1. Anteilnahme oder sich um andere kümmern – gegen Selbstsucht – Um wen habe ich mich<br />
gekümmert, wie habe ich das getan?<br />
2. Ehrlichkeit – gegen – Ausreden Wie denken Sie über sich und wie fühlen Sie sich nachdem,<br />
Sie versucht haben, ehrlich und offen zu sein?<br />
3. Demut – gegen – falschen Stolz<br />
Wie fühlen Sie sich, nachdem Sie Ihre Machtlosigkeit zugegeben haben? Können Sie akzeptieren,<br />
einfach ein Mensch zu sein?<br />
4. Vergebungsbereitschaft und verstehen können - gegen - Groll und Ärger<br />
Können Sie jetzt anderen vergeben? Wem? Bin ich bereit, Dinge zu akzeptieren, die ich nicht<br />
ändern kann? Was (Abhängigkeit, Verluste, körperliche Defekte etc.)?<br />
5. Toleranz – gegen – Intoleranz<br />
Nachdem Sie sich selber mehr angenommen haben, sind sie sich selbst und anderen gegenüber<br />
toleranter geworden?<br />
6. Geduld - gegen - Ungeduld<br />
Geduld ist ein Ziel, das wir nie ganz erlangen. Trotzdem ist es enorm wichtig, dass wir täglich<br />
daran arbeiten und nicht ständig von unserer Ungeduld getrieben werden. Haben Sie gelernt,<br />
etwas geduldiger mit sich, den anderen Menschen und den äußeren Ereignissen umzugehen?<br />
7. Zufriedenheit – gegen – Neid Haben Sie gelernt, mit Ihrer Lebenssituation zufriedener zu sein<br />
und anderen Menschen das ihre zu gönnen? Haben sie aufgehört zu vergleichen, und können Sie<br />
sich an Ihren Vorzügen erfreuen?<br />
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8. Echtheit – gegen – unechte Fassade<br />
Haben Sie gelernt, sich selbst zu mögen? Haben Sie Ihre Fassade abgelegt? Wie fühlen Sie sich<br />
dabei? Wie wirkt sich Ihr neues Selbstgefühl auf Ihre Beziehung zu anderen Menschen aus?<br />
9. Prompte Erledigung – gegen – Aufschieben<br />
Haben Sie gelernt, Aufgaben ohne Verzug anzupacken? Geben Sie Beispiele aus der letzten Zeit.<br />
Wie fühlen Sie sich dabei?<br />
10. Dankbarkeit – gegen – Selbstmitleid Wofür sind Sie heute dankbar? Was ist in Ihrem Leben<br />
so, dass Sie dafür dankbar sein können?<br />
11. Offenheit für Kritik – gegen – Überempfindlichkeit Können Sie jetzt Kritik besser annehmen?<br />
Können Sie sich als schlichten Durchschnittsmenschen annehmen?<br />
12. Vertrauen – gegen – Ängste Haben Sie angefangen, anderen Menschen, sich selbst und Gott<br />
zu vertrauen? Geben Sie einige Beispiele.<br />
13. Fehler zugeben – gegen – Perfektionismus<br />
Können Sie jetzt einen Fehler zugeben? Sie brauchen nicht vollkommen zu sein. Sie haben ein<br />
Recht, Fehler zu machen. Diese Einsicht ist ungemein befreiend. Erinnern Sie sich an Ereignisse,<br />
wo Sie einen Fehler begangen haben und ihn auch zugeben konnten?<br />
14. Selbstrespekt – gegen – Schuldgefühle<br />
Haben Sie Ihre Schuldgefühle Iosgelassen? Haben Sie gelernt, wie wichtig es ist, sich selbst nicht<br />
zu beschimpfen, zu hassen, sondern zu respektieren?<br />
Lebensplan<br />
Sie haben sich in der voraus liegenden Inventur besser kennen gelernt in Ihren Schwächen und in<br />
Ihren Stärken. Nun ist es Zeit, dass Sie einen konkreten Plan aufstellen, was Sie bei sich<br />
verändern wollen. Welche Elemente soll ein solcher Plan beinhalten?<br />
• Der Plan muss bei kleinen Dingen ansetzen Ich kann nicht meine ganze Persönlichkeit über<br />
Nacht verändern (auch sechs Wochen sind dafür zu kurz).<br />
• Der Plan muss konkret sein<br />
Allgemeine Pläne, wie: ich will Dinge nicht mehr aufschieben, bringen nicht viel. Sagen Sie besser:<br />
ich will jeden Morgen mit etwas beginnen, was ich schon länger aufgeschoben habe.<br />
• Der Plan muss positiv sein<br />
Sagen Sie, was Sie tun wollen und nicht, was Sie nicht tun wollen; z.B. anstatt zu sagen: ich will<br />
nicht mehr stolz sein, sagen Sie besser: ich will, wenn ich einen Fehler begehe, diesen auch<br />
wirklich zugeben.<br />
• Der Plan muss wiederholbar sein<br />
Sie haben die Fehlhaltungen lange Jahre hindurch ein-trainiert. Sie werden diese Fehlhaltungen<br />
nicht in einem einmaligen Anlauf überwinden. Sie müssen neues Verhalten einüben, längere Zeit<br />
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hindurch wiederholen. Am Besten machen Sie dies auf einer täglichen Basis, im Rahmen eines 24-<br />
Stunden-Programms.<br />
Als Vorbild und Anregung soll Ihnen das folgende Programm dienen. Übernehmen Sie dies nicht<br />
unbesehen, sondern machen Sie Ihren eigenen Plan.<br />
• Gerade am heutigen Tag will ich nur für diesen Tag leben und nicht versuchen, mein ganzes<br />
Lebensproblem auf einmal zu lösen.<br />
• Gerade am heutigen Tag möchte ich glücklich sein, weil ich glaube, dass die meisten Menschen<br />
so glücklich sind, wie sie es sein wollen.<br />
• Gerade am heutigen Tag möchte ich mich auf das, was da ist, einstellen und nicht versuchen,<br />
alles nach meinen Wünschen auszurichten.<br />
• Gerade am heutigen Tag möchte ich meinen Geist stärken. Ich möchte etwas Nützliches lernen.<br />
Ich möchte nicht geistig taub werden, sondern etwas lesen, was meine Anstrengung,<br />
Aufmerksamkeit und Konzentration erfordert.<br />
• Gerade am heutigen Tag möchte ich ein Programm haben. Ich brauche es nicht exakt zu<br />
befolgen, aber ich habe es. Es wird mich vor zwei Übeln bewahren: vor Gehetztsein und vor<br />
Unentschlossenheit.<br />
• Gerade am heutigen Tag will ich eine ruhige halbe Stunde für mich haben und entspannen. In<br />
dieser halben Stunde möchte ich versuchen, einen besseren Überblick für mein Leben zu<br />
bekommen.<br />
• Gerade am heutigen Tag möchte ich so gut aussehen wie ich kann, verständlich reden,<br />
zuvorkommend handeln, andere nicht kritisieren, keine Fehler aufspüren und niemand verändern<br />
wollen, außer mich selbst.<br />
• Gerade am heutigen Tag möchte ich mit etwas beginnen, was ich schon länger aufgeschoben<br />
habe.<br />
Der vorliegende Leitfaden ist zusammengestellt und übersetzt aus einer Arbeitshilfe für den vierten<br />
Schritt, welcher den Patienten einer Alkoholikerklinik in Chikago zur Verfügung gestellt wird<br />
(Lutheran General Hospital). Ergänzend wurden Bemerkungen und Anregungen aus einem<br />
Leitfaden für den vierten Schritt entnommen, den die Alkoholikerklinik in Hazelden/USA den<br />
Patienten zur Vorbereitung des vierten Schrittes an die Hand gibt.<br />
Der elfte Schritt - Gebet als Begegnung<br />
Als ich 1974 in Hazelden zum ersten Mal auf das Programm der Anonymen Alkoholiker stieß, hat<br />
mich die spirituelle Dimension des Programms stark beeindruckt. Das Wort SURRENDER<br />
(Loslassen) hat mein eigenes theologisches und spirituelles Denken verändert. Ich habe meine<br />
eigene Theologie noch einmal neu durchlebt auf dem Hintergrund der Erfahrungen der Anonymen<br />
Alkoholiker.<br />
Wenn Ihr die Zwölf Schritte anschaut, dann geht es bei den meisten um eine Auseinandersetzung<br />
mit einer ,Höheren Macht'. Spiritualität ist die Herzmitte der Schritte. Bevor ich auf den elften<br />
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Schritt komme, der die Grundlage unseres Arbeitskreises sein soll, möchte ich kurz einige<br />
Vorbemerkungen über Spiritualität machen.<br />
Wenn wir von Spiritualität sprechen, dann meinen wir nicht Parapsychologie, also übersinnliche<br />
Vorgänge, wie Elevationen, in die Zukunft schauen oder Telepathie, sondern wir meinen einfach<br />
die geistliche, nicht verstandesmäßige Dimension, die ,Heilig-Geistliche Dimension'. Jener<br />
unverfügbare Geist, der uns geschenkt wird, der aus unserer nicht verfügbaren Tiefe<br />
herauskommt. Diese spirituelle Dimension kann in der Erfahrung eines Sonnenunterganges, einer<br />
tiefen Begegnung, eines Gottesdienstes oder einer Meditation deutlich werden. Im christlichen<br />
Glauben nennen wir diesen Geist das Pneuma, den Spiritus, den Heiligen Geist. Wir wissen aber,<br />
dass dieser Geist weht, wo er will. Er ist nicht auf Christen oder Juden beschränkt.<br />
Ich möchte mich jetzt auf den elften Schritt konzentrieren:<br />
Wir suchten durch Gebet und Besinnung die bewusste Verbindung zu Gott - wie wir Ihn verstanden<br />
- zu vertiefen. Wir baten Ihn nur, uns Seinen Willen erkennbar werden zu lassen und uns die Kraft<br />
zu geben, ihn auszuführen.<br />
Der elfte Schritt spricht also über Gebet und Meditation, wodurch wir einen Kontakt mit Gott<br />
intensivieren sollen, und das Ziel allen Betens, nämlich die Übergabe des eigenen Willens an die<br />
Führung Gottes. Wir alle haben eine gewisse Erfahrung mit dem Gebet. Unsere Eltern, unsere<br />
Lehrer und auch die Priester und die Pfarrer haben uns gelehrt, wie man beten kann. Manche von<br />
uns haben bis zum heutigen Tag das Gebet fortgesetzt, andere haben es aufgegeben und sich<br />
gesagt, dass es wenig Sinn hat. Andere von uns haben eine große Veränderung in ihrem<br />
Gebetsleben durchgemacht. Ich würde jetzt gerne einige Gedanken über das Gebet sagen: Gebet<br />
ist für mich eine ehrliche, vertrauensvolle und sich überlassende Begegnung mit Gott.<br />
1. Gebet als eine ehrliche Begegnung mit Gott<br />
Als ich im Jahre 1974 zum ersten Mal nach Hazelden kam, musste ich in den Patientenstatus. Ein<br />
Therapeut und die Patienten sagten mir, dass ich nicht ehrlich sei. Ich wurde damals sehr ärgerlich<br />
und sagte, dass ich doch nicht lügen würde. Sie sagten mir aber dann, dass sie dies nicht im Sinne<br />
von Lügen meinten, sondern dass ich nicht ehrlich zu mir selbst sei, dass ich nicht ehrlich meinem<br />
Gefühl gegenüber bin und dass ich eine andere Person sein möchte, als ich wirklich bin. Ich hatte<br />
z. B. ziemliche Schwierigkeiten, meinen Ärger auszudrücken und auch zu zeigen. Ich hatte eine<br />
Menge Ärger, aber ich erlaubte mir nicht, diesen zu zeigen. Ich tat dann so, als wenn ich nicht<br />
ärgerlich sei; ich war in dem Sinne unehrlich.<br />
Wahrscheinlich machen wir alle die Erfahrung, wenn wir in die Therapie kommen, dass wir nicht<br />
ehrlich zu uns selbst sind und dass wir eine große Maske tragen. Wir können unsere Angst, unsere<br />
Furcht und unsere Schuld zunächst einmal nicht mit anderen teilen. Es war für mich, und es ist für<br />
jeden Patienten ein sehr schmerzhafter Prozess zu lernen, ehrlich zu sein, die unehrliche Maske<br />
Ioszulassen und den anderen zu zeigen, wer ich wirklich bin. Dieser Weg ist schmerzlich, aber<br />
zugleich auch der Beginn der Heilung. Ich bin der Meinung, dass das Lernen, zu sich selbst ehrlich<br />
zu sein, die Basis einer wirklichen Heilung darstellt. Ich weiß nicht, ob Dir klar ist, dass auch die<br />
Begegnung mit Gott ehrlich sein muss. Wir haben gelernt, ehrlich zu unseren Mitmenschen zu sein<br />
und unsere Gefühle mitzuteilen und offen über das zu sprechen, was uns bewegt. Auch uns selber<br />
gegenüber haben wir gelernt, ehrlich zu sein. Aber wie steht das mit unserer Ehrlichkeit gegenüber<br />
Gott? Ich kann nicht nur den anderen Menschen gegenüber rationalisieren und allgemeines Zeug<br />
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eden, sondern ich kann auch Gott gegenüber frommes ,Bla-Bla' äußern. Auch zu Gott kann ich<br />
unehrlich sein, kann das abblocken, was wirklich in mir vorgeht. Ich kann in frommen Klischees<br />
sprechen. Das bringt mich aber nicht weiter und ist im Grunde genommen unehrlich. Gebet ist eine<br />
ehrliche Begegnung mit Gott, so wie ich wirklich bin, so wie ich mich wirklich fühle, das, was ich im<br />
Augenblick denke und meine. Gott will nicht von mir eine Schablone, Gott will nicht, dass ich<br />
anders bin als ich bin. Sage Gott Deine wirklichen Gefühle. Sie sind vielleicht nicht so, wie Du sie<br />
möchtest, Du möchtest Dich vielleicht Gott gegenüber ganz anders fühlen, aber das ist nicht<br />
wichtig. Teile Ihm mit, wo Du Dich schwach fühlst und wo Deine Stärken sind, wo Du Dich hilflos<br />
fühlst und wo Du glücklich bist. Sprich mit Gott über Deine Tränen und über Dein Lachen. Setz<br />
Dich Ihm, so wie Du bist, aus!<br />
2. Gebet ist eine vertrauensvolle Begegnung mit Gott<br />
Mein Therapeut sagte mir, als ich nach Hazelden kam, ich sei spirituell am Ende. Er begründete<br />
dies damit, dass er den Eindruck habe, dass ich Gott nicht vertraue. Ich war damals sehr ärgerlich,<br />
dass mir jemand so etwas sagen konnte. Ich war immerhin damals 23 Jahre Priester und war<br />
geistlicher Leiter im Priesterseminar gewesen, und nun sollte ich spirituell bankrott sein. Ich wollte<br />
das einfach nicht wahrhaben und kämpfte dagegen.<br />
Eines Morgens - ich erinnere mich noch genau an den Platz: es war vor einem alten Baum in<br />
Hazelden -, da wurde mir wirklich ganz klar, dass ich wirklich Gott zu wenig traue. Ich war nicht<br />
bereit, mich Gott ganz zu überlassen, weil ich Angst hatte, er würde dann ganz schwere Dinge von<br />
mir fordern. Ich hatte so den Eindruck, dass Gott immer das Harte und Schwere von mir will. Gott<br />
war für mich immer eine strenge autoritäre Person, die von mir die Erfüllung von Regeln und<br />
Vorschriften erwartet. Der Gedanke, dass es Gott gut meint mit mir und dass er will, dass es mir<br />
gut geht und ich glücklich bin, lag ziemlich weit entfernt. In dieser Situation kam mir die Geschichte<br />
vom guten Hirten in den Sinn21. Ihr kennt die Geschichte sicher alle. Jesus vergleicht hier den<br />
guten Hirten mit dem Mietling. Der gute Hirte gibt sein Leben für seine Schafe; aber der Mietling<br />
flieht, wenn der Wolf kommt, weil ihm an den Schafen nicht viel liegt. Diese zwei Typen Hirten<br />
waren für mich wichtig. Der Mietling ist nur interessiert an dem Fleisch und an der Wolle der<br />
Schafe. Er schaut im Grunde nur auf seinen Profit. Das wird deutlich in der Stunde der Gefahr, wo<br />
er wegläuft, als der Wolf kommt. Ihm liegt ja auch nichts an den Schafen. Es geht ihm nur um<br />
seinen Gewinn. Er gebraucht die Schafe für sich.<br />
Ganz anders der wirkliche Hirte. Er läuft nicht weg, wenn der Wolf kommt, sondern er kämpft für<br />
seine Schafe und gibt sein Leben sogar hin. Warum? Weil er seine Schafe liebt. Er ist interessiert<br />
an ihnen und nicht nur an der Wolle und am Fleisch. Sie gehören zu ihm, sie sind gleichsam ein<br />
Teil seines eigenen Lebens. Der Mietling gebraucht seine Schafe, der Hirte liebt sie.<br />
Brauchen - Lieben, das ist der große Unterschied. Gott ist einer, der uns nicht gebraucht, sondern<br />
Gott ist einer, der uns liebt. Das ist eine sehr wichtige Erfahrung, denn wir machen ja auch oft die<br />
Erfahrung, dass wir von anderen Menschen gebraucht oder sogar missbraucht werden. Für mich<br />
war das eine wichtige Erfahrung, denn sie sagt mir, dass Gott nicht danach fragt, was ich alles<br />
leiste, was ich zu ihm hingebe, sondern dass er mich liebt, so wie ich bin, weil ich zu ihm gehöre.<br />
Er sagt JA zu mir, er akzeptiert mich. Er liebt mich auch dann, wenn ich von ihm weggehe; er liebt<br />
mich trotz all meiner Fehler und meiner Begrenztheit. Er liebt nicht meine Begrenzungen und<br />
meine Schuld, aber er weiß, dass ich mehr bin als meine Schuld. Ich bin erschaffen von ihm,<br />
geliebt von ihm; und weil das so ist, kann ich ihm vertrauen, kann mich ihm überlassen. Und damit<br />
wären wir schon beim dritten Punkt.<br />
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3. Das Gebet, eine überlassende Begegnung mit Gott<br />
Hier ist das Wort ,surrender' für mich wichtig geworden. (sich übergeben, sich anvertrauen).<br />
Allerdings steckt in diesem Wort ,surrender' auch das Aufgeben, was wir mit Kapitulation meinen.<br />
Im ,surrender' ist der ganze Prozess enthalten. Das Aufgeben des Eigenwillens, das Aufgeben der<br />
eigenen Großartigkeit, des KINGS; gleichzeitig aber auch das sich vertrauensvoll der höheren<br />
Macht überlassen. Eigentlich kann ich nur aufgeben, kann nur loslassen, wenn ich ein tiefes<br />
Vertrauen habe, dass ich dann nicht in den Abgrund falle, sondern dass ich aufgefangen werde<br />
von einer liebevollen Hand.<br />
Im elften Schritt geht es bei dem Gebet nicht so sehr um das Bittgebet. Sicher hat das Bittgebet<br />
(Mt. 7,7-11) auch einen Sinn, und Jesus ermuntert uns, für all das zu beten, was wir brauchen. Im<br />
elften Schritt geht es vor allen Dingen darum, sich immer wieder neu dem Willen Gottes anzuvertrauen,<br />
eine Art Führungswechsel vorzunehmen und bereit zu sein, Gottes Willen zu tun und den<br />
eigenen Willen hinten an zu setzen. Wie schwierig das ist, haben wir alle sicher schon oft erlebt<br />
und werden es immer wieder erleben. Deswegen bitten wir im elften Schritt um die Kraft, diesen<br />
Willen Gottes dann auch ausführen zu können.<br />
Ein Weg aus der Verzweiflung<br />
Liebe Freunde,<br />
vor einigen Wochen erzählte mir ein Patient unserer Klinik einen Traum. Er ging durch einen<br />
langen, dunklen Tunnel und auf einmal öffnete sich der Tunnel zu einer weiten, lichten Wiese. Er<br />
trat hinaus mit dem Gefühl einer großen Freiheit und Erleichterung. Ein bewegendes Bild: der<br />
lange dunkle Tunnel und die weite Helle der Wiese. Das ist auch ein Bild für unser heutiges<br />
Thema: ,Wege aus der Verzweiflung des Alkoholismus.'<br />
Dass Alkoholismus solch ein langer dunkler Tunnel ist, brauche ich Euch hier nicht zu<br />
verdeutlichen. Viele von Euch haben diese Verzweiflung erlebt, sei es als Abhängige, sei es als<br />
Angehörige. Manche sind noch in diesem dunklen Tunnel. Ich möchte einige Gedanken über<br />
Wege aus der Verzweiflung vorlegen (Wege aus der Todeszone in die Lebenszone).<br />
1. Der Holzweg<br />
Zunächst möchte ich über einen Weg sprechen, den ich als Holzweg bezeichne, also einen Weg,<br />
der keine Öffnung nach vorne hat, einen Weg, der im dunklen Tunnel bleibt. Ein Hauptsymptom<br />
des Alkoholikers ist der Kontrollverlust, d.h. die Unfähigkeit des Abhängigen, die Menge seines<br />
Trinkens zu bestimmen. Dieser Kontrollverlust ist eine äußerst schockierende Erfahrung für den<br />
Alkoholiker und seine Umgebung. Er unterscheidet ihn in einer für ihn äußerst beschämenden<br />
Weise von den anderen so genannten Gesellschaftstrinkern. Lange Zeit verleugnet er diese<br />
Tatsache und versucht - etwa durch Veränderung der Trinkgewohnheiten oder der Trinkart -, diese<br />
Kontrolle wieder zu erlangen: er will kontrolliert trinken. Alle diese Versuche scheitern auf die<br />
Dauer. Dennoch versucht er immer wieder von neuem, die Kontrolle zu erlangen. Dieser<br />
Kontrollweg ist ein Holzweg; er endet immer wieder in der Niederlage. Er vertieft die<br />
Schuldgefühle, die Schamgefühle und führt zuletzt in eine Verzweiflung über das immer wieder von<br />
neuem erfahrene Scheitern. Dieser Weg kann oft Jahre, ja, ein ganzes Jahrzehnt dauern.<br />
Zugrunde liegt die Unfähigkeit oder Unwilligkeit zu kapitulieren, das Zugeben der Machtlosigkeit<br />
und mangelnde Demut. Das Ego ist zu aufgebläht; es will keine Hilfe annehmen, ist nicht ehrlich zu<br />
sich und anderen Personen.<br />
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Übrigens machen auch die Angehörigen häufig einen solchen Holzweg mit. Sie versuchen mit<br />
allen Mitteln, den Abhängigen von der Flasche wegzubringen, natürlich ohne Erfolg. Diese<br />
Erfolglosigkeit aber hindert sie nicht, es immer wieder von neuem zu versuchen, in der Hoffnung:<br />
das nächste Mal werden meine Kontrollversuche Erfolg haben. Aber auch beim nächsten Mal steht<br />
das Scheitern an. Auf diesem Weg gibt es keine Hoffnung.<br />
2. Der Umweg<br />
Viele Alkoholiker versuchen, auf einem Umweg aus der Verzweiflung herauszukommen. Es ist<br />
eine Art ,Flucht in die Gesundheit.' Ich nenne ihn auch den ,instinktiven Weg'. Dieser Weg führt<br />
nicht zur Nüchternheit, ist aber oft ein notwendiger Umweg (unterscheide Trockenheit und<br />
Nüchternheit). Was ist damit gemeint?<br />
• Flucht in die Gesundheit<br />
Bei diesem Weg liegt bereits ein Stück Krankheitseinsicht vor. Der Alkoholiker erkennt: „Ich bin<br />
Alkoholiker; ein Weitertrinken würde für mich Selbstmord bedeuten.” Auch eine erste Hoffnung<br />
bricht auf: „Es gibt einen Weg heraus.” In dieser Situation sieht der Patient aber nur eine<br />
Alternative. Entweder der Alkohol besiegt mich, oder ich bekämpfe und besiege ihn. In dieser<br />
Situation kommen Formulierungen wie etwa: „Ich muss es schaffen und ich muss den Alkohol<br />
besiegen.” Was steckt hinter dieser Haltung? Der Abhängige möchte sich im Grunde nicht dem<br />
Schmerz stellen und noch einmal in den Schmerz dessen, was durch sein Trinken alles passiert<br />
ist, hineingehen. Er möchte einfach vergessen und möchte mit seinem Willen einen neuen Weg<br />
beschreiten. Das geht aber nicht: Niemand kommt aus dem Alkoholismus heraus, der nicht noch<br />
einmal hineingeht in den Schmerz und sich dem ganz und gar stellt und sich von diesem Kapital<br />
der Erfahrung treiben lässt in eine neue Richtung (Heilung als Verwandlung). Schauen wir zurück<br />
auf diesen Umweg. Dieser Weg ist eben kein echter Ausweg, er ist eine Flucht in die Gesundheit.<br />
Die Entscheidung, gegen die Abhängigkeit zu kämpfen, führt zu keiner echten und dauernden<br />
Nüchternheit, höchstens zu einer Trockenheit. Dieser Umweg ist eine Falle, und nicht selten<br />
kommt es hier zu einem Rückfall.<br />
• Der innere Konflikt<br />
Der innere Konflikt: Was geht in einem Menschen vor, der diesen instinktiven Weg geht. Vom<br />
Verstand her sieht er ein, dass er Alkoholiker ist, dass er machtlos ist gegenüber dem Alkohol,<br />
dass alle Kontrollversuche sinnlos sind. In den tieferen Schichten aber, in den Gefühlsschichten -<br />
ich sage einfach im Bauch - steckt noch ein deutliches NEIN. Im Kopf, im Verstand ist also ein JA,<br />
im Bauch ist ein NEIN, und das macht die Gespaltenheit aus, die Spannung, die Verkrampfung, in<br />
der ein solcher Mensch lebt. Weiterhin sagt dieses NEIN, dass ich noch nicht bereit bin, meine<br />
Abhängigkeit als einen Teil meiner Persönlichkeit voll zu akzeptieren. In meinem Bauch sind noch<br />
Ärger, Angst und Zorn meiner Abhängigkeit gegenüber: „Warum gerade ich; die anderen haben<br />
doch noch viel mehr getrunken.” Dieser Zustand der Gespaltenheit ist für die meisten Patienten<br />
unserer Klinik ein notwendiger Umweg. Eine wesentliche Aufgabe der Therapie ist es, sich mit<br />
dieser Gespaltenheit auseinander zu setzen und dem Patienten zu helfen, zu einer vollen<br />
Annahme im Kopf sowie im Bauch zu kommen. Damit wären wir nun bei dem eigentlichen Weg,<br />
bei dem echten Ausweg:<br />
3. Der Ausweg<br />
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Ich nenne diesen Ausweg den ,paradoxen Weg'. Paradox meint, dass er unseren so genannten<br />
,gesunden Menschenverstand' durchkreuzt und uns in eine Richtung führt, die wir zunächst als<br />
eine Gegenrichtung ansehen, die wir peinlichst vermeiden. Eine Erfahrung, die wir ja auch sonst im<br />
Leben machen, dass der Ausweg oft in einer Richtung liegt, die von uns gerade nicht vermutet<br />
wird. Der paradoxe Weg führt in eine Richtung, den unser Eigenwille und unser Instinkt nicht<br />
wollen. Dieser paradoxe Weg ist in den dreißiger Jahren entdeckt worden von einer handvoll<br />
hoffnungsloser Alkoholiker in den Vereinigten Staaten. Heute sind sie uns bekannt als Anonyme<br />
Alkoholiker (auch Jesus von Nazareth geht übrigens diesen Weg). Diese Männer und Frauen<br />
haben einen Weg aus der Verzweiflung herausgefunden und haben sich im Nach-hinein überlegt,<br />
wie dieser Weg gelaufen ist.<br />
Ich möchte vor allen Dingen auf den ersten Schritt eingehen. Hier wird die Paradoxie besonders<br />
deutlich:<br />
• Der Widerstand<br />
Bei dem instinktiven Weg steht am Anfang der Gedanke: „Ich muss den Alkohol besiegen.” Beim<br />
paradoxen Weg steht am Anfang genau das Gegenteil: „Ich gebe meine Niederlage zu.” Bei den<br />
Anonymen Alkoholikern heißt der erste Schritt: ,Wir gaben zu, dass wir dem Alkohol gegenüber<br />
machtlos sind.' Der Weg aus der Verzweiflung beginnt damit, dass ich sowohl vom Verstand her,<br />
aber auch von meinem Gefühl, von meinem Bauch her, zugebe - also nicht nur erkenne -, dass der<br />
Kampf vorüber ist, dass ich absolut machtlos bin gegenüber dem Alkohol. Ein Anerkennen der<br />
Machtlosigkeit, ein Zugeben der Niederlage widerspricht dem Menschen zutiefst. Wir sind erzogen,<br />
uns zu behaupten und durchzusetzen. Schwäche zu zeigen, erscheint uns als höchst verdächtig.<br />
So kämpft der Abhängige einen langen Kampf gegen die Machtlosigkeit. Sie erscheint ihm als<br />
Schwäche, und die will er sich nicht zugestehen: „Ich darf nicht schwach sein.” Schwäche ist<br />
gerade für einen Abhängigen etwas, was ihn geradezu in Panik versetzt. Aber gerade das, was ihn<br />
,panikt', ist der Weg heraus aus der Verzweiflung.<br />
• Gewinnen durch Verlieren<br />
Im Eingestehen der Niederlage gewinne ich Stärke. Indem ich verliere, gewinne ich. Nicht in dem<br />
Sinn, dass ich nun den Alkohol kontrollieren kann, das wird niemals mehr der Fall sein. Aber in<br />
dem Sinn, dass ich ein zufriedenes und beglücktes Leben führen kann, dass ich von einem<br />
Verlierer zu einem Gewinner werde; dies aber nicht durch Kampf, sondern indem ich aufgebe und<br />
kapituliere. „Änderungen finden von selbst statt. Wenn man tiefer in sich hineingeht, in das, was<br />
man ist, wenn man annimmt, was da vorhanden ist, dann ereignet sich der Wandel von selbst. Das<br />
ist das Paradoxe des Wandelns.” Per/s beschreibt hier genau den paradoxen Weg. Mit dem Willen,<br />
mit dem Planen, gelingt es dem Alkoholiker nicht, von seiner Abhängigkeit weg zu kommen. Erst in<br />
der Annahme der Krankheit, in der Annahme seiner Abhängigkeit kommt es zur Heilung. Nämlich<br />
wenn er kapituliert, JA sagt zu seiner Krankheit, sie nicht mehr als seinen Feind ansieht, den er<br />
bekämpfen muss, sondern als Stück seiner Persönlichkeit, wird er zum Gewinner, zum Menschen<br />
mit neuem Leben.<br />
• Annahme von Hilfe<br />
