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Carlos Castaneda Der Ring der Kraft Don Juan in ... - Wiechert-Haus

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<strong>Carlos</strong> <strong>Castaneda</strong><strong>Der</strong> <strong>R<strong>in</strong>g</strong> <strong>der</strong> <strong>Kraft</strong><strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> <strong>in</strong> den StädtenAus dem Amerikanischen vonThomas L<strong>in</strong>dquistScanned by JINGSHENMit diesem Buch setzt <strong>der</strong> amerikanische Anthropologe<strong>Castaneda</strong> se<strong>in</strong>e lange Reise <strong>in</strong> die Welt desÜbernatürlichen und <strong>der</strong> Zauberei fort - e<strong>in</strong>e Reise, an <strong>der</strong>enAnfang die Begegnung mit dem bereits z u r Legendegewordenen Yaqui-Zauberer <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> stand. In demvorliegenden Band erzählt <strong>der</strong> Autor, wie er die letzteL e k tio n erhielt. Während <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> bislang die Beweisese<strong>in</strong>er <strong>Kraft</strong> <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Geburtsregion, den Wüsten undMezas - <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Landstrich m ith<strong>in</strong>, zu dem er so natürlichgehört wie Strauchwerk und Geste<strong>in</strong> -. zelebriert hatte,so kommt es jetzt zu e<strong>in</strong>er Begegnung <strong>in</strong> e <strong>in</strong> e r ungewohntenUmgebung: Auch <strong>in</strong> <strong>der</strong> Stadtwelt, <strong>in</strong> den überfüllten,geschäftigen Straßen, vermag <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> se<strong>in</strong>e <strong>Kraft</strong> zubeweisen und die Wahrnehmung des Autors auf magischeWeise <strong>in</strong>s Unerm eßliche zu steigern. <strong>Carlos</strong> <strong>Castaneda</strong>starb 1998.Weitere Bücher von <strong>Carlos</strong> <strong>Castaneda</strong> im FischerTaschenbuch V e rlag: >Die Lehren des <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong>. E<strong>in</strong>Yaqui-Weg des Wissens« (B d . 1457): >E<strong>in</strong>e an<strong>der</strong>eWirklichkeit. Neue Gespräche m it <strong>Don</strong> J uan-(Bd. 1616);>Reise nach Ixtlan. Die Lehre des <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong>- (Bd. 1809):>D er zw eite <strong>R<strong>in</strong>g</strong> <strong>der</strong> <strong>Kraft</strong>< (Bd. 3035): > D ie K u n s t desPirschens. (Bd. 3390); >Das Feuer von <strong>in</strong>nen« (Bd. 5082); -Die <strong>Kraft</strong> <strong>der</strong> Stille. Neue Lehren des <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong>< (Bd.10926): »D ie Kunst des Träumens-(Bd. 14166).Im S. Fischer Verlag s<strong>in</strong>d erschienen: >Tensegrity. Diemagischen Bewegungen <strong>der</strong> Zauberer< (1998) sowie >DasWirken <strong>der</strong> Unendlichkeit-(1998).Fischer°> TaschenbuchVerlagUnsere Adresse im Interner: www.fischer-tb.de


Inhalt1. TeilZeuge von Taten <strong>der</strong> <strong>Kraft</strong>E<strong>in</strong>e Verabredung mit <strong>der</strong> <strong>Kraft</strong> 9<strong>Der</strong> Träumer und <strong>der</strong> Geträumte 61Das Geheimnis <strong>der</strong> leuchtenden Wesen912 l . A uflage: M ai 2001Ung ekürzte AusgabeV e r ö ffe n tlic h t im Fischer Taschenbuch V e rla gGmbHF r a n k f u r t am M a <strong>in</strong> . J u n i 1978Lizenzausgabe m it Genehmigung desS. Fischer Verlags G m bH Frankfurt am Ma<strong>in</strong>Die amerikanische Orig<strong>in</strong>alausgabe erschien1974m i t dem Titel Tales of PowerimVerlag Simon and Schuster. New Yorkc <strong>Carlos</strong> <strong>Castaneda</strong> 1974Für die deutsche Ausgabe:© S. Fischer Verlag GmbH. Frankfurt am Ma<strong>in</strong>1976Druck und B<strong>in</strong>dung: Clausen & Bosse. LeckPr<strong>in</strong>ted <strong>in</strong> GermamISBN 3-596-23370-42. TeilDas Tonal und das NagualMan muß glauben 117Die Insel des Tonal 132<strong>Der</strong> Tag des Nagual 145Das Tonal schrumpfen lassen 163In <strong>der</strong> Zeit des Nagual 181Das Flüstern des Nagual 200Die Flügel <strong>der</strong> Wahrnehmung 2173. TeilDie Erklärung <strong>der</strong> ZaubererDrei Zeugen des Nagual 233Die Strategie e<strong>in</strong>es Zauberers 25 lDie Blase <strong>der</strong> Wahrnehmung 285Die <strong>in</strong>nere Wahl zweier Krieger 304


<strong>Der</strong> Bed<strong>in</strong>gungen e<strong>in</strong>es e<strong>in</strong>samen Vogels s<strong>in</strong>d fünf:Die erste, daß er zum höchsten Punkt fliegt;die zweite, daß er sich nicht nach Gesellen sehnt,nicht e<strong>in</strong>mal se<strong>in</strong>er eigenen Art;die dritte, daß se<strong>in</strong> Schnabel gen Himmel zielt;die vierte, daß er ke<strong>in</strong>e bestimmte Farbe hat;die fünfte, daß er sehr leise s<strong>in</strong>gt.San <strong>Juan</strong> de la Cruz. Dichos de Luz y Amor1.TeilZeuge von Taten <strong>der</strong> <strong>Kraft</strong>


E<strong>in</strong>e Verabredung mit <strong>der</strong> <strong>Kraft</strong>Seit Monaten hatte ich <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> nicht gesehen. Es war jetztHerbst 1971. Ich war überzeugt, daß er sich bei <strong>Don</strong> Genaro <strong>in</strong>Zentralmexiko aufhielt, und so traf ich die nötigen Vorbereitungenfür e<strong>in</strong>e sechs- o<strong>der</strong> siebentägige Fahrt, um ihn zubesuchen. Doch am zweiten Tag me<strong>in</strong>er Reise, am Spätnachmittag,machte ich, e<strong>in</strong>er E<strong>in</strong>gebung folgend, an <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong>sWohnort im Staat Sonora halt. Ich parkte das Auto und g<strong>in</strong>gdie kurze Entfernung bis zu se<strong>in</strong>em <strong>Haus</strong> zu Fuß. Zu me<strong>in</strong>erÜberraschung traf ich ihn dort an.»<strong>Don</strong> <strong>Juan</strong>! Ich hatte nicht erwartet, dich hier zu treffen«, sagteich.Er lachte; me<strong>in</strong>e Überraschung schien im Spaß zu machen. Ersaß auf e<strong>in</strong>er leeren Milchbütte vor <strong>der</strong> <strong>Haus</strong>tür. Er schien aufmich gewartet zu haben. Die Ungezwungenheit, mit <strong>der</strong> ermich begrüßte, war irgendwie vollendet. Er nahm den Hut abund schwenkte ihn mit e<strong>in</strong>er komischen Gebärde. Dann setzte erihn wie<strong>der</strong> auf und grüßte militärisch. Er lehnte sich an dieWand und saß dabei auf <strong>der</strong> Bütte, als wäre es e<strong>in</strong> Sattel. »Setzdich, setz dich«, sagte er <strong>in</strong> jovialem Tonfall. »Wie gut, dichwie<strong>der</strong>zusehen.«»Fast wäre ich umsonst den ganzen Weg nach Zentralmexikogefahren«, sagte ich. »Und dann hätte ich nach Los Angeleszurückfahren müssen. Daß ich dich hier antreffe, erspart mirviele Tage Autofahrt.«»Irgendwie hättest du mich schon gefunden«, sagte er mitgeheimnisvoller Stimme, »aber nehmen wir an, du schuldestmir nun sechs Tage, die du gebraucht hättest, um h<strong>in</strong>zufahren -Tage, die du nutzen solltest, um etwas Interessanteres zu tun,als das Gaspedal de<strong>in</strong>es Autos zu drücken.« <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong>s Lächelnwar irgendwie gew<strong>in</strong>nend. Se<strong>in</strong>e Herzlichkeit war ansteckend.»Wo ist de<strong>in</strong> Schreibzeug?« fragte er.Ich sagte ihm, ich hätte es im Auto gelassen; er me<strong>in</strong>te, ohne essähe ich unnatürlich aus, und so hieß er mich gehen und esholen.


