12.07.2015 Aufrufe

Rundbrief 2/2004 - Verband für sozial-kulturelle Arbeit eV ...

Rundbrief 2/2004 - Verband für sozial-kulturelle Arbeit eV ...

Rundbrief 2/2004 - Verband für sozial-kulturelle Arbeit eV ...

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

26Boden zu gründen. Aber Hamburg war nicht London, die Klassenwidersprüchewaren sichtbar, aber nicht so extrem wie z.B. inWhitechapel. Die <strong>sozial</strong>e Segregation hatte noch nicht so extremeFormen angenommen wie in London, wo zwischen dem unerhörtreichen Westen und dem extrem verarmten Osten unsichtbareGrenzen lagen, die in beiden Richtungen kaum überquert wurden.In Hamburg gab es deswegen nicht diese unbändige Bereitschaftjunger Intellektueller, einen solchen gewaltigen Schritt zu gehenwie die englischen Kollegen und sich tatsächlich in die Stadtviertelder Armen zu bewegen, um dort mit ihnen zu leben. Es gelangWalter Classen nicht, Anhänger für seine Idee zu rekrutieren. SeineReaktion darauf war recht pragmatisch: Er änderte einfach dasKonzept. Anstelle eines wirklichen Settlements (im Sinne vonAnsiedlung) sollte es jetzt nur noch eine Art Gemeinwesenzentrumin einem <strong>Arbeit</strong>erviertel sein, dem er den Namen „Volksheim“gab. Dies Zentrum sollte ein Ort der Erholung und Bildung sein- mit einem besonderen Schwerpunkt in der Kinderarbeit (Kindertagesbetreuung,Klubs, Ferienreisen etc.). Verglichen mit demToynbee-Hall-Beispiel hat Classen nur Teilaspekte des Vorbildesverwirklicht. Er war weniger idealistisch, mehr pragmatisch undkompromissbereit.Diese Grundhaltung hat sich auch auf andere Aspekte der Volksheimarbeitausgewirkt, z.B. bei der Örtlichkeit. Samuel Barnett undseine Anhänger hatten sich bewusst und absichtlich für ihr Settlementdie schlimmst mögliche Gegend in London ausgesucht.Der berühmt-berüchtigte Serienkiller Jack the Ripper hat nichtzufällig - etwa zur gleichen Zeit - all seine Morde in einem Umkreisvon wenigen hundert Metern rund um Toynbee Hall begangen.Bildungsbemühungen im <strong>Arbeit</strong>erviertelDas Engagement der Settler in dieser äußerst finsteren Gegendwar durch den Erwerb eines Grundstückes und den Neubau einesHauses von vornherein auf lange Dauer angelegt. Walter Classenhingegen legte großen Wert darauf, in einem <strong>Arbeit</strong>erviertel zustarten, in dem noch nicht Hopfen und Malz verloren wären, sondernin dem man auf eher besser situierte Teile der <strong>Arbeit</strong>erschaftstoßen würde, die man mit seinen Bildungsbemühungen bessererreichen zu können glaubte. Er schuf keinen Neubau, er kauftekein Haus, ja er mietete noch nicht einmal ein Haus sondern begnügtesich mit der Nutzungserlaubnis für einige Räume in einemGeschäftsgebäude, das nicht voll vermietet war und das seinemSponsor und Wohltäter gehörte, der bereit war, es kostenfrei zurVerfügung zu stellen, daran allerdings auch Bedingungen knüpfte,auf die man sich beim englischen Vorbild nicht eingelassen hätte.Die Finanzierungsgrundlage von Toynbee Hall bestand aus relativkleinen Beiträgen einer großen Anzahl von Spendern. Das gabToynbee Hall eine relativ große Unabhängigkeit. Das HamburgerVolksheim musste demgegenüber in erheblichem Maße auf dieWünsche seiner wenigen einflussreichen Sponsoren Rücksichtnehmen. Diese versuchten z.B. auf die Programmgestaltung Einflusszu nehmen. Sie wollten verhindern, dass im Volksheim politischeDebatten veranstaltet würden - ein wesentlicher Bestandteilder Toynbee-Hall-Kultur. Die Hamburger-Volksheim-Gönner, Fabrikbesitzerund Kaufleute, fürchteten, solche politischen Debattenkönnten zur Verbreitung aufrührerischen <strong>sozial</strong>demokratischenGedankengutes führen und das wollten sie auf keinen Fall unterstützen.An diesem Punkt blieb Classens übrigens standfest undwehrte