Der paradoxe Weg beginnt mit dem Annehmen der Niederlage, er setzt sich fort in eine zweite<br />
Richtung, nämlich mit der ,Annahme von Hilfe'. Der Alkoholiker im nassen Stadium ist eine Art<br />
,Steppenwolf', der versucht, alles allein zu machen, er möchte alles schaffen. Er isoliert sich dabei<br />
immer mehr und wird zuletzt einsam mit seiner Flasche. Im heilenden Ausweg ist der Alkoholiker<br />
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ereit, Hilfe anzunehmen. Er ist bereit, von seinen Allmachtsphantasien herunterzukommen und<br />
ganz simpel um Hilfe zu bitten. Diese Hilfe kann ein Therapieprogramm sein, diese Hilfe können<br />
andere Menschen sein (etwa eine <strong>Gruppe</strong> der Anonymen Alkoholiker oder eine andere<br />
Selbsthilfegruppe). Wenn ich an unsere Therapie in Bad Tönisstein denke, dann bin ich der<br />
Meinung, dass das wichtigste Instrument unserer Therapie die <strong>Gruppe</strong> ist, d.h. die Menschen,<br />
diese zehn Männer oder zehn Frauen, die acht Wochen lang miteinander leben, ihre Sorgen teilen,<br />
ihren Schmerz miteinander besprechen und sich öffnen. Ich glaube, dass diese <strong>Gruppe</strong> von<br />
Menschen das Entscheidendste ist. Ein Alkoholiker, der es allein schaffen will, der keine Hilfe<br />
annehmen will, befindet sich auf dem instinktiven Weg, er möchte es alleine schaffen. Daraus folgt<br />
aber nie und nimmer eine zufriedene Nüchternheit.<br />
• Loslassen der Kontrollhaltung<br />
Zuletzt möchte ich noch eine dritte Richtung in diesem paradoxen Weg zeigen, und das ist das<br />
,Loslassen der Kontrollhaltung'. Auch das ist eine Paradoxie, denn der Alkoholiker scheint ja<br />
jemand zu sein, der nicht kontrollieren kann. Das ist aber nur auf den ersten Blick hin richtig. Im<br />
Grunde ist der Alkoholiker ein überkontrollierter Mensch, einer, der alles in seine Richtung und in<br />
seinen Gedanken und nach seinem Gutdünken machen und haben will. Der Alkoholiker ist ein<br />
überkontrollierter Mensch; nur an einem Punkt ist er unfähig zu kontrollieren, nämlich dem Alkohol<br />
gegenüber. Ein wesentlicher Teil der Heilung und der Genesung zu einem neuen Leben besteht in<br />
dem Loslassen der Kontrollhaltung, anders ausgedrückt: ,Die Machtlosigkeit des Alkoholikers ist<br />
nicht nur eine Machtlosigkeit gegenüber dem Alkohol, sondern auch vielen anderen Gebieten des<br />
Lebens gegenüber.' Das gilt übrigens für alle Menschen, nicht nur für den Alkoholiker, wie ja<br />
überhaupt diese Schritte der Anonymen Alkoholiker auch ein Lebensprogramm für Nicht-<br />
Abhängige sein können. Ich persönlich habe eine ganze Menge gelernt von meinen Freunden, den<br />
Anonymen Alkoholikern, auch in meiner Ausbildung im amerikanischen Zentrum in Hazelden. Ich<br />
glaube, dass gerade diese Zeit für mich lebensbestimmend war. Ich möchte also sagen, für alle gilt<br />
das, aber für den Alkoholiker in besonderer Weise: das Aufgeben der Kontrollhaltung. Der<br />
Alkoholiker versucht, alles zu kontrollieren, seine Gefühle, seine Mitmenschen, das Ergebnis<br />
seiner Handlungen, eben alles. Loslassen heißt für ihn, dass er andere Menschen loslässt, d.h.<br />
dass er anderen Menschen erlaubt, das eigene Lied zu singen, den eigenen Weg zu gehen, dass<br />
er anfängt, Vertrauen zu haben in die Möglichkeiten der anderen. Ich musste auch als Therapeut<br />
eine ganze Menge lernen. Am Anfang habe ich gemeint, ich müsste alles tun, ich müsste<br />
verantwortlich sein, auch für die Trockenheit der Patienten. Weiterhin gilt dieses Loslassen in<br />
Richtung auf meine Gefühle hin: ,Loslassen meiner Gefühle.' Der Alkoholiker im nassen Zustand<br />
bzw. der Medikamenten-abhängige versucht immer wieder, durch Alkohol oder durch Tabletten,<br />
seine Gefühle zu manipulieren, er möchte, dass diese Gefühle immer in einer ihm angenehmen<br />
Weise sind. Er möchte immer auf einer Welle des Wohlbehagens schwimmen. Das geht nicht! Auf<br />
dem paradoxen Weg lernt er, seine Gefühle Ioszulassen, aufzuhören zu kontrollieren, seine<br />
Gefühle zuzulassen, und er wird merken, dass die Gefühle verschieden sind: seine Gefühle<br />
wechseln. Aber er hört auf, sich vor diesen Gefühlen zu ängstigen, auch vor den nicht so<br />
angenehmen Gefühlen.<br />
Wer gelernt hat, Gefühle und Menschen loszulassen, der kann sich in einer neuen Weise dem<br />
Leben anvertrauen; er muss nicht mehr alles selber managen, er vertraut sich dem Leben an, so<br />
wie sich ein Schwimmer dem Wasser anvertraut und merkt, dass dieses Wasser ihn trägt. So ist<br />
eine der wesentlichen Grundhaltungen des Programms und auch des paradoxen Weges das<br />
Vertrauen.<br />
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Der amerikanische Psychiater Tiebout, der auch viel mit Anonymen Alkoholikern gearbeitet hat,<br />
beschreibt diesen paradoxen Weg mit folgenden Worten: ,Wer diesen paradoxen Weg geht, hat<br />
sein verkrampftes, aggressives und forderndes ICH, das sich isoliert und den Kampf mit der<br />
Umwelt führt, Iosgelassen und ist weit geöffnet gegenüber der Wirklichkeit des Lebens. Er kann<br />
zuhören und lernen, ohne gleich zurückzuschlagen. Er entwickelt ein Gefühl von Zugehörigkeit,<br />
das die Quelle eines inneren Friedens und einer inneren Gelassenheit ist. Wer sich überlässt, der<br />
kämpft nicht mehr länger gegen das Leben, sondern er nimmt es liebevoll an.'<br />
Schuldgefühle<br />
Fast alle Patienten, die nach Bad Tönisstein kommen, um hier Therapie zu machen, leiden unter<br />
massiven Schuldgefühlen. Sie fühlen sich schuldig wegen der vielen Verletzungen, die sie anderen<br />
und sich selbst zugefügt haben. Schuldgefühle gehören zur Krankheit ,Alkoholismus'. Eine der<br />
ersten Fragen im Jellinek-Schema lautet: „Haben Sie wegen Ihres Trinkens Schuldgefühle?” Die<br />
Schuldgefühle bleiben die dauernden Begleiter des nassen Alkoholikers und steigern sich im Laufe<br />
der Karriere immer mehr. Das Wegtrinken der Schuldgefühle bringt nur kurze Zeit Entlastung.<br />
Welchen Sinn haben Schuldgefühle? Wie gehe ich damit um?<br />
Wie kommt es zu Schuldgefühlen<br />
Wir haben in uns ein feines Gespür für Recht und Unrecht, Gut und Böse. Jeder von uns hat ein<br />
bestimmtes Wertsystem in sich, z.B. wie ich mich als Vater, Mutter, Partner, Kollege verhalten<br />
muss und will. Wenn ich mich gegen dieses innere Wertsystem vergehe, werde ich schuldig: wenn<br />
ich z.B. Versprechen nicht halte, mich als Mutter oder Vater nicht um meine Kinder kümmere etc.<br />
Dieses Schuldigwerden drückt sich aus in einem ganz bestimmten Gefühl, nämlich dem<br />
Schuldgefühl. Wir müssen also unterscheiden: Schuld und Schuldgefühle. Wir alle kennen dieses<br />
Gefühl, Schuldgefühle zu haben, wenn wir uns gegen unsere eigenen Wertvorstellungen<br />
vergehen. Das ist gesund und normal. Nasse Alkoholiker verfehlen sich massiv gegen ihre eigenen<br />
Wertvorstellungen. Sie wollen gute Väter und Mütter, gute Partner und Kollegen sein. Sie tun aber<br />
aufgrund ihrer Abhängigkeit das Gegenteil. Sie verhalten sich unverantwortlich und egoistisch.<br />
Daraus ergeben sich ihre massiven Schuldgefühle (Gewissen - Über-Ich)<br />
Unterscheidung zwischen konstruktiven und destruktiven Schuldgefühlen<br />
Ich möchte zunächst über die ,konstruktiven' Schuldgefühle sprechen. Diese machen uns<br />
aufmerksam auf Fehlverhalten und Schuld. Sie sind ein Aufruf zur Umkehr, eine neue Richtung<br />
einzuschlagen. Sie wollen uns aus der Schuld in die Freiheit führen. Sie sind zielgerichtet. Für<br />
Alkoholiker heißt das: Dein Schuldgefühl will Dir sagen: „Dein alter Weg des Trinkens zerstört dich<br />
und andere. Gehe einen neuen Weg, den Weg der Trockenheit.” Zunächst hast du diese Stimme<br />
überhört, hast sie weggetrunken, irgendwann, wahrscheinlich aufgrund von inneren und äußeren<br />
schlimmen Erfahrungen, bist Du hellhörig geworden. Du hast den neuen Weg in die Freiheit<br />
eingeschlagen und bist zur Therapie gekommen. Damit hören die Schuldgefühle aber noch nicht<br />
einfach auf. Sie werden vielleicht anfangs noch stärker, weil Du ihnen jetzt pur in die Augen<br />
schauen musst und Dich den Verletzungen stellen musst. Wenn du das ehrlich tust, werden die<br />
Schuldgefühle langsam abnehmen. Sie haben ihren Sinn erfüllt, dich in die Freiheit zu führen.<br />
Nun möchte ich über die ,destruktiven' Schuldgefühle sprechen. Im Gegensatz zu den<br />
konstruktiven Schuldgefühlen führen diese nicht aus der Misere heraus in die Freiheit, sondern<br />
lassen dich in einem destruktiven Kreis herumlaufen. Du verurteilst dich selbst, beschimpfst dich,<br />
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lehnst dich ab, gehst ganz und gar unbarmherzig mit Dir um: „Ich bin gemein, ich bin böse, ich bin<br />
schlecht. Ich lehne mich total ab. Ich kann mir auch nicht vergeben.” Bei diesen destruktiven<br />
Gefühlen bleibst Du bei Dir selbst, in Dir gefangen, und es führt kein Weg heraus. Deshalb sind<br />
diese Schuldgefühle nicht hilfreich und müssen zum Schweigen gebracht werden.<br />
Bewältigung der Schuldgefühle<br />
• Das Krankheitskonzept<br />
Das Krankheitskonzept des Alkoholismus als Schuldentlastung. Etwa um das Jahr 1950 entstand<br />
in den USA, genauer in Minnesota, ein neues Modell für die Behandlung von Alkoholismus, kurz<br />
das Minnesota Modell' genannt. Dieses Modell geht davon aus, dass der Alkoholismus eine<br />
Krankheit ist, die in mehreren Phasen verläuft und die die betroffene Person physisch, psychisch,<br />
sozial und spirituell erkranken lässt. Dieses Konzept stand im Gegensatz zum moralischen oder<br />
psychiatrischen Verständnis des Alkoholismus, das bis dahin geherrscht hat. Aufgrund dieser<br />
Erkrankungen, die sich vor allen Dingen im Kontrollverlust, d.h. in der ,Unfähigkeit zu bestimmen,<br />
wann und wie viel ich trinke', ausdrückt. Der Alkoholiker will ein guter Vater oder eine gute Mutter<br />
sein, aber die Krankheit hat sein Wertesystem auf den Kopf gestellt (spirituelle Erkrankung). Das<br />
Suchtmittel - dessen Besitz und Einnahme — rangiert als höchster Wert, hinter dem Familie, Arbeit<br />
und Gesundheit zurücktreten müssen. Das ist aber nicht frei gewollt, sondern Folge seiner<br />
krankhaften Abhängigkeit. Damit sind die schlimmen Verletzungen, die der Alkoholiker sich und<br />
anderen zugefügt hat, nicht einfach aufgehoben. Das wäre zu leicht.<br />
Der Alkoholiker kann aber mit Recht sagen: „Ich habe das alles nicht freiwillig getan. Mein Wille<br />
war durch exzessives Trinken, durch die mangelnde Einsicht in meine Machtlosigkeit gefesselt.”<br />
Auch die Augen des Alkoholikers waren erblindet. Er hat nicht mehr richtig wahrgenommen und<br />
gesehen, wie es um ihn steht und wie sehr er die anderen verletzt hat (vgl. den nassen Brief). Um<br />
es noch einmal zu sagen: Das Krankheitskonzept des Alkoholismus entlässt den Alkoholiker nicht<br />
einfach aus der Verantwortung für die Folgen seines Trinkens, gibt ihm aber einen Schlüssel zum<br />
Verstehen seines destruktiven Verhaltens und damit auch eine Hilfe zur Bearbeitung seiner<br />
Schuldgefühle. Das wird ihm besonders deutlich, wenn er in der <strong>Gruppe</strong>n-Therapie erfährt, dass<br />
andere sich sehr ähnlich verhalten haben. Dieses gegenseitige Mitteilen (aussprechen) der<br />
negativen Verhaltensweisen und der damit zusammen-hängenden Schuldgefühle sind ein<br />
wichtiger Teil der Therapie von Alkoholikern: Ich bin nicht der einzige, der so etwas getan hat. Hier<br />
geschieht eine Art säkularer Form der Lossprechung, der Beichte. Im Mitteilen der verletzenden<br />
Verhaltensweisen spreche ich mich frei. Die Last der Schuldgefühle wird reduziert oder auch ganz<br />
weggenommen.<br />
• Bitte um Vergebung<br />
Die Bewältigung von Schuld und Schuldgefühlen durch die Bitte um Verzeihung. Ein weiterer<br />
Schritt zur Bewältigung von Schuld und Schuldgefühlen ist die Bitte um Vergebung. Die Anonymen<br />
Alkoholiker haben dies im achten Schritt ihres Zwölf-Schritte-Programms folgen-dermaßen<br />
formuliert: ,Wir machten eine Liste aller Personen, denen wir Schaden zugefügt haben, und<br />
wurden willig, ihn bei allen wieder gutzumachen.'<br />
Es geht hier nicht darum, alle auf einmal um Vergebung zu bitten, das würde den Alkoholiker<br />
überfordern. Mache eine Liste und fange bei einem oder einer an. Schreibe Dich an die Spitze der<br />
55
Liste, denn Du hast Dir selbst am meisten wehgetan und Dich verletzt. Natürlich taucht da auch ein<br />
Widerstand auf. Verliere ich dann nicht mein letztes Stück Selbstachtung? Wie stehe ich da, wenn<br />
der andere mir nicht vergibt und stattdessen mich angreift? Wiederhole ich nicht den<br />
Katzenjammer meiner nassen Zeit und vieles andere? Natürlich weiß niemand, ob der andere ihm<br />
vergibt. Nach meiner Erfahrung sind aus solchen Bitten oft sehr persönliche Gespräche herausgewachsen<br />
und manchmal auch eine ganz neue Beziehung. Ein wichtiger Weg der Bearbeitung von<br />
Schuldgefühlen ist das Partnerseminar, das wir hier in Bad Tönisstein durchführen. Im offenen<br />
Gespräch der Partner kann viel Schutt abgetragen werden und die Grundlage für eine neue, tiefere<br />
Beziehung gelegt werden.<br />
Ich möchte diesen Vortrag über Schuldgefühle nicht beenden, ohne auf eine ,spirituelle'<br />
Bewältigung der Schuld und Schuldgefühle einzugehen. Die Geschichte vom verlorenen Sohn ist<br />
dabei die beste Interpretation. Der heimkehrende Sohn, der ein unverantwortliches Leben geführt<br />
hat, wird von seinem Vater ,ohne Wenn und Aber' in Liebe aufgenommen und in seine Würde als<br />
Sohn eingesetzt. So kann ich auch mit meiner Schuld vor Gott hintreten und sicher sein, dass er<br />
mir vergibt (Möglichkeit der Beichte).<br />
Selbstannahme des Alkoholikers Selbstverantwortung<br />
Nicht wenige Patienten machen sich während der Therapie große Sorgen, wie die Familie, die<br />
Freunde, die Kollegen und die gesamte Umgebung sie nach ihrer Therapie wohl aufnehmen<br />
werden. Sätze wie: "Die wissen ja nicht, dass Alkoholismus eine Krankheit ist; die meinen ja doch,<br />
dass wir uns eben mehr zusammennehmen sollten und nicht so labil und willensschwach sein<br />
sollten." werden da laut. Oder manche Patienten sagen: „Wenn die Gesellschaft mehr über<br />
Alkoholismus wüsste, dann wäre für uns das Trockenbleiben leichter.' Schauen wir uns diese<br />
Sätze einmal näher an. Richtig ist dabei, dass eine über Alkoholismus gut aufgeklärte Gesellschaft<br />
es dem Alkoholiker leichter macht, trocken zu bleiben. Falsch und gefährlich dagegen ist es, meine<br />
Trockenheit von der Einstellung meiner Umgebung abhängig zu machen. Du bist für Deine<br />
Trockenheit verantwortlich. Wenn Du Deine volle Verantwortung dafür übernimmst, kann Dich die<br />
Umgebung nicht zum Rückfall bringen. Mache dich nicht vom Denken Deiner Umgebung<br />
abhängig! Stelle dich und Deine Trockenheit auf Deine eigenen Füße.<br />
Projektion<br />
Möglicherweise handelt es sich bei solchen Sätzen auch um einen Abwehrmechanismus, nämlich<br />
die Projektion. Unter Projektion versteht man, dass jemand eigene Einstellungen, Verhaltensweisen<br />
oder bestimmte Mängel, die er an sich selbst nicht mag und nicht akzeptiert, auf<br />
andere überträgt. In unserem Fall würde dies heißen: Ich selbst sehe mich als willensschwach und<br />
Versager und unverantwortlich an. Ich selbst kann meinen Alkoholismus noch nicht als eine<br />
chronische, nicht mehr rückgängig zu machende Krankheit annehmen und sage deshalb, die<br />
anderen dächten so. Ich fürchte, die anderen würden mich als Alkoholiker, als unannehmbar<br />
zurückweisen. In Wirklichkeit weise ich mich selbst als unannehmbar zurück. Gehen wir dieser<br />
Spur einmal genauer nach. Weil ich mich noch nicht als Alkoholiker annehmen kann, habe ich<br />
große Angst, die anderen würden mich ablehnen. Meine Genesung geschieht daher in erster Linie<br />
in der Heilung meiner eigenen Einstellung zu mir selbst und meiner Krankheit und nicht in der<br />
Veränderung der Gesellschaft (Partner).<br />
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Notwendigkeit der Selbstannahme<br />
Diese Selbstannahme ist notwendig. Sie wendet die Not der Selbstzerfleischung, der<br />
Schuldgefühle, des Misstrauens und der Angst. Ohne diese Selbstannahme habe ich keinen<br />
Frieden in mir.<br />
Ohne Selbstannahme kann ich auch keine bedeutsamen, personalen Beziehungen aufbauen, die<br />
für meine Trockenheit wieder lebensnotwendig sind. Ich lebe ja dann in der ständigen Angst,<br />
zurückgewiesen zu werden. So bleibe ich am Rande sitzen oder ziehe mich in mein<br />
Schneckenhaus zurück.<br />
Vertrauensvolle Beziehung zu Gott<br />
Auch die vertrauensvolle Beziehung zu Gott ist unter diesen Umständen nicht möglich. Weil der<br />
Alkoholiker sich und seine Krankheit nicht annehmen kann, meint er, dass auch Gott ihn nicht<br />
annimmt, ihn ablehnt.<br />
Aus dem bisher Gesagten wird deutlich, dass die Selbstannahme die Basis der Heilung des<br />
Alkoholismus darstellt. Natürlich ist das ein beschwerlicher Weg und keine Kleinigkeit. Zuvor sei<br />
noch gesagt, dass die meisten Menschen Schwierigkeiten mit der Selbstannahme haben. Viele<br />
Menschen haben Seiten und Teile in sich, die sie nicht mögen und mit denen sie sich nur schwer<br />
anfreunden können. Ich denke dabei an körperliche Mängel, emotionale Schwierigkeiten,<br />
lebensgeschichtliche Defizite, traumatische Erlebnisse aus der Vergangenheit usw. Für den<br />
Alkoholiker ist es in erster Linie seine Krankheit, die ihm bei der Selbstannahme im Wege steht.<br />
Hilfen zur Selbstannahme<br />
• Zunächst muss er seine falschen internalisierten Einstellungen über seine Krankheit erkennen<br />
und kritisch hinterfragen. Bin ich davon überzeugt, dass Alkoholismus eine Krankheit ist? Sehe ich<br />
meine Krankheit noch als ein moralisches Versagen an? Stimmt es, dass ein Alkoholiker kein<br />
vollwertiger Mann, keine vollwertige Frau ist, nur weil er oder sie keinen Alkohol trinkt? Sind<br />
Alkoholiker willensschwach, blöd oder verantwortungslos? Richtig ist, dass nasse Alkoholiker<br />
häufig verantwortungslos handeln und ihre Versprechungen und Vorsätze nicht halten können.<br />
Aber gerade diese Machtlosigkeit gegenüber Alkohol und den daraus resultierenden Folgen sind<br />
Zeichen der Krankheit.<br />
• Ein nächster Schritt ist der Aufbau neuer, konstruktiver Einstellungen zu mir und meiner<br />
Krankheit. Es ist in Ordnung, ein trockener Alkoholiker zu sein. Ich bin ein wertvoller Mensch, auch<br />
wenn ich eine chronische Krankheit habe. Ich übernehme Verantwortung für mein Leben. Ich<br />
nehme den dunklen Bruder, die dunkle Schwester in mir an. Sie sind ein Stück von mir. In der<br />
Annahme dieser Seiten verlieren sie ihren zerstörerischen Charakter.<br />
• Selbstannahme heißt nicht, die Augen zu verschließen vor den zerstörerischen Handlungen und<br />
Verhaltensweisen der nassen Vergangenheit. Es heißt aber, die destruktiven Schuldgefühle<br />
loszulassen, die mich nur im Kreise drehen lassen und mir keinen Weg in die Freiheit weisen.<br />
Diese Schuldgefühle weichen dann einem Gefühl von stiller Trauer, das in einem Alkoholiker<br />
aufkommt, wenn er an die Verletzungen denkt, die er anderen und sich in seiner nassen Zeit<br />
zugefügt hat. Diese stille Trauer ist im Gegensatz zu den oben genannten Schuldgefühlen ein<br />
Wegweiser in die rechte Richtung, nämlich zur Nüchternheit.<br />
57
Heimkehr zur Würde<br />
In dem wunderbaren Gleichnis vom verlorenen Sohn (oder von der verlorenen Tochter) läuft der<br />
Vater dem Heimkehrenden entgegen, umarmt und küsst ihn und lässt ihm ein neues Gewand,<br />
einen Ring und Schuhe bringen. Umarmung, Kuss, Gewand, Ring und Schuhe sind Zeichen der<br />
neuen Würde des Heimgekehrten. Der Vater gibt ihm seine Würde zurück (Du darfst Dich auch<br />
selbst umarmen, Dir Gewand, Schuhe und Ring geben!).<br />
Ein trockener Alkoholiker findet nach Jahren der Würdelosigkeit zu seiner Würde zurück. Er kann<br />
erhobenen Hauptes einhergehen und braucht sich nicht mehr zu verstecken. Ich durfte in den<br />
letzten Jahrzehnten vielen nüchternen Alkoholikern begegnen, die mit erhobenem Haupt durch das<br />
Leben gehen und vor denen ich und die Gesellschaft hohen Respekt haben, da sie ihre Krankheit<br />
und sich selbst voll akzeptiert haben. Dies wäre auch mein Wunsch an Euch alle, die Ihr jetzt in<br />
Bad Tönisstein seid und Therapie macht.<br />
Umgang mit Gefühlen<br />
Der manipulative Weg<br />
Die Krankheit Alkoholismus beeinträchtigt nicht nur Körper und Verstand, sondern ganz wesentlich<br />
auch die Gefühle, und zwar so, dass das, was Du mit dem Alkohol an positiven Gefühlen,<br />
Befindlichkeiten oder Entspannung erreichen wolltest, am Ende ins Gegenteil umschlägt. Dein<br />
Weg, mit Deinen Gefühlen nicht angemessen umgehen zu können, war einer der Gründe für dein<br />
Trinken; einer, es gibt viele! Du wolltest Dich einfach immer gut fühlen. Nicht nur Alkoholiker<br />
neigen dazu, sich immer wohl fühlen zu wollen. Ein Glas Wein, ein Bierchen oder ein<br />
Psychopharmakon - und schon fühlt man sich besser - Schmerz, Frust, Arger verfliegen. Diese<br />
Erfahrung hat jeder schon gemacht. Warum soll ich also auf etwas verzichten, was gut tut. Ich will<br />
diese - anfangs durchaus positive - erleichternde und wohltuende Wirkung immer wieder erleben.<br />
Auch habe ich - wie ich meine - meine Gefühle und meinen Konsum ,im Griff', ich kann sie<br />
kontrollieren. Ich fahre also fort, Alkohol oder Tabletten zu konsumieren.<br />
Umschlag ins Gegenteil<br />
Doch irgendwann kann der Zeitpunkt kommen, an dem sich die wohltuende Wirkung nicht mehr so<br />
recht einstellt, obwohl man etwas zu sich genommen und die Dosis zudem laufend erhöht hat. Du<br />
hast Dich hinterher zwar auch noch besser gefühlt, aber dann gab es sozusagen einen<br />
Rückschlag, und am Ende hast du Dich schlechter gefühlt. Dennoch hast Du weiter konsumiert.<br />
Und dann kommt die letzte Phase Deiner ,Alkoholkarriere': Du fühlst dich hundeelend. Du nimmst<br />
Alkohol oder Tabletten und fühlst Dich nur noch schlechter. Der Sprung vom Schlechtfühlen zur<br />
positiven, wohltuenden Wirkung kommt gar nicht mehr zustande. Ja, das Merkwürdige passiert,<br />
dass jemand, der Alkohol gegen seine Depressionen eingesetzt hat, jetzt dadurch immer<br />
depressiver wird. Und jemand, der Schlafmittel genommen hat - ursprünglich, weil er nicht schlafen<br />
konnte -, kann wegen seines gestiegenen Konsums letztendlich überhaupt nicht mehr schlafen.<br />
Anders ausgedrückt: Was einmal so gut geklappt hat (ein Mittel nehmen, und schon fühlt man sich<br />
besser) funktioniert am Ende einer ,Suchtkarriere' nicht mehr. Im Gegenteil! Man fühlt sich immer<br />
mieser und zuletzt hundeelend. Der bisherige Umgang mit den (negativen) Gefühlen - ich nenne<br />
ihn den ,manipulativen Weg' - war also falsch.<br />
58
Der konstruktive Weg<br />
So stellt sich nun die Frage, wie man mit seinen Gefühlen anders oder besser umgehen kann. Ich<br />
möchte eine Richtung weisen, die ich den ,konstruktiven Weg' nenne. Dieser ist allerdings viel<br />
anstrengender. Denn eine Tablette zu schlucken oder Alkohol zu trinken, ist ja nicht besonders<br />
beschwerlich.<br />
1. Wahrnehmen<br />
Der erste Schritt beim konstruktiven Umgang mit Gefühlen ist das Wahrnehmen. Zunächst nehme<br />
ich meine Gefühle nur wahr, tue sonst gar nichts. Ich blicke in mich hinein: Was fühle ich im<br />
Augenblick? Welche Gefühle sind da? - Bei vielen Patienten, die ich als Suchttherapeut betreut<br />
habe, stellte sich bereits hier eine Abwehrhaltung ein. Sie wollten sich zunächst nicht darauf<br />
einlassen, die Gefühle wahrzunehmen, die sie nicht gerne hatten, also unangenehme Gefühle, wie<br />
etwa Trauer und Wut.<br />
Ich erinnere mich da an meine Ausbildung in Amerika. Da gab es den berühmten ,hot Beat', den<br />
,heißen Stuhl', eine Art von <strong>Gruppe</strong>n-Feedback am neunten Tag in der <strong>Gruppe</strong>. Das waren damals<br />
in Hazelden 18 Leute (Unit). Die Teilnehmer haben dann zu demjenigen, der auf dem ,heißen<br />
Stuhl' saß (jeder kam einmal an die Reihe), gesagt, was ihnen an ihm nicht gefiel und was er ihrer<br />
Meinung nach an sich verändern sollte. Das waren recht kritische Rückmeldungen. Ich erinnere<br />
mich, dass mir ein junger Mann eine sehr unangenehme Frage gestellt hat. Ich weiß nicht mehr<br />
genau, was es war, auf jeden Fall hat sie mich sehr getroffen. Dann sagte der Counselor zu mir:<br />
„Franz, are you angry (Franz, bist du verärgert)?” - Ich bin doch nicht ärgerlich, wieso soll ich<br />
ärgerlich sein, verdammt noch einmal. Und dann wieder: „Franz, are you angry?” - „Ja, ja, ich bin<br />
ärgerlich, ärgerlich auf den jungen Kerl, dass der mich so etwas fragt!”<br />
Aber zunächst einmal wollte ich das einfach nicht wahrhaben. Ein viel Älterer hat doch nicht<br />
ärgerlich zu sein, wenn er noch dazu Priester ist. Um Gottes Willen, der darf doch nicht ärgerlich<br />
werden, er muss doch immer freundlich sein. Doch auch Priester haben Gefühle, und manchmal<br />
sind es eben auch ärgerliche und weiß der Himmel was. Das habe ich mir damals noch nicht<br />
erlaubt. Also, der erste Schritt ist das Wahrnehmen - meine Gefühle wahrnehmen, so wie sie sind.<br />
2. Annehmen<br />
Der zweite Schritt ist das Annehmen. Das heißt, zu sich selber gleichsam sagen: Gefühl, du darfst<br />
sein! Also genau das, was ich mir nicht erlaubt habe. Ich habe zu mir gesagt: Franz, du darfst nicht<br />
ärgerlich sein, das passt nicht zu dir, das gehört sich nicht, du hast immer freundlich zu sein! Dies<br />
ist - nebenbei bemerkt - ein sehr unfreundliches Umgehen mit sich selbst, wenn man sich dauernd<br />
verbietet, dass Gefühle hochkommen. Also, dieser wichtige zweite Schritt ist das Annehmen. Die<br />