»Ich habe gerade e<strong>in</strong> Buch abgeschlossen«, sagte ich. Er warfmir e<strong>in</strong>en langen, seltsamen Blick zu, <strong>der</strong> mir e<strong>in</strong> Kribbeln <strong>in</strong><strong>der</strong> Magengrube verursachte. Es war. als ob er e<strong>in</strong>en weichenGegenstand gegen me<strong>in</strong>en Bauch preßte. Ich glaubte, ichmüsse mich übergeben, aber dann wandte er den Kopf zurSeite, und ich gewann me<strong>in</strong> ursprüngliches Wohlbef<strong>in</strong>denwie<strong>der</strong>.Ich wollte über me<strong>in</strong> Buch sprechen, aber er machte e<strong>in</strong>e Geste,die mir bedeutete, er wolle nicht, daß ich etwas darüber sagte. Erlächelte. Se<strong>in</strong>e Stimmung war unbeschwert und bezaubernd,und er verwickelte mich sofort <strong>in</strong> e<strong>in</strong> zwangloses Gespräch überLeute und aktuelle Ereignisse. Schließlich gelang es mir, dieUnterhaltung auf das Thema zu lenken, das mich <strong>in</strong>teressierte.Ich f<strong>in</strong>g an, <strong>in</strong>dem ich erwähnte, ich hätte me<strong>in</strong>e früherenNotizen noch e<strong>in</strong>mal durchgesehen und festgestellt, daß er mirschon von Anfang unserer Beziehung an e<strong>in</strong>e detaillierteBeschreibung <strong>der</strong> Welt e<strong>in</strong>es Zauberers gegeben habe. ImLichte dessen, was er mir <strong>in</strong> jenem ersten Stadium gesagt habe,sei ich dah<strong>in</strong> gelangt, die Bedeutung <strong>der</strong> halluz<strong>in</strong>ogenen Pflanzen<strong>in</strong> Frage zu stellen. »Warum hast du mich diese Pflanzen soviele Male e<strong>in</strong>nehmen lassen?« fragte ich.Er lachte und murmelte ganz leise: »Weil du e<strong>in</strong> Tölpel bist.«Ich hatte ihn wohl verstanden, aber ich wollte mich vergewissernund tat so, als hätte ich nicht recht gehört. »Wie bitte' 1 « fragteich.»Du weißt sehr gut, was ich gesagt habe«, antwortete er undstand auf.Im Vorbeigehen tätschelte er mir den Kopf. »Du bist ziemlichschwer von Begriff«, sagte er. »Und es gab ke<strong>in</strong>e an<strong>der</strong>eMöglichkeit, dich aufzurütteln.«»Also war das alles nicht absolut notwendig?« fragte ich.»Doch, das war es. <strong>in</strong> de<strong>in</strong>em Fall. Es gibt aber an<strong>der</strong>eMenschentypen, die dies ansche<strong>in</strong>end nicht brauchen.« Erstand neben mir und blickte unverwandt auf die Wipfel <strong>der</strong>Büsche an <strong>der</strong> l<strong>in</strong>ken Seite se<strong>in</strong>es <strong>Haus</strong>es; dann setzte er sichund sprach über Eligio, se<strong>in</strong>en an<strong>der</strong>en Lehrl<strong>in</strong>g. Eligio, sagteer, habe nur e<strong>in</strong>mal psychotrope Pflanzen genommen, seit er10se<strong>in</strong> Lehrl<strong>in</strong>g geworden sei, und doch habe er vielleicht mehrFortschritte gemacht als ich.»Sensibel zu se<strong>in</strong> ist für manche Menschen e<strong>in</strong> natürlicherZustand«, sagte er. »Du bist es nicht. Aber ich auch nicht.Letzten Endes kommt es auf die Sensibilität überhaupt nichtan.«»Was ist es denn, worauf es ankommt?« fragte ich. Er schiennach e<strong>in</strong>er passenden Antwort zu suchen. »Es kommt nur daraufan, daß e<strong>in</strong> Krieger makellos ist«, sagte er schließlich. »Aber dasist bloß e<strong>in</strong>e Redeweise, e<strong>in</strong>e ungefähre Annäherung. Du hastbereits e<strong>in</strong>ige Aufgaben <strong>der</strong> Zauberei vollbracht, und ich glaube,es ist an <strong>der</strong> Zeit, die Ursache all dessen, worauf es ankommt,beim Namen zu nennen. Ich möchte also sagen, für e<strong>in</strong>enKrieger kommt es darauf an, die Ganzheit se<strong>in</strong>er selbst zuerreichen.« »Was ist die Ganzheit des Selbst, <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong>?« »Ichsagte ja, daß ich <strong>der</strong> Sache nur e<strong>in</strong>en Namen geben wollte. Esgibt immer noch e<strong>in</strong>e Menge loser Enden <strong>in</strong> de<strong>in</strong>em Leben, diedu zusammenknüpfen mußt, bevor wir über die Ganzheitde<strong>in</strong>es Selbst sprechen können.« Hier endete unser Gespräch.Er machte e<strong>in</strong>e Gebärde mit den Händen, um mir anzuzeigen,daß er wünschte, ich solle aufhören zu sprechen. Ansche<strong>in</strong>endwar irgend etwas o<strong>der</strong> irgend jemand <strong>in</strong> <strong>der</strong> Nähe. Er neigte denKopf nach l<strong>in</strong>ks, als lausche er. Ich konnte das Weiße se<strong>in</strong>erAugen sehen, während er den Blick auf die Büsche l<strong>in</strong>ksneben dem <strong>Haus</strong> konzentrierte. E<strong>in</strong>en Augenblick lauschte eraufmerksam, und dann stand er auf, kam zu mir und flüstertemir <strong>in</strong>s Ohr, wir müßten das <strong>Haus</strong> verlassen und e<strong>in</strong>enSpaziergang machen. »Ist etwas nicht <strong>in</strong> Ordnung?« fragteich, ebenfalls flüsternd.»N e<strong>in</strong>. A lles k lar«, sagte er. »A lles ist ganz <strong>in</strong> Ordnung.« Erführte mich <strong>in</strong> den Wüstenchaparral. W ir wan<strong>der</strong>ten vielleichte<strong>in</strong>e halbe Stunde und kamen dann zu e<strong>in</strong>er kle<strong>in</strong>en,kreisförmigen Fläche, die frei von Vegetation war, e<strong>in</strong> Fleckenvon etwa v ie r M etern D urchm esser, wo <strong>der</strong> rötliche Sand e<strong>in</strong>efeste, vollkommen flache Ebene bildete. Es gab jedoch ke<strong>in</strong>eAnzeichen dafür, daß die Fläche mit M asch<strong>in</strong>en gerodet unde<strong>in</strong>geebnet worden war. D on <strong>Juan</strong> setzte sich <strong>in</strong> die M itte,11