Versuche der Sponsoren zur direkten Programmbeeinflussungab, aber er war sich ihrer Erwartungshaltung im Allgemeinensehr bewusst und bemühte sich, alles zu vermeiden, was ihreUnterstützung gefährden konnte.Walter Classen hatte das Volksheim seit 1901 ehrenamtlich geleitet.Inzwischen hatte er seine Ausbildung abgeschlossen und einPfarramt übernommen. Jetzt, im Jahre 1906, schien es ihm an derZeit, seine Kraft voll und ganz dem Volksheim zur Verfügung zustellen und sein kirchliches Amt aufzugeben. Er war der Überzeugung,dass es ihm als nicht durch die Amtskirche gebundenen„Laien“ eher möglich sein würde, an die <strong>Arbeit</strong>er heranzukommen,die sich gegenüber allem, was mit der offiziellen Kirche zusammenhing,sehr ablehnend verhielten. Der Ansatz des Volksheimswar zwar auf die religiösen Überzeugungen seiner Aktivistengegründet, aber er war weder religiös noch missionarisch. Aufdiese Weise konnte das Volksheim sehr viel wirkungsvoller aufdas Denken und die Überzeugungen der einfachen Menscheneinwirken.Von 1906 bis 1913 war Classen bezahlter hauptamtlicher Mitarbeiterdes Volksheims. Das brachte neue Probleme mit sich, weildie finanzielle Situation des Volksheims durchgehend angespanntwar und sich ab 1909 nach dem Tod seines Hauptsponsors weiterverschärfte. Von dem Gehalt allein, das das Volksheim zahlenkonnte, war es nicht möglich, seinen Lebensunterhalt zu bestreiten.1913 gab Classen auf und nahm eine Stelle im öffentlichenDienst an, um später an die Schule zu wechseln und Lehrer zuwerden. Er übernahm auch Lehraufträge an der Universität, woer in der Ausbildung angehender Religionslehrer tätig war. 1927wurde er aufgrund dieser Aktivitäten zum Ehrendoktor ernannt,1931 wurde ihm darüber hinaus der Professortitel verliehen.Indirekt kam er durch seine Lehrtätigkeit wieder in den Wirkungsbereichder Amtskirche zurück, deren Reihen er zugunsten seines<strong>sozial</strong>en Engagements einmal verlassen hatte. Der einflussreichekonservative Flügel der Kirche war damit nicht einverstanden. InsbesondereClassens Idee, <strong>sozial</strong>es Handeln ohne religiöse Vorbedingungensei der beste Weg, dem Beispiel Jesu zu folgen, war fürsie theologisch und politisch nicht akzeptabel. Die Stunde dieserKonservativen kam nach der sog. Machtergreifung der National<strong>sozial</strong>isten.Sie konnten ihren Einfluss geltend machen und mitzu der Entscheidung beitragen, Classen alle Lehrgenehmigungenzu entziehen. Diese Entscheidung wurde als vorzeitige Pensionierungverbrämt, um sie weniger anstößig erscheinen zu lassen.Weitere Volksheime orientiert am Hamburger VorbildAuch wenn das Volksheim nicht von so starken und radikalenÜberzeugungen geprägt war wie Toynbee Hall, konnte es docheine vegleichsweise große Wirkung entfalten. Zuerst in Hamburg,wo sein Einfluss sich auf andere Stadtteile ausweite, in denenIFS-Konferenz in Paris 1925. Im Vordergrund sitzend: Jane Addamsmehrere Zweigstellen des Volksheims entstanden. Aber auch inanderen Städten Deutschlands wurden Volksheime gegründet,die sich auf das Hamburger Vorbild beriefen (in Karlsruhe, Leipzig,Worms und Stuttgart). 1925 wurde das Volksheim Mitglied der„Deutschen Vereinigung der Nachbarschaftssiedlungen“, unseresVorläuferverbandes. Als dessen Delegierter nahm Walter Classenan der Konferenz des Internationalen Dachverbandes (IFS) teil, die1932 in Berlin stattfand.Die Organisation Volksheim überlebte die Nazi-Zeit, indem sie sichnoch weiter von den Ideen entfernte, die einmal zu ihrer Gründunggeführt hatten. Fragen der Sozialreform wurden gänzlichvon der Tagesordnung gestrichen. Die Organisation konzentriertesich ganz auf <strong>kulturelle</strong> Aktivitäten, die nicht im Konflikt mit dem

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!