Gefühle annehmen und sich gleichsam selber sagen: Du darfst Dich so fühlen! Aber da kommt nun<br />
die große Schwierigkeit. Wir haben offensichtlich in uns so eine Art ,Introjektion', das heißt<br />
eingespeicherte Botschaften über Gefühle, die man haben darf, und die, die man nicht haben darf.<br />
Das geht wahrscheinlich auf frühkindliche Erfahrungen zurück, ebenso wie die Plus/Minus-<br />
Bewertung unserer Gefühle. So haben wir z. B. bei dem Gefühl Hass oder Ärger ein Minus<br />
(negativ) im Kopf; bei Freude ein Plus (positiv).<br />
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Mach' dir einmal eine Liste von Gefühlen und setze davor einfach ein Plus oder Minus, ohne lange<br />
nachzudenken. Du wirst merken, dass du bei den meisten Worten sehr schnell eine Wertung<br />
treffen kannst. Wie schon gesagt, haben wir seit frühester Kindheit gelernt, dass man manche<br />
Gefühle haben darf und andere nicht. Und das ist Unsinn, barer Unsinn! Denn Gefühle sind weder<br />
Plus noch Minus. Wenn ich meinen Ärger, meine Wut grundsätzlich wegschiebe, weil ich dieses<br />
Gefühl nicht haben darf, werde ich depressiv. Wichtig ist: Gefühle sind erst einmal wertfrei. Oder<br />
du kannst einfach sagen, sie sind erst einmal gut. Es gibt einen alten scholastischen Grundsatz:<br />
Alles Sein ist gut. - Gefühle sind Sein, also sind sie gut. Es ist sehr wichtig, dass du dir das klar<br />
machst. Denk' auch einmal daran, was uns in der Sexualerziehung an Negativem indoktriniert<br />
wurde, z. B. dass sexuelle Gefühle von sich aus schlecht sind, böse sind. Die Menschen haben<br />
diese Gefühle weggedrückt. Dadurch haben sie sich verstärkt. Die Menschen sind vor lauter<br />
unterdrückten sexuellen Gefühlen krank geworden, anstatt sich sagen zu dürfen: „Sexuelle<br />
Gefühle sind da, sie sind<br />
Ausdruck meiner Lebendigkeit.”<br />
Also: Gefühl, du darfst sein! Wenn Du etwa traurig bist, dann sag' Dir: „Ja, jetzt darf ich traurig<br />
sein.” Erlaube Dir das! Wenn Du es dir nicht erlaubst, dann geht das Gefühl ja nicht weg, es geht in<br />
die Verdrängung. Dort tobt es weiter und macht unter Umständen Dein ganzes Leben kaputt.<br />
Wenn Du dem Traurigkeitsgefühl die Erlaubnis gibst zu sein, dann wird es auch wieder fortgehen.<br />
3. Integrieren<br />
Den dritten Schritt nenne ich ,Integrieren' (einverleiben). Was heißt das? Der Mensch hat - wenn<br />
Du Dir einmal ein Dreieck vorstellst - Verstand, er hat Willen, und er hat Gefühl. Der Wille ist bei<br />
manchen Menschen nicht so stark entwickelt. Sie lassen sich einfach mehr oder minder treiben.<br />
Bei mangelndem Willen kann es zu Depressionen kommen. Wenn jemand nicht selbständig sagt:<br />
„Ich will dies oder das.”, sondern sich dauernd von anderen schieben lässt, einfach so<br />
mitschwimmt, dann reagiert er meist mit Depressionen. Wenn Du Dich oft depressiv fühlst, dann<br />
frag' Dich doch einmal, ob Du nicht zu wenig mit Deinem Willen an Dein Leben herangehst, ob Du<br />
vielleicht zuwenig fragst: „Was will ich denn eigentlich?” Der Wille ist wie ein Pfeil - zielgerichtet.<br />
habe, war, dass man uns gesagt hat: Wenn Du Dich über Deine Vorgesetzten beschweren willst,<br />
dann schlaf' erst eine Nacht darüber. Das scheint mir auch heute noch vernünftig zu sein. Das<br />
meiste andere, was ich dort gemacht habe, erscheint mir hingegen äußert problematisch.)<br />
Eine Nacht darüber schlafen - denn dann kommen Gefühl, Verstand und Wille eher in Integration.<br />
Wenn Gefühle überschäumen, ist der Verstand ausgeschaltet und der Wille blockiert. Nachträglich<br />
sagt man sich dann: „Mein Gott, was war ich doch für ein Schafskopf, warum habe ich nicht ein<br />
bisschen gewartet.” Dieser dritte Schritt im Umgang mit den Gefühlen ist ungeheuer wichtig:<br />
Integrieren in die Gesamtpersönlichkeit. Dann wird die Persönlichkeit farbig, von den Gefühlen her<br />
kommt Lebendigkeit in den Menschen.<br />
4. Ausdrücken<br />
Der vierte und letzte Schritt ist das Ausdrücken der Gefühle. Manchmal ist dies möglich, manchmal<br />
nicht. Natürlich wäre es gut, wenn ich mein Gefühl, z. B. gegenüber dem Chef, ausdrücken könnte,<br />
wenn ich ihm am nächsten Tage sagen könnte: „Herr Soundso, das hat mich doch sehr geärgert,<br />
was Sie da zu mir gesagt haben. Ich fühle mich sehr zurückgesetzt.” Wenn das möglich ist, dann<br />
tu' es. Wenn nicht, dann nimm einen Tennisschläger und schlage auf die Matratze oder was immer<br />
dir geeignet erscheint. Sage aber nicht: „Das macht mir nichts aus.”, denn in Wirklichkeit kochst Du<br />
vor Wut.<br />
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Ich habe jetzt immer von Ärger gesprochen. Es gibt noch ein anderes Gefühl, das gerade in<br />
unseren Breiten - etwa in Deutschland und den USA - besonders schwierig auszudrücken ist: das<br />
ist Zärtlichkeit. Wir haben mit dem Ärger und der Zärtlichkeit die größten Schwierigkeiten. Viele<br />
Eltern, viele Beziehungen kranken einfach daran, dass keine Zärtlichkeit ausgedrückt wird, dass<br />
man Angst davor hat, sie einmal deutlich zu machen. Damit nimmt man sich sehr viel von seiner<br />
Lebendigkeit.<br />
• Einheit von Verstand, Wille und Gefühl<br />
Verstand, Wille und Gefühle bilden eine Einheit und müssen integriert werden. Das heißt, Du<br />
musst Deine Gefühle wahrnehmen, annehmen und mit hinein nehmen. Anschließend musst Du Dir<br />
verstandesmäßig überlegen, was Du mit diesen Gefühlen machst. Aber frag' Dich zunächst einmal,<br />
woher das Gefühl kommt und warum Du jetzt z. B. so traurig bist, was es Dir sagen will und welche<br />
Botschaft es Dir bringt. Und dann setze Deinen Verstand ein. Du wirst sehen, dass die Antwort<br />
manchmal ziemlich klar ist. Ein Beispiel: Jemand geht weg. In unserer <strong>Gruppe</strong> sind fünf<br />
Teilnehmer zur gleichen Zeit fort gegangen. Da hatte ich das Gefühl, dass in der <strong>Gruppe</strong> ein<br />
richtiger Trauerprozess stattfindet. Hier braucht man nicht groß nachzudenken, da weiß man: „Ich<br />
bin traurig, weil sie weggegangen sind, denn sie waren wichtig.” Manchmal kann das ein wenig<br />
komplizierter sein, da muss man etwas tiefer nachschauen, woher die Traurigkeit kommt.<br />
Wichtig ist, dass Du den Verstand einschaltest, um zu klären, warum Du Dich so oder so fühlst.<br />
Dann ist der Wille an der Reihe. Du musst Dir überlegen, was Du willentlich jetzt mit Deinem<br />
Gefühl machst. Nimm einmal an, Du bist ärgerlich auf Deinen Chef, Du hast eine Stinkwut auf ihn,<br />
weil er Dich angefahren hat. Du nimmst die Wut wahr, dann nimmst Du sie an, aber dann überlege<br />
Dir genau, was Du jetzt machst. Es ist wahrscheinlich nicht günstig, wenn Du in Deiner ersten Wut<br />
zu dem Chef stürzt und ihm sagst, er sei eine ganz miese Type. Dann könnte es sein, dass Du<br />
Deinen Arbeitsplatz verlierst. Überleg' Dir, was Du tun kannst, mobilisiere Deinen Willen, aber lass'<br />
Dich nicht von Deinem Gefühl wegschwemmen.<br />
• Kluger Umgang mit Gefühlen<br />
In der Boulevardpresse, in den Illustrierten wird oft geschrieben, man müsse die Gefühle<br />
'rauslassen; so ein Unsinn! Als ob man immer jedes Gefühl 'rauslassen könnte. Das ist gar nicht<br />
möglich. Manchmal kann ich es ausdrücken, ein andermal ist es klüger, dies nicht zu tun. (Das<br />
einzig Vernünftige, was ich beim Militär gelernt Resümee KING-Baby<br />
Ihr könnt Euch vorstellen, dass der von mir geschilderte Weg von Wahrnehmen, Annehmen,<br />
Integrieren und Ausdrücken ein sehr viel anspruchsvollerer Weg ist, als fünf Flaschen Bier zu<br />
trinken oder drei ,Tranxilium' zu nehmen. Der Weg ist anstrengender, aber er macht den Menschen<br />
zum Menschen. Ich kann mir kaum vorstellen, dass jemand, der gelernt hat, mit seinen Gefühlen<br />
konstruktiv umzugehen, wieder zur Flasche oder zu den Pillen greift. Aber wenn einer das nicht<br />
gelernt hat und weiterhin seine Gefühle versteckt, verdrängt, besteht eine große Gefahr, dass er,<br />
wenn er so richtig wütend ist, sagt: „Ist doch sowieso alles Mist!” und wieder trinkt.<br />
Es ist nicht die Frage einer Schönheitsoperation, wenn ich diesen Vortrag über Gefühle halte,<br />
sondern es ist letztlich die Frage: „Wie kann ich trocken bleiben?” Ich wünsche Euch, dass Ihr<br />
lernt, mit Euren Gefühlen umzugehen, damit Euer Leben glücklicher wird und Ihr trocken bleibt.<br />
Das Wort ,KING-Baby' ist eine sehr treffende Bezeichnung für Menschen, die stolz, grandios,<br />
arrogant, unsensibel und uninteressiert an Anderen sind. Es sind Menschen, die egozentrisch sind<br />
und gedankenlos durch ihr Leben rennen und alle Vorteile und Befriedigungen für sich zu<br />
61
gewinnen suchen. Der amerikanische Psychiater Harry Tiebout, der zu einem der Bahnbrecher der<br />
modernen Therapie von Alkoholikern gehört, hat sich mit diesem ,KING-Baby-Verhalten'<br />
auseinander gesetzt. Er spricht in diesem Zusammenhang von Menschen mit einem ,aufgeblähten<br />
ICH' (,inflated ego'), die ihre eigene Unsicherheit dadurch kompensieren wollen. Er stellt fest, dass<br />
unter abhängigen Menschen mit einem solchen aufgeblähten ICH nicht selten anzutreffen sind.<br />
Natürlich ist dieser Typ keineswegs auf Abhängige beschränkt. Ja, wer ehrlich zu sich selber ist,<br />
wird solche Züge auch in seinem eigenen Ego entdecken.<br />
Woher kommt eigentlich dieses aufgeblähte ICH? Tiebout beruft sich hier auf die Psychoanalyse<br />
und besonders auf Sigmund Freud, der das Wort von ,Seine Majestät, das Baby' geprägt hat. Beim<br />
aufgeblähten ICH handelt es sich um das Fortbestehen frühkindlicher Gefühle und<br />
Verhaltensweisen im Erwachsenenalter. Genauer gesagt handelt es sich um drei Elemente: Das<br />
Kleinkind erlebt sich als den Mittelpunkt von allem und entwickelt daraus ein Gefühl von Allmacht:<br />
,die kleine Majestät'. Dazu kommt die Unfähigkeit und Unwilligkeit des Kleinkindes, Frustrationen<br />
zu ertragen. Ich will, was ich will, und zwar sofort.<br />
Ein drittes Element in der Psyche des Kleinkindes ist, alles in Eile zu tun; bei einer Beschäftigung<br />
längere Zeit zu bleiben, scheint ihm unmöglich zu sein. Im Kleinkind erscheinen uns diese Züge<br />
normal, und wir können als Erwachsene mehr oder minder gut damit umgehen. Begegnet uns<br />
dagegen ein Erwachsener, der von diesen Gefühlselementen bestimmt wird, dann sprechen wir<br />
von einem unreifen Menschen, und wir tun uns erheblich schwerer, damit umzugehen.<br />
Da ist zunächst einmal das Allmachtsgefühl. Ein Mensch mit einem aufgeblähten ICH hat einen,<br />
ihm selbst nicht bewussten KING in sich, der ihn zu diesem Verhalten antreibt. Er ist überzeugt,<br />
eine ganz besondere Rolle spielen zu müssen, und niemand darf ihm auf diesem Weg in die<br />
Quere kommen.<br />
Eng verbunden mit diesem Allmachtsgefühl ist die geringe Frustrationstoleranz. Einem KING darf<br />
nicht widersprochen werden. So etwas ist nicht tolerierbar. Dazu kommt eine hektische Ungeduld,<br />
die alles in Eile tun will. Dabei wechseln Zeiten von Hektik und Zeiten des ,Alles-Liegen-Lassens'<br />
miteinander ab. Wenn die Gefühlselemente des Kleinkindes (Baby) in das Erwachsenenalter<br />
transferiert werden, dann spricht Tiebout vom KING-Baby.<br />
Will ein Alkoholiker trocken werden und ein zufriedenes, nüchternes Leben führen, dann muss er<br />
sich von diesem aufgeblähten ICH verabschieden. Tiebout spricht in diesem Zusammenhang von<br />
,surrender', was sowohl Loslassen, als auch Überlassen bedeutet. Was muss ,surrendert' werden?<br />
Natürlich das aufgeblähte ICH. Leben ohne dieses überzogene ICH heißt die neue Konzeption. Sie<br />
ist aber nicht so neu. 2000 Jahre früher predigte der Rabbi Jesus von Nazareth, dass man Leben<br />
verlieren muss, um es zu gewinnen.22 Auch Analytiker der Gegenwart sprechen heute von einer<br />
Ego-Reduktion, d.h. von einer Schmelzung des überzogenen Selbstbewusstseins zu einer mehr<br />
realistischen und die eigenen Grenzen akzeptierenden Selbsteinschätzung. ,Des Kindes<br />
Grandiosität schmilzt dahin unter dem Druck der eigenen Erfahrung. Es muss Raum geschaffen<br />
werden für eine bescheidenere Selbsteinschätzung.23 In der Sprache der Spiritualität geht es um<br />
ein Heruntersteigen vom hohen Ross des falschen Stolzes auf den realistischen Level einer<br />
gesunden Demut. Dieser Prozess ist eine schwierige Lebensaufgabe, die nie ganz zu Ende geführt<br />
wird.<br />
Dieses ,surrendern' des falschen Ego ist im Wesentlichen ein Schritt auf der Gefühlsebene. Wird<br />
dies nur auf der Verstandesebene vollzogen, so kommt es zu keinem inneren Frieden, und bei<br />
Alkoholikern ist der Rückfall vor-programmiert. Gibt der Alkoholiker aber seine Machtlosigkeit dem<br />
Alkohol gegenüber zu, und zwar auch auf der emotionalen Ebene, verabschiedet er sich also von<br />
62
seinem Allmachtsgefühl, dann kommt es nach einer vorübergehenden Depression zu einem<br />
Gefühl der Ruhe und des Friedens. Der Alkoholiker muss dann nicht mehr als KING durch das<br />
Leben schreiten, sondern er wird fähig, Glied der menschlichen Gesellschaft zu werden, um sich<br />
seinen Mitmenschen verbunden zu fühlen. ,Surrender' ist nicht Resignation, sondern eine<br />
kooperative Beziehung zum Leben und seinen Kräften. Statt ungeduldig alles in Eile zu tun, wird er<br />
die Aufgaben und Dinge in Ruhe anpacken. Statt bei jeder Frustration Trost bei der Flasche zu<br />
suchen, wird er sich mutig und erwachsen den Herausforderungen stellen. Dann wachsen in ihm<br />
auch neues Interesse an den Mitmenschen, an den Dingen und an der Schönheit der Welt.<br />
Heilung durch Erinnern<br />
Vergessen und Verdrängen der Erinnerung ist ein falscher Weg<br />
Liebe Patientinnen, liebe Patienten,<br />
als Ihr nach Bad Tönisstein kamt, kamt Ihr zum guten Teil ,verwundet' hier an. Verwundet am Leib,<br />
verwundet am Verstand, verwundet an der Seele.<br />
Der Alkoholismus hat Eurem Leib Wunden geschlagen, Euren Verstand beeinträchtigt; Ihr konntet<br />
nicht mehr denken, es war so ein Denken in Kurven. Am meisten hat wohl der Alkoholismus Eure<br />
Seele verwundet. Gefühle von Schuld, Scham, Traurigkeit, Verletztheit u. a. waren da.<br />
Diese ganzen negativen Gefühle haben sich wie ein dicker Panzer um Eure Seele gelagert. Dieser<br />
dicke Panzer hat die Gefühle eingeschlossen. Niemand kam heran. Du nicht, die anderen<br />
Menschen nicht und auch Gott nicht. Ihr hattet das Gefühl, isoliert zu sein, ein Fremder zu sein,<br />
allein zu sein. Sicherlich war es auch ein hilfloser Versuch, Dich zu schützen. Isoliertheit ist zwar<br />
nichts Angenehmes, aber Du hofftest, durch Deine Isolation wenigstens vor schlimmsten<br />
Schmerzen geschützt zu sein. Das war allerdings eine Illusion.<br />
Du kamst verwundet hierher, Du möchtest hier gesund werden, Du möchtest Deine ,geistige<br />
Gesundheit wieder erlangen', wie es in den Schritten der Anonymen Alkoholiker heißt. Nun ist die<br />
Frage:<br />
• Wie kannst Du wieder gesund werden?<br />
• Welche Wege gibt es?<br />
Ich möchte Dir heute einen Weg vorschlagen. Ich nenne ihn den ,Weg der Erinnerung'. Was ist<br />
damit gemeint?<br />
Heilung durch Erinnern<br />
An was sollst Du Dich erinnern? Ich meine, Du sollst Dich erinnern an die Kränkungen, an die<br />
Verletzungen, an Dein Verhalten unter Alkohol, an diese schlimmen Ereignisse und an diese<br />
belastenden Gefühle.<br />
Erinnern also an alles, was mit Deiner alkoholischen Vergangenheit zu tun hat. Das ist<br />
Gegenstand der Erinnerung.Ich kann natürlich verstehen, dass jemand, der sehr schmerzliche, ja<br />
sehr beschämende Erlebnisse hinter sich hat, am allerliebsten sagt: „Vergiss es, denke nicht mehr<br />
daran, fang einfach neu an.” Das scheint eine plausible Antwort zu sein, ist aber in Wirklichkeit ein<br />
Verdrängen, ist also kein Weg. Ich höre immer wieder von Patienten, aber auch von Angehörigen:<br />
„Lass es uns vergessen, tun wir so, als ob es nicht geschehen sei.” Dabei überseht Ihr, dass<br />
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vergessene oder verdrängte Erinnerungen nicht einfach aufhören können zu existieren, im<br />
Gegenteil, sie werden<br />
• zu gefährlichen, eigenmächtigen Kräften. Sie sind in die Tiefe abgedrückt, aber hier treiben sie ihr<br />
Unwesen, belasten uns, machen uns traurig, machen uns unzufrieden und bedrohen auch unsere<br />
Nüchternheit und Trockenheit. Dazu kommt, dass das Verdrängen der Erinnerungen auch<br />
• ein Verdrängen Deines Kapitals ist. Dein Kapital besteht darin, dass Du schlimme Dinge erlebt<br />
hast in Deiner alkoholischen Zeit. Diese schlimmen Dinge sind es, die Dir helfen werden, in<br />
Zukunft nicht mehr zu trinken. Was sonst könnte Dich vom Trinken abhalten. Sicherlich nicht Dein<br />
Wille, sicherlich nicht Dein guter Vorsatz und Dein Versprechen: „Ich will nicht mehr trinken.” Das<br />
hilft nicht viel, sondern die Erinnerung an das, was geschehen ist und was ich nie mehr geschehen<br />
sehen möchte. So möchte ich nicht mehr leben. Das ist Dein Kapital. Ich möchte auch sagen, dass<br />
die erinnerten Dinge<br />
• Dein innerer Lehrer werden; ein innerer Lehrer, der Dir einen neuen Weg zeigt: den Weg in die<br />
Trockenheit. Nur wenn Du Deine Vergangenheit mit Deiner Gegenwart verbindest, kann es eine<br />
glückliche Zukunft geben.<br />
Erinnern schafft Freiheit<br />
Der Philosoph Max Scheier sagte einmal: „Sich erinnern ist der Anfang von Freiheit von der<br />
heimlichen Macht der erinnerten Ereignisse.” Wir können auch sagen, ,von der unheimlichen<br />
Macht der erinnerten Ereignisse'. Solange man sich ihrer nicht erinnert, haben sie eine unheimliche<br />
Macht über uns. Werden sie aber erinnert, werden sie gleichsam ins Licht des Bewusstseins, ins<br />
Licht des Zugebens herein gehoben, dann kann man sie betrachten; sie sind dann nicht mehr<br />
versklavend, sondern sie können verarbeitet werden. Die Vergangenheit ist wie ein Gefängnis, wie<br />
eine Panzerung. Durch Erinnern bricht dieses Gefängnis zusammen, und ich bekomme Kontakt<br />
mit mir, mit anderen und mit Gott. Also, wer frei werden will von den erinnerten Ereignissen, der<br />
muss sich erinnern!<br />
Wie erinnere ich mich<br />
Es ist wichtig, dass wir uns nicht in Allgemeinheiten erinnern und dass wir nicht einfach sagen: Ja,<br />
diese Zeit war schrecklich oder sie war furchtbar, oder es waren ganz schlimme Dinge (das nützt<br />
nicht viel), sondern ich muss mich konkret und in Einzelheiten erinnern. Ich muss auch die<br />
beschämenden Umstände deutlich machen. Weil diese Umstände so beschämend waren,<br />
deswegen habe ich sie ja verdrängt und wollte sie nicht zulassen. Wobei es wichtig ist, dass nicht<br />
unbedingt die spektakulärsten Dinge die beschämendsten sind. Oft sind es kleinere Ereignisse, die<br />
uns besonders wehtun. Ich erinnere mich an eine Aussage eines Patienten, der mir sagte, er sei<br />
eines Tages nach Hause gekommen, stark angetrunken, und sein vierjähriger Sohn schaut ihn mit<br />
einem so traurigen Blick an und geht aus dem Zimmer. Der Patient sagte mir, der Blick seines<br />
Kindes war mit das Schlimmste, und das hat auch dann eigentlich die Veränderung herbeigeführt.<br />
Es waren nicht die Ereignisse im Geschäft, auch nicht die schweren Streitigkeiten in der Ehe,<br />
sondern es war einfach dieser Blick des Kindes, der ihm gleichsam das Herz geöffnet hat.<br />
Also, was ich sagen möchte: es geht oft um kleinere Ereignisse, die aber wehtun. Was nicht<br />
ausdrücklich genannt wird, bleibt unerlöst. Verallgemeinerungen sind Zeichen der Abwehr.<br />
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Mitteilen<br />
Erinnern der Ereignisse ist eine Sache. Das andere Not-wendige ist das Aussprechen der<br />
erinnerten Wahrheiten. Erinnerung allein genügt noch nicht. Es wäre also nicht genug, wenn Du<br />
Dich in Dein Zimmer setzt und noch einmal den Film der Ereignisse ablaufen lässt, sie erinnerst,<br />
dabei auch starken Schmerz fühlst, aber dann niemand davon Mitteilung machst. Ich meine, dass<br />
Du Dich erinnern musst und dann auch Deine Erinnerungen aussprechen musst, mitteilen in der<br />
<strong>Gruppe</strong>, gegenüber Einzelnen oder den Therapeuten. Im Mitteilen der Ereignisse geschieht ein<br />
Lossprechen. Du sprichst Dich Ios von den schmerzlichen Erfahrungen. Natürlich ist hier eine<br />
wichtige Voraussetzung, dass Du einen Raum hast, in den Du diese für Dich so beschämenden<br />
Ereignisse hinein sprechen kannst. Und dieser Raum, das könnte hier eine <strong>Gruppe</strong> sein, dann<br />
aber auch ein Einzelner. Bist Du durch Angst und Mangel an Vertrauen behindert, dann wirst Du<br />
Dich schwer tun, offen das Erinnerte mitzuteilen, was aber wichtig ist. Wichtig ist auch, dass in der<br />
<strong>Gruppe</strong> eine Atmosphäre des Vertrauens besteht, dass Du auch ein Stück Vertrauen schenkst und<br />
wagst, über das, was Dich sehr belastet, zu sprechen. Das ist dann etwas Mutiges, eine mutige<br />
Tat, und Du wirst bald merken, wenn Du erst einmal angefangen hast, wie sehr Du frei wirst durch<br />
diese Mitteilung. Wichtig ist, dass Dir die <strong>Gruppe</strong> hier absolute Vertraulichkeit garantiert, dass all'<br />
das, was in der <strong>Gruppe</strong> besprochen wird, auch wirklich in der <strong>Gruppe</strong> bleibt, damit Du Dich öffnen<br />
kannst. Das ist lebenswichtig!<br />
Ich muss jetzt noch einen Punkt anfügen: mitteilen gegenüber Gott. Im Gebet kann ich auch nur<br />
dann befreit werden, wenn ich das, was mich belastet, auch das, was mich an schmerzlichen<br />
Erinnerungen belastet, konkret ausdrücke. Meine erkrankte Seele kann nur heilen, indem ich Gott<br />
sage, was mich so sehr belastet und wie schlimm das alles war - für mich und für die anderen.<br />
Liebe Freunde, wir haben darüber nachgedacht, wie wir aus unserer Verwundung heraus den<br />
Prozess der Heilung antreten können. Und ich glaube, Heilung durch Erinnern ist ein wichtiger<br />
Schritt dazu.<br />
Gewinnen durch Verlieren<br />
Ich möchte heute einmal über Ziele der Therapie von Alkoholikern und Tablettenabhängigen<br />
sprechen. Welches Ziel verfolgen wir hier in Bad Tönisstein? Viele von Euch werden sagen, das ist<br />
doch klar: nicht mehr trinken müssen, keine Tabletten mehr nehmen. Das ist natürlich richtig und<br />
ein wichtiges Ziel. Aber es ist noch nicht alles. Ich möchte in meinem Vortrag zwischen ,Globalziel'<br />
und ,Einzelziel' unterscheiden.<br />
Das Globalziel<br />
Die Abhängigkeit darf nicht mehr als eine äußere feindliche Wirklichkeit gesehen werden, über die<br />
der Abhängige Kontrolle ausüben muss, sondern als ein nicht mehr zu löschender Teil seiner<br />
Persönlichkeit. Es geht im Grunde um ,Versöhnung', um Aussöhnung mit der scheinbar<br />
unerträglichen Wirklichkeit, Alkoholiker zu sein. Du hast lange gekämpft: Nein, ich bin doch kein<br />
Alkoholiker! So lange Du gegen Deine Abhängigkeit ankämpfst, hast Du keinen inneren Frieden,<br />
sondern einen inneren Bürgerkrieg. Wie kommt es zu dieser Aussöhnung? Welche Schritte führen<br />
dahin?<br />
1. Zugeben und akzeptieren der Niederlage<br />
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Beides ist wichtig: Zugeben und akzeptieren. Wir sprechen hier in Bad Tönisstein von Kapitulation:<br />
Der Alkohol ist stärker als ich. Ich bin ihm gegenüber machtlos. Diese eigene Begrenzung<br />
anzuerkennen, ist ein Akt der Demut. Wir alle wollen Macht haben und hassen Schwäche. Sie<br />
scheint unser Leben zu zerstören. Genau das Gegenteil ist für den Alkoholismus der Fall. Im<br />
Zugeben und Annehmen meiner Schwäche, meiner Machtlosigkeit gegenüber dem Alkohol werde<br />
ich zum Gewinner. Mein Leben wird zu einem gelingenden Leben. Erst im Zugeben der Niederlage<br />
werden die vorher blockierten Kräfte frei, um erfolgreich mit der Krankheit leben zu können.<br />
2. Ich wähle die Nüchternheit<br />
Das übersteigt die Entscheidung, nicht mehr Trinken zu wollen. Diese Entscheidung ist natürlich<br />
notwendig und die Voraussetzung für alle kommenden Schritte: „Ich wähle die Nüchternheit” meint<br />
aber auch eine neue Einstellung zum Leben, einen neuen Blick für den eigenen Wert, den Wert<br />
meiner Mitmenschen und dazu eine Entscheidung zur Freiheit von jeder Art von Abhängigkeiten.<br />
Dazu ist es nötig, alte Pfade, die sich als lebensbehindernd erwiesen haben, zu verlassen und<br />
neue Wege ohne die Hilfe von Drogen zu gehen.<br />
3. Annahme von Hilfe<br />
Gegenüber dem alkoholisierten Allmachtsdenken der ,nassen' Phase und dem Denken: „Ich kann<br />
das alles selbst, ich brauche keine Hilfe” ist es für die Heilung notwendig, Hilfsquellen außerhalb<br />
meiner selbst zu suchen und anzunehmen.<br />
Wo findet der Alkoholiker diese Hilfsquellen? Ihr habt bereits einen wichtigen Schritt in diese<br />
Richtung getan. Ihr habt Euch entschlossen, in Bad Tönisstein Therapie zu machen. Das ist ein<br />
gewaltiger Schritt heraus aus dem Denken: „Ich brauche keine Hilfe, ich kann es alleine.”, wobei es<br />
gar nicht so wichtig ist, wie die Motivation am Anfang Deiner Therapie ausgesehen hat. Mancher<br />
von Euch ist vielleicht gekommen, weil er Druck vom Arbeitgeber oder von der Familie bekommen<br />
hat. Wenn er aber einmal hier ist und der Alkohol aus Kopf, Körper und Seele heraus ist und er in<br />
der Aufnahmegruppe sitzt und sich Gedanken macht über Geschichte und Folgen seines Trinkens,<br />
dann wird ihm klar: „Ich bin nicht für meinen Chef hier, auch nicht für meine Frau und meine<br />
Kinder, sondern für mich. Mein Leben soll wieder gut werden und gelingen. Dann haben auch mein<br />
Arbeitgeber und meine Familie etwas von meiner ,Trockenheit'. Aber ich tue es in erster Linie für<br />
mich selbst.”<br />
Schauen wir uns nun einmal die Hilfsquellen an, die zur Verfügung stehen:<br />
• Therapieprogramm<br />
Etwa das Programm von Bad Tönisstein. Wir sind jetzt etwa 30 Jahre alt. Ich weiß nicht, wie viele<br />