Wir sahen e<strong>in</strong>an<strong>der</strong> an. In se<strong>in</strong>en Augen stand e<strong>in</strong>e Frage.»Was sagst du dazu?« fragte er und for<strong>der</strong>te mich auf, überse<strong>in</strong>e Worte nachzudenken. Ich wußte nicht, was ich sagensollte.»Weißt du, daß du dich <strong>in</strong> jede <strong>der</strong> Richtungen, <strong>in</strong> die ichgezeigt habe, auf ewig ausdehnen kannst?« fuhr er fort. »Weißtdu, daß e<strong>in</strong> Augenblick die Ewigkeit se<strong>in</strong> kann? Dies ist ke<strong>in</strong>Rätsel, es ist e<strong>in</strong>e Tatsache, aber nur, falls du auf <strong>der</strong> Höhedieses Augenblicks bist und ihn nutzt, um die Ganzheit de<strong>in</strong>erselbst <strong>in</strong> je<strong>der</strong> Richtung zu erfassen.« Er blickte mich an.»Dieses Wissen kanntest du vorh<strong>in</strong> noch nicht«, sagte erlächelnd. »Nun kennst du es. Ich habe es dir offenbart, aber esbewirkt überhaupt nichts, weil du nicht genug persönliche<strong>Kraft</strong> hast, dir me<strong>in</strong>e Offenbarung zunutze zu machen. Hättestdu aber genug <strong>Kraft</strong>, dann würden me<strong>in</strong>e Worte alle<strong>in</strong> dir alsMittel dienen, um die Ganzheit de<strong>in</strong>er selbst zu erfassen undum den wesentlichen Teil davon aus den Fesseln, <strong>in</strong> die siegebunden ist, zu befreien.«Er trat neben mich und stieß mich mit den F<strong>in</strong>gern <strong>in</strong> dieRippen; es war e<strong>in</strong>e ganz leichte Berührung. »Dies s<strong>in</strong>d dieFesseln, von denen ich spreche«, sagte er. »Man kann sichdaraus befreien. Wir s<strong>in</strong>d e<strong>in</strong> Gefühl, e<strong>in</strong> Bewußtse<strong>in</strong>, das hiere<strong>in</strong>geschlossen ist.« Mit beiden Händen schlug er mir auf dieSchultern. Me<strong>in</strong> Schreibblock und <strong>der</strong> Bleistift fielen zuBoden. <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> stellte den Fuß auf den Block und starrtemich an, und dann lachte er.Ich fragte ihn, ob er etwas dagegen habe, wenn ich mirNotizen machte. Ne<strong>in</strong>, sagte er <strong>in</strong> beschwichtigendem Ton undzog den Fuß zurück.»Wir s<strong>in</strong>d leuchtende Wesen«, sagte er und schüttelte rhythmischden Kopf. »Und für leuchtende Wesen zählt alle<strong>in</strong> diepersönliche <strong>Kraft</strong>. Aber wenn du mich fragst, was persönliche<strong>Kraft</strong> ist, dann muß ich dir sagen, daß me<strong>in</strong>e Erklärung sienicht erklären wird.«<strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> blickte zum Horizont im Westen und me<strong>in</strong>te, esblieben uns noch e<strong>in</strong> paar Stunden Tageslicht. »Wir werdenlange hierbleiben müssen«, erklärte er. »Darum16laß uns entwe<strong>der</strong> ruhig dasitzen o<strong>der</strong> sprechen. Zu schweigen,das ist nicht natürlich bei dir, daher laß uns weitersprechen.Diese Stelle ist e<strong>in</strong> Platz <strong>der</strong> <strong>Kraft</strong>, und sie muß sich vorE<strong>in</strong>bruch <strong>der</strong> Nacht an uns gewöhnen. Du mußt möglichstnatürlich dasitzen, ohne Furcht o<strong>der</strong> Ungeduld. Ansche<strong>in</strong>endist es für dich am leichtesten, dich zu entspannen, wenn duNotizen machst, darum schreib nach Herzenslust. Und nunerzähl mir, zum Beispiel, von de<strong>in</strong>em Träumen.«. Se<strong>in</strong>eplötzliche Wendung traf mich unvorbereitet. Er wie<strong>der</strong>holtese<strong>in</strong>e Frage. Dazu muß ich nun e<strong>in</strong>iges sagen. »Träumen« hießfür <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong>, daß man e<strong>in</strong>e eigenartige Kontrolle über se<strong>in</strong>eTräume entwickelt, und zwar so, daß die <strong>in</strong> ihnen gewonnenenErfahrungen und die Erlebnisse im Wachzustand die gleichepraktische Bedeutung gew<strong>in</strong>nen. Die Auffassung <strong>der</strong> Zaubererbesagte, daß unter dem E<strong>in</strong>fluß von »Träumen« die üblichenKriterien <strong>der</strong> Unterscheidung zwischen Traum undWirklichkeit außer <strong>Kraft</strong> gesetzt werden. <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong>s Praxis des»Träumens« war e<strong>in</strong>e Übung, die dar<strong>in</strong> besteht, daß man <strong>in</strong>e<strong>in</strong>em Traum se<strong>in</strong>e Hände sucht. Mit an<strong>der</strong>en Worten, manmuß absichtlich träumen, daß man im Traum se<strong>in</strong>e Händesucht und f<strong>in</strong>det, <strong>in</strong>dem man e<strong>in</strong>fach träumt, daß man dieHände vor die Augen hebt. Nach jahrelangen erfolglosenVersuchen war mir dies schließlich gelungen. Rückblickendbetrachtet, war mir klargeworden, daß es mir erst gelungenwar, nachdem ich e<strong>in</strong> gewisses Maß an Kontrolle über me<strong>in</strong>eAlltagswelt gewonnen hatte. <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> erkundigte sich nach denwesentlichen Punkten. Ich f<strong>in</strong>g an und erzählte ihm, daß es miroft unüberw<strong>in</strong>dbar schwierig erschienen war, mir den Befehlzu erteilen, me<strong>in</strong>e Hände anzusehen. Er hatte mich gewarnt,daß die erste Phase <strong>der</strong> Vorbereitung, die er als »Planen desTräumens« bezeichnete, e<strong>in</strong> tödliches Spiel darstelle, das <strong>der</strong>Geist des Betreffenden mit sich selbst spiele, und daß e<strong>in</strong> Teilme<strong>in</strong>er selbst alles tun werde, um die Erfüllung me<strong>in</strong>erAufgabe zu verh<strong>in</strong><strong>der</strong>n. Dazu konnte nach den Worten von <strong>Don</strong><strong>Juan</strong> gehören, daß ich <strong>in</strong> Hoffnungslosigkeit, Melancholie o<strong>der</strong>sogar e<strong>in</strong>e selbstmör<strong>der</strong>ische Depression verfiel. Aber so weitwar es nicht gekommen. Me<strong>in</strong>e Erlebnisse waren eher harmlos,sogar komisch; trotzdem war das Ergebnis ebenso frustrierend.Jedesmal,17


wenn ich im Traum im Begriff stand, me<strong>in</strong>e Hände anzusehen,geschah etwas Außergewöhnliches; ich f<strong>in</strong>g an zu fliegen, o<strong>der</strong>me<strong>in</strong> Traum schlug <strong>in</strong> e<strong>in</strong>en Alptraum um, o<strong>der</strong> er verwandeltesich lediglich <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e sehr angenehme körperliche Erregung; <strong>in</strong>solchen Träumen g<strong>in</strong>g, was die Lebhaftigkeit betrifft, allesweit über das »Normale« h<strong>in</strong>aus und war daher äußerst spannend.Angesichts <strong>der</strong> immer neuen Situationen vergaß ich stetsdie ursprüngliche Absicht, me<strong>in</strong>e Hände zu beobachten.E<strong>in</strong>mal aber, ganz unerwartet, fand ich im Traum me<strong>in</strong>eHände. Ich träumte, ich g<strong>in</strong>g durch e<strong>in</strong>e unbekannte Straße <strong>in</strong>e<strong>in</strong>er fremden Stadt, und plötzlich hob ich die Hände und hieltsie vors Gesicht. Es war, als habe irgend etwas <strong>in</strong> mir nachgegebenund mir erlaubt, me<strong>in</strong>e Handrücken zu betrachten. <strong>Don</strong><strong>Juan</strong> hatte mich angewiesen, ich solle, sobald <strong>der</strong> Anblick me<strong>in</strong>erHände sich auflöste o<strong>der</strong> sich zu etwas an<strong>der</strong>em verwandelte,den Blick von den Händen fortnehmen und auf irgende<strong>in</strong>enan<strong>der</strong>en Bestandteil <strong>der</strong> Umgebung me<strong>in</strong>es Traums richten. Indiesem e<strong>in</strong>en Traum richtete ich den Blick auf e<strong>in</strong> Gebäudeam Ende <strong>der</strong> Straße. Als das Bild des Gebäudes sichaufzulösen begann, konzentrierte ich me<strong>in</strong>e Aufmerksamkeitauf die übrigen D<strong>in</strong>ge <strong>der</strong> Umgebung me<strong>in</strong>es Traums. DasErgebnis war e<strong>in</strong> unglaublich klares, zusammenhängendes Bilde<strong>in</strong>er verlassenen Straße <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er unbekannten, fremden Stadt.<strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> hieß mich fortfahren und von an<strong>der</strong>en Erlebnissenbeim »Träumen« berichten. Wir sprachen noch lange. Als ichme<strong>in</strong>en Bericht beendet hatte, stand er auf und g<strong>in</strong>g <strong>in</strong>sGebüsch. Ich stand ebenfalls auf. Ich war nervös. DiesesGefühl war ungerechtfertigt, denn es gab nichts, was zu Angsto<strong>der</strong> Besorgnis Anlaß gegeben hätte. <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> kehrte b<strong>in</strong>nenkurzem zurück. Er bemerkte me<strong>in</strong>e Erregung. »Beruhigedich«, sagte er und faßte mich sanft am Arm. Er hieß michnie<strong>der</strong>sitzen und legte mir me<strong>in</strong> Notizbuch <strong>in</strong> den Schoß. Erüberredete mich zu schreiben. Er me<strong>in</strong>te, ich solle den Platz<strong>der</strong> <strong>Kraft</strong> nicht mit unnötigen Gefühlen wie Angst o<strong>der</strong>Zau<strong>der</strong>n aufstören. »Warum werde ich so nervös?« fragte ich.»Das ist ganz natürlich«, sagte er. »Irgend etwas <strong>in</strong> dir istdurch de<strong>in</strong>e Aktivitäten beim Träumen bedroht. Solange dunicht an diese Aktivitäten dachtest, war alles <strong>in</strong> Ordnung.Aber jetzt, da du von de<strong>in</strong>em Tun gesprochen hast, fällst dufast <strong>in</strong> Ohnm acht.Je<strong>der</strong> Krieger hat se<strong>in</strong>e eigene Art zu träumen. Jede Art istan<strong>der</strong>s. Das e<strong>in</strong>zige, was wir geme<strong>in</strong>sam haben, ist die Tatsache,daß wir Tricks versuchen, um die Suche aufzugeben. DasGegenm ittel besteht dar<strong>in</strong>, trotz a lle r Schranken und Enttäuschungenbeharrlich weiterzumachen.«Dann fragte er mich, ob ich fähig sei, die Themen des »Träumens«auszuwählen. Ich me<strong>in</strong>te, ich hätte nicht die blassesteAhnung, wie man das machte.»Die Erklärung <strong>der</strong> Zauberer, wie man e<strong>in</strong> Thema zum Träumenauswählt«, sagte er, »besagt, daß e<strong>in</strong> Krieger das Thema wählt,<strong>in</strong>dem er absichtlich vor se<strong>in</strong>em <strong>in</strong>neren Auge e<strong>in</strong> Bild festhält,während er se<strong>in</strong>en <strong>in</strong>neren Dialog abstellt. Mit an<strong>der</strong>en W orten,wenn er e<strong>in</strong>en Augenblick aufhören kann, mit sich selbst zusprechen, und wenn er dann, sei es nur für e<strong>in</strong>en Moment, dasBild o<strong>der</strong> die Vorstellung von dem, was er beim Träumen sehenwill, festhalten kann, dann wird ihm <strong>der</strong> gewünschteGegenstand ersche<strong>in</strong>en. Ich b<strong>in</strong> sicher, daß du dies getanhast, auch wenn es dir nicht bewußt geworden ist.«Es entstand e<strong>in</strong>e lange Pause, und dann begann <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> <strong>in</strong><strong>der</strong> Luft zu schnuppern. Es war. als re<strong>in</strong>igte er sich die Nase;drei o<strong>der</strong> v ie r M ale atm ete er gewaltig durch die Nasenlöcheraus. Se<strong>in</strong>e Bauchmuskeln verkrampften sich, was er zu kontrollierensuchte, <strong>in</strong>dem er mit kurzen, keuchenden AtemzügenLuft holte.»Wir wollen nicht mehr über das Träumen sprechen«, sagte er.»Du könntest davon besessen werden. Wenn e<strong>in</strong>em etwas gel<strong>in</strong>gensoll, dann muß <strong>der</strong> Erfolg allm ählich kommen, unter großenAnstrengungen, aber ohne Streß o<strong>der</strong> Besessenheit.« Er standauf und g<strong>in</strong>g an den Rand des Gebüschs. Er beugte sich vorund spähte durch das Laub. Er schien etwas an den Blätternzu untersuchen, ohne sich ihnen allzusehr zu nähern.»W as tust du d a? « fragte ich. unfähig, m e<strong>in</strong>e Neugier zuzügeln.18 19


Er drehte sich zu mir um. lächelte und hob die Augenbrauen.»D ie Büsche s<strong>in</strong>d voll von seltsamen D<strong>in</strong>gen«, sagte er, als ersich wie<strong>der</strong> h<strong>in</strong>setzte.Er sagte dies <strong>in</strong> so b eiläufigem Ton, daß es mich mehrerschreckte, als wenn er e<strong>in</strong>en plötzlichen Schrei ausgestoßenhätte. N otizbuch und B leistift fie le n m ir aus <strong>der</strong> H and. Erlachte und ahmte mich nach, dann me<strong>in</strong>te er, solche übertriebenenReaktionen seien e<strong>in</strong>es <strong>der</strong> losen Enden, die es immernoch <strong>in</strong> me<strong>in</strong>em Leben gebe.Ich wollte etwas e<strong>in</strong>wenden, aber er ließ mich nicht zu W ortkommen.»W ir haben nur noch e<strong>in</strong> W eilchen T ageslicht«, sagte er.»Und es gibt noch an<strong>der</strong>e D<strong>in</strong>ge, über die w ir reden sollten.bevor die Dämmerung here<strong>in</strong>bricht.