Alkoholiker im Laufe dieser Jahre hier waren. Ich habe allein 700 Patienten im Laufe meiner 24jährigen<br />
Arbeit als Therapeut gehabt. Sicher sind es aber viele Tausend, die hier waren. Und die<br />
Hälfte davon, kann man sagen, ist ,trocken' geblieben. Trocken, weil sie sich auf das Therapieprogramm<br />
in Bad Tönisstein eingelassen hat und auch nach der Entlassung danach gelebt hat. Es<br />
könnte auch die Weisheit der Zwölf Schritte des <strong>AA</strong>-Programms sein, die aus der Isolation des<br />
Alkoholismus herausführt.<br />
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• Andere Menschen<br />
Ganz entscheidend für die Heilung vom Alkoholismus ist die aktive Zuwendung zu anderen<br />
Menschen. Der ,nasse' Alkoholiker ist ein einsamer Mensch, unfähig zu tiefen, persönlichen<br />
Beziehungen. Das hängt mit seiner Unfähigkeit zusammen, mit seinen Gefühlen umzugehen. Mag<br />
er auch in der Kneipe lauthals parlieren, im Grunde seines Herzens ist er total einsam. Aus dieser<br />
Einsamkeit gilt es aufzubrechen und sich den Mitmenschen zuzuwenden. Das kann zuerst in der<br />
Therapiegruppe in Bad Tönisstein geschehen, im ,sich mitteilen' und im ,Sorgetragen' für andere.<br />
Später dann kann das in der Selbsthilfegruppe, aber auch in der Familie, im Freundeskreis und im<br />
Kreis der Kollegen fortgesetzt werden.<br />
• Transzendente Quellen<br />
Weitere Hilfsquellen können transzendente Quellen sein. Nicht wenige Alkoholiker finden nach<br />
dem ,Trockenwerden' wieder einen Zugang zu ihrem religiösen Glauben. Sie fangen wieder an zu<br />
beten und vertrauen sich Gott an. Ich erlebe das immer wieder hier in der Klinik, aber auch bei<br />
Ehemaligen. Eine spirituelle Sehnsucht wacht auf. Für andere sind es ethische Werte, die für sie<br />
nun sehr wichtig werden: etwa Nächstenliebe, Sorge für andere, Verantwortlichkeit, Mitgefühl,<br />
verantwortlicher Umgang mit sich selbst. Andere fragen intensiv nach dem Sinn ihres Lebens. Die<br />
Frage: „Was will ich eigentlich mit meinem Leben anfangen?", kommt hier zur Sprache. „Was will<br />
ich mit dem Rest meines Lebens anfangen?”<br />
4. Bereitschaft zur Veränderung<br />
Eine Münze hat zwei Seiten. Wenn Du eine deutsche Euro-Münze anschaust, dann ist da auf der<br />
Vorderseite eine ,1' und daneben ,EURO', auf der Rückseite ist ein ,Adler'. So ist es auch mit der<br />
Therapie. Die Vorderseite heißt: Entscheidung zur Trockenheit, Entscheidung zur völligen Alkohol-<br />
und Tablettenabstinenz. Die Rückseite ist genau so wichtig und heißt: Veränderung,<br />
Richtungswechsel. Manche Patienten und auch deren Angehörige meinen, es genüge, wenn der<br />
Patient nicht mehr trinke, sonst brauche er sich nicht zu verändern. Das geht aber nicht. Wer<br />
trocken bleiben und nüchtern werden will, muss destruktive Verhaltensweisen und Einstellungen<br />
verändern. Er muss z. B. lernen, sich für seine Überzeugungen einzusetzen und sich nicht..<br />
einfach immer anzupassen, um dann aus Frustration und Ärger wieder zu trinken. Auch einen<br />
konstruktiven Umgang mit Ärger und anderen. Gefühlen muss er lernen. Wer sein altes Denk- und<br />
Verhaltensmuster auch nach der Therapie beibehält, steht auf wackeligem Boden, und der Rückfall<br />
ist vorprogrammiert. Der Abhängige braucht eine tiefe und starke Motivation, ein anderer zu<br />
werden, da wir uns nur sehr ungern verändern und in eine neue Richtung gehen wollen. Überlege<br />
einmal, was Dich in diese neue Richtung bewegen könnte. Im einzelnen hat die Veränderung zwei<br />
Aspekte:<br />
• Egoreduktion<br />
Tiebout spricht von dem ,aufgeblähten ICH' (,inflated ego') des Abhängigen, das sich ausdrückt in<br />
Allmachtsgefühlen, Ungeduld und Mangel an Frustrationstoleranz. Tiebout spricht auch vom<br />
,KING-Baby', das mit dem naiven Anspruch vor die Welt tritt, dass alles nach seinen Wünschen zu<br />
gehen hat. Die Aufgabe dieser Unreife, dieses falschen Verständnisses der eigenen Wichtigkeit<br />
und der eigenen Macht ist andauerndes Ziel.<br />
• Entwicklung der verborgenen Möglichkeiten<br />
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Der Abhängige muss seine positiven Seiten entdecken und diese kultivieren. Dadurch gewinnt er<br />
Selbstbewusstsein und Selbstrespekt. In jedem Menschen steckt eine Fülle von Möglichkeiten und<br />
Begabungen. Der Abhängige kann diese allerdings erst richtig entdecken, wenn er das alte, mit all<br />
seiner Unreife beladene ICH Ioszulassen beginnt. Was sind Deine Stärken?<br />
5. Loslassen der Kontrollhaltung<br />
In der ,nassen' Phase meint der Abhängige, er könne das ganze Leben managen, er habe totale<br />
Kontrolle. In der ,Surrender-Phase' erkennt der Abhängige dagegen, dass seine Kontrolle über die<br />
meisten Aspekte des Lebens äußerst beschränkt ist. Er erkennt seine Machtlosigkeit gegenüber<br />
seinen Gefühlen, anderen Menschen, Ergebnissen seiner Handlungen und vieles mehr. Erkennt<br />
der Abhängige dies nicht und behält er seine grandiose Idee, dass er alles im Griff hat, weiter<br />
aufrecht, dann führt dies leicht zurück zum aufgeblähten ICH. Gibt der Abhängige jedoch seine<br />
Kontrollhaltung auf und erkennt demütig seine Begrenzungen und Fehler an, dann kommt er in<br />
eine zufriedene und gelöste Position. Er ist fähig, Glied der menschlichen Gesellschaft zu werden,<br />
und er fühlt sich seinen Mitmenschen verbunden und nahe. ,Surrender to life' ist nicht Resignation,<br />
sondern eine kooperative Beziehung zum Leben und seinen Kräften.<br />
Dieses ,surrender to life' ist mir während meiner Ausbildung in Hazelden/USA in einer<br />
unvergesslichen Erfahrung deutlich geworden. Ich wohnte damals in einem Dorf am St. Croix<br />
River. Nach Dienst ging ich während des Sommers oft am Abend zum Schwimmen in diesen<br />
Fluss. Ich schwamm bis zur Mitte des Stromes und ließ mich dann einfach von der Strömung<br />
treiben. Ich brauchte nicht zu paddeln und zu strampeln, sondern mich nur einfach der Strömung<br />
anzuvertrauen. Ich hatte ein tiefes Gefühl von Getragenwerden. Sich dem Fluss des Lebens<br />
überlassen in dem Vertrauen, dass er mich trägt. Das meint ,surrender to life'. Als Glaubender ging<br />
mir damals auch mehr und mehr auf, dass sich dem Leben anvertrauen auch heißt, sich dem<br />
Geber und Schöpfer allen Lebens, Gott, anzuvertrauen. Dann erwacht auch ein neues Interesse<br />
an anderen Menschen und an den Dingen und Schönheiten der Welt.<br />
Wenn ein Alkoholiker seine Krankheit erkannt und angenommen hat, ist ein gutes und<br />
notwendiges Fundament für die Genesung gelegt. Aber es ist eben auch nur ein Fundament. Auf<br />
diesem Fundament muss nun das neue Lebenshaus gebaut werden. Dieses Haus hat<br />
verschiedene Stockwerke. Alle wollen sie teilnehmen an dem neuen Leben. Der Leib, der<br />
Verstand, die Gefühle, die Seele und die Beziehungen zu anderen Menschen und der Umwelt. Die<br />
Genesung muss ganzheitlich geschehen. Die folgenden neun Vorschläge wollen Hilfen sein auf<br />
dem Weg zur Genesung.<br />
1.Lass das erste Glas stehen, die erste Tablette liegen<br />
Nur die klare Entscheidung für eine totale Abstinenz von allen stimmungsverändernden<br />
Substanzen führt zu einem gelingenden Leben. Auch nach langen Jahren der Abstinenz gilt dieser<br />
einfache Satz.<br />
2. Versöhne dich mit Dir selbst<br />
Zu einem zufriedenen Leben gehört zu aller erst, dass ich mich selbst annehme, wie ich bin. Für<br />
den Alkoholiker heißt das, sich mit seiner chronischen Krankheit zu versöhnen, aber auch mit der<br />
eigenen Lebensgeschichte, den Verletzungen und Defiziten. Das Bearbeiten der Schuld gehört<br />
auch hierher. Nur was der Mensch angenommen hat, kann er auch verändern. Ohne<br />
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Selbstannahme bleibt der Alkoholiker immer in einem inneren Bürgerkrieg, der sein Leben<br />
verdunkelt und die Gefahr eines Rückfalles in sich birgt.<br />
3. Baue bedeutsame Beziehungen in Deinem Leben auf<br />
Der Alkoholiker zieht sich in seiner ,nassen' Zeit immer mehr in sich selbst zurück. Er ist nicht mehr<br />
fähig, bedeutsame Beziehungen zu leben oder aufzubauen. Das gilt auch für die Familie,<br />
Partnerschaft, Freundschaft, Arbeitskollegen etc. Wenigstens einen Menschen, besser mehrere<br />
Menschen, sollte der genesende Alkoholiker haben, mit denen er offen sprechen kann. - Die<br />
Selbsthilfegruppe spielt in diesem Auf dem Weg zur zufriedenen Nüchternheit - Neun Vorschläge -<br />
Zusammenhang eine entscheidende Rolle. Der Besuch und die aktive Mitarbeit in einer solchen<br />
<strong>Gruppe</strong> ist fundamental für den Genesungsprozess.<br />
4. Gib dir ausreichend viel Schlaf<br />
Körper, Seele und Geist brauchen genügend Schlaf, um gesund zu werden und zu bleiben. Der<br />
Schlaf hat eine enorme heilende und stärkende Kraft. Hier geht es um das rechte Maß. Jeder hat<br />
sein individuelles Maß; sieben Stunden sind sicher das Minimum. Der Schlaf vor Mitternacht ist<br />
besonders kräftigend. Ein vernünftiges Abendritual ist notwendig. Am Anfang der Trockenheit<br />
können noch Schlafstörungen bestehen. Geduld ist hier notwendig (Entspannungsübungen,<br />
loslassen und sich überlassen).<br />
5. Gehe kreativ mit Deiner Freizeit um<br />
Wir haben heute in Deutschland viel mehr Freizeit als die Generationen vor uns. Das ist ein Segen,<br />
den wir dankbar annehmen wollen und uns darüber freuen. Gleichzeitig ist das auch eine<br />
Herausforderung zum kreativen Umgang mit der arbeitsfreien Zeit. Wir müssen eine Auswahl<br />
treffen unter den uns angebotenen Möglichkeiten. Hektik und Passivität sollten keinen Platz haben.<br />
6. Besinnung, Gebet und Meditation<br />
Nimm dir Zeit zur Besinnung, zum Gebet und zur Meditation. Viele Menschen erkennen heute,<br />
gleich, ob sie einer Religion angehören oder nicht, dass Besinnung und Meditation als Weg in die<br />
Stille heilsam sind, um zu sich selbst zu finden. Hilfreich ist es, sich jeden Tag eine gewisse Zeit zu<br />
nehmen, um in die eigene Mitte zu finden. Das 24-Stunden-Buch und die Bücher aus Hazelden<br />
(Heyne Verlag) können hier eine Hilfe sein. Wichtig ist, dass diese Zeit der Stille zu einem<br />
regelmäßigen Ritual wird. Für religiöse Menschen hat die Meditation die Form des Gebetes. Zu<br />
sich selber zu kommen heißt für sie, zu ihrem tiefsten Grund zu kommen, zu Gott zu kommen.<br />
Gebet als eine vertrauensvolle Hingabe an den in mir gegenwärtigen Gott. Das Gebet kann die<br />
Form eines freien Gespräches mit Gott haben oder das Sprechen eines geformten Gebetes (z.B.<br />
das Vaterunser) oder eines Psalms; auch das wortlose Verweilen in der Gegenwart Gottes ist eine<br />
Möglichkeit. Hilfreich können dabei sein: eine gestaltete Gebetsecke, eine feste Zeit, ein Ritual<br />
(Kerze anzünden etc.) und Regelmäßigkeit.<br />
7. Besinne dich auf den Sinn Deines Lebens<br />
Die Frage nach dem ,Wofür', dem ,Wozu' und dem ,Sinn' Deines Lebens ist die wichtigste Frage<br />
des Lebens (A. Camus). Das Tier lebt instinktiv den Sinn seines Lebens aus. Wir Menschen<br />
müssen uns für den Sinn entscheiden. Wofür lebe ich eigentlich? Die äußeren Lebensumstände<br />
und die innere Sehnsucht können Hilfe sein, den Sinn meines einmaligen Lebens zu entdecken.<br />
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Welche Spuren möchte ich mit meinem Leben hinterlassen? Entscheide Dich für den Sinn Deines<br />
Lebens. Lebe Dein Leben unter dem Horizont Deines erkannten Lebenssinnes. In diesen<br />
Zusammenhang gehört auch eine positive Einstellung zum Leben. Die Qualität meines Lebens<br />
hängt zu einem guten Teil von meiner positiven Einstellung dem Leben gegenüber ab: „Ich habe<br />
Vertrauen, dass mein Leben gelingt. Ich habe offene und dankbare Augen für das, was mir jeden<br />
Tag geschenkt wird.” Nicht die äußeren Umstände sind es in erster Linie, die mein Leben positiv<br />
oder negativ färben, sondern meine Einstellung zu den äußeren Umständen. In meiner positiven<br />
Einstellung zum Leben habe ich den Schlüssel zu einem glücklichen und zufriedenen Leben: „Dem<br />
Leben trauen, weil Gott es mit mir lebt.” (A. Delp)<br />
8. Lebe im Heute<br />
Die Vergangenheit ist vorbei, die Zukunft ist noch nicht da. Das einzige, was uns zur Verfügung<br />
steht, ist das Heute. Genauer gesagt, der gegenwärtige Augenblick. Dieser winzige Augenblick von<br />
etwa 2,5 Sekunden.. ist das, was uns zum Leben jeweils zur Verfügung steht. ngstliche Sorge<br />
kommt im Menschen dann auf, wenn er schon in der Zukunft lebt und sich um das, was auf ihn<br />
zukommt, sorgt. Leben im gegenwärtigen Augenblick nimmt die Angst. Natürlich muss der Mensch<br />
auch Vorsorge für die Zukunft treffen, aber diese Vorsorge geschieht jeweils im ,Hier und Jetzt'.<br />
Angst kommt immer dann auf, wenn ich aus der Gegenwart aussteige und schon in der Zukunft<br />
lebe. Das gilt auch für die Abstinenz. Heute bleibe ich trocken. Heute lasse ich das erste Glas<br />
stehen. Mit dieser täglichen Entscheidung bleibst Du ein Leben lang trocken.<br />
9. Gehe mit Deiner Arbeit verantwortlich um<br />
Verantwortlich mit der Arbeit umgehen heißt, die Arbeit als einen wichtigen und Sinn gebenden Teil<br />
meines Lebens zu sehen. Gleichzeitig ist es nötig, der Arbeit Grenzen zu setzen. Arbeit ist wichtig,<br />
aber nicht das Leben. Eine gute Balance zu finden zwischen Arbeit und Freizeit ist für ein<br />
trockenes und nüchternes Leben notwendig. Zu viel zu arbeiten, aber auch zu wenig zu arbeiten,<br />
ist gleichermaßen schädlich.<br />
Wer sich auf einer längeren Wanderung befindet, tut gut daran, aufmerksam auf die Wegweiser zu<br />
achten, damit er sich nicht verläuft und an einer Stelle ankommt, die er nun wirklich nicht angepeilt<br />
hat.<br />
Diese neun (sehr einfachen) Schritte wollen so eine Art Wegweiser sein zu einem trockenen,<br />
nüchternen und gelingenden Leben.<br />
Ich wünsche Dir viel Glück auf diesem Weg.<br />
IV. Biblische Impulse<br />
Heimkehr zur Würde<br />
In dem bewegenden Gleichnis von der Heimkehr des verlorenen Sohnes bei Lukas 15,11-24 heißt<br />
es:<br />
Weiter sagte Jesus: Ein Mann hatte zwei Söhne. Der jüngere von ihnen sagte zu seinem Vater:<br />
Vater, gib mir das Erbteil, das mir zusteht. Da teilte der Vater das Vermögen auf.<br />
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Nach wenigen Tagen packte der jüngere Sohn alles zusammen und zog in ein fernes Land. Dort<br />
führte er ein zügelloses Leben und verschleuderte sein Vermögen.<br />
Als er alles durchgebracht hatte, kam eine große Hungersnot über das Land, und es ging ihm sehr<br />
schlecht.<br />
Da ging er zu einem Bürger des Landes und drängte sich ihm auf; der schickte ihn aufs Feld zum<br />
Schweinehüten.<br />
Er hätte gern seinen Hunger mit den Futterschoten gestillt, die die Schweine fraßen; aber niemand<br />
gab ihm davon. Da ging er in sich und sagte: Wie viele Tagelöhner meines Vaters haben mehr als<br />
genug zu essen, und ich komme hier vor Hunger um.<br />
Ich will aufbrechen und zu meinem Vater gehen und zu ihm sagen: Vater, ich habe mich gegen<br />
den Himmel und gegen dich versündigt.<br />
Ich bin nicht mehr wert, dein Sohn zu sein; mach mich zu einem deiner Tagelöhner.<br />
Dann brach er auf und ging zu seinem Vater. Der Vater sah ihn schon von weitem kommen und er<br />
hatte Mitleid mit ihm. Er lief dem Sohn entgegen, fiel ihm um den Hals und küsste ihn.<br />
Da sagte der Sohn: Vater, ich habe mich gegen den Himmel und gegen dich versündigt; ich bin<br />
nicht mehr wert, dein Sohn zu sein.<br />
Der Vater aber sagte zu seinen Knechten: Holt schnell das beste Gewand, und zieht es ihm an,<br />
steckt ihm einen Ring an die Hand, und zieht ihm Schuhe an.<br />
Bringt das Mastkalb her und schlachtet es; wir wollen essen und fröhlich sein.<br />
Denn mein Sohn war tot und lebt wieder; er war verloren und ist wieder gefunden worden. Und sie<br />
begannen, ein fröhliches Fest zu feiern.<br />
,Mein Sohn war tot und lebt wieder; er war verloren und ist wieder gefunden worden. Und sie<br />
begannen, ein fröhliches Fest zu feiern.' So haben wir es gerade gehört in dem bewegenden<br />
Gleichnis von der Heimkehr des verlorenen Sohnes. Es ist nicht irgendeine Geschichte, die hier<br />
erzählt wird, es ist unsere Geschichte, unsere Heimkehr aus Tod, Verlorenheit und Fremde.<br />
Vor der Heimkehr und Versöhnung steht das ,in die Entfremdung, in die Verlorenheit gehen'. Jeder<br />
hat seinen eigenen Weg in die Entfremdung. Für viele war es der Weg in die Abhängigkeit von<br />
Alkohol oder Tabletten und in die damit verbundene Entfremdung von sich selbst, den Menschen<br />
und Gott. Für andere war es ein Weg in die Abhängigkeit von Arbeit, Menschen, Essen, Schuld.<br />
Alle diese Wege kommen aber letztlich aus einer tiefen Sehnsucht nach größerem, erfüllten Leben.<br />
Dieser Weg aber ist ein falscher Weg. Auch der Junge im Gleichnis wollte zunächst einmal nichts<br />
Schlechtes. Er wollte mehr Lust, mehr Freude, mehr Spaß, mehr Freiheit. Das Leben zu Hause<br />
schien ihm zu eng und zu langweilig zu sein. So geht er weg von zu Hause, wirft sich dem Leben<br />
in die Arme. Dieser Weg scheint anfangs bunt, schillernd, verlockend und lebensbejahend zu sein.<br />
Der Junge hat mehr Spaß, mehr Freiheit, mehr Lebendigkeit. Aber irgendwann kommt die Not des<br />
tiefen Hungers, die Not der Einsamkeiten, die Not, von einem erbarmungslosen Herrn ausgenutzt<br />
und gequält zu werden. Ihr alle habt diesen Umschlag von Spaß und Freiheit in die Traurigkeit und<br />
Verzweiflung erfahren.<br />
Die Geschichte vom verlorenen Sohn endet nicht in der Verzweiflung und Isolation. Er war tot und<br />
ist lebendig geworden. So ist es auch mit der Geschichte unserer Verlorenheit. Wenn ich Euch<br />
anschaue, so sehe ich Gesichter voller Hoffnung und Freude, vielleicht einige Zeichen<br />
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vergangenen Leidens, aber jetzt voller Vertrauen in eine bessere Zukunft. Was ist geschehen?<br />
Eigentlich müsste ich jetzt still sein und Euch bitten, zu sprechen und zu erzählen über Eure<br />
Heimkehr. Jeder hat seine eigene Heimkehr erfahren. Es würde ein langer, bewegender<br />
Gottesdienst werden. Ich möchte stellvertretend eine Antwort geben auf die Frage: ,Was ist<br />
geschehen?' Ich nehme die Antwort aus dem Gleichnis. Das bewegendste Bild aus dem Gleichnis<br />
ist für mich, wie der Vater den Heimkehrenden umarmt und küsst: In dieser Gebärde der<br />
Umarmung geschieht Annahme, Vergebung und Versöhnung. Der Vater gibt dem Sohn ein neues<br />
Gewand, Schuhe und einen Ring. Alle drei sind Symbole und Bilder der Würde. Der Vater gibt dem<br />
Sohn die Würde zurück. Der Sohn möchte seinerseits dieses Verlorensein selbst aufarbeiten. Er<br />
will der letzte der Knechte sein und alles wieder gut machen. Genau hier liegt aber die Antwort.<br />
Viele von uns haben versucht, aus der Verlorenheit durch eigene Anstrengung herauszukommen.<br />
Dieser Weg führt immer tiefer in die Not. Neues Leben geschieht durch Versöhnung, durch<br />
Umarmung, Versöhnung mit meiner dunklen Seite, mit dem Kranken in mir, der so sehr unserer<br />
Umarmung und Annahme bedarf. In der Umarmung geschieht die Heilung. Nicht im Kampf, nicht<br />
mit guten Vorsätzen, schon gar nicht mit Selbstbeschimpfung. Das gilt nicht nur für unsere dunkle<br />
Seite der Abhängigkeit, sondern für viele dunkle Seiten unseres Lebens, wie etwa vergangenes<br />
Leid, Ungerechtigkeiten, Verletzungen, traumatische Erlebnisse in der Kindheit und vieles andere.<br />
In der Zustimmung geschieht Heilung. Diese Heilung und Versöhnung mit mir und mit anderen<br />
Menschen ist deshalb möglich, weil ich selbst von einer liebenden Macht umarmt bin, die wir Gott,<br />
unseren barmherzigen Vater, nennen. Aus der Erfahrung dieser tiefsten Versöhnung ist alle<br />
andere Versöhnung erst möglich. Wenn ich es aus eigener Kraft tun will, werde ich scheitern. Weil<br />
ich heimgekehrt bin, kann ich heimkehren zu mir selbst und zu den Menschen.<br />
Kein Wunder, dass es am Ende des Gleichnisses heißt: ,Sie begannen ein fröhliches Fest zu<br />
feiern.' Wer heimgekehrt ist und sich versöhnt hat, muss es ausdrücken in einem fröhlichen Fest.<br />
Deshalb sind wir dieser Tage zusammen-gekommen, voller Dankbarkeit und Freude, und wir feiern<br />
ein fröhliches Fest.<br />
Predigt beim Jahrestreffen der Tönissteiner am 23. Oktober 1983<br />
Ich werde getragen<br />
Im Evangelium nach Matthäus 14,22-33 - der Gang auf dem Wasser - heißt es:<br />
Gleich darauf forderte er die Jünger auf, ins Boot zu steigen und an das andere Ufer<br />
vorauszufahren. Inzwischen wollte er die Leute nach Hause schicken.<br />
Nachdem er sie weggeschickt hatte, stieg er auf einen Berg, um in der Einsamkeit zu beten. Spät<br />
am Abend war er immer noch allein auf dem Berg.<br />
Das Boot aber war schon viele Stadien vom Land entfernt und wurde von den Wellen hin und her<br />
geworfen; denn sie hatten Gegenwind.<br />
In der vierten Nachtwache kam Jesus zu ihnen; er ging auf dem See.<br />
Als ihn die Jünger über den See kommen sahen, erschraken sie, weil sie meinten, es sei ein<br />
Gespenst, und sie schrieen vor Angst.<br />
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Doch Jesus begann mit ihnen zu reden und sagte: Habt Vertrauen, ich bin es; fürchtet euch nicht!<br />
Darauf erwiderte ihm Petrus: Herr, wenn du es bist, so befiehl, dass ich auf dem Wasser zu dir<br />
komme.<br />
Jesus sagte: Komm! Da stieg Petrus aus dem Boot und ging über das Wasser auf Jesus zu.<br />
Als er aber sah, wie heftig der Wind war, bekam er Angst und begann unterzugehen. Er schrie:<br />
Herr, rette mich!<br />
Jesus streckte sofort die Hand aus, ergriff ihn und sagte zu ihm: Du Kleingläubiger, warum hast du<br />
gezweifelt? Und als sie ins Boot gestiegen waren, legte sich der Wind. Die Jünger im Boot aber<br />
fielen vor Jesus nieder und sagten: Wahrhaftig, du bist Gottes Sohn.<br />
Ich arbeite jetzt über 30 Jahre mit Alkoholikern. Als ich 1974 das erste Mal durch die Eingangstür<br />
in Hazelden ging, ahnte ich noch nicht, wie sehr diese Erfahrung mein Leben prägen würde. In all'<br />
diesen Jahren hat mich als Therapeut und auch als Priester die Frage bewegt, was hilft eigentlich<br />
einem Abhängigen, trocken zu bleiben und nüchtern zu werden? Ich habe viele Antworten gehört,<br />
kluge und weniger kluge. Heute möchte ich Euch einladen, mit dieser Frage an das Evangelium<br />
heranzugehen, um vielleicht hier eine Antwort zu erfahren. Die Geschichten um den Mann aus<br />
Nazareth sind ja nicht eigentlich fromme Geschichten, sondern Lebensgeschichten, Geschichten,<br />
die zu tieferem Leben führen wollen.<br />
Es ist Nacht, die Freunde Jesu allein im Boot, ein starker Gegenwind. Die Wellen werfen das Schiff<br />
hin und her. Beschreibung einer schwierigen Lebenssituation. Mein Leben läuft nicht so, wie ich es<br />
mir wünsche. Gegenwind lässt mich nur mühsam weiterkommen. Die Nacht lässt mich nichts<br />
erkennen. Die Wellen zeigen mir, dass ich geworfen bin in ein Leben, das gefährlich ist. Wasser ist<br />
heilsam, kann aber auch todbringend sein. Solche Zeiten kennst Du. Du brauchst bloß in Deine<br />
nasse Zeit zurückzublicken. Dunkel war es, Du kamst nicht voran, Du warst voller Angst und<br />
Verzweiflung. Das Wasser drohte, Dich zu verschlingen.<br />
Auch nach Tönisstein gab es solche Stunden mit Gegenwind und Dunkelheit. Die Menschen waren<br />
und die Dinge gingen nicht so, wie Du Dir das vorgestellt hattest. Vielleicht ist mancher unter uns,<br />
bei dem eben jetzt eine solche Erfahrung vorliegt: Ich komme nicht weiter.<br />
In dieser Dunkelheit ist plötzlich ER da. Zuerst erkennen die Jünger ihn nicht. In ihren eigenen<br />
Vorstellungen verfangen, glauben sie, ein Gespenst zu sehen. Sein Wort befreit sie aus ihrer<br />
Unsicherheit: „Habt Vertrauen, ich bin es, habt keine Angst.” Wenn mich jemand nach einer<br />
Grundformel für ein glückendes Leben fragt ... hier ist sie: Habe Vertrauen - habe keine Angst -<br />
denn ICH bin da. ICH, das ist der, der den Tod besiegt hat in der Auferstehung. Jesus geht über<br />
das Wasser; das ist ein Bild für den Auferstandenen, für den Überwinder des Todes. Je länger ich<br />
mit Alkoholikern arbeite, desto klarer wird mir: Kern der Krankheit ist ein tiefes Misstrauen, vor<br />
allem gegenüber mir selbst; das Gefühl von Wertlosigkeit, Unterlegenheit, auch anderen und Gott<br />
gegenüber. Wo Mangel an Vertrauen ist, da herrscht Angst, große und kleine. Der Versuch, mit<br />
Stoff diese Ängste in den Griff zu bekommen, scheitert. Die Ängste werden immer größer. In dieser<br />
Not setzt aber auch die Hilfe ein: Habt Vertrauen! Ich weiß nicht, welche Gestalt Jesus in Deinem<br />
Leben damals hatte, als Du dieses Wort hörtest: Hab Vertrauen! Vielleicht war es ein Freund, eine<br />
<strong>Gruppe</strong>, ein Buch, ein Therapeut. Seitdem ist dieses ,Habe Vertrauen' gewachsen, und die Angst<br />
hat abgenommen. Sie ist nicht ganz weg, aber sie überwältigt Dich nicht mehr: Wertrauen zu Dir,<br />
zu anderen und zu Gott.<br />
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Die Geschichte !geht weiter. Petrus steigt aus dem Boot aus - kommt aus dem Boot heraus - und<br />
geht auf Jesus zu. Petrus machte ein le tiefe Erfahrung: Das Wasser trägt. Durch Vertrauen<br />
werden die Wasser zu einem festen Weg, sie legen sich ihm zu Füßen. Viele von uns haben diese<br />
Erfahrung gemacht: das Getragensein. Du hast nicht gewusst, wie es weitergeht. Im<br />
vertrauensvollen Gehen - Schritt für Schritt - hat sich unter Deinen Füßen ein Weg geöffnet, und<br />
dieser Weg hat Dich bis zum heutigen Tag und bis zur heutigen Stunde geführt.<br />
Aussteigen aus dem Boot? Noch ein Zug aus dieser Lebensgeschichte scheint mir wichtig zu sein.<br />