«Nach me<strong>in</strong>en Erfolgen beim »Träumen« zu urteilen, fügte erh<strong>in</strong>zu, hätte ich wohl gelernt, me<strong>in</strong>en <strong>in</strong>neren Dialog willentlichabzustellen. Dies sei <strong>der</strong> Fall, sagte ich ihm. Am Anfangunserer Verb<strong>in</strong>dung hatte <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> mir noch e<strong>in</strong>e weitereTechnik geschil<strong>der</strong>t: Sie bestand dar<strong>in</strong>, lange Strecken zuwan<strong>der</strong>n, ohne den B lick auf irgend etwas zu konzentrieren.Er hatte mir empfohlen, nichts direkt anzusehen, son<strong>der</strong>n mitden Augen leicht e<strong>in</strong>wärts zu schielen, um alles, was sich demB lick darbot, peripher im Auge zu behalten. Er hatte behauptet- auch wenn ich es damals nicht verstand -, daß es möglichsei, be<strong>in</strong>ahe alles gleichzeitig wahrzunehmen, was <strong>in</strong> e<strong>in</strong>emW <strong>in</strong>kel von 180 Grad vor e<strong>in</strong>em liegt, wenn man den Blick,ohne zu zentrieren, auf e<strong>in</strong>en Punkt knapp über dem Horizontrichtet. Er h atte mir b e te u ert, diese Übung sei das e<strong>in</strong>zigeM ittel, um den <strong>in</strong>neren Dialog abzustellen. Er ließ michregelm äßig über m e<strong>in</strong>e Fortschritte berichten, und irgendwannfragte er nicht mehr danach. Ich erzählte <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong>, ich hättediese Technik jahrelang praktiziert, ohne e<strong>in</strong>e Verän<strong>der</strong>ungzu bemerken, doch ich hatte ohneh<strong>in</strong> ke<strong>in</strong>e erwartet. E<strong>in</strong>esTages aber war mir überraschend bewußt geworden, daß ichsoeben etwa zehn M <strong>in</strong>uten gegangen war, ohne e<strong>in</strong> e<strong>in</strong>zigesWort mit mir selbst zu sprechen. Ich erwähnte auch, ich hättebei dieser G elegenheit e r k a n n t.daß das Anhalten des <strong>in</strong>neren Dialogs mehr bedeutete als e<strong>in</strong>bloßes Zurückhalten <strong>der</strong> W orte, die ich zu mir selbst sprach.M e<strong>in</strong> ganzer Denkprozeß hatte ausgesetzt, und ich hattepraktisch das Gefühl, zu schweben, dah<strong>in</strong>zutreiben. Auf dieseErkenntnis war e<strong>in</strong> Gefühl <strong>der</strong> Panik gefolgt, und ich mußte,sozusagen als G egenm ittel, m e<strong>in</strong>en <strong>in</strong>neren D ialog wie<strong>der</strong>aufnehmen.»Ich sagte dir ja, <strong>der</strong> <strong>in</strong>nere Dialog ist das. was uns begründet«,m e<strong>in</strong>te D on <strong>Juan</strong>. »D ie W elt ist so o<strong>der</strong> an<strong>der</strong>sbeschaffen, nur w eil wir uns vorsagen, daß sie so o<strong>der</strong> an<strong>der</strong>sbeschaffen ist.«<strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> erklärte nun, daß <strong>der</strong> W eg <strong>in</strong> die W elt <strong>der</strong> Zauberersich erst öffne, nachdem <strong>der</strong> Krieger gelernt habe, se<strong>in</strong>en<strong>in</strong>neren Dialog abzustellen.»Unsere Vorstellung, unsere Ansicht von <strong>der</strong> W elt zu än<strong>der</strong>n,das ist <strong>der</strong> spr<strong>in</strong>gende Punkt bei <strong>der</strong> Zauberei«, sagte er. »Unddas Anhalten des <strong>in</strong>neren Dialogs ist die e<strong>in</strong>zige M öglichkeit,dies zu erreichen. <strong>Der</strong> Rest ist nur Beiwerk. Du bist jetzt <strong>in</strong> <strong>der</strong>Lage zu erkennen, daß nichts von alledem, was du gesehen o<strong>der</strong>getan hast, ausgenommen das Anhalten des <strong>in</strong>neren Dialogs,von sich aus irgend etwas an dir o<strong>der</strong> an de<strong>in</strong>er Vorstellungvon <strong>der</strong> W elt hätte än<strong>der</strong>n können. Voraussetzung ist natürlich,daß diese Verän<strong>der</strong>ung nicht gestört wird. Jetzt verstehst du.warum e<strong>in</strong> Lehrer se<strong>in</strong>en Schüler nicht hart anfaßt. Dieswürde nur Zwangsvorstellungen und Krankheit erzeugen.«Er fragte nach weiteren E<strong>in</strong>zelheiten über die Erfahrungen,die ich beim Abstellen des <strong>in</strong>neren Dialogs gemacht hatte. Ichberichtete alles, woran ich mich er<strong>in</strong>nern konnte. W irsprachen, bis es dunkel wurde und ich nicht mehr m itschreibenko nnte; das Schreiben verlangte zuviel Aufmerksamkeit, und d ies bee<strong>in</strong>trächtigte m e<strong>in</strong>e K onzentration. D on<strong>Juan</strong> erkannte es und f<strong>in</strong>g an zu lachen. Er behauptete, ichhätte noch e<strong>in</strong>e weitere Aufgabe <strong>der</strong> Zauberei vollbracht,nämlich zu schreiben, ohne mich zu konzentrieren. In demAugenblick, als er dies sagte, wurde mir klar, daß das Notizenmachenmir tatsächlich kaum Aufmerksamkeit abverlangte.Es schien e<strong>in</strong>e autom atische Tätigkeit zu se<strong>in</strong>, m it <strong>der</strong> ichnichts zu tun hatte. Ich kam mir komisch vor. <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong>20 21


for<strong>der</strong>te m ich auf, m ich neben ih n , <strong>in</strong> den M ittelpunkt desKreises zu setzen. Er me<strong>in</strong>te, es sei schon zu dunkel und ich seijetzt <strong>in</strong> Gefahr, wenn ich zu nah am Chaparral säße. Mir liefe<strong>in</strong> Frösteln über den Rücken, und ich sprang zu ihm h<strong>in</strong>über.Er hieß mich nach Südosten blicken und verlangte, ich sollemir befehlen, zu schweigen und ke<strong>in</strong>erlei Gedanken zu haben.Zuerst gelang es mir nicht, und ich wurde e<strong>in</strong>en Augenblickungeduldig. <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> wandte mir den Rücken zu und sagte,ich solle mich gegen se<strong>in</strong>e Schulter stützen. Sobald ich e<strong>in</strong>malme<strong>in</strong>e Gedanken beruhigt hätte, me<strong>in</strong>te er. solle ich die Augenoffenhalten und den Blick auf das Gebüsch im Südostenrichten. M it geheimnisvoller Stimme fügte er h<strong>in</strong>zu, er wollemir e<strong>in</strong>e Aufgabe stellen, und wenn es mir gelänge, sie zulösen, dann wäre ich bereit für e<strong>in</strong>en weiteren Ausschnitt <strong>der</strong>W elt <strong>der</strong> Zauberer.Ich fragte kle<strong>in</strong>laut, welcher Art diese Aufgabe sei. Er kicherteleise. Ich wartete auf se<strong>in</strong>e Antwort, und dann schaltete irgendetwas <strong>in</strong> mir ab. Ich spürte, daß ich schwebte. M e<strong>in</strong>e Ohrenschienen sich zu öffnen, und Tausende von Geräuschen desChaparral wurden hörbar. Es waren so viele, daß ich sie ime<strong>in</strong>zelnen nicht unterscheiden konnte. Ich glaubtee<strong>in</strong>zuschlafen, und dann fesselte plötzlich etwas me<strong>in</strong>eAufmerksamkeit. Es war nichts, woran me<strong>in</strong> Denken beteiligtgewesen wäre; es war ke<strong>in</strong> visuelles B ild, auch ke<strong>in</strong> G ebilde<strong>der</strong> äußeren Umwelt, son<strong>der</strong>n me<strong>in</strong> Bewußtse<strong>in</strong> wurde durchetwas