Petrus steigt aus dem Boot aus. Er macht die Erfahrung des Getragenwerdens erst, nachdem er<br />
die Sicherheit des Bootes losgelassen hatte. Los-lassen von Sicherheiten, Loslassen der<br />
scheinbaren Sicherheit des Stoffes. Dies war für Dich beängstigend. Wie soll ich ohne die Krücke<br />
Alkohol oder Medikamente leben? Lange hast Du gezögert, bis Du über den Bootsrand geklettert<br />
bist und das ,komm' angenommen hast. Dann hast Du die Erfahrung gemacht: Ich kann ohne Stoff<br />
leben, ich bin getragen. Diesem ersten Loslassen :sind andere gefolgt. Loslassen von Besitz,<br />
Sicherheiten, und vielleicht war es eine Abhängigkeit von Deinem Partner, von Kindern.<br />
Sicherheiten, die bis vor kurzer Zeit noch unheimlich wichtig waren, konntest Du Ioslassen, und Du<br />
machtest die Erfahrung: ich versinke nicht!<br />
Wir haben ums die Frage gestellt, was lässt einen Alkoholiker in seiner Tiefe genesen? Ich möchte<br />
es noch einmal deutlich sagen: „Hab' Vertrauen - lass Deine Angst los - denn ich bin da°.. Amen.<br />
Predigt beim Ökumenischen Gottesdienst zum Jahrestreffen 1989<br />
Lazarus<br />
Im Evangelium nach Johannes 11,32-44 heißt es:<br />
Als Maria dorthin kam, wo Jesus war, und ihn sah, fiel sie ihm zu Füßen und sagte zu ihm: Herr,<br />
wärst du hier gewesen, dann wäre mein Bruder nicht gestorben.<br />
Als Jesus sah, wie sie weinte und wie auch die Juden weinten, die mit ihr gekommen waren, war<br />
er im Innersten erregt und erschüttert.<br />
Er sagte: Wo habt ihr ihn bestattet? Sie antworteten ihm: Herr, komm und sieh!<br />
Da weinte Jesus.<br />
Die Juden sagten: Seht, wie lieb er ihn hatte!<br />
Einige aber sagten: Wenn er dem Blinden die Augen geöffnet hat, hätte er dann nicht auch<br />
verhindern können, dass dieser hier starb?<br />
Da wurde Jesus wiederum innerlich erregt, und er ging zum Grab. Es war eine Höhle, die mit<br />
einem Stein verschlossen war.<br />
Jesus sagte: Nehmt den Stein weg! Marta, die Schwester des Verstorbenen, entgegnete ihm: Herr,<br />
er riecht aber schon, denn es ist bereits der vierte Tag.<br />
74
Jesus sagte zu ihr: Habe ich dir nicht gesagt: Wenn du glaubst, wirst du die Herrlichkeit Gottes<br />
sehen?<br />
Da nahmen sie den Stein weg. Jesus aber erhob seine Augen und sprach: Vater, ich danke dir,<br />
dass du mich erhört hast. Ich wusste, dass du mich immer erhörst; aber wegen der Menge, die um<br />
mich herum steht, habe ich es gesagt; denn sie sollen glauben, dass du mich gesandt hast.<br />
Nachdem er dies gesagt hatte, rief er mit lauter Stimme: Lazarus, komm heraus!<br />
Da kam der Verstorbene heraus; seine Füße und Hände waren mit Binden umwickelt, und sein<br />
Gesicht war mit einem Schweißtuch verhüllt. Jesus sagte zu ihnen: Löst ihm die Binden und lasst<br />
ihn weggehen!<br />
Liebe Tönissteiner Familie, immer wieder höre ich von Ehemaligen das Wort: "Mit Tönisstein hat<br />
mein Leben neu begonnen. Tönisstein hat eine totale Wende in mein Leben gebracht." Ich denke,<br />
Tönisstein ist ein Haus der Auferstehung. Menschen finden zur Quelle ihres Lebens zurück. Nicht<br />
umsonst ist der Brunnentempel, der sich über der Angelikaquelle wölbt, zum Wahrzeichen unserer<br />
Klinik geworden.<br />
Die Geschichte von der Auferstehung des Lazarus, die ich Ihnen gerade vorgelesen habe, könnte<br />
eine Verbildlichung dessen sein, was mit vielen Patienten in Tönisstein geschehen ist.<br />
Eine bewegende Szene: Jesus weint über einen toten Freund. Tiefe Trauer erfasst ihn. Ein<br />
tröstliches Bild: Jesus, der Repräsentant Gottes, fühlt mit den Trauernden und Leidenden. Er fühlt<br />
mit uns. Aber er bleibt nicht bei der Trauer stehen. Er nimmt die Auseinandersetzung mit dem<br />
Tode auf.<br />
Setze Deinen Namen ein: Franz, Myriam, Heinz, Maria, komm heraus, heraus aus der Todeszone;<br />
komm heraus zum Leben. Genau das ist bei Dir eines Tages geschehen - vor zwanzig, zehn oder<br />
fünf Jahren, vor einem Jahr oder vielleicht waren es auch nur einige Wochen oder Tage. Du kamst<br />
heraus. Sei nicht mehr länger ein Kind des Todes, sondern ein Kind des Lebens. „Mein Sohn war<br />
tot und lebt wieder so sagt der Vater in dem wunderbaren Gleichnis vom verlorenen Sohn. Das ist<br />
der Grund, warum Ihr heute voller Dankbarkeit und Freude hierher gekommen seid. Ihr habt der<br />
Stimme geglaubt, die Euch zum Leben gerufen hat, und seid in das Licht getreten.<br />
„Nehmt den Stein weg”<br />
Der Stein verschließt die Grabeshöhle. Der Stein bietet Schutz vor wilden Tieren, hält aber auch<br />
gefangen, gefangen im Tode. Es fällt nicht schwer, die Situation auf nasse Alkoholiker zu<br />
übertragen. Die Abhängigkeit schließt den Alkoholiker in seine Grabeshöhle ein. Er ist isoliert und<br />
unlebendig. Er hat weder Freunde, noch Lust am Leben. Der vermeintliche Freund, der Alkohol, ist<br />
in Wirklichkeit der Stein, der ihn vom Leben abhält und ihn einmauert in eine Höhle der Dunkelheit<br />
und des Todes. „Nehmt den Stein weg.” Der Alkoholiker braucht Freunde, die ihm helfen, den<br />
Stein wegzuwälzen. Allein schafft er es nicht. Schauen wir in diesem Augenblick einmal dankbar<br />
auf die Menschen zurück, die uns auf dem Weg zur Trockenheit geholfen haben, den Stein<br />
wegzuwälzen: Partner und Kinder, Freunde, Arbeitskollegen, Arbeitgeber, Selbsthilfegruppen und<br />
Therapeuten. Es war nicht leicht, diesen Stein wegzuwälzen. Lange Zeit hast Du Dich geweigert,<br />
diesen Stein wegwälzen zu lassen. Du hattest Angst vor einem Leben ohne Alkohol. So hast Du<br />
lange Zeit die dunkle Höhle dem wirklichen Leben vorgezogen. Aber irgendwann hat das Licht der<br />
Gnade Dich getroffen und Du warst bereit.<br />
Lazarus ist aus dem Grab, aber ist noch nicht ganz frei. Noch kann er sich nicht auf den<br />
Lebensweg machen. Noch sind Binden um seinen Körper, und ein Tuch ist über seinen Augen. Du<br />
hast den Schritt aus der Höhle des Todes in das Licht des Lebens gewagt. Du bist nach Bad<br />
Tönisstein gekommen. Sicher kannst Du Dich noch daran erinnern, wie Du hier zum ersten.. Mal<br />
75
die Treppe zur Rezeption hinaufgestiegen bist, voller Ängste und Unsicherheiten, aber auch mit<br />
der Hoffnung und Zuversicht, dass nun für Dich ein neues Leben beginnt. Aber es war noch<br />
notwendig, dass in einem schmerzhaften Prozess der Therapie die Binden der Selbstverachtung,<br />
der Schuldgefühle und der Isolierung von Dir abfielen. Auch die Blindheit der Augen musste geheilt<br />
werden. Erst jetzt wurde Dir das wahre Ausmaß Deiner Erkrankung bewusst. Auch da waren Helfer<br />
von Nöten: die Therapeuten, Ärzte und die <strong>Gruppe</strong>nfreunde, welche Dich entbunden haben,<br />
entbunden zu einem neuen Leben - allerdings nicht ohne Dein aktives Mitwirken.<br />
Und dann, nach sechs oder acht Wochen, hörtest Du das Wort: „Lasst ihn gehen”, nach Hause<br />
gehen, zurück in Deine Familie, zu Deinem Arbeitsplatz, zu Deinen Freunden. Da waren<br />
ambivalente Gefühle: Du spürtest Freude, aber auch eine gewisse Wehmut, denn Du hattest hier<br />
Freunde<br />
gewonnen, mit denen Du viele persönliche Gespräche geführt hast - in einer Tiefe, die Dir vorher<br />
unbekannt war.<br />
Wenn wir jetzt dankbar und froh miteinander den Gottesdienst feiern, dann danken wir dem, der<br />
uns letztendlich zu einem neuen und befreiten Leben geführt hat: unser liebender und<br />
barmherziger VATER, der uns, seine verlorenen Söhne und Töchter, liebevoll umarmt und uns die<br />
Würde zurückgegeben hat. Wir können wieder erhobenen Hauptes durch die Welt gehen. Wir<br />
brauchen uns nicht mehr klein und unannehmbar zu fühlen, sondern wertvoll und teuer.<br />
Dafür wollen wir jetzt Gott danken, aber auch all' den Menschen, die uns auf dem Weg vom Tod<br />
zum Leben geholfen haben. Amen.<br />
Ökumenischer Gottesdienst im Juni 2000 (25 Jahre Bad Tönisstein)<br />
Geheilte Sehnsucht - Sehnsucht nach Leben<br />
Im Evangelium nach Lukas 19,1-10 - Jesus im Haus des Zöllners Zachäus - heißt es:<br />
Dann kam er nach Jericho und ging durch die Stadt.<br />
Dort wohnte ein Mann namens Zachäus; er war der oberste Zollpächter und war sehr reich.<br />
Er wollte gern sehen, wer dieser Jesus sei, doch die Menschenmenge versperrte ihm die Sicht,<br />
denn er war sehr klein.<br />
Darum lief er voraus und stieg auf einen Maulbeerfeigenbaum, um Jesus zu sehen, der dort<br />
vorbeikommen musste.<br />
Als Jesus an die Stelle kam, schaute er hinauf und sagte zu ihm: Zachäus, komm schnell herunter!<br />
Denn ich muss heute in deinem Haus zu Gast sein.<br />
Da stieg er schnell herunter und nahm Jesus freudig bei sich auf.<br />
Als die Leute das sahen, empörten sie sich und sagten: Er ist bei einem Sünder eingekehrt.<br />
Zachäus aber wandte sich an den Herrn und sagte: Herr, die Hälfte meines Vermögens will ich den<br />
Armen geben, und wenn ich von jemand zu viel gefordert habe, gebe ich ihm das Vierfache<br />
zurück.<br />
Da sagte Jesus zu ihm: Heute ist diesem Haus das Heil geschenkt worden, weil auch dieser Mann<br />
ein Sohn Abrahams ist.<br />
Denn der Menschensohn ist gekommen, um zu suchen und zu retten, was verloren ist.<br />
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Begegnung ist ein Lebensthema. Begegnung ist Thema der Geschichte von Jesus und Zachäus.<br />
Es gibt vielerlei Begegnungen: hilfreiche Begegnungen, die mein Leben weit und offen machen,<br />
und Begegnungen, die mein Leben verschließen, isolieren, mich mehr und mehr um mich kreisen<br />
lassen, Begegnungen zu mehr Hoffnung und mehr Zukunft und Begegnungen zu mehr Traurigkeit<br />
und Verzweiflung. Um eine Begegnung zu mehr Leben und Zukunft geht es in der Geschichte<br />
zwischen Jesus und Zachäus.<br />
Schauen wir uns zunächst einmal an, was hier geschieht. Ein Mann mit Namen Zachäus steigt auf<br />
einen Maulbeerfeigenbaum, um Jesus zu sehen. Was ist das für einer, dieser Zachäus? Es heißt<br />
von ihm, er war oberster Zollpächter und sehr reich. Sehr reich, das ist ein Schlüsselwort. Geld,<br />
mehr Geld, mehr haben, das ist seine Abhängigkeit. Seine Sucht heißt: Geld. Als oberster<br />
Zollpächter presst er aus seinen Mitbürgern Geld heraus. Er nutzt seine Stellung aus. Kein<br />
Wunder, dass er ein Gemiedener, Einsamer, Abgelehnter ist. Niemand mag ihn. So sitzt er allein in<br />
seinem Maulbeerfeigenbaum versteckt.<br />
Da ist aber noch eine andere Seite in ihm. Eine Sehnsucht nach Leben, nach mehr als immer nur<br />
,Haben'. In Jesus, dem armen Wanderprediger, spürt er eine tiefere Dimension des Lebens. So will<br />
er ihn sehen. Jesus kommt vorbei und schaut zu Zachäus hinauf. Beide Augenpaare treffen sich.<br />
Jesus bittet ihn um ein Nachtquartier. Er setzt an der Stärke des Zachäus an: der Gastgeberrolle.<br />
Zachäus nimmt ihn freudig auf. Die Begegnung mit Jesus, das gegenseitige Anschauen, hat ihn<br />
verwandelt. Aus dem einsamen, ich-bezogenen Mann wird einer, der mitten unter den Leuten<br />
steht. Weil Jesus ihn angesehen hat, und er sich hat ansehen lassen, bekommt er Ansehen in<br />
seinen eigenen Augen. Er ahnt seine Würde.<br />
Wie sehr Zachäus verwandelt ist, wie sehr die Zuwendung und das Vertrauen Jesu ihn<br />
umgewandelt haben, wird deutlich: Er, der Raffgierige, der Geldsüchtige, kann loslassen, hergeben<br />
und herschenken. Die Hälfte seines Besitzes will er den Armen geben; und wenn er jemanden<br />
übervorteilt hat, dann will er das Vierfache zurückgeben. Die Geschichte schließt mit den Worten<br />
Jesu: „Heute ist dem Haus Heil geschenkt worden, weil auch dieser Mann ein Sohn Abrahams ist.”<br />
In der Begegnung geschieht ein Wunder, ein Heilungswunder. Das Wunder ist die Veränderung,<br />
das Lebendig-Werden eines Menschen in der Begegnung mit Jesus. Er wird befreit von seiner<br />
Sucht nach Geld, seiner Raffgier. Er entdeckt sein großmütiges Herz, sein wirkliches Selbst, das<br />
geschaffen ist nach Gottes Ebenbild und Gleichnis.<br />
Hat sich bei Dir nicht auch solch eine Wunder- und Heilungsgeschichte zugetragen? Trägt sie sich<br />
nicht immer wieder zu? Denke zurück an die Isolation in Deiner nassen Zeit: Einsam, ohne<br />
Selbstwertgefühl, klein und unansehnlich hast Du dich versteckt. Riesige Schuldgefühle wegen<br />
Deines Trinkens waren in Dir, und dennoch hattest Du eine tiefe Sehnsucht nach dem anderen<br />
Leben, dem Leben in Trockenheit.<br />
Irgendwann, vor einem oder fünf oder zehn Jahren bist Du seinem Blick begegnet, dem Blick Jesu.<br />
Er hat dich angeschaut. Wo, Wann? Vielleicht aus den Augen Deiner Kinder, Deiner Frau, Deines<br />
Mannes, Deiner Freundin. Ich weiß es nicht genau. Vielleicht war es auch Jesu stille Stimme in<br />
Deinem Inneren, die zu Dir gesprochen hat. Dieser Blick, nicht vorwurfsvoll, eher traurig, und<br />
dennoch vertrauend auf Deine inneren Möglichkeiten, wissend, dass da Leben in Dir<br />
eingeschlossen unter der Schlacke des zwanghaften Trinkens, aber wahrhaft vorhanden ist.<br />
77
Und da geschah die Veränderung, die Heilung. Dein wahres Selbst mit seinen guten Möglichkeiten<br />
brach durch Deine verschlackte Verkrustung. Du wurdest ein Freigelassener, einer, der nicht mehr<br />
unter dem Zwang des Trinkens stand. Einer, der sich wieder unter die Menschen traute, sich zu<br />
seinem Alkoholismus bekannte und sich neu dem Leben und den Menschen zuwandte. Ein neues<br />
Denken, Fühlen und Handeln ist in Dir aufgebrochen.<br />
Kardinal Newman, der große englische Denker und Oratorianer, hat einmal gesagt: „Die<br />
Gegenwart Gottes wird von uns nicht im Augenblick des jeweiligen Geschehens wahr-genommen,<br />
sondern im Nachhinein, wenn wir zurückschauen auf das bereits Vergangene, Geschehene.”<br />
In den Tagen, da Du Dich durch verschiedene Begegnungen von dem Zwang zum Trinken<br />
befreien konntest und trocken wurdest, hast Du Gott, Deine Höhere Macht, vielleicht nicht<br />
wahrgenommen. Im Nachhinein, in der Rückschau auf dieses Wunder der Heilung kannst Du seine<br />
guten Augen entdecken, die das Gute in Dir herausgeliebt und herausgerufen haben. Augen, die<br />
an Dich und Deinen Wert geglaubt haben, auch wenn Du an Deinem Wert längst verzweifelt warst<br />
und Dich schon fast aufgeben wolltest.<br />
Die Geschichte endet mit dem Wort Jesu: „Heute ist dem Haus Heil geschenkt worden.” Nehmen<br />
wir dieses Wort auch für uns heute wörtlich. Auch uns wurde heute das Heil der Fürchte Dich nicht,<br />
denn ich bin bei Dir.<br />
Befreiung, der Neubewertung geschenkt. In der Begegnung mit ihm, der von sich gesagt hat: Ich<br />
bin das Leben.<br />
Ansprache beim Jahrestreffen der Tönissteiner im September 1992<br />
Fürchte dich nicht, denn ich bin mit dir.<br />
In der Lesung nach dem Propheten Jesaja 43,1-7 heißt es:<br />
So spricht der Herr, der dich geschaffen hat: Fürchte dich nicht, denn ich habe dich befreit.<br />
Ich habe dich bei deinem Namen gerufen, du bist mein. Wenn du durchs Wasser schreitest, bin ich<br />
bei dir, wenn durch Ströme, dann reißen sie dich nicht fort. Wenn du durchs Feuer gehst, wirst du<br />
nicht versengt, keine Flamme wird dich verbrennen.<br />
Denn ich bin dein Gott, ich, der Heilige Israels, bin dein Retter.<br />
Du bist in meinen Augen teuer und wertvoll, und ich liebe dich.<br />
Liebe Tönissteiner Familie,<br />
viele Menschen leiden heute darunter, dass sie ihr Leben nicht mehr deuten können. Alles scheint<br />
ihnen mehr oder minder zufällig und ohne Sinn oder Zusammenhang zu sein. Viele haben den<br />
Schlüssel zur Deutung ihres eigenen Lebens verloren.<br />
78
Vielleicht könnte der Text nach dem Propheten Jesaja, geschrieben vor über 2500 Jahren, den wir<br />
gerade gehört haben, so ein Schlüssel zum dankbaren Verstehen unseres Lebens sein. Gehen wir<br />
den Text miteinander durch.<br />
Der Text beginnt mit dem Satz: „Fürchte dich nicht, denn ich habe dich befreit. Ich habe dich bei<br />
deinem Namen gerufen, du bist mein!”<br />
Furcht und Angst hindern mich am geglückten Leben: Angst vor der Zukunft, Angst vor den<br />
Menschen, Angst vor Versagen, Angst vor einem Rückfall, Angst vor dem Tode. „Fürchte dich<br />
nicht.” Dieser Satz kommt über hundert Mal in der Heiligen Schrift vor. Du brauchst keine Angst zu<br />
haben. Dann kommen gewichtige Gründe, warum ich keine Angst zu haben brauche. Schauen wir<br />
uns diese Gründe miteinander an.<br />
Da heißt es zunächst: „... denn ich habe dich befreit”. Worte der Schrift darf ich so lesen, als ob sie<br />
ganz persönlich für mich geschrieben seien. Ein persönlicher Liebesbrief Gottes an mich. Wovon<br />
bin ich befreit? Von der zerstörerischen Abhängigkeit von Alkohol und Tabletten. Das war Deine<br />
Gefangenschaft, und das ist eine schlimme Sklaverei. Du bist in sie gefallen, gefallen in eine Zeit<br />
der Würdelosigkeit, der Selbstverachtung und der Verletzungen. „... denn ich habe dich befreit.”<br />
Sicherlich waren an diesem Prozess der Befreiung auch Menschen beteiligt, Therapeuten,<br />
Freunde und Kollegen. Du selbst hast Deinen Anteil auch dazu beigetragen. Aber, dass Deine<br />
Befreiung letztlich gelungen ist, verdankst Du IHM, der Dich bei Deinem Namen gerufen hat, der<br />
Dich in die Freiheit geführt hat. Das ist das Erste: Ich brauche keine Angst zu haben, denn ich bin<br />
ein Befreiter. Dann sagt uns der Prophet einen anderen Grund, warum wir keine Angst zu haben<br />
brauchen. „Wenn du durchs Wasser gehst, bin ich bei dir, wenn du durchs Feuer gehst, wirst du<br />
nicht versengt, denn ich bin dein Gott. Wenn Du Dein Leben anschaust, dann waren da reißende<br />
Wasser, dann war da Feuer und es bestand die Gefahr, dass Du mitgerissen oder verbrannt<br />
wurdest. Du bist durch all' diese Gefahren hindurch gekommen und stehst heute als ein Geretteter<br />
in der Gemeinschaft und Versammlung vieler Geretteter. Vielleicht weißt Du selbst nicht genau,<br />
wie dies geschah. „Ich bin bei dir, ich bin dein Gott. Habe keine Angst. Auch in der Zukunft werde<br />
ich dich durch bedrohliche Wasser und Feuer geleiten, wo immer dein Weg dich hinführen wird. Ich<br />
bin bei dir.”<br />
Und noch ein Grund, der die Angst und Verzagtheit von uns nehmen soll, wird uns in dem Jesaja-<br />
Text gesagt: „Du bist in meinen Augen teuer und wertvoll und ich liebe dich.” Viele Ängste im<br />
Leben stammen aus einem verschalteten Selbstwertgefühl. Henry Nouwen, ein bekannter<br />
Schriftsteller aus den USA, meint in einem seiner letzten Bücher: ,Du bist der geliebte Sohn', „der<br />
heutige Mensch leidet nicht so sehr an Stolz und Selbstüberhebung, als vielmehr an Selbstzweifel<br />
und Selbstverachtung.” Nicht viel von sich halten, seine Würde infrage stellen, das gehört auch zu<br />
den Schatten vieler trockener Alkoholiker. Dieses Gefühl hindert sie am Leben, an Fülle; es macht<br />
Angst. In diese Selbstverschattung hinein sagt Gott zu mir: „Du bist in meinen Augen teuer und<br />
wertvoll.” Ich habe kein Recht, mich klein und mies zu fühlen. Ich bin wertvoll in Gottes Augen. Ich<br />
bin seine geliebte Tochter, sein geliebter Sohn. Lass diesen Satz tief in Dich hineinfallen und<br />
vergiss ihn nie: Du bist wertvoll in Gottes Augen! Ganz gleich, was Dir innere Stimmen aus der<br />
Vergangenheit zuflüstern. Du bist wertvoll!<br />
Wir haben uns auf die Suche nach einem Schlüssel gemacht, der unserem Leben Deutung und<br />
Sinn gibt. Der tröstliche Text des Jesaja könnte so ein Schlüssel sein. Nehmen wir ihn mit,<br />
besonders den letzten Satz: „Fürchte dich nicht, denn ich bin mit dir!” Amen.<br />
Predigt beim Jahrestreffen in Bad Tönisstein am 19. Juni 1994<br />
79
Du bist geliebt<br />
Im Evangelium nach <strong>Markus</strong> 1,9-11 - die Taufe Jesu - heißt es:<br />
In jenen Tagen kam Jesus aus Nazaret in Galiläa<br />
und ließ sich von Johannes im Jordan taufen.<br />
Und als er aus dem Wasser stieg, sah er,<br />
dass der Himmel sich öffnete und der Geist wie eine Taube auf ihn herabkam.<br />
Und eine Stimme aus dem Himmel sprach: Du bist mein geliebter Sohn,<br />
an dir habe ich Gefallen gefunden.<br />
Ich habe in einem Buch über die Therapie von Alkoholikern folgenden Satz gelesen: Alkoholiker<br />
sind wunderbare Menschen, aber viele von ihnen leiden an einem geringen Selbstwertgefühl. Ich<br />
möchte ergänzen: nicht nur Alkoholiker. Viele Menschen leiden an einem Zweifel gegenüber ihrem<br />
eigenen Wert. Sie schätzen sich zu wenig in ihrer Einmaligkeit und Würde.<br />
Fragen wir uns einmal, woher dies kommt. Es hängt von den Stimmen ab, die wir von außen oder<br />
von innen hören: Du bist wertlos, Du bist ein Versager, Du bist unannehmbar, Du bist niemand<br />
oder beweise bitte das Gegenteil. Wenn wir diesen Stimmen Glauben schenken, fangen wir an,<br />
uns selbst gering zu schätzen.<br />
In der christlichen Tradition wurden der Hochmut und der Stolz oft als eine große Sünde<br />
dargestellt. Vielleicht ist aber die eigene Geringschätzung die größere Sünde. Sehr schnell<br />
kapitulieren wir vor diesen negativen Stimmen. Dies gilt besonders, wenn mich jemand kritisiert<br />
oder ablehnt. Dann kommt sehr schnell der Gedanke: „Ich habe es ja schon immer gewusst, dass<br />
ich nichts wert bin”.<br />
Zum Glück hören wir auch andere Stimmen. Viele von uns haben von ihren Eltern, Großeltern oder<br />
Freunden die Stimme gehört: „Du bist willkommen in dieser Welt. Wir freuen uns, dass es Dich<br />
gibt. Wir lieben Dich.” Wahrscheinlich war es zuletzt Deine Mutter, die Dich als kleines Baby durch<br />
ihr liebevolles Lächeln und durch ihre Zuwendung spüren ließ, dass Du geliebt und willkommen<br />
bist. Durch ihre Liebe hat sie Dich zum Lieben geöffnet. Vielleicht wird jetzt der eine oder andere<br />
einwerfen: „Ich habe eine solche Mutter nie kennen gelernt.” Vielleicht war es dann eine Oma oder<br />
ein Opa oder eine Tante, die Dir vermittelt haben, dass Du wichtig und liebenswert bist. Es wäre<br />
ein guter Anlass, heute einmal in Dankbarkeit jener Menschen zu gedenken, die uns das Gefühl<br />
vermittelt haben, wir sind liebenswert und wertvoll. Bei vielen Menschen herrscht ein innerer Krieg<br />
zwischen diesen beiden Stimmen. Oft sind dabei die negativen Stimmen die lauteren und wir hören<br />
mehr auf diese.<br />
In diesem Ringen schauen wir nach Bundesgenossen aus. Ich möchte von einem<br />
Bundesgenossen sprechen, den manche von uns wieder neu entdeckt haben; ich meine Gott, der<br />
mir in Jesus Christus sein menschliches Antlitz gezeigt hat. Ich kann mir denken, dass jetzt der<br />
eine oder andere von Euch sagen wird: „Höre auf mit Gott, der hat mir nicht geholfen im Finden<br />
eines guten Selbstwertgefühls. Im Gegenteil! Er war nie zufrieden mit mir, ich sollte immer besser<br />
sein, damit er mich liebt.” Nicht wenige Menschen tragen so ein dunkles, forderndes, nie zufrieden<br />
zu stellendes Gottesbild in sich. Aber ist Gott so?<br />
80
Ist die Stimme Gottes wirklich die eines ewig nörgelnden, überstrengen Vaters, dem man es nie<br />
recht machen kann? NEIN! Erinnern wir uns an den Text des Evangeliums, den wir gerade gehört<br />
haben. „Du bist mein geliebter Sohn. An dir habe ich mein Wohlgefallen.” Der himmlische Vater<br />
spricht es zu seinem Sohn, Jesus. Wir sind aber Brüder und Schwestern Jesu, und so gilt dieses<br />
Wort Gottes für jeden von uns, die wir hier versammelt sind. Mache Dein Herz weit auf. Du bist der<br />
geliebte Sohn und die geliebte Tochter. Ich möchte es Euch ganz tief in das Herz hinein sagen.<br />
Romano Guardini spricht von dem Urwort, das jedem Menschen zugesprochen wird. Dieses Wort<br />
heißt geliebt. Das ist die Kernwahrheit unseres Daseins. Wir sind geliebt schon lange, ehe uns die<br />
Eltern, Freunde und Ehepartner lieben konnten. Geliebt ist grundlegende Wahrheit Deines und<br />
meines Lebens.<br />
In der wunderbaren Geschichte vom Verlorenen Sohn wird dieses Urwort noch einmal radikalisiert.<br />
Der Sohn hat sein vom Vater ererbtes Vermögen in einem verantwortungslosen Leben<br />
durchgebracht. Als Schweinehirte erfährt er seinen Tiefpunkt und seine Umkehr. Er erinnert sich<br />
an seine Heimat, sein wahres zu Hause. Sein Vater sieht ihn schon von weitem kommen. Das<br />
heißt doch, dass er die ganze Zeit auf diesen Verlorenen gewartet hat und sich nach ihm gesehnt<br />
hat. Er umarmt ihn und küsst ihn. Er gibt ihm Gewand, Ring und Schuhe. Das sind Zeichen der<br />
Würde, Zeichen des freien Mannes. Und er lädt zu einem großen Fest ein, denn sein Sohn war<br />
verloren und ist wieder gefunden worden, war tot und lebt wieder. So ist Gott; einer der<br />
bedingungslos liebt. Der uns Heimkehrer in seine Arme nimmt und uns in das Ohr flüstert:<br />
Du bist willkommen.<br />
Du bist geliebt.<br />
Du bist wertvoll und teuer.<br />
Ich liebe Dich.<br />
Amen.<br />
Predigt beim ökumenischen Gottesdienst in Bad Tönisstein am 28. Juni 1998<br />
Du bist geführt<br />
Herzlich willkommen zu unserem Arbeitskreis: ,Du bist geführt'.<br />
Wir feiern heute ein Jubiläum: 30 Jahre Fachklinik Bad Tönisstein. Im Duden steht unter Jubiläum:<br />
Jubelzeit, Frohlocken - also wir haben eine Jubelzeit, 30 Jahre Bad Tönisstein, zu feiern. Aber<br />
auch Du hast ein Jubiläum in Deiner Trockenheit. Vielleicht ein halbes Jahr, vielleicht ein Jahr oder<br />
zehn Jahre oder zwanzig Jahre, vielleicht sogar noch mehr. Auch Du hast Grund zum Jubeln und<br />
zum Danken. Und ich habe auch ein Jubiläum, ich arbeite jetzt 30 Jahre mit Alkoholikern;<br />
angefangen hat das in Hazelden in Amerika vor 30 Jahren. Auch für mich gilt das Thema ,Du bist<br />
geführt'.<br />
Wenn Du auf einen langen Abschnitt Deines Lebens zurück schaust, wirst Du nachdenklich. War<br />
das alles Zufall oder Schicksal? Ober gibt es hier so etwas wie Führung? Der Dichter Carossa hat<br />
eine Autobiographie geschrieben mit dem Titel ,Führung und Geleit'. Das Thema: ,Du bist geführt'<br />
erscheint heute als eine Herausforderung. Viele glauben nicht mehr an Führung, an einen<br />