Unbestimmtes e<strong>in</strong>genommen. Ich war völlig wach.M e<strong>in</strong>e Augen konzentrierten sich auf e<strong>in</strong>e Stelle im Chaparral,aber ich schaute we<strong>der</strong> h<strong>in</strong>. noch dachte ich, noch sprach ich zumir. M e<strong>in</strong>e Gefühle waren klare Körperempf<strong>in</strong>dungen; siebedurften ke<strong>in</strong>er W orte. Ich hatte das Gefühl, als raste ichdurch etwas Unbestimmtes h<strong>in</strong>durch. W as da raste, wärennormalerweise vielleicht me<strong>in</strong>e Gedanken gewesen; jedenfallshatte ich die Empf<strong>in</strong>dung, mich mitten <strong>in</strong> e <strong>in</strong> e m Erdrutsch zubef<strong>in</strong>den, so etwas wie e<strong>in</strong>e Law<strong>in</strong>e stürzte zu Tal. und ichsteckte m ittendr<strong>in</strong>. Ich spürte den Sturz im M agen. Irgendetwas zog mich <strong>in</strong> den Chaparral. Ich konnte die dunklenM assen <strong>der</strong> Büsche vor mir nicht unterscheiden. Es handeltesich aber nicht um e<strong>in</strong>e unterschiedslose Dunkelheit, wie esnormalerweise <strong>der</strong> Fall gewesen wäre. Ich konnte jeden e<strong>in</strong>zelnenBusch sehen, als betrachtete ich sie im Zwielicht. Sieschienen sich zu bewegen: ihre Blättermassen sahen aus wieschwarze Frauenröcke, die mir entgegenwallten, als würden sievom W<strong>in</strong>d hochgeweht, aber es gab ke<strong>in</strong>en W<strong>in</strong>d. Ihrehypnotisierenden Bewegungen nahmen mich ganz gefangen; eswar e<strong>in</strong>e pulsierende Wellenbewegung, die sie immer näher zumir heranzuführen schien. Und dann nahm ich e<strong>in</strong>e hellereSilhouette wahr, die sich von den dunklen Umrissen <strong>der</strong> Büscheabzuheben schien. Ich richtete den Blick auf e<strong>in</strong>e Stelle neben<strong>der</strong> helleren Silhouette und entdeckte dort e<strong>in</strong> hellgrünesLeuchten. Dann sah ich h<strong>in</strong>. ohne me<strong>in</strong>en Blick scharfe<strong>in</strong>zustellen, und ich war sicher, daß die hellere Silhouette e<strong>in</strong>Mann war. <strong>der</strong> sich im Unterholz verbarg. In diesem Augenblickbefand ich mich <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em höchst seltsamen Zustand <strong>der</strong>Bewußtheit. Ich war mir <strong>der</strong> Umgebung und <strong>der</strong> seelischenProzesse bewußt, die diese Umgebung <strong>in</strong> mir auslöste, unddoch dachte ich nicht, wie ich für gewöhnlich denke. Als ichzum Beispiel erkannte, daß die Silhouette, die sich vom Gebüschabhob, e<strong>in</strong> Mann war. er<strong>in</strong>nerte ich mich an e<strong>in</strong>en an<strong>der</strong>enVorfall <strong>in</strong> <strong>der</strong> Wüste; damals bemerkte ich. während <strong>Don</strong>Genaro und ich e<strong>in</strong>es Nachts durch den Chaparral wan<strong>der</strong>ten,daß sich <strong>in</strong> den Büschen h<strong>in</strong>ter uns e<strong>in</strong> Mann verbarg, aber <strong>in</strong>dem Augenblick, als ich versuchte, das Phänomen rational zuerklären, hatte ich den Mann aus den Augen verloren.Diesmal jedoch wollte ich den Überblick behalten undweigerte mich, überhaupt etwas zu denken. E<strong>in</strong>en Augenblickhatte ich den E<strong>in</strong>druck, ich könne den Mann festhalten undihn zw<strong>in</strong>gen, zu bleiben, wo er war. Dann spürte ich e<strong>in</strong>enseltsamen Schmerz <strong>in</strong> <strong>der</strong> Magengrube. Irgend etwas schienmich <strong>in</strong>wendig aufzureißen, und ich konnte die Bauchmuskelnnicht mehr anspannen. Genau <strong>in</strong> dem Augenblick, als ich michdieser Empf<strong>in</strong>dung überließ, taumelte <strong>der</strong> dunkle Schattene<strong>in</strong>es riesigen Vogels o<strong>der</strong> irgende<strong>in</strong>es fliegenden Tieres ausdem Chaparral auf mich zu. Es war, als habe die Gestalt desMannes sich <strong>in</strong> die Gestalt e<strong>in</strong>es Vogels verwandelt. Ich hattedie klare, bewußte Empf<strong>in</strong>dung von Angst. Ich schnappte nachLuft, und dann stieß ich e<strong>in</strong>en lauten Schrei aus und fiel aufden Rücken.23


<strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> half mir auf. Se<strong>in</strong> Gesicht war ganz nah an me<strong>in</strong>em. Erlachte.»W as war das?« rief ich.Er gebot mir Schweigen und legte mir die Hand auf den Mund.Er brachte se<strong>in</strong>e Lippen an me<strong>in</strong> Ohr und flüsterte, wir müßtendieses Gebiet <strong>in</strong> ruhiger, gesammelter Verfassung verlassen, soals sei nichts geschehen.W ir g<strong>in</strong>gen nebene<strong>in</strong>an<strong>der</strong>. Se<strong>in</strong> Schritt war entspannt undgleichm äßig. Etliche M ale wandte er sich rasch um . Ich ta t esihm gleich, und zweimal erspähte ich e<strong>in</strong>e dunkle M asse, dieuns zu folgen schien. Ich hörte e<strong>in</strong>en lauten, unheimlichenSchrei h<strong>in</strong>ter mir. E<strong>in</strong>en Augenblick erlebte ich die re<strong>in</strong>ePanik; wellenförmige Bewegungen liefen durch me<strong>in</strong>e Bauchmuskeln;sie traten krampfartig auf und nahmen an Heftigkeitzu, bis sie me<strong>in</strong>en Körper e<strong>in</strong>fach zwangen zu laufen. Überme<strong>in</strong>e Reaktion zu sprechen ist mir nur <strong>in</strong> <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong>sTerm<strong>in</strong>ologie möglich; so kann ich sagen, daß me<strong>in</strong> Körperaufgrund <strong>der</strong> Furcht, die ich erlebte, etwas auszuführen vermochte,was <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> als »Gangart <strong>der</strong> <strong>Kraft</strong>« bezeichnete -e<strong>in</strong>e Technik, die er mich vor Jahren gelehrt hatte und diedar<strong>in</strong> bestand, <strong>in</strong> <strong>der</strong> Dunkelheit zu rennen, ohne zu stolperno<strong>der</strong> sich zu verletzen.M ir war nicht gänzlich bewußt, was ich getan hatte o<strong>der</strong> wieich es getan hatte. Plötzlich fand ich mich <strong>in</strong> <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong>s <strong>Haus</strong>wie<strong>der</strong>. Ansche<strong>in</strong>end war er ebenfalls gerannt, und wir warenzur gleichen Zeit angekommen. Er zündete se<strong>in</strong>e Petroleumlampean, hängte sie an e<strong>in</strong>en Balken an <strong>der</strong> Decke undfor<strong>der</strong>te mich beiläufig auf, Platz zu nehmen und mich zuentspannen.E<strong>in</strong>e W eile trabte ich auf <strong>der</strong> Stelle, bis ich me<strong>in</strong>e N ervositätbesser beherrschen konnte. Dann setzte ich mich. Er befahlmir nachdrücklich, so zu tun, als sei nichts geschehen, undreichte m ir m e<strong>in</strong> N otizbuch. Ich hatte nicht bemerkt, daß iches <strong>in</strong> me<strong>in</strong>er Hast, das Gebüsch zu verlassen, verloren hatte.»W as ist dort draußen geschehen, <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong>?« fragte ichschließlich.»Du hattest e<strong>in</strong>e Verabredung mit dem W issen«, sagte er undwies mit e<strong>in</strong>er Kopfbewegung zum dunklen Rand des W üstenchaparralh<strong>in</strong>über. »Ic h führte dich dorth<strong>in</strong>, weil ich vorh<strong>in</strong>mit e<strong>in</strong>em flüchtigen Blick erspähte, wie das Wissen um das<strong>Haus</strong> schlich. Man könnte sagen, das Wissen wußte, daß dukommen würdest, und erwartete dich. Statt ihm hier zu begegnen,fand ich es richtiger, ihm an e<strong>in</strong>em Platz <strong>der</strong> <strong>Kraft</strong> zubegegnen. Dann stellte ich dich auf die Probe, um zu sehen, obdu genügend persönliche <strong>Kraft</strong> hättest, um es von den übrigenD<strong>in</strong>gen um uns her zu unterscheiden. Du hast es gut gemacht.«»Augenblick mal!« protestierte ich. »Ich sah die Silhouettee<strong>in</strong>es Mannes, <strong>der</strong> sich h<strong>in</strong>ter e<strong>in</strong>em Busch verbarg, und dannsah ich e<strong>in</strong>en riesigen Vogel.«»Du hast ke<strong>in</strong>en Mann gesehen!« sagte er mit Nachdruck.»Auch hast du ke<strong>in</strong>en Vogel gesehen. Die Silhouette imGebüsch, die dann auf uns zuflog, war e<strong>in</strong> Nachtfalter. Wenndu es <strong>in</strong> <strong>der</strong> Sprache <strong>der</strong> Zauberer genau, <strong>in</strong> de<strong>in</strong>er eigenenSprache aber völlig lächerlich ausdrücken willst, dann könntestdu sagen, daß du heute abend e<strong>in</strong>e Verabredung mit e<strong>in</strong>emNachtfalter hattest. Das Wissen ist e<strong>in</strong> Nachtfalter.« Er sahmich durchdr<strong>in</strong>gend an. Das Licht <strong>der</strong> Laterne warf auf se<strong>in</strong>emGesicht seltsame Schatten. Ich wandte die Augen ab.»Vielleicht hast du persönliche <strong>Kraft</strong> genug, um dieses Geheimnisheute abend zu enträtseln«, sagte er. »Wenn nichtheute abend, dann vielleicht morgen. Vergiß nicht, du schuldestmir sechs Tage.«<strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> stand auf und g<strong>in</strong>g <strong>in</strong> die Küche an <strong>der</strong> H<strong>in</strong>terseitedes <strong>Haus</strong>es. Er nahm die Laterne und stellte sie, an die Wandgelehnt, auf den kurzen, runden Baumstrunk, <strong>der</strong> ihm alsBank diente. Wir setzten uns e<strong>in</strong>an<strong>der</strong> gegenüber auf denBoden und aßen Bohnen mit Fleisch aus e<strong>in</strong>em Topf, den erzwischen uns gestellt hatte. Wir aßen schweigend. Von Zeit zuZeit warf er mir verstohlene Blicke zu und schien jedenAugenblick <strong>in</strong> Gelächter auszubrechen. Se<strong>in</strong>e Augen warenwie zwei Schlitze. Wenn er mich ansah, weiteten sie sich etwas,und das Licht <strong>der</strong> Laterne spiegelte sich <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en feuchtenPupillen. Es war. als ob er sich das Licht zunutze machte, umdiese Reflexe zu erzeugen. Er spielte mit ihnen, <strong>in</strong>dem erjedesmal. wenn er die Augen auf mich richtete, fastunmerklich den Kopf schüttelte. Die Wirkung war e<strong>in</strong> faszi-24 25


nierendes Lichtflimmern. Erst nach etlichen Malen bemerkteich, daß er dies absichtlich tat. Ich war davon überzeugt, daßer damit e<strong>in</strong>en bestimmten Zweck verfolgte. Ich fühlte michgeradezu gezwungen, ihn danach zu fragen. »Ich habe e<strong>in</strong>entieferen Grund«, versicherte er. »Ich besänftige dich mitme<strong>in</strong>en Augen. Offenbar bist du nicht mehr so nervös, nichtwahr?«Ich mußte zugeben, daß ich mich recht wohl fühlte. Dasstetige Flimmern <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en Augen war nicht bedrohlich, und eshatte mich ke<strong>in</strong>eswegs erschreckt o<strong>der</strong> beunruhigt. »Wiekannst du mich mit den Augen besänftigen?« fragte ich.Er wie<strong>der</strong>holte se<strong>in</strong> unmerkliches Kopfschütteln. Tatsächlichspiegelte sich das Licht <strong>der</strong> Petroleumlampe <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en Pupillen.»Versuch es doch selbst e<strong>in</strong>mal«, sagte er wie nebenbei, als ernoch mal nach dem Essen griff. »Du kannst dich selbst beruhigen.«Ich versuchte den Kopf zu schütteln; me<strong>in</strong>e Bewegung fielunbeholfen aus.»Du wirst dich nicht beruhigen, wenn du <strong>der</strong>art mit dem Kopfwackelst«, sagte er lachend. »Statt dessen wirst du dir Kopfschmerzene<strong>in</strong>handeln. Das Geheimnis liegt nicht im Kopfschütteln,son<strong>der</strong>n <strong>in</strong> dem Gefühl, das aus <strong>der</strong> Gegend unterhalbdes Magens <strong>in</strong> die Augen strömt. Das ist es. was dasKopfschütteln verursacht.« Er rieb sich die Nabelgegend.Als ich mit dem Essen fertig war. lehnte ich mich bequemgegen e<strong>in</strong>en Stapel Holz und e<strong>in</strong> paar Rupfensäcke. Ich versuchtese<strong>in</strong> Kopfschütteln nachzuahmen. <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> fand dasansche<strong>in</strong>end ungeme<strong>in</strong> komisch. Er lachte und schlug sich aufdie Schenkel.Dann unterbrach plötzlich e<strong>in</strong> Geräusch se<strong>in</strong> Gelächter. Ichhörte e<strong>in</strong>en seltsamen, tiefen Klang, wie e<strong>in</strong> Pochen auf Holz,das aus dem Chaparral kam. <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> hob das K<strong>in</strong>n, um mirzu bedeuten, ich solle wachsam bleiben. »Das ist <strong>der</strong> kle<strong>in</strong>eNachtfalter, <strong>der</strong> dich ruft«, sagte er mit tonloser Stimme. Ichsprang auf die Füße. Augenblicklich hörte das Geräusch auf. Ichsah <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> an und erwartete e<strong>in</strong>eErklärung. Er machte e<strong>in</strong>e komische Gebärde <strong>der</strong> Hilflosigkeitund hob die Schultern.»Du hast de<strong>in</strong>e Verabredung noch nicht e<strong>in</strong>gehalten«, fügte erh<strong>in</strong>zu.Ich sagte ihm , ich fühlte m ich wertlos und sollte vielleicht nach<strong>Haus</strong>e fahren, um wie<strong>der</strong>zukommen, wenn ich mich stärkerfühlte.»Du redest Uns<strong>in</strong>n«, fuhr er mich an. »E<strong>in</strong> Krieger nimmtse<strong>in</strong> Los auf sich, was es auch sei, und akzeptiert es <strong>in</strong>äußerster D em ut. Er akzeptiert dem ütig, was er ist, und diesist ihm ke<strong>in</strong> Anlaß zu bedauern, son<strong>der</strong>n e<strong>in</strong>e starke Herausfor<strong>der</strong>ung.Je<strong>der</strong> von uns braucht Zeit, um diesen Punkt zu verstehen undihn voll zu erleben. Ich zum Beispiel haßte früher die bloßeErwähnung des W ortes >Demut