persönlichen Gott, der Sorge trägt um mich. Sie befinden sich in einer vom Egoismus geprägten<br />
Welt. Hat Leben überhaupt einen Sinn, oder ist es sinnlos, absurd? Im Mittelalter fragte der<br />
81
Mensch: Wie lebe ich richtig, damit ich mein Ziel erreiche? Heute sagen viele Menschen: Gibt es<br />
so etwas überhaupt, einen letzten Sinn, ein letztes Ziel, was soll das alles, mein Mühen, mein<br />
Arbeiten, meine Erfolge, meine Misserfolge? Vor einigen Jahren machte das Allensbacher Institut<br />
eine Umfrage unter 2000 Deutschen. Eine der Fragen war: ,Man fragt sich ja manchmal, wofür<br />
man lebt, was der Sinn des Lebens ist. Worin sehen Sie vor allem den Sinn Ihres Lebens?' Ich<br />
würde Euch raten, einmal diese Frage als ganz persönlich an Euch gestellt zu sehen: Worin siehst<br />
Du den Sinn Deines Lebens? Das Ergebnis dieser Umfrage war eher bestürzend. Zwei Drittel der<br />
Befragten meinten, das Spaß und Unterhaltung der Sinn ihres Lebens sei. Nur ein Drittel gab<br />
andere Antworten, etwa die Bedeutung der Familie, die Bedeutung des Berufes usw. Für manche<br />
Menschen heute ist das Leben absurd. Das Wort ,absurd' kommt aus dem Lateinischen: surdus<br />
meint taub. Wer taub ist, hört nicht mehr die leise Stimme Gottes; sein Leben erscheint absurd,<br />
ertaubt. Aber trotz aller Zweifel am Sinn des Lebens ist bei vielen Menschen gleichzeitig im Herzen<br />
eine tiefe Sehnsucht nach Sinn, nach Führung und Geleit vorhanden.<br />
Woher weiß ich um ein Geführtwerden?<br />
Da muss ich zunächst einmal auf meine Lebensgeschichte schauen. Im Augenblick scheint<br />
manchmal das Leben in der Tat absurd zu sein. Erst in der Rückschau entdecke ich einen roten<br />
Faden, spüre ich, wie sich alles oder zumindest Wichtiges gefügt hat und einen Sinn ergibt; und<br />
das, was mir im Augenblick nicht klar war, kann in der Rückschau deutlich werden. Das können<br />
kleinere Lebensabschnitte, besonders aber größere, längere Abschnitte sein.<br />
Gerade in diesen letzten 30 Jahren, sehe ich ganz klar einen roten Faden. Vor 30 Jahren kam ich<br />
in eine Klinik in Amerika, Hazelden, um eine Ausbildung in Gesprächstherapie zu machen. Dort<br />
war meine erste Begegnung mit Alkoholikern. Die Menschen und die Art der Therapie haben mich<br />
fasziniert, und so habe ich dort auch die Ausbildung zum Suchtkrankentherapeuten gemacht. Nach<br />
Deutschland zurückgekehrt war mir klar, dass ich mit Alkoholikern arbeiten möchte. Da ich in<br />
München keine geeignete Arbeit fand, kam ich nach Bad Tönisstein, das ja eine Art Tochter der<br />
Hazelden-Klinik war. Sie war zwei Jahre vorher - 1974 - von einer <strong>Gruppe</strong> von Unternehmern und<br />
der Arztin Inge Lange-Treschhaus gegründet worden.<br />
Tönisstein wurde für mich zu einer zweiten Heimat, und ich arbeite bis zum heutigen Tag in dieser<br />
Klinik. Rückschauend sehe ich eine ganz klare Linie. Als religiöser Mensch weiß ich, dass es auch<br />
Gottes Führung war, die mich hierher geführt hat, um mit Alkoholikern zu arbeiten. Ich würde Dir<br />
raten, auch einmal Deine eigene Lebensgeschichte so anzuschauen. Sicherlich wirst Du auch<br />
einen roten Faden entdecken. Bestimmt wird Dir auch etwas klar, wozu Du auf der Welt bist, was<br />
Deine Mission ist.<br />
Nicht nur die eigene Lebensgeschichte, auch die Lebensgeschichte anderer, wie auch<br />
vergangener Generationen können helfen, dieses ,Geführtwerden' deutlicher zu erkennen. Für<br />
mich waren die Lebensgeschichten meiner Patienten immer etwas ganz Wichtiges. Ich versuchte,<br />
den roten Faden mit den Betroffenen zu finden. Aber auch in Autobiographien findet sich häufig so<br />
ein roter Faden. Die Bibel, sowohl des Alten wie des Neuen Testaments, ist eigentlich so eine<br />
Geschichte des Geführtwerdens. Jesus wird geführt, Abraham wird geführt, Paulus wird geführt,<br />
die junge Kirche wird geführt, wir werden geführt.<br />
• Wer führt mich?<br />
• Wer steckt dahinter?<br />
• Ist es einfach das Schicksal?<br />
• Ist es eine höhere Macht?<br />
82
• Oder ist es - so sehe ich es - ein liebender barmherziger Gott, den ich Vater nennen darf?<br />
Der Glaube an einen persönlichen Gott, der die Menschen führt und für sie da ist, schwindet leider<br />
immer mehr in unserem deutschen Land. Interessant ist, dass 80 % der Befragten den<br />
Schutzengel für sehr wichtig halten. Bei der gleichen Befragung antworteten nur 12 %, dass sie an<br />
einen persönlichen Gott glauben. Dieses Ergebnis hat mich verwundert. Ich versuchte eine<br />
Erklärung zu finden; vielleicht geht sie in diese Richtung: Viele Menschen haben eine innere<br />
Sehnsucht, diese ist da, eine Sehnsucht nach Schutz und Geführtwerden. Gleichzeitig ist aber eine<br />
Ablehnung kirchlicher Glaubenssätze vorhanden. Ich meine, wir sollten bei dem Glauben an<br />
Schutzengel ansetzen. Engel sind ja nichts anderes als Boten Gottes; sie haben ganz intensiv mit<br />
Gott zu tun. Merkwürdig ist, dass der Engelglaube boomt, während die Kirchen immer leerer<br />
werden.<br />
Die Grundsaussage der Bibel heißt ja: Gott ist als Liebender für mich da. Der Gottesname des<br />
alten Testaments ist Jahwe, das heißt: ,Ich bin der für dich Daseiende'. Gott ist ein mitgehender<br />
Gott. Jesus bekommt den Namen Emanuel. Emanuel heißt auch wiederum: ,Gott mit uns'.24 In Mt.<br />
28,3 heißt es: „Ich bin bei Euch alle Tage, bis zum Ende der Welt”. Die Bibel ist herausgewachsen<br />
aus der Erfahrung von Menschen mit Gott, mit dem mitgehenden und mitsorgenden Gott. Das<br />
klassische Gebet ist der Psalm 23. Auch wenn ich Umwege mache, auf verkehrten Wegen gehe,<br />
durch ein dunkles Tal muss, lässt Gott mich nicht im Stich; vgl. auch die Geschichte vom<br />
Verlorenen Sohn im Lukas-Evangelium. Der Vater sieht den heimkehrenden Sohn schon von<br />
weitem kommen, d. h. er hat immer auf ihn gewartet, und er war nie seinem Herzen fern. Ein<br />
Hinderungsgrund für dieses Vertrauen ist die Angst. Angst ist ja auch das große Problem unserer<br />
Zeit. Angst hindert mich, dem Leben zu vertrauen, hindert mich zu vertrauen, dass ich geführt<br />
werde. Vertrauen auf der anderen Seite lässt die Angst verschwinden, und Mut und Zuversicht<br />
zum Leben entstehen.<br />
Das Ziel des Geführtwerdens ist für uns zunächst einmal eine zufriedene Nüchternheit.<br />
Trockenheit alleine genügt nicht. Durch die Nüchternheit geschieht auch die Selbstannahme und<br />
der Aufbau bedeutsamer Beziehungen. So werde ich zu meinem wahren Selbst geführt.<br />
Ein weiteres Ziel ist die Freundschaft mit Gott, um aus der reinen Diesseitsvertröstung zu einem<br />
Leben unter dem geöffneten Himmel zu kommen.<br />
Und das letzte Ziel des Geführtwerdens ist eine endgültige, den Tod übersteigende Wohnung bei<br />
Gott. Das Sterben als etwas Beängstigendes bleibt, aber der Tod ist durch die Auferstehung Jesu<br />
überwunden.<br />
Krisen, Leiden und Schuld auf dem geführten Weg<br />
Geführtwerden heißt nicht, sich dauernd auf einem sonnigen Spaziergang zu befinden. Krisen und<br />
Schmerzen gehören auch zu meinem Dasein. Gerade Krisen können wichtig sein auf meinem<br />
Lebensweg. Eine Lebenskrise hat mich auf den Weg in die USA und nach Hazelden gebracht und<br />
meinem Leben eine ganz neue Richtung gegeben. Ich bin heute für diese Krise dankbar. Oft liegt<br />
die Antwort auf eine Lebensfrage im Schmerz. Schmerzvermeidung ist der beste Weg in die<br />
Abhängigkeit. Schmerz gehört auch zum ,geglückten Leben. Gott räumt mir nicht die Steine aus<br />
dem Weg, aber er geht mit mir über die Steine und gibt mir die Kraft, sie zu überwinden. Denke an<br />
deine Alkoholkrankheit: Gott hat sie Dir nicht aus dem Weg geräumt, aber er hat Dir geholfen, sie<br />
zu überwinden, durch sie hindurch zu einem tieferen und erfüllteren Leben zu kommen.<br />
83
Vertrauen und Übergabe<br />
meines Lebens an die Sorge Gottes<br />
Gott führt mich. Das ist das heilende Wort Gottes. Meine Antwort darauf muss heißen: Vertrauen<br />
und ,surrender'. So haben es die Gründungsväter und -mütter der <strong>AA</strong> im zweiten und dritten Schritt<br />
notiert. ,Wir kamen zu dem Glauben, dass eine Macht größer als wir selbst, uns unsere geistige<br />
Gesundheit wieder geben kann.' Und der dritte Schritt: ,Wir fassten den Entschluss, unser Leben<br />
und unseren Willen der Sorge Gottes - wie wir ihn verstehen - anzuvertrauen.' Diese Übergabe im<br />
Vertrauen ist herausgewachsen aus der jüdisch-christlichen Tradition. Immer wieder treffen wir in<br />
Gebeten auf diese Grundhaltung. Ich übergebe mein Leben, mich selbst, Dir mein Gott. Mich Gott<br />
anzuvertrauen und mein Leben seiner Sorge zu übergeben ist die Weisheit der Bibel, und ich<br />
kenne keine bessere. Viel Leid in unserem Leben kommt von den ,ich-verkrampften' Händen, die<br />
nicht Ioslassen wollen. Die Hände aufmachen führt zu Gelassenheit und Heiterkeit: ,Let Go - Let<br />
God'; ein einfacher aber ungemein wirkungsvoller Satz der <strong>AA</strong>.<br />
Du bist geführt war das Thema unseres Arbeitskreises. Wenn wir bisher in unserem Leben diese<br />
Erfahrungen gemacht haben, können wir darauf vertrauen, dass wir auch in Zukunft diese<br />
Erfahrung des Geführtwerdens machen werden. Ganz gleich, was uns das Leben bringen wird und<br />
wie sich unser Lebensweg entwickeln wird, Gott führt mich. Franz von Sales hat das in seinem<br />
Buch ,Phiiothea' folgendermaßen beschrieben: „Gott hat Dich bis hierher geführt. Birg Dich in<br />
seiner liebevollen Hand, so wird er Dich sicher führen durch alle Ereignisse Deines Lebens, und<br />
wo Du nicht mehr gehen kannst, da wird er Dich sicher in seinen Händen tragen. Schau nicht voller<br />
Angst auf das Morgen. Der gleiche liebevolle Vater, der heute für Dich sorgt, wird auch morgen<br />
und jeden weiteren Tag Deines Lebens für Dich Sorge tragen.” Und Dietrich Bonhoeffer hat im<br />
Gefängnis in Plötzensee das wunderbare Gedicht geschrieben:<br />
Von guten Mächten wunderbar geborgen,<br />
erwarten wir getrost, was kommen mag.<br />
Gott ist bei uns am Abend und am<br />
Morgen, und ganz gewiss an jedem neuen Tag.<br />
Wir wollen jetzt in kleinen <strong>Gruppe</strong>n von etwa vier Personen einige Fragen beantworten:<br />
1. Gibt es Knotenpunkte in meinem Leben, an denen ich Geführtwerden rückschauend gespürt<br />
habe?<br />
2. Welche Menschen haben sich in meinem Leben als Schutzengel erwiesen?<br />
3. Wie bin ich aus dem zwanghaften Trinken befreit worden (Menschen, Umstände, etc.)?<br />
Arbeitskreis Sommerfest 2004<br />
Gottes Traum mit uns -<br />
Wege zu meinem wahren Selbst<br />
Worte wie Ganzwerden, Heilwerden und sich selbst finden, sind Worte, die für uns bedeutungsvoll<br />
sind. Dahinter steht eine tiefe Sehnsucht, ganz, heil und integriert zu werden. Der Hintergrund<br />
84
dieser Sehnsucht ist die schmerzliche Erfahrung, verletzt, verwundet, entfremdet zu sein. Ich<br />
werde von außen gelebt. Ich lebe nicht mein eigenes Selbst, sondern ich werde gelebt. Aber die<br />
Sehnsucht nach authentischem Leben ist nicht klein zu kriegen. In diesem Arbeitskreis wollen wir<br />
einige Schritte auf dem Weg zu unserem wahren Selbst gehen. Dies ist ein spiritueller Arbeitskreis.<br />
Wir werden Spiritualität und Psychologie verbinden. Die Psychologie kann uns helfen, konkrete<br />
Schritte zu machen und die Hindernisse auf dem Weg zu entdecken. Die Geburt meines wahren<br />
Selbst hat etwas mit dem Traum Gottes von mir zu tun.<br />
Selbstverwirklichung als Tat des Menschen<br />
Das Wort Selbstverwirklichung bringt im modernen Menschen eine tiefe Saite zum Klingen.<br />
Besonders der Mensch in der zweiten Lebenshälfte fühlt sich von diesem Wort angesprochen.<br />
Sehnsucht nach mehr; das kann doch nicht alles gewesen sein. Heute gibt es eine Menge<br />
Angebote, um diese Sehnsucht zu stillen. Weise und Scharlatane bieten ihre Dienste zu meist<br />
hohen Preisen an. Unterscheidung der Geister tut hier Not, damit man am Ende nicht noch<br />
verunsicherter dasteht als am Anfang. Auch hier nützen Pauschalurteile wenig.<br />
Ein wichtiger Weg zu meiner Mitte und damit zu mir selbst ist die Meditation. Hier vermischen sich<br />
christliche Erfahrungen mit Erfahrungen der östlichen Weisheit, etwa des ZEN. Auch die<br />
humanistische Psychologie nimmt die Meditation als Weg zur Mitte ernst. Maslow und Rogers<br />
haben in ihren späten Schriften die Bedeutung von Spiritualität entdeckt. Es genügt nicht, ein<br />
starkes ICH zu entwickeln. Zur horizontalen Dimension muss die vertikale Dimension kommen. Die<br />
Sehnsucht sucht die vertikale Ebene.<br />
Gottes Traum mit uns steht vor jeder Selbstverwirklichung<br />
Ich habe großen Respekt vor der humanistischen Psychologie und den verschiedenen Formen der<br />
Meditation. Sie können eine nützliche und notwendige Hilfe sein auf dem Weg der Selbstwerdung.<br />
Dennoch genügen sie mir als Christ nicht. Sie lassen mich irgendwo allein mit meiner Sehnsucht,<br />
ganz und heil zu werden.<br />
Der Anfang aller Selbstverwirklichung liegt nicht bei mir, sondern bei Gott. Er hat einen Traum von<br />
mir seit Ewigkeit. Einen Traum von meinem Dasein und meinem Sosein. Lieben beginnt mit dem<br />
Geliebtwerden. Ein kleines Baby wird zunächst einmal geliebt von den Eltern. Die Liebe der Eltern<br />
ermöglicht es dem Kind, seinerseits zu lieben. Ohne ein Mindestmaß an Liebe würde ein Kind<br />
sterben. Gottes liebevoller Traum von mir steht am Anfang. Damit ich mein Selbst finde, muss es<br />
ein anderer schon liebevoll gedacht haben. Damit ist auch schon die Grundrichtung des Heil- und<br />
Ganzwerdens angezeigt. In Beziehung treten zu einer Liebe, die mir innerlicher ist als mein<br />
Innerstes und höher als mein Höchstes. Die christliche Paradoxie besteht darin: Selbstwerdung<br />
geschieht im Blick auf Gottes Traum, im Blick auf Gottes Liebe, und nicht im Blick auf mich selbst.<br />
Kern des Glaubens ist: Ich bin von Gott aus Liebe geschaffen. Gott hat sich von Ewigkeit nach mir<br />
gesehnt und hat mich ins Dasein geliebt. Ich bin von Gott gewollt und uneingeschränkt von ihm<br />
angenommen. Ich habe meinen Ursprung nicht in mir selbst, sondern in Gottes liebendem Traum.<br />
Heil und ganz werde ich in dem Maße, in dem ich mich und mein Leben ganz auf Gott ausrichte,<br />
wenn ich dem Traum Gottes Herz, Hände, Füße und Stimme gebe. Mein Leben gelingt daher im<br />
Lobpreis Gottes. Das ist nicht ein äußerer Befehl, sondern eine in unserer Natur liegenden Kraft,<br />
die uns zu Gott und seinem Lobpreis hinzieht. Im christlichen Glauben bekommt diese Kraft ein<br />
personales Ziel: GOTT.<br />
85
Gottes Traum als persönliche Berufung, als von Gott geschenkte Einmaligkeit<br />
Gott hat einen Traum mit uns. Wir können das auch die ganz persönliche Berufung nennen, den<br />
mir eigenen Weg, mein wahres und tiefstes Selbst oder meine unwiederholbare Einmaligkeit.<br />
Meine Lebensaufgabe ist es, diesen Traum in das Leben zu übersetzen, dadurch eine<br />
Verwandlung zu erfahren, den persönlichen Plan Gottes mit mir zu erkennen, ihn tief innerlich in<br />
meinem Leben zu bejahen und treu und großherzig zu leben: Erkennen - Annehmen - Leben.<br />
Erkennen<br />
Wie erkenne ich Gottes Traum mit mir? In meinen Gedanken, Gefühlen, Bewegungen,<br />
Sehnsüchten und Bedürfnissen. Wichtig ist hier die Bereitschaft zum Hören. Oft überhören wir die<br />
innere Stimme (innere Taubheit). Sie kommt von einem dauernden Beschäftigtsein mit vielen<br />
Dingen. Wenn ich die innere Stimme überhöre, richte ich mich nach den Wünschen und<br />
Vorstellungen der Gesellschaft. Eine Unterscheidung der Stimmen und damit der Geister ist aber<br />
notwendig, denn nur so kommt es zu einer größeren Übereinstimmung mit meinen Lebenszielen<br />
und dem Finden meines wahren Selbst. Hilfen dazu sind Gespräche mit Freunden, Gebet,<br />
psychologische Hilfen.<br />
Annehmen<br />
Das bedeutet den Verzicht darauf, ein anderer sein zu wollen: Annahme meiner selbst. Viel Leid<br />
tun sich Menschen an, wenn sie ein anderer sein wollen, als sie wirklich sind: schöner, jünger,<br />
begabter, schlanker, intelligenter etc. (R. Guardini). Gott achtet mich in meiner Einmaligkeit. Er hat<br />
Respekt und Liebe zu dieser Einmaligkeit. Habe ich Respekt vor mir? Nehme ich mich liebevoll<br />
an? Kann ich mich auch annehmen in meiner Gewordenheit, Lebensgeschichte, Schuld, in meinen<br />
Verletzungen und Umwegen? Annehmen ist Entgegennehmen. Ich bin Gottes Geschenk an mich,<br />
und deshalb kann ich mich annehmen. Deshalb kann ich freundlich und liebevoll mit mir umgehen.<br />
Leben (Handeln)<br />
Erkennen - Annehmen - Handeln ist ein wichtiger Dreischritt. Eins und zwei drängen auf Handeln<br />
hin. Ich bin mir Geschenk für andere. Die Gefahr in der heutigen Selbstverwirklichungsbewegung<br />
ist, dass ich mich nur um mich selbst drehe. Sich annehmen ist die Basis. Niemand kann einen<br />
anderen lieben, wenn er sich nicht selber mag. Selbstliebe muss aber fruchtbar sein auf die<br />
anderen hin. Meine persönliche Berufung ist immer auch eine Berufung auf andere hin: Familie,<br />
Arbeitsplatz, Dorfgemeinschaft usw.. Der Priester ist nicht gerufen für sich selbst, sondern für<br />
andere.<br />
Wir haben uns Gedanken gemacht über den Traum Gottes mit uns. Ich wünsche uns allen, dass<br />
wir im Laufe unseres Lebens diesem Traum immer näher kommen. Vergessen wir aber dabei<br />
nicht, dass dies nicht so sehr eine Sache unseres Tuns, sondern ein Tun Gottes an uns ist. Wir<br />
dürfen Gott an uns wirken lassen: Let Go and Let God!<br />
Geheilt von meiner Blindheit<br />
Im Evangelium nach <strong>Markus</strong> 10,46-52 heißt es:<br />
86
Sie kamen nach Jericho. Als er mit seinen Jüngern und einer großen Menschenmenge Jericho<br />
wieder verließ, saß an der Straße ein blinder Bettler, Bartimäus, der Sohn des Timäus. Sobald er<br />
hörte, dass es Jesus von Nazareth war, rief er laut: Sohn Davids, Jesus, hab Erbarmen mit mir!<br />
Viele wurden ärgerlich und befahlen ihm zu schweigen.<br />
Er aber schrie noch viel lauter: Sohn Davids, hab Erbarmen mit mir!<br />
Jesus blieb stehen und sagte: Ruft ihn her!<br />
Sie riefen den Blinden und sagten zu ihm:<br />
Hab nur Mut, steh auf, er ruft dich.<br />
Da warf er seinen Mantel weg, sprang auf und lief auf Jesus zu.<br />
Und Jesus fragte ihn: Was soll ich dir tun?<br />
Der Blinde antwortete: Rabbuni, ich möchte wieder sehen können.<br />
Da sagte Jesus zu ihm: Geh! Dein Glaube hat dir geholfen. Im gleichen Augenblick konnte<br />
er wieder sehen, und er folgte Jesus auf seinem Weg.<br />
Der blinde Bettler Bartimäus sitzt am Straßenrand vor den Toren von Jericho und bettelt. Seine<br />
Blindheit macht ihn zum Außenseiter der Gesellschaft. Er sitzt am Rande, kann nicht im Zuge der<br />
anderen mitgehen.<br />
Ein Alkoholiker ist in seiner nassen Zeit auch Außenseiter. Seine Beziehungen zu den Menschen<br />
in seiner Umgebung sind schwer gestört. Ein Gefühl von Scham und Schuld, von geringem<br />
Selbstwert, Angst, Wut und Trauer lässt ihn am Rande sitzen. Er ist blind für die Menschen, ihre<br />
Bedürfnisse, blind für ein erfülltes Leben, erblindet in seiner Egozentrik und seiner Sucht nach<br />
Alkohol. Ganz tief im Alkoholiker ist aber auch eine Sehnsucht nach wirklichem Leben. Er spürt,<br />
dass der Alkohol keine Lösung für diese Sehnsucht ist. Aber die Macht der Abhängigkeit lässt ihn<br />
aus eigener Kraft nicht aufbrechen.<br />
Bartimäus, der Blinde am Straßenrand, leidet unter seiner Blindheit, unter seiner Ausgegrenztheit.<br />
Er möchte dazugehören. Seine Hoffnung richtet sich auf den Mann aus Nazareth, Jesus. Von ihm<br />
hat er gehört, dass er Kranke heilt. Aus dieser Hoffnung heraus schreit er: Jesus, hab' Erbarmen<br />
mit mir.<br />
Auf wen kann sich die verborgene Hoffnung eines nassen Alkoholikers richten? Zunächst einmal<br />
auf ein DU. Weg von seiner Selbstzentriertheit, von seiner Eingeschlossenheit.<br />
Viele wurden ärgerlich und befahlen ihm zu schweigen. Die Leute wollen nicht gestört werden von<br />
diesem Außenseiter Bartimäus. Sie möchten ungestört mit Jesus gehen, nur auf sich bedacht.<br />
Vielleicht kennst Du auch solche Stimmen. Außerhalb von Dir und in Dir: Stimmen die sagen, Du<br />
brauchst doch keine Therapie, Du musst nur Deinen Willen einsetzen. Oder vielleicht ist es die<br />
Stimme Deines Stolzes, die sagt: Du brauchst kein Erbarmen, Du schaffst das alleine, Du hast<br />
doch sonst so viel in Deinem Leben geschafft, dann wirst Du das doch auch noch schaffen.<br />
Vielleicht sind es negative Erfahrungen mit Religion und Kirche, die sich querstellen und Dich<br />
hindern, Jesus um Hilfe zu bitten. Ich will nicht zu Kreuze kriechen. Der Alkoholiker muss endlich<br />
aufhören zu glauben, dass er mit eigener Kraft die Krankheit Alkoholismus besiegen kann, und<br />
87
Hilfe erbitten. Bartimäus schreit um Hilfe. Wer ist dieses DU, nachdem er schreit? Für den Blinden<br />
ist es Jesus. Ihm vertraut er, auf ihn zielt seine ganze Hoffnung. Ist das auch für Dich möglich?<br />
Lass einmal die vielen Vorbehalte, die Du gegen Gott, Religion und Glauben hast, Ios und sage<br />
sehr einfach: Jesus hab' Erbarmen mit mir, mit mir, dem Alkoholiker (vielleicht noch nass, vielleicht<br />
schon trocken). Hab Erbarmen. Sag' es nicht nur einmal. Sage es oft. Lass diesen kurzen Satz<br />
tagsüber mit Dir gehen und wiederhole ihn immer wieder: „Jesus hab' Erbarmen mit mir!”<br />
Jesus hört die Rufe des Bartimäus. Er bleibt stehen und lässt ihn rufen. Die Stimme des Blinden<br />
dringt an Jesu Ohr und in sein Herz. Er unterbricht seinen Weg und bleibt stehen. Er ruft ihn in<br />
seine Nähe und wendet sich ihm zu.<br />
Vertraue darauf, dass Dein Ruf nach Hilfe nicht ungehört verhallt. Nicht bei Deinen Freunden, die<br />
Du um Hilfe bittest in deiner Not, und schon gar nicht bei Jesus. Er ruft Dich in seine Nähe. Er ist<br />
Dir schon jetzt sehr nahe. Er ist in Dir, in jenem Zentrum der Stille in Dir. Er ist Dir zugewandt.<br />
Die Leute rufen den Blinden zu Jesus und werden plötzlich durch Jesu Worte zu Freunden des<br />
Blinden. Sie sagen ihm drei wichtige Sätze: Habe Mut! Stehe auf! Und: Er ruft dich! Bartimäus wird<br />
Mut zugesprochen, Mut, Jesus nahe zu kommen, sich ihm anzuvertrauen. Dazu muss er seine<br />
Außenseiterposition aufgeben, aufstehen und auf Jesus zulaufen. Er springt auf! Der Grund für<br />
diese Veränderung ist der Ruf Jesu. Er ruft dich!<br />
Diese zwei Worte gelten auch für Dich. Habe Mut! Deine Freunde sagen es Dir, aber auch Deine<br />
Familie und Deine Weggefährten: Habe Mut zu einem neuen Weg, zu einem neuen Leben. Gehe<br />
heraus aus der Gefangenschaft, hinein in die Freiheit. Du musst aber auch etwas tun - keine<br />
Leistung, aber Mitarbeit; Aufstehen aus der passiven Haltung des reinen Wartens und Am-Rande-<br />
Sitzens: Steh auf, dann kommt es zur Auferstehung.<br />
Da warf er seinen Mantel weg, sprang auf und lief auf Jesus zu. Das Gerufensein von Jesus weckt<br />
in dem Bettler seine bisher verschüttete Lebenskraft. Er springt auf und läuft auf Jesus zu.<br />
Springen und Laufen sind Ausdruck hoher Lebendigkeit. Er wirft seinen Mantel ab, in den er<br />
eingehüllt war, um sich gegen Kälte zu schützen, der ihn aber jetzt am Laufen hindert. Nichts soll<br />
seinen Weg zu Jesus aufhalten.<br />
Was hindert Dich auf Deinem Weg in die Freiheit, in das neue Leben zu Jesus. Was musst Du<br />
loslassen, vielleicht hat es Dir bisher geholfen, wie der Mantel dem Bartimäus. Aber jetzt hindert es<br />
Dich auf Deinem Weg. Lass' es los!<br />
Und Jesus fragte ihn: Was soll ich Dir tun? Der Blinde antwortete: Rabbuni ich möchte wieder<br />
sehen. Irgendwann in seiner Jugendzeit konnte Bartimäus vielleicht sehen. Dann hat er das<br />
Augenlicht verloren, aber er wusste, was es heißt, sehen zu können (die Menschen, die Blumen,<br />
den Himmel). So ist seine Antwort sehr klar und einfach: Ich möchte wieder sehen können.<br />
Was ist Dein tiefster Wunsch, den Jesus Dir erfüllen soll? Wieder sehen können? Nach langer Zeit<br />
der Blindheit wieder klar sehen können und nicht nur verschwommen und wie im Nebel. Befreit<br />
werden von der Blindheit der Sucht? Irgendwann in Deinem Leben hast Du klar gesehen. Dann<br />
aber kam der Weg in die Abhängigkeit, und damit kam der<br />
Weg in die Blindheit. Aber Du hast es nie ganz vergessen, was es heißt, sehen zu können.<br />
Da sagte Jesus zu ihm: Geh'! Dein Glaube hat Dir geholfen. Im gleichen Augenblick konnte er<br />
wieder sehen. Sein Vertrauen in Jesus hat Bartimäus geholfen. Dieses Vertrauen lässt ihn wieder<br />
sehen. Er ist geheilt. Sein tiefstes Verlangen wird durch Jesus erfüllt.<br />
88
Hast Du auch eine solche Sehnsucht, wieder sehen zu können - ohne Schleier, ungetrübten<br />
Herzens wieder zu leben? Hast Du ein tiefes Verlangen nach richtigem Leben? Auch wenn Du<br />
schon trocken bist, gilt für Dich die Frage: Was soll ich Dir tun? Trockensein muss zum zufriedenen<br />
Nüchternsein werden, und das ist ein langer Prozess, bei dem Du Hilfe benötigst. Neben der<br />
Sehnsucht brauchst Du das Vertrauen, dass Dir geholfen wird von Menschen und von IHM. Das<br />
Sehendwerden eines Alkoholikers kann in einem Augenblick geschehen. Blitzartig kann ihn die<br />
Einsicht durchzucken: ]a, ich bin Alkoholiker. Ich bin machtlos gegenüber dem Alkohol. Aber<br />
danach ist es noch ein langer Weg bis hin zur vollständigen Heilung von Körper, Geist und Seele.<br />
Geh', sagte Jesus zu Bartimäus. So sagt er auch zu Dir: „Geh' auf den Weg der Trockenheit und<br />
Nüchternheit.”<br />
Und er folgte Jesus auf seinem Weg. Die eigentliche Heilung für Bartimäus besteht darin, dass er<br />
Jesus gefunden hat und ihm nachfolgt. Sein Leben hat durch die Begegnung mit Jesus eine ganz<br />
neue Qualität bekommen. Er hat nicht nur sein Augenlicht wieder gefunden, sondern auch sein<br />
Seelenlicht.<br />
Nicht mehr zu trinken ist für den Alkoholiker eine Sache; es ist die Voraussetzung für alles<br />
Kommende. Dann aber braucht sein Leben eine neue Lebensrichtung, eine Lebensorientierung.<br />
Jesus nachzufolgen, seinen Lebensentwurf zu übernehmen, welcher der Entwurf von Liebe und<br />
Vertrauen ist, wäre für einen genesenden Alkoholiker nicht das Schlechteste; wegkommen von<br />
Egoismus und Selbstzentriertheit und sein wahres Selbst entdecken und entwickeln in Liebe und<br />
Vertrauen. Das Gebet kann hier eine gute Hilfe sein: „Jesus, erbarme dich meiner!”<br />
Befreit von der Lähmung<br />
In der Heilungsgeschichte nach <strong>Markus</strong> 2,1-12 heißt es:<br />
Als er einige Tage später nach Kafarnaum zurückkam, wurde bekannt, dass er (wieder) zu Hause<br />
war.<br />
Und es versammelten sich so viele Menschen, dass nicht einmal mehr vor der Tür Platz war; und<br />
er verkündete, ihnen das Wort.<br />
Da brachte man einen Gelähmten zu ihm; er wurde von vier Männern getragen.<br />
Weil sie ihn aber wegen der vielen Leute nicht bis zu Jesus bringen konnten, deckten sie dort, wo<br />
Jesus war, das Dach ab, schlugen (die Decke) durch und ließen den Gelähmten auf seiner<br />
Tragbahre durch die Öffnung hinab.<br />
Als Jesus ihren Glauben sah, sagte er zu dem Gelähmten: Mein Sohn, deine Sünden sind dir<br />
vergeben.<br />
Einige Schriftgelehrte aber, die dort saßen, dachten im stillen: Wie kann dieser Mensch so reden?<br />
Er lästert Gott.<br />
Wer kann Sünden vergeben außer dem einen Gott?<br />
Jesus erkannte sofort, was sie dachten, und sagte zu ihnen: Was für Gedanken habt ihr im<br />
Herzen? Ist es leichter, zu dem Gelähmten zu sagen: Deine Sünden sind dir vergeben!, oder zu<br />
sagen: Steh auf, nimm deine Tragbahre, und geh umher? Ihr sollt aber erkennen, dass der<br />
Menschensohn die Vollmacht hat, hier auf der Erde Sünden zu vergeben.<br />
Und er sagte zu dem Gelähmten: Ich sage dir: Steh auf, nimm deine Tragbahre, und geh nach<br />
Hause!<br />
Der Mann stand sofort auf, nahm seine Tragbahre und ging vor aller Augen weg.<br />
Da gerieten alle außer sich; sie priesen Gott und sagten: So etwas haben wir noch nie gesehen.<br />
89
Auch diese Heilungsgeschichte beginnt mit der Verkündigung des Wortes. Jesus lehrt. Es muss<br />
den Menschen unvorstellbar gut getan haben, Jesus zuzuhören (M. Limbeck). Seine Verkündigung<br />
und die Heilung des Gelähmten gehören zusammen. Heilung und Befreiung sind der Inhalt der<br />
Botschaft Jesu.<br />
• Haben für mich die Worte Jesu Bedeutung?<br />
• Empfinde ich sie als heilend und befreiend?<br />
• Tun sie mir gut?<br />
Menschen versperren dem Gelähmten und seinen Freunden den Weg zu Jesus. Was versperrt mir<br />
den Weg zu Jesus? Lebe ich zu sehr in dem ,man', in den Vorstellungen der modernen<br />
Gesellschaft, die von Jesus nicht viel hält. Oder sind es innere Hindernisse? Bequemlichkeit,<br />
negatives Gottesbild, Angst, Kleinglaube?<br />
Der Gelähmte kommt in den Blick. Er kann nicht gehen, er muss getragen werden. Irgendetwas<br />
lähmt ihn, macht ihn unfähig, auf seinen eigenen Beinen zu stehen und zu gehen.<br />
• Kann ich mich mit dem Gelähmten identifizieren?<br />
• Was lähmt mich am vollen Leben?<br />
• Was hindert mich, Schritte nach vorne zu machen?<br />
Für den nassen Alkoholiker ist es das zwanghafte Trinken, das ihn lähmt und unfähig macht zum<br />
wirklichen Leben. Der Alkohol, der am Anfang der Karriere Leben versprochen hat, wird am Ende<br />
zur Lähmung des Lebens. Habe ich das erfahren?<br />
Die Freunde des Gelähmten sind erfinderisch. Durch die Türe kommen sie nicht zu Jesus, so<br />
lassen sie den Gelähmten durch die Decke vor Jesus nieder. Allein wäre der Gelähmte nie zu<br />
Jesus, der Quelle der Heilung, gekommen. Er braucht Freunde. Schutzengel ohne Flügel. Warum<br />
tun sie das? Sie lieben ihren Freund, und haben ein tiefes Vertrauen zu Jesus, der Kranke heilen<br />
kann - Liebe und Vertrauen, wie Bruder und Schwester.<br />
• Kenne ich auch solche Schutzengel in meinem Leben?<br />
• Menschen, die mir in notvollen Situationen zur Seite standen?<br />
• Die mich nicht aufgegeben haben, sondern an meine Heilung geglaubt haben?<br />
Denke an sie, schicke ihnen einen Dankgruß und einen Segenswunsch.<br />
Heilung setzt vertrauenden Glauben voraus. Hier sind es die Freunde, die ein starkes Vertrauen zu<br />
Jesus haben, und dieses Vertrauen hat sie auch zu dem gewiss außergewöhnlichen Tun<br />
ermächtigt, das Dach abzudecken und den Kranken vor die Füße Jesu hinab zu lassen.<br />
• Wie ist das mit meinem Vertrauen zu Gott?<br />
• Glaube ich, dass es letztlich Gott war, der mich aus der Lähmung des Alkoholismus<br />
oder anderer Abhängigkeiten befreit hat?<br />
• Vertraue ich darauf, dass er mich auch in meiner Trockenheit heilend begleitet?<br />
Die Heilung geschieht in zwei <strong>Stufen</strong>: Heilung der Seele und Heilung des Leibes. Beides ist eng<br />
miteinander verbunden. Ein Mangel an Liebe, Ich-Besetzung, Angst, Wut, Neid, Hochmut, lähmen<br />
den Menschen (vgl. die Wurzelsünden im Enneagramm). Ich bedarf zuerst der heilenden<br />
Vergebung.<br />
90
• Welche Sünde, welche Schuld lähmt mich?<br />
• Was hindert mich am aufrechten Gang in Würde?<br />
• Lege Dich in der Gestalt des Gelähmten vor Jesus und bitte ihn um Vergebung.<br />
In den Schritten vier und fünf der <strong>AA</strong> spielen Schuld und Fehlhaltungen eine gewichtige Rolle:<br />
Inventur machen (Schritt vier) und vor Gott aussprechen (Schritt fünf). Was bedeutet es für Dich,<br />
wenn Jesus zu Dir sagt: Deine Sünden sind Dir vergeben? Du bist befreit von aller Schuld. Du<br />
brauchst sie nicht abzuarbeiten. Steh' auf, nimmt Deine Bahre und gehe heim. Kein großes<br />
Heilungsritual. Allein das mächtige Wort Jesu heilt. Steh' auf und geh'. Der Gelähmte, der jahrelang<br />
unfähig war zu gehen, steht auf und geht umher, die Bahre, das Zeichen seiner Krankheit, auf den<br />
Schultern tragend. Bist auch Du schon aufgestanden unter lähmenden Krankheiten? Steh' auf und<br />
geh'! Jesus sagt Dir ganz persönlich dieses Wort. Nimm es auf, und nun lass es in Dir klingen.<br />
Mache heute einen Spaziergang, fühle die neue Kraft in Dir. Steh' auf und geh'!<br />
Die Leute preisen Gott für die Heilung. Deine Familie, Deine Freunde und Du selbst dürfen Gott<br />
jetzt preisen und danken, dass er Dich befreit hat aus der Lähmung des Alkoholismus.<br />
Die Heilung der gekrümmten Frau am Sabbat - Einhergehen mit erhobenem Haupt -<br />
Im Evangelium nach Lukas 13,10-13 - die Heilung einer Frau am Sabbat - heißt es:<br />
Am Sabbat lehrte Jesus in einer Synagoge.<br />
Dort saß eine Frau, die seit achtzehn Jahren krank war, weil sie von einem Dämon geplagt wurde;<br />
ihr Rücken war verkrümmt, und sie konnte nicht mehr aufrecht gehen. Als Jesus sie sah, rief er sie<br />
zu sich und sagte: Frau, du bist von deinem Leiden erlöst.<br />
Und er legte ihr die Hände auf. Im gleichen Augenblick richtete sie sich auf und pries Gott.<br />
Jesus lehrt in der Synagoge am Sabbat. Er ist Jude und nimmt selbstverständlich am<br />
Sabbatgottesdienst in der Synagoge teil. Als Erwachsener hat er auch das Recht, im Gottesdienst<br />
zu lehren.<br />
Eine gekrümmte Frau sitzt in der Synagoge. Seit 18 Jahren ist ihr Rücken verkrümmt. Sie kann<br />
nicht mehr aufrecht gehen. Ein krankmachender Geist fesselt sie. Das Gesichtsfeld der Frau ist<br />
eingeengt. Sie sieht nur ihre Füße. Sie ist auf sich selbst zurückgeworfen und kommuniziert mit<br />
anderen nur unter Schwierigkeiten. Anderen Menschen gegenüber fühlt sie sich unterlegen. Sie<br />
kann nur mit großer Anstrengung zu anderen emporschauen. So nehmen sie die anderen oft gar<br />
nicht wahr und übersehen sie. Lukas sagt, dass sie einen krankmachenden Geist hat, der sie<br />
niederdrückt, der ihren aufrechten Gang verhindert. Was drückt diese Frau, was drückt mich<br />
nieder?<br />
Auch ich habe oft eine Verkrümmung. Auch mich drückt eine ganze Menge nieder. Was lässt mich<br />
nicht aufrecht gehen? Es kann ein geringes Selbstwertgefühl sein. Ich halte nicht viel von mir, ich<br />
halte mich für unannehmbar. Viele Alkoholiker haben ein Problem mit dem Selbstwertgefühl.<br />
Obwohl sie gute, oft sehr talentierte Menschen sind, zweifeln sie an ihrem Wert. Sie machen sich<br />
selbst klein oder verachten sich gar. Für andere kann die Verkrümmung auch eine dauernde<br />
Selbstüberforderung sein. Sie treiben sich dauernd an, um die Zuwendung anderer oder des<br />
eigenen<br />
91
Über-Ichs zu erlangen. Dieser Stock des Antreibers verkrümmt sie, macht sie unfroh und verbittert.<br />
Die Last auf ihren Schultern können auch Schuldgefühle sein, Sorgen, Angst, ungelöste Probleme.<br />
Nimm einmal die Haltung der gekrümmten Frau ein und spüre nach, wie sich das anfühlt. Kenne<br />
ich das auch bei mir? Die Heilung dieser Frau geschieht nun in vier Schritten:<br />
1 Zunächst einmal sieht Jesus sie an in ihrer Lebensnot und ihrer Bedürftigkeit. Andere übersehen<br />
diese Frau, weil sie so unansehnlich ist. Jesu Blick gilt aber vor allem den Armen, den<br />
Beschädigten, den Verletzten und Kranken. Jesus sieht auch mich, den Alkoholiker, den vom<br />
Leben Gebeutelten, den sich selbst Kleinmachenden und Verachtenden mit einem liebevollen Blick<br />
an. Er schaut auf mich ganz persönlich.<br />
2. Jesus ruft die Frau zu sich. Sie saß am Rande der Synagoge. Sie war wegen ihrer Krankheit an<br />
den Rand der Gesellschaft gedrängt und ausgegrenzt worden. Jesus ruft sie aus der Isolation,<br />
ihrer Verbannung heraus, ruft sie zu sich in die Mitte. Von allen soll sie gesehen werden, und<br />
niemand kann sie mehr übersehen. Auch der Alkoholiker lebt in einem Exil. Er hat sich aus der<br />
Gesellschaft ausgeschlossen und sich in sich zurück-gezogen. Weil er sich nicht selbst annehmen<br />
kann, glaubt er, dass ihn auch die anderen nicht annehmen. So lebt er immer mehr eine<br />
Randexistenz. Auch Dich ruft Jesus zu sich. Er will Dich aus Deiner Einsamkeit herausrufen.<br />
3. Die Frau steht nun in der Mitte der Synagoge vor Jesus. Sie ist zwar immer noch gebückt, aber<br />
sie hat sich aus ihrem Versteck hervorgewagt. Nun spricht Jesus sie mit einem Satz an: „Frau, du<br />
bist von Deinen Leiden erlöst.” Jesus spricht das Gesunde in ihr an. Er sagt ihr zu, dass in ihr Kraft<br />
und Würde sind. Du bist frei von Deinem zerstörerischen Geist; ein guter Geist ist in Dir. Jesu Wort<br />
und seine Zuwendung heilen die Frau.<br />
. Jesus legt ihr die Hände auf. Er berührt sie. Das Wort wird mit den Sinnen spürbar und erfahrbar.<br />
Durch die Berührung zeigt ihr Jesus, dass sie wertvoll ist und dass das Totgeglaubte zu fließen<br />
beginnt. Du bist gesund und wertvoll. In Dir ist eine unantastbare Würde.<br />
• Spüre ich seine Berührung?<br />
• Worauf muss er bei mir seine Hände legen und heilen?<br />
• Spüre ich meine innere Kraft schon fließen?<br />
Die Frau richtet sich auf und preist Gott. Sie glaubt wieder an das Gute und an die Würde in ihr.<br />
Sie kreist nicht mehr um sich, bückt sich nicht mehr auf den Boden, auf die Füße der Menschen,<br />
sondern sie geht aufrecht umher und blickt den Menschen und dem Leben offen in das Angesicht.<br />
Glaubend weiß sie, dass Gott sie geheilt hat, und ihm gilt ihr Dank und Lobpreis.<br />
Spüre nach, wie es sich anfühlt, aus der gekrümmten Haltung in die aufrechte Haltung zu kommen.<br />
Gehe bewusst in dieser aufrechten Haltung durch das Zimmer. Richte Dich immer wieder auf,<br />
wenn Du in Deinen Schultern verkrümmt bist. Spürst Du Deine Kraft und Würde? Du bist in den<br />
Augen Gottes wertvoll und teuer. Du brauchst Dich nicht zu verkriechen und zu verstecken. Preise<br />
Gott für Deine Würde und Kraft.<br />
Geheilte Augen<br />
Im Evangelium nach <strong>Markus</strong> 8,22-26 heißt es:<br />
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Sie kamen nach Betsaida. Da brachte man einen Blinden zu Jesus und bat ihn, er möge ihn<br />
berühren. Er nahm den Blinden bei der Hand, führte ihn vor das Dorf hinaus, bestrich seine Augen<br />
mit Speichel, legte ihm die Hände auf und fragte ihn: Siehst du etwas?<br />
Der Mann blickte auf und sagte: Ich sehe Menschen; denn ich sehe etwas, das wie Bäume<br />
aussieht und umhergeht.<br />
Da legte er ihm nochmals die Hände auf die Augen; nun sah der Mann deutlich.<br />
Er war geheilt und konnte alles ganz genau sehen. Jesus schickte ihn nach Hause und sagte: Geh<br />
aber nicht in das Dorf hinein!<br />
Liebe Tönissteiner Familie,<br />
ich war berührt als gestern unser Freund über seine Augenkrankheit sprach. Auch über seine<br />
Angst und seine Heilung. In der Lesung des Evangeliums haben wir gerade von einer<br />
Blindenheilung gehört. Geschichten deuten mein Leben; öffnen mir die Augen, mich und meine<br />
Umgebung besser zu verstehen und aus diesem neuen Verstehen heraus neu und anders zu<br />
handeln. Wir haben eben eine Geschichte von Jesus gehört, eine Blindenheilung. Auch mein<br />
Leben kommt in dieser Geschichte vor. Was will sie mir sagen?<br />
Da brachte man einen Blinden zu Jesus und bat ihn, er möge ihn berühren.<br />
Können wir uns hineinfühlen in diesen Blinden? Ein Blinder muss ohne Licht und ohne Farbe<br />
leben, ohne ein sichtbares Ziel. Ihm fehlt die Orientierung. Er kann nicht prüfen, ob das, was er<br />
vermutet, auch wirklich stimmt. Irgendwie ist er eingeschlossen. Ich habe keine Orientierung. Ich<br />
sehe den Weg nicht mehr. Das ist eine Erfahrung, die nicht nur dieser Blinde macht. Es ist unsere<br />
Erfahrung, die Erfahrung von Blindheit und Traurigkeit. Mir fehlt die Orientierung, ich kenne den<br />
Weg nicht, oder ich weigere mich, den Weg zu sehen, der mich zu einem geglückten und guten<br />
Leben führt.<br />
Wenn Du in Deine nasse Vergangenheit zurückschaust, wird diese Blindheit deutlich. Richtungslos<br />
und orientierungslos warst Du getrieben von der Sucht nach Stoff. Dein Leben war ohne Licht und<br />
Farben und Liebe. Einsam, eingesponnen in Dich selbst, unversöhnt verirrt in einem Labyrinth, aus<br />
dem es keinen Ausweg zu geben schien. Und doch war da tief drinnen verschüttet unter Schutt<br />
und Geröll eine Quelle der Sehnsucht nach Leben, nach geglücktem Leben, nach dem sehen können.<br />
Diese Sehnsucht brachte Dich zur Therapie, brachte Dich nach Bad Tönisstein. Du kamst<br />
nicht allein, andere halfen Dir, den Weg nach Tönisstein zu finden.<br />
Die Geschichte geht weiter:<br />
Jesus nahm den Blinden bei der Hand, bestrich seine Augen mit Speichel, legte ihm die Hände auf<br />
und fragte ihn: Siehst du etwas? Der Mann blickte auf und sagte, ich sehe Menschen.<br />
Jesus nimmt den Blinden bei der Hand. Er schließt Kontakt, er bietet sich als Begleiter an und<br />
berührt mit seinen Händen die kranken Augen. In dieser liebevollen Berührung geschieht die<br />
Heilung, die Therapie, Deine Therapie. Ich sehe Menschen, so sagt der Blinde. Er kommt heraus<br />
aus seiner Isolation. Er ist befreit zu den Menschen, sie zu sehen und zu lieben.<br />
Auch dies ist eine Erfahrung: Du bist heute mit sehenden hellen Augen hier. Etwas ist geschehen<br />
in Deinem Leben. Du bist berührt worden und in der Berührung sehend geworden: Ich sehe<br />
Menschen, ich sehe Euch, die Ihr jetzt mit hier in der Halle seid, ich bin darüber voller Freude. Ich<br />
93
sehe meine Familie neu, die Menschen an meinem Arbeitsplatz, ich sehe mich und meinen Weg<br />
neu, ich habe die Orientierung zum geglückten Leben gefunden.<br />
Da legte Jesus ihm nochmals die Hände auf die Augen! Nun sah der Mann deutlich. Er war geheilt<br />
und konnte alles ganz genau sehen.<br />
Das ist auch eine wichtige Erfahrung. Heilung ist ein Prozess, nichts Einmaliges. Die Heilung geht<br />
immer weiter, vom undeutlichen Sehen zum alles genau sehen, ein langer Prozess. Du weißt es!<br />
Tönisstein war der Beginn, ein entscheidender, wichtiger Beginn; aber zur zufriedenen Nüchternheit<br />
kommst Du erst nach einem langen Weg, einem mühseligen Weg. Wir haben es oft gesagt<br />
in der Therapie. In Tönisstein hast Du das Krabbeln gelernt; laufen und springen musst Du<br />
draußen in einem langen Lern- und Heilungsprozess lernen. Du kennst die Richtung, mach Dich<br />
auf den Weg! Dein Leben hat jetzt eine Zukunft. Du weißt mit Deinen sehenden Augen, wohin Du<br />
gehst. In Deinen sehenden Augen ist auch die Kraft, diesen Weg zu gehen.<br />
Aber nicht nur Deine Zukunft und Deine Gegenwart siehst Du klarer, auch Deine Vergangenheit.<br />
Geheilte Augen sehen die Vergangenheit neu. Du kannst Dich versöhnen mit Deinem Leben, so<br />
wie es gelaufen ist. Geheilte Augen sind fähig zur Versöhnung. Versöhnung mit dem Schönen,<br />
aber auch mit dem Dunklen, dem Schatten, den Grenzen; Versöhnung mit Schuld, Misserfolgen,<br />
Krankheit; Versöhnung auch mit Deiner Lebensgeschichte, besonders mit Deinen Eltern (Ich will<br />
sie nicht mehr anders gehabt haben!); auch Versöhnung mit den Menschen, die mir wehgetan<br />
haben. Mit meinen geheilten Augen kann ich Gott für mein ganzes Leben preisen, genau so, wie<br />
es gelaufen ist.<br />
Jesus berührte ihn, er legte ihm die Hände auf und er konnte alles genau sehen.<br />
Danke HERR, dass Du mich berührt hast, dass Deine Hände meine Blindheit geheilt haben. Führe<br />
Du mich und meine Freunde und meine Familie in ein geglücktes und gutes Leben. Amen.<br />
Predigt beim Jahrestreffen in Bad Tönisstein, 1990/1991<br />
Befreiung aus der Entfremdung<br />
Im Evangelium nach <strong>Markus</strong> 5,1-20 - die Heilung des Besessenen von Gerasa - heißt es:<br />
Sie kamen an das andere Ufer des Sees, in das Gebiet von Gerasa.<br />
Als er aus dem Boot stieg, lief ihm ein Mann entgegen, der von einem unreinen Geist besessen<br />
war. Er kam von den Grabhöhlen, in denen er lebte. Man konnte ihn nicht bändigen, nicht einmal<br />
mit Fesseln.<br />
Schon oft hatte man ihn an Händen und Füßen gefesselt, aber er hatte die Ketten gesprengt und<br />
die Fesseln zerrissen; niemand konnte ihn bezwingen.<br />
Bei Tag und Nacht schrie er unaufhörlich in den Grabhöhlen und auf den Bergen und schlug sich<br />
mit Steinen.<br />
Als er Jesus von weitem sah, lief er zu ihm hin, warf sich vor ihm nieder und schrie laut: Was habe<br />
ich mit dir zu tun, Jesus, Sohn des höchsten Gottes? Ich beschwöre dich bei Gott, quäle mich<br />
nicht!<br />
94
Jesus hatte nämlich zu ihm gesagt: Verlass diesen Mann, du unreiner Geist!<br />
Jesus fragte ihn: Wie heißt du? Er antwortete: Mein Name ist Legion; denn wir sind viele.<br />
Und er flehte Jesus an, sie nicht aus dieser Gegend zu verbannen.<br />
Nun weidete dort an einem Berghang gerade eine große Schweineherde.<br />
Da baten ihn die Dämonen: Lass uns doch in die Schweine hineinfahren!<br />
Jesus erlaubte es ihnen. Darauf verließen die unreinen Geister den Menschen und fuhren in die<br />
Schweine, und die Herde stürzte sich den Abhang hinab in den See. Es waren etwa zweitausend<br />
Tiere, und alle ertranken.<br />
Die Hirten flohen und erzählten allen in der Stadt und in den Dörfern. Darauf eilten die Leute<br />
herbei, um zu sehen, was geschehen war.<br />
Sie kamen zu Jesus und sahen bei ihm den Mann, der von der Legion Dämonen besessen<br />
gewesen war. Er saß ordentlich<br />
182gekleidet da und war wieder bei Verstand. Da fürchteten sie sich.<br />
Die, die alles gesehen hatten, berichteten ihnen, was mit dem Besessenen und mit den Schweinen<br />
geschehen war. Darauf baten die Leute Jesus, ihr Gebiet zu verlassen. Als er ins Boot stieg, bat<br />
ihn der Mann, der zuvor von den Dämonen besessen war, bei ihm bleiben zu dürfen.<br />
Aber Jesus erlaubte es ihm nicht, sondern sagte: Geh nach Hause, und berichte deiner Familie<br />
alles, was der Herr für dich getan und wie er Erbarmen mit dir gehabt hat.<br />
Da ging der Mann weg und verkündete in der ganzen Dekapolis, was Jesus für ihn getan hatte,<br />
und alle staunten.<br />
In einem Angehörigenseminar sagte mir eine Angehörige vor nicht allzu langer Zeit: „Wenn mein<br />
Mann getrunken hatte, war er nicht mehr er selbst. Ich kannte ihn nicht mehr. Er war mir fremd.”<br />
Und ein Patient sagte mir: „Ich kannte mich selbst nicht mehr, wenn ich getrunken habe.” Eine<br />
schlimme Erfahrung, nicht mehr ich selbst zu sein, mich nicht mehr zu kennen, mir und anderen<br />
entfremdet zu sein, in einer fremden Hand zu sein. Um diese Entfremdung und dieses ,in einer<br />
fremden Hand sein' geht es auch in dem Bericht aus dem <strong>Markus</strong>-Evangelium von der Heilung des<br />
Besessenen.<br />
Zunächst können wir mit einem solchen Text wenig anfangen. Auch wenn im Zuge der ,New Age<br />
Bewegung' Dämonen und okkulte Phänomene wieder ,in' sind, ja man sich mit diesen zu<br />
arrangieren versucht. Ich möchte Besessenheit hier ganz anders verstehen, sehr konkret, gar nicht<br />
okkult: Dämonisch ist all das, was einen Menschen hindert, wirklich Mensch zu sein, wirklich er<br />
selbst zu sein, um über sein Leben in Freiheit zu bestimmen. Der Besessene kann nicht über sich<br />
selbst bestimmen. Andere Kräfte und Mächte bestimmen über ihn. Was sind das für Mächte und<br />
Kräfte, die den Menschen hindern, er selbst zu sein? Ich denke konkret zunächst einmal an die<br />
politische Situation in anderen Ländern, wo Wenige über Viele herrschen und keine Freiheit, nur<br />
erzwungene Ruhe herrscht. Da ist auch ein Teufelskreis, der die Armen immer ärmer und die<br />
Reichen immer reicher werden lässt. Ich denke aber auch an manches Klima in Familien, das<br />
Kindern keine oder wenig Chancen gibt, zu sich selbst zu kommen. Wenn wir hier als Tönissteiner<br />
Familie über das nachdenken, was uns, die Abhängigen, aber genauso die Angehörigen, gehindert<br />
95
hat, Mensch zu sein - wir selbst zu sein -, dann ist das die Abhängigkeit von Alkohol und<br />
Medikamenten. Im Rückblick auf diese Zeit kannst Du nur sagen: Ich war in fremder Hand. Meine<br />
Gefühle, mein Verhalten, meine Verhaltensweisen widersprachen völlig dem, was ich eigentlich<br />
wollte und bin. Ich wollte meinen Kindern ein liebevoller Vater sein oder eine liebevolle Mutter, ein<br />
guter Ehemann, eine gute Ehefrau; aber das Gegenteil kam heraus. Das gleiche gilt für die<br />
Angehörigen. Auch Du warst nicht mehr frei, Deine Gefühle, Dein Denken und Dein Verhalten<br />
waren gefangen, besessen von dem Gedanken, wie kann ich ihm helfen, ihn befreien aus dem<br />
Gefängnis des Alkoholismus. In dem Maße, wie Du den Abhängigen befreien wolltest, wurdest Du<br />
selbst immer mehr zum Gefangenen der Abhängigkeit, immer weniger Du selbst.<br />
Und dann ist bei Dir irgendwann etwas Wichtiges geschehen. Viele können sich an diesen Tag<br />
noch genau erinnern, viele von Euch feiern ihn als ihren zweiten Geburtstag, den Tag, an dem Du<br />
mit dem Trinken aufgehört hast. Wahrscheinlich voller Zittern und Angst, nicht wissend, wie alles<br />
weiter gehen soll, aber Du warst frei. Frei von der scheinbar höheren Macht des Alkohols. Du warst<br />
wieder fähig, Du selbst zu sein. Dein Vertrauen zu Dir, zu anderen Menschen, zu Gott ging<br />
langsam auf wie eine Blume im Frühling. Es war ein kleines Wunder oder besser ein großes<br />
Wunder: Das Wunder Deiner Befreiung.<br />
Jetzt kommen wir zurück zu der Heilung des Besessenen durch Jesus. Seine Liebe und Macht<br />
haben ihn befreit aus dem Zustand der Entfremdung und Würdelosigkeit. Haben ihm sein<br />
Menschsein zurückgegeben. Wie war das bei Dir? Du denkst, ich habe Jesus nicht gesehen und<br />
nicht gehört. Im Gegenteil, ich habe in meiner Not zu ihm gerufen, und er hat nicht auf meine<br />
Stimme gehört. Was Du gesehen hast bei Deiner Befreiung, waren Menschen, Mitglieder einer<br />
Selbsthilfegruppe, Therapeuten, die annehmende Atmosphäre der <strong>Gruppe</strong> in der Therapie. Es<br />
waren aber Jesu Hände, Jesu Mund in Menschengestalt. Durch sie hat er das Wunder der<br />
Befreiung an Dir vollzogen. Das macht uns zutiefst froh und dankbar.<br />
Noch etwas möchte ich Euch mitgeben: Wir haben bisher von uns, die wir trocken sind und die das<br />
Leben in einer neuen Freiheit erleben, gesprochen. Wir sollten aber nicht die vergessen, die noch<br />
in der Entfremdung der Sucht stecken, oder nach einer Therapie wieder in die Unfreiheit zurückgefallen<br />
sind. Die Tage in Koblenz sind Tage des frohen Wiedersehens, aber auch Tage der<br />
bitteren Erkenntnis, dass so mancher oder manche, die mit uns Therapie gemacht haben und<br />
voller Hoffnung waren, wieder trinkt. Unsere Aufgabe ist es gewiss nicht zu verurteilen, das steht<br />
uns nicht zu. Aber wir sind einfach traurig und wollen das hier auch vor Gott aussprechen, dass<br />
dies so ist. Gott gibt niemanden auf, so wollen auch wir niemanden aufgeben. Auch sie gehören zu<br />
uns, und unsere Hoffnung und Liebe gilt ihnen. Jesus hat seine Jünger ausgesandt zu heilen und<br />
zu befreien. So wollen wir auch die Botschaft der Befreiung weitergeben an jene, die noch in der<br />
Unfreiheit sind. Nicht aufdringlich, aber bereit zur Hilfe, wenn sie notwendig ist. Die Freude über<br />
unser eigenes neues Leben macht uns dazu fähig.<br />
Predigt zum Jahrestreffen der Tönissteiner in Koblenz, 1994<br />
V. Wie alles begann<br />
Die Fachklinik Bad Tönisstein und das ,Minnesota-Modell'<br />
Zur Genesis des Tönissteiner Therapiekonzeptes - Die Anfänge von Bad Tönisstein -<br />
96
Am 27. März 1974 wurde in dem ehemaligen Hotel Kurfürstenhof des Heilbades Tönisstein eine<br />
Fachklinik für Alkoholismus und Medikamentenabhängigkeit eröffnet. Das Konzept dieser Klinik<br />
war für deutsche Verhältnisse ungewohnt und neu. Die Gründer wollten bewusst neben den<br />
bestehenden Therapiekonzepten, die zu Beginn der 1970er Jahre in Deutschland üblich waren, ein<br />
neues Konzept entwickeln26. Dieses Konzept ist aus einer sehr persönlichen Betroffenheit heraus<br />
gewachsen. Einige Mitglieder der Anonymen Alkoholiker aus dem Raum Düsseldorf hatten in<br />
ihrem eigenen Leben die heilende Wirkung des Programms der <strong>AA</strong> erfahren und begannen am<br />
Anfang der 1970er Jahre mit Überlegungen, eine Klinik in diesem Sinne zu eröffnen27. Ein Artikel<br />
über das amerikanische Therapiezentrum Hazelden, Minnesota, in der Zeitschrift „Psychologie<br />
heute” gab ihren Überlegungen konkrete Gestalt. Das, was ihnen vorschwebte, wurde dort bereits<br />
20 Jahre lang praktiziert. Gleichzeitig wurde ihnen klar, dass die <strong>AA</strong>-Erfahrung, verbunden mit viel<br />
gutem Willen, allein nicht zu einer Klinikgründung ausreichte. Neben den notwendigen Geldmitteln<br />
war zunächst einmal ein kompetenter Fachmann notwendig, der Erfahrungen mit<br />
psychotherapeutischer Behandlung von Alkoholikern hatte und mit dem Konzept der <strong>AA</strong> aufgrund<br />
eigener Erfahrung vertraut war. In Dr. Inge Lange-Treschhaus, selbst durch die Krankheit der<br />
Abhängigkeit gegangen und tief in dem Programm der <strong>AA</strong> verwurzelt, fanden sie eine solche<br />
Persönlichkeit. Aufgrund ihrer Arbeit mit Alkoholikern und Medikamentenabhängigen auf<br />
ambulanter und stationärer Basis in einem psychiatrischen Krankenhaus und einer<br />
psychosomatischen Klinik konnte sie auch den professionellen psychotherapeutischen Ansatz<br />
einbringen. So wird in der Persönlichkeit der ersten Chefärztin das ursprüngliche Grundkonzept<br />
der Therapie von Bad Tönisstein deutlich: Psychotherapie, verbunden mit den Schritten der <strong>AA</strong> -<br />
eine Verbindung, die in den USA heute noch zu den weit verbreiteten Konzepten gehört. Nach<br />
Ansicht einer Reihe von Autoren ist diese Form der Behandlung in Verbindung mit den Zwölf<br />
Schritten der <strong>AA</strong> mit professioneller Beratung und Therapie eine sehr erfolgreiche28.<br />
Bei der Eröffnung der Fachklinik Bad Tönisstein legte Frau Dr. Lange-Treschhaus in einem<br />
Grundsatzreferat ihr Verständnis von Alkoholismus und Therapie dar:29<br />
1. Alkoholismus ist eine diagnostizierbare chronische Krankheit.<br />
2. Die letzten Ursachen für das zwanghafte Trinken sind zum gegenwärtigen Zeitpunkt unbekannt<br />
und für die Therapie auch nicht entscheidend.<br />
3. Dem Alkoholiker muss das Stigma der moralischen Verantwortungslosigkeit genommen werden.<br />
4. Für viele Alkoholkranke ist eine Kurzzeit-Intensivtherapie mit langfristiger Nachbehandlung<br />
erfolgversprechend.<br />
5. Suchtkrankentherapeuten (Counselors), die selbst durch die Krankheit des Alkoholismus<br />
gegangen sind, können für die Patienten als Modell dienen und sind besonders hilfreich in der<br />
Therapie.<br />
6. Die Schritte der Anonymen Alkoholiker, besonders die Schritte eins bis fünf, können, verbunden<br />
mit Psychotherapie, ein wirksames Instrument der Genesung sein.<br />
7. Die <strong>Gruppe</strong> erscheint als das wichtigste Instrument der Therapie.<br />
Diese Ideen hatte Frau Dr. Lange-Treschhaus zu einem guten Teil während ihres<br />
Studienaufenthalts in Hazelden, Minnesota, kennen gelernt. Da diese Erfahrungen die<br />
97
therapeutische Vorgehensweise der Fachklinik geprägt haben, scheint es sinnvoll, dieses Konzept<br />
näher zu beleuchten.<br />
Das Minnesota-Modell<br />
1. Es gibt eine Krankheit Alkoholismus, die aufgrund der negativen Folgen des Trinkens, die<br />
unabhängig von Schichtzugehörigkeit, Geschlecht und Charakterstruktur fast identisch sind,<br />
diagnostiziert wird.<br />
2. Grundlage der Krankheitshypothese waren die Beobachtungen des Kontrollverlustes und des<br />
fortgesetzten exzessiven Trinkens trotz negativer Folgen.<br />
3. Alkoholismus ist keine selbstverschuldete Krankheit. Der Alkoholiker hat sich nicht frei<br />
entschlossen, Alkoholiker zu werden, vielmehr war es eine große Zahl von verschiedenen<br />
Faktoren, die ihn Alkoholiker werden ließen. Trotz dieser Sicht wird im ,Minnesota-Modell' ein<br />
hoher Wert auf die persönliche Verantwortung beim Genesungsprozess gelegt.<br />
4. Alkoholismus ist eine Krankheit, die in mehreren Phasen verläuft und die betroffene Person<br />
physisch, psychisch, sozial und spirituell erkranken lässt.<br />
5. Alkoholismus ist nicht einfach ein Symptom einer zugrunde liegenden Störung, sondern eine<br />
eigenständige Krankheit, die direkt behandelt werden muss. Dieser Ansatz war für die 1950er<br />
Jahre revolutionär.<br />
6. Der Terminus ,chemische Abhängigkeit' (chemical dependency) bezeichnet die krankhafte<br />
Abhängigkeit von einer stimmungsverändernden Substanz. Seit den 1950er Jahren wurde das<br />
Erscheinungsbild der mehrfachen Abhängigkeit (Polytoxikomanie) häufiger. Besonders bei Frauen<br />
bestand nicht selten eine Abhängigkeit von Alkohol und Medikamenten.<br />
Hinsichtlich der Therapie entwickelte sich das Minnesota-Modell seit 1951 schrittweise. Der<br />
Brennpunkt war die Annahme, dass es sich beim Alkoholismus um eine primäre Erkrankung<br />
handelt, die direkt in einem systematischen und verschiedene Phasen durchlaufenden<br />
Behandlungsprozess angegangen werden muss. Wichtige Prinzipien der Therapie sind:<br />
1. ,Caring statt Curing'<br />
Da eine Heilung vom Alkoholismus nicht möglich erschien, war es Ziel der Therapie, dem<br />
Alkoholiker zu helfen, mit seiner chronischen Krankheit zu leben und umzugehen, wozu Abstinenz<br />
Voraussetzung ist.<br />
2. Die Philosophie der <strong>AA</strong><br />
Diese hatte einen sehr starken Einfluss auf die Entwicklung des Minnesota-Modells. Das<br />
Programm der Zwölf Schritte schien zu Beginn der 1950er Jahre ein wirklich neuer Zugang zur<br />
Therapie von Alkoholikern zu sein.<br />
3. Multidiziplinäres Mitarbeiterteam<br />
98
Neben den traditionellen Mitarbeitern in der Suchtkrankenarbeit wie Ärzten, Schwestern,<br />
Sozialarbeitern, Psychologen und Beschäftigungstherapeuten, kamen Berater (so genannte<br />
Counselors) dazu. Diese waren keine Fachleute im Sinne akademischer Ausbildung, sondern<br />
erhielten ihre Kompetenz aus den Erfahrungen im positiven Umgang mit der eigenen bewältigten<br />
Alkoholabhängigkeit und der theoretischen sowie praktischen Kenntnisse des <strong>AA</strong>-Programms. Sie<br />
arbeiteten gleichberechtigt mit den anderen professionellen Mitgliedern der Klinik.<br />
Das Konzept von Hazelden<br />
Im Jahre 1972 kam Frau Dr. Lange-Treschhaus nach Hazelden, um das dortige Therapiekonzept<br />
kennen zu lernen.<br />
Alkoholismus ist eine primäre, chronische, progressive, nicht selbstverschuldete Krankheit, die<br />
aufgrund bestimmter Verhaltensveränderungen diagnostiziert werden kann. Sie ist daher nicht nur<br />
Symptom einer zugrunde liegenden psychischen Störung. Auch den multidisziplinären Ansatz<br />
hatte Hazelden übernommen. Neben Ärzten, Krankenschwestern, Psychologen, Sozialarbeitern<br />
und Geistlichen spielten die Berater eine zentrale Rolle in der Therapie. Ihre eigene<br />
Krankheitserfahrung, gepaart mit der Genesung durch das <strong>AA</strong>-Programm und einer zwölf Monate<br />
dauernden Ausbildung, machten sie zu den zentralen und koordinierenden Mitarbeitern im<br />
Therapiegeschehen. Die Psychologen, die einmal in der Woche in jede Unit kamen, waren vor<br />
allem für die Auswertung und Interpretation der Diagnostika zuständig. Die Arbeit der Ärzte und<br />
Krankenschwestern beschränkte sich im Wesentlichen auf den Bereich der Aufnahmestation. Hier<br />
wurden Entzug und Eingangsuntersuchung durchgeführt. Aufgabe des Unit-Seelsorgers war es,<br />
den vierten und fünften Schritt zu hören und seelsorgerische Gespräche zu führen, die meist um<br />
Themen wie Schuld, Vergebung, Vertrauen und Selbstannahme gehen. Die Aufgabe der<br />
Sozialarbeiter bestand vor allem in der Nachsorge. Schon während der Therapie nehmen sie an<br />
der wöchentlichen Teamsitzung der jeweiligen Unit teil und sind so über den Fortschritt des<br />
jeweiligen Patienten unterrichtet. Die wöchentliche Sitzung der Unit-Mitarbeiter, bei der alle 20<br />
Patienten kurz auf ihren Fortschritt in der Therapie hin besprochen werden, sorgte zusammen mit<br />
der wöchentlichen Therapieplan-Sitzung für den institutionellen Rahmen des multidisziplinären<br />
Teams.<br />
Die Synthese <strong>AA</strong>-Programm und Psychotherapie war nicht einfach und brauchte seine Zeit. Die<br />
Grundlage des <strong>AA</strong>-Programms ist die Zugabe der Machtlosigkeit dem Alkohol gegenüber und die<br />
Bereitschaft zur Veränderung. Die Veränderung geschieht vor allem im offenen und ehrlichen<br />
Gespräch von Patienten untereinander und mit den Unit-Mitarbeitern.<br />
Das <strong>AA</strong>-Programm ist ein zutiefst spirituelles Programm. Es geht hier um Ehrlichkeit statt<br />
Verleugnung und Verharmlosung, Vertrauen anstelle von Misstrauen und Isolation und Liebe statt<br />
Egozentrik und Egoismus.<br />
Therapieelemente<br />
<strong>Gruppe</strong>ntherapie in den verschiedensten Formen spielt in Hazelden eine entscheidende Rolle. In<br />
der Rückmeldungsgruppe gibt die gesamte Unit einem <strong>Gruppe</strong>nmitglied Rückmeldung, die nach<br />
einem bestimmten Schema abläuft und etwa ab dem neunten Tag der Unit-Zugehörigkeit erfolgt.<br />
99
Die eigentliche Therapiegruppe (split-group) dient der Bearbeitung der Probleme der einzelnen<br />
Mitglieder und wird vom Berater geleitet, der sich aber mehr als Moderator, denn als Leiter<br />
versteht. Die Unit wird hierfür in zwei <strong>Gruppe</strong>n aufgeteilt.<br />
Indikative <strong>Gruppe</strong>n dienen der Bearbeitung bestimmter Problemfelder (z.B. Selbstsicherheit,<br />
Trauer, Selbstwertgefühl) und werden vom Berater oder Unit-Seelsorger geleitet.<br />
Informelle <strong>Gruppe</strong>ngespräche, die in der gemütlichen Essecke oder im Aufenthaltsraum oft bis<br />
spät in die Nacht stattfinden, haben häufig eine sehr tiefgehende Wirkung.<br />
Neben der <strong>Gruppe</strong>ntherapie steht in Hazelden als Ergänzung die Einzeltherapie. Jeder Patient hat<br />
seinen Berater, der gemeinsam mit ihm aufgrund des Erstinterviews, der Ergebnisse des MMPI<br />
(Minnesota Multiphasic Personality Inventory) und anderer Daten einen individuellen, konkreten<br />
Therapie-plan erarbeitet und den Patienten anhand dieses Planes durch die Therapie begleitet.<br />
Etwa alle drei bis vier Tage hat jeder Patient mit seinem Berater eine Sitzung, wobei Fortschritt,<br />
Schwierigkeiten und neue Veränderungsziele besprochen bzw. festgelegt werden.<br />
Die Berater, Psychologen und Geistlichen halten täglich insgesamt drei Vorträge von 20-30<br />
Minuten. Diese Vorträge über Alkoholismus und dessen Therapie sollen die Patienten anregen,<br />
sich verstärkt auch intellektuell mit ihrer Krankheit auseinander zu setzen. Die Vorträge werden<br />
häufig mit starkem emotionalen Engagement vorgetragen. Im Anschluss an den Vortrag setzen<br />
sich die Patienten in ihrer Unit zusammen und diskutieren etwa 15 Minuten den Vortrag.<br />
Die Schritte eins bis fünf der Anonymen Alkoholiker bestimmen die verschiedenen Phasen der<br />
Therapie. Im vierten und fünften Schritt macht jeder Patient in der letzten Woche seiner Therapie<br />
eine Inventur seiner positiven und negativen Seiten und seiner Schuld. In einem Gespräch mit<br />
seinem Unit-Seelsorger bringt er diese Erkenntnisse zur Sprache.<br />
Von jedem Patienten wird erwartet, dass er täglich einen so genannten Tagesbericht mit dem<br />
wichtigsten Ereignis des Tages schreibt und den Beratern übergibt. Diese Berichte sollen dem<br />
Patienten helfen, mit dem eigenen Erleben in Kontakt zu kommen und dem Berater zusätzliche<br />
Einsicht in die Entwicklung des Patienten vermitteln.<br />
Jeder Patient bearbeitet zu Beginn und zum Ende der Therapie den MMPI. Die Ergebnisse sind<br />
häufig sehr hilfreich für den individuellen Therapieplan. Daneben wird für alle Patienten ein<br />
Intelligenztest durchgeführt.<br />
Eine besondere Bedeutung hat in Hazelden die Lesetherapie. Jeder Patient bekommt zu Beginn<br />
der Therapie als Grundausstattung die Bücher: ,Anonyme Alkoholiker' (das ,Blaue Buch'), die<br />
,Zwölf Schritte', die ,Zwölf Traditionen' und das ,24-Stunden-Büchlein'. Dazu kommen individuelle<br />
Buchempfehlungen, die der jeweilige Berater seinen Patienten gibt. Dabei wird Wert darauf gelegt,<br />
dass nur wenige, einschlägige Bücher empfohlen werden, um ein Ausweichen von der Therapie zu<br />
verhindern.<br />
Therapieverlauf<br />
Etwas schematisiert lässt sich der Therapieverlauf in vier Phasen beschreiben.<br />
1. Zugeben und Akzeptieren der Krankheit<br />
100
Nach der Entgiftung und den diagnostischen Interviews geht es zunächst darum, dem Patienten zu<br />
helfen, seine Machtlosigkeit gegenüber dem Alkohol und den Medikamenten zu erkennen,<br />
zuzugeben und zu akzeptieren. Das Wort „Machtlosigkeit”, dem ersten Schritt der <strong>AA</strong> entnommen,<br />
kommt dabei der Erfahrung des Patienten in seinen Versuchen, kontrolliert mit dem Suchtmittel<br />
umzugehen, besonders nahe.<br />
2. Die Notwendigkeit der Veränderung<br />
Wenn die Patienten fähig sind, zuzugeben, dass sie ein Alkoholproblem haben, ist ein weiteres Ziel<br />
der Therapie, die Notwendigkeit eigener Verhaltensänderung zu erkennen. Der Therapeut wird in<br />
diesen Phasen dem Patienten helfen zu erkennen, dass er auch die Fähigkeit zur Veränderung<br />
hat.<br />
3. Veränderung heute<br />
Das Ziel dieser Phase ist es, dem Patienten zu helfen, verbindliche Entscheidungen hinsichtlich<br />
notwendiger Veränderungen zu treffen und schon während der Therapie erste Schritte in Richtung<br />
eines neuen Lebensstils zu gehen. Mögen diese Schritte auch noch so klein sein, wichtig ist, dass<br />
damit hier und jetzt begonnen wird.<br />
4. Genesung als langer Weg<br />
Mit der Therapie von etwa 30 Tagen ist der Veränderungsprozess eingeleitet, aber keineswegs zu<br />
Ende (vom Krabbeln zum Laufen). Für die meisten Patienten heißt das zu-nächst einmal Rückkehr<br />
nach Hause, um hier mit Unterstützung einer Selbsthilfegruppe die Abstinenz aufrechtzuerhalten.<br />
Andere werden in eine teilstationäre Einrichtung (half-way house) gehen oder in Hazelden zu einer<br />
Langzeittherapie bleiben.<br />
Die Umsetzung des Hazelden-Konzeptes in Bad Tönisstein<br />
Kehren wir nun zurück zur Fachklinik Bad Tönisstein. Anhand der Beschreibung des Hazelden-<br />
Modells ist deutlich geworden, dass wesentliche Elemente des ursprünglichen Tönisstein-<br />
Konzeptes auf das Hazelden-Modell zurückgehen. Besonders fällt die Synthese von<br />
professioneller Therapie und Schritten der <strong>AA</strong> ins Auge. Dazu kommt das Konzept der<br />
Suchtkranken-Therapeuten, das dazu führte, dass in den ersten drei Jahren des Bestehens der<br />
Klinik die therapeutische Arbeit primär von genesenden Alkoholikern geleistet wurde, die aus<br />
verschiedenen Berufen und Ausbildungsgängen kamen und in einer hausinternen Ausbildung<br />
unter der Leitung von Prof. Karl H. Bönner ihr therapeutisches Rüstzeug erhielten. Auch die<br />
Therapiezeit von sechs Wochen und der Verzicht auf Arbeitstherapie lehnten sich an Hazelden an.<br />
Dazu kam die starke Betonung der <strong>Gruppe</strong>ntherapie und der <strong>Gruppe</strong> als solcher als entscheidende<br />
Instrumente der Therapie; weiter-hin der stark an die Schritte eins bis drei der <strong>AA</strong> (Zugeben der<br />
Machtlosigkeit - Sich der Sorge des Höheren Wesens anvertrauen - Bereitschaft zur Veränderung)<br />
angelehnte Therapie-verlauf. Die starke Betonung der Selbsthilfegruppen im weiteren Prozess der<br />
Genesung, die täglichen Vorträge, die Tagesberichte sowie die besondere Hervorhebung der<br />
Lesetherapie kamen ebenfalls aus der Hazelden-Tradition. Desgleichen die Basisannahmen über<br />
Alkoholismus als einer primären, chronischen, progressiven und nicht selbstverschuldeten<br />
Krankheit. Seit 1978 gibt es in Bad Tönisstein ein Angehörigenseminar, in dem anfänglich stark in<br />
Anlehnung an das Hazelden-Modell gearbeitet wurde.<br />
101
So stellte das Konzept der Fachklinik Bad Tönisstein damals einen neuartigen Versuch dar,<br />
Erfahrungen über Alkoholismus-Therapie aus Nordamerika in ein deutsches Behandlungszentrum<br />
zu integrieren. Die Erfolge der Fachklinik und ihre auf der ursprünglichen Konzeption beruhende<br />
kontinuierliche, harmonische Weiterentwicklung bis hin zum heutigen Therapiekonzept beweisen,<br />
dass dieser Versuch erfolgreich war.<br />
Vom Römerbad zur Fachklinik - Die Geschichte von Bad Tönisstein -<br />
„FONS SALUTARIS, NUNQUAM SATIS LAUDABILIS, POTU GRATISSIMUS, EFFECTU<br />
MIRABILIS”,<br />
d.h. „Nicht hoch genug zu preisende, als Trank äußerst angenehme, in ihrer Wirkung wunderbare<br />
heilende Quelle”.<br />
Mit diesem Satz rühmte Petrus Holtzemius, Professor der Medizin und Leibarzt des Kurfürsten<br />
Ferdinand von Köln, bereits 1620 die heilende Kraft der Angelika-Quelle zu Bad Tönisstein.<br />
Römische Legionäre, die am Rhein und an der Mosel stationiert waren, starteten ihren Dank für die<br />
Heilkraft des Brunnens dadurch ab, dass sie Münzen in die Quelle warfen und den Heilerfolg in<br />
Inschriften am Brunnenrand dankbar vermerkten. Bei der Renovierung des Heilbrunnens im Jahre<br />
1862 und 1987 entdeckte man Reste der römischen Brunnenfassung, Inschriften und eine große<br />
Anzahl römischer Münzen, die aus der Zeit von 48 vor Christus bis 408 nach Christus stammten.<br />
Bad Tönisstein ist heute kein Heilbad mehr. Nicht mehr Gicht, Arthritis, Magen- und<br />
Darmbeschwerden werden heute behandelt, sondern Alkoholismus und Medikamentenabhängigkeit.<br />
Seit 1974 befindet sich in den Räumen des ehemals zum Bad gehörenden Hotels<br />
Kurfürstenhof eine Fachklinik für Suchtkranke.<br />
Die Idee, hier eine solche Klinik aufzubauen, kam von einer Ärztin, Frau Dr. Inge Lange-<br />
Treschhaus, der späteren ersten leitenden Ärztin der Fachklinik. Selbst durch die Schmerzen der<br />
Abhängigkeitserkrankung gegangen, hatte sie in den USA eine Klinik für Alkoholkranke, mit<br />
Namen Hazelden, kennen gelernt, die sie tief beeindruckt hatte.<br />
Beruhend auf den Erfahrungen der Anonymen Alkoholiker und neuerer Erkenntnisse im Bereich<br />
der Psychotherapie entwickelte diese Klinik ein Konzept zur wirksamen Behandlung von Alkohol-<br />
und Medikamentenabhängigkeit. Die therapeutische Arbeit lag in dieser Klinik zu einem hohen<br />
Maß in den Händen von Beratern, die selbst durch die Abhängigkeitserkrankung gegangen waren.<br />
Als Frau Dr. Lange-Treschhaus 1972 Abschied von Hazelden nahm, stand für sie fest, dass eine<br />
solche Klinik auch in Deutschland entstehen musste. Schon bald sollte dieser Plan Wirklichkeit<br />
werden. Das Hotel Kurfürstenhof wurde gekauft, renoviert und am 27. März 1974 wurde die<br />
Fachklinik Bad Tönisstein eröffnet.<br />
Bad Tönisstein hat die Auszeichnung ,Bad' im Ortsnamen. Als solches hat es eine lange Tradition.<br />
Sehen wir einmal von den römischen Legionären ab, die, wie bereits vermerkt, um ihrer<br />
Gesundheit willen das heilkräftige Wasser tranken, so kommen wir in die Zeit der Spätrenaissance<br />
und des Barocks<br />
102
.<br />
Die Kölner Kurfürsten, zu deren Gebiet Bad Tönisstein bis an den Ausgang des Mittelalters<br />
gehörte, waren schon recht früh auf die Schönheit, Stille und Heilkraft dieser Gegend aufmerksam<br />
geworden. Vor allem waren es Mitglieder des bayerischen Herrscherhauses der Wittelsbacher, die<br />
sich als Erzbischöfe und Kurfürsten von Köln große Verdienste um Bad Tönisstein erworben<br />
haben.<br />
Die Reihe beginnt mit Kurfürst Ferdinand, der während des 30-jährigen Krieges auf dem Kölner<br />
Erzbischofstuhl saß und ein Sohn des bayerischen Herzogs Wilhelm V. war. Von ihm ist<br />
überliefert, dass er häufig zu Brunnenkuren in Bad Tönisstein weilte und dabei auch täglich das<br />
Kloster Tönisstein besuchte. Kurfürst Max Heinrich von Köln baute 1666 ein Schloss in Bad<br />
Tönisstein, das auf der gegenüberliegenden Straßenseite gelegen war. Ein weiterer Kurfürst aus<br />
bayerischem Hause war Josef Clemens, der 1700 den heute noch erhaltenen schönen,<br />
achteckigen Brunnentempel aus toskanischen Säulen erbauen ließ. Dieser Brunnentempel ist<br />
inzwischen das Wahrzeichen von Bad Tönisstein geworden. Das Wappen der bayerischen<br />
Kurfürsten zu Köln ziert noch heue die Innenseiten des Tempels und ist auch im alten Eingang des<br />
Hotels zu sehen. Der letzte der Kurfürsten, die aus dem Hause Wittelsbach kamen, war Clemens<br />
August. Er zeichnete sich vor allem durch seine Baufreudigkeit aus. Viele Bauwerke im Barockbzw.<br />
Rokokostil entstanden unter seiner Regierung. Etwa 22 Schlösser wurden von ihm entweder<br />
neu gebaut oder modernisiert, darunter auch Schloss Augustusburg und das Jagdschloss<br />
Falkenlust im Brühler Schlosspark. Kein Wunder, dass dieser baufreudige Kurfürst auch große<br />
Pläne mit Bad Tonisstein hatte. Leider kam es nur zum Bau einer hübschen Rokoko-Kapelle nach<br />
den Plänen des Architekten Roth (1758). Die Kirche stand etwa dort, wo heute die Villa<br />
Brandenburg steht. Das Modell dieser Kapelle ist im Andernacher Stadtmuseum zu sehen. Sie war<br />
ein für das Rheinland einmaliger Typ der Rokokoarchitektur. Nach dem Tod von Clemens August<br />
im Jahre 1761 erlosch das Interesse der Kurfürsten an Bad Tönisstein und es fiel in eine Art<br />
Dornröschenschlaf.<br />
Der Prinz, der das schlafende Dornröschen Tönisstein wach küsste, hieß Domenikus Zervas; er<br />
war ein wohlhabender Trass- und Tuff-Besitzer. Man schrieb das Jahr 1886. Dieser Mann träumte<br />
den Traum eines wiedererstandenen Bad Tönisstein - nur viel größer als zu der Kurfürsten Zeiten.<br />
Er machte sich auch sogleich an das Werk und ließ ein Kurhaus bauen, das auf dem Platz<br />
gegenüber der jetzigen Klinik stand. An der gleichen Stelle hatte 200 Jahre zuvor Kurfürst Max<br />
Heinrich sein Schloss bauen lassen. Auch errichtete Herr Zervas ein Haus im Schweizer Stil, das<br />
an der Stelle der heutigen Villa Brandenburg stand. Beide Gebäude stehen heute nicht mehr. Das<br />
Kurhaus fiel 1913 einem Brand zum Opfer und das Schweizerhaus wurde nach dem ersten<br />
Weltkrieg abgerissen. Als weitere Unterkunft für die Badegäste diente das so genannte Gasthaus,<br />
ein Gebäude aus der Barockzeit, welches heute den ältesten Teil der Fachklinik Bad Tönisstein<br />
darstellt. Leider erfüllten sich die Hoffnungen nicht, die Domenikus Zervas in das wiedererstandene<br />
Bad Tönisstein gesetzt hatte. Er verkaufte 1884 Bad und Heilbrunnen an den Großindustriellen<br />
August Thyssen. Dieser erneuerte 1909 die Bäder von Grund auf, so dass Tönisstein bis 1975 Bad<br />
blieb. 1936 ging Bad Tönisstein in den Besitz der Familie Kerstiens über, die seit 1891 auch<br />
Besitzer des Heilbrunnens ist. Dr. C. Kerstiens wollte 1936 Bad Tönisstein noch einmal in seinem<br />
alten Glanz erneuern und erweiterte aus diesem Grund das Hotel um den heutigen Trakt mit dem<br />
Speisesaal, und nach dem Krieg um den späteren Verwaltungstrakt. Auch dieser Traum von der<br />
Erneuerung des Bades war nur von kurzer Dauer. Im Jahre 1975 musste das Bad endgültig seine<br />
Pforten schließen.<br />
Wer von der heutigen Fachklinik in Richtung Süden geht, sieht nach etwa fünf Minuten oben auf<br />
dem Felsen die aufragenden Reste des alten Klosters Tönisstein. Der Name Tönisstein (=<br />
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Antoniusstein) findet seine Erklärung in einer alten Kultlegende. Hirten aus dem Dorf Kell sahen an<br />
dem Platz, an dem heute die Ruine des Klosters steht, einen hellen Lichtschein, der von einem<br />
brennenden Dornbusch her-stammte. Als sie näher traten, sahen sie ein Bild von der<br />
Schmerzhaften Muttergottes, die ihren toten Sohn auf ihrem Schoß hielt, und vor ihr in anbetender<br />
Haltung den heiligen Antonius. Die Hirten beschlossen, das Marienbild in die Pfarrkirche von Kell<br />
zu bringen und ihm dort einen würdigen Platz anzubieten. Aber schon am anderen Tag war das<br />
Bild aus der Kirche verschwunden und an seinen alten Platz in dem Hain zurückgekehrt. Das<br />
Gleiche geschah dreimal hinter-einander, so dass die Keller Bürger einsehen mussten, dass die<br />
Schmerzhafte Muttergottes nicht in Kell, sondern in der Waldeinsamkeit verehrt zu werden<br />
begehrte. Schon bald entstand an dem Erscheinungsort eine Kapelle, die am 17. Januar 1390,<br />
dem Festtag des heiligen Antonius, vom Trierer Weihbischof Hubert geweiht wurde.<br />
Im Laufe der Zeit geschahen eine Menge wunderbarer Heilungen vor dem Muttergottesbild, so<br />
dass ein großer Zulauf des Volkes entstand. Um die Wallfahrer auch seelsorgerisch zu betreuen,<br />
wurde 1465 ein Karmeliterkloster in Tönisstein gegründet. Die Mönche begannen sogleich mit dem<br />
Bau einer größeren Kirche und eines Kloster, das 1494 fertig gestellt wurde. Etwa 300 Jahre<br />
versahen die Mönche ihren Dienst an dem Heiligtum der Schmerzhaften Muttergottes.<br />
1802 wurde das Kloster im Zuge der Säkularisation aufgehoben. Die Mönche mussten das Kloster<br />
verlassen, und das Bild der Schmerzhaften Muttergottes, der Muttergottes von Bad Tönisstein,<br />
kam nun doch in die Pfarrkirche zu Kell und wird heute noch dort verehrt.<br />
Wenn bis vor kurzem in der Fachklinik viele Menschen Heilung von der Krankheit Alkoholismus<br />
suchten, so sollen sie wissen, dass bereits vor ihnen Generationen von Menschen mit ihren<br />
körperlichen und seelischen Leiden nach Bad Tönisstein gekommen sind und dort Heilung erlangt<br />
haben.<br />
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