»Du hältst dich an die Demut des Bettlers«, sagte er sanft.»Du beugst den Kopf vor <strong>der</strong> Vernunft.« »Ich glaube immer,daß mich jemand here<strong>in</strong>legt«, sagte ich. »Das ist <strong>der</strong> Kernme<strong>in</strong>es Problems.«»Da magst du recht haben. Du wirst here<strong>in</strong>gelegt«, erwi<strong>der</strong>teer mit entwaffnendem Lächeln. »Dies kann aber nicht de<strong>in</strong>Problem se<strong>in</strong>. <strong>Der</strong> eigentliche Kern <strong>der</strong> Sache ist, daß duglaubst, ich lüge dich absichtlich an. Habe ich recht?« »Ja. Daist etwas <strong>in</strong> mir, das mich nicht glauben läßt, daß das. wasgeschieht, wirklich ist.«»Du hast wie<strong>der</strong> recht. Nichts von alledem, was geschieht, istwirklich.«»Was me<strong>in</strong>st du damit, <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong>?«»Die D<strong>in</strong>ge s<strong>in</strong>d erst dann wirklich, wenn man sich auf ihreWirklichkeit gee<strong>in</strong>igt hat. Was zum Beispiel heute abendpassiert ist, kann für dich unmöglich wirklich se<strong>in</strong>, weil sichniemand mit dir darüber e<strong>in</strong>igen könnte.« »Willst du damitsagen, du hättest nicht gesehen, was geschah?«»Natürlich sah ich es. Aber ich kümmere mich nicht darum.Ich b<strong>in</strong> es doch, <strong>der</strong> dich anschw<strong>in</strong>delt, weißt du noch?« <strong>Don</strong><strong>Juan</strong> lachte, bis er hustete und keuchte. Obwohl er sich übermich lustig machte, war se<strong>in</strong> Lachen freundlich. »Gib nichtallzu viel auf me<strong>in</strong>en Uns<strong>in</strong>n«, beruhigte er mich. »Ichversuche dir nur zu helfen, dich zu entspannen, und ich weiß,daß dir nur wohl ist, wenn du völlig durche<strong>in</strong>an<strong>der</strong> bist.«Se<strong>in</strong> Gesichtsausdruck war gewollt komisch, und wir lachtenbeide. Was er eben gesagt hatte, me<strong>in</strong>te ich zu ihm, mache mirmehr Angst als alles an<strong>der</strong>e. »Hast du Angst vor mir?« fragteer. »Nicht vor dir, aber vor dem, wofür du e<strong>in</strong>trittst.« »Ichtrete für die Freiheit e<strong>in</strong>es Kriegers e<strong>in</strong>. Hast du davor Angst?«»Ne<strong>in</strong>. Aber ich habe Angst vor <strong>der</strong> furchtbaren Entrücktheitde<strong>in</strong>es Wissens. Dar<strong>in</strong> ist ke<strong>in</strong> Trost für mich, ke<strong>in</strong> sichererHafen, <strong>in</strong> den ich mich flüchten könnte.« »Schon wie<strong>der</strong>br<strong>in</strong>gst du die D<strong>in</strong>ge durche<strong>in</strong>an<strong>der</strong>. Trost, sicherer Hafen,Furcht, all dies s<strong>in</strong>d Stimmungen, die du28gelernt hast, ohne jemals ihren Wert <strong>in</strong> Frage zu stellen. Wieman sieht, hast du dich schon ganz den Schwarzen Magiernverschrieben.«»Wer s<strong>in</strong>d die Schwarzen Magier. <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong>?« »Die SchwarzenMagier s<strong>in</strong>d unsere Mitmenschen. Und da du zu ihnen gehörst,bist auch du e<strong>in</strong> Schwarzer Magier. Denk mal e<strong>in</strong>enAugenblick nach! Kannst du von dem Weg abweichen, den siedir vorschreiben? Ne<strong>in</strong>. De<strong>in</strong> Denken und de<strong>in</strong> Handeln s<strong>in</strong>dauf ewig nach ihren Bed<strong>in</strong>gungen festgelegt. Das istSklaverei. Ich dagegen habe dir Freiheit gebracht. Freiheitist teuer, aber <strong>der</strong> Preis ist nicht unerschw<strong>in</strong>glich. Darumfürchte de<strong>in</strong>e Gefängniswärter, de<strong>in</strong>e Meister! Vergeude nichtde<strong>in</strong>e Zeit und de<strong>in</strong>e <strong>Kraft</strong>, <strong>in</strong>dem du Angst vor mir hast!«Ich wußte, daß er recht hatte, und doch, trotz me<strong>in</strong>er ehrlichenZustimmung, wußte ich auch, daß me<strong>in</strong>e lebenslangenGewohnheiten mich unausweichlich auf me<strong>in</strong>em alten Wegfesthalten würden. Tatsächlich, ich kam mir wie e<strong>in</strong> Sklavevor.Nach langem Schweigen fragte mich <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong>, ob ich michstark genug für e<strong>in</strong>e weitere Begegnung mit dem W issenfühlte.»Du me<strong>in</strong>st, mit dem Nachtfalter?« fragte ich h a lb im Scherz.Se<strong>in</strong> Körper krümmte sich vor Lachen. Es war. als hätte ichihm eben den besten Witz <strong>der</strong> Welt erzählt. »Was meist duwirklich, wenn du sagst, das Wissen sei e<strong>in</strong> Nachtfalter?«fragte ich.»Ich habe nichts an<strong>der</strong>es im S<strong>in</strong>n«, erwi<strong>der</strong>te er. »E<strong>in</strong> Nachtfalterist e<strong>in</strong> Nachtfalter. Ich hatte geglaubt, daß du jetzt, nachallem, was du vollbracht hast, genügend <strong>Kraft</strong> hättest, um zusehen. Statt dessen hast du e<strong>in</strong>en Mann wahrgenommen, unddas war nicht das wirkliche Sehen.«Vom Anfang me<strong>in</strong>er Lehrzeit an hatte <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> mir das»Sehen« als e<strong>in</strong>e beson<strong>der</strong>e Fähigkeit geschil<strong>der</strong>t, die manentwickeln könne und die e<strong>in</strong>em erlaubte, das »<strong>in</strong>nerste«Wesen <strong>der</strong> D<strong>in</strong>ge zu erfassen.In den Jahren unserer Verb<strong>in</strong>dung hatte ich die Vorstellunggewonnen, daß das. was er unter »Sehen« verstand, e<strong>in</strong> <strong>in</strong>tui-29


tives Begreifen <strong>der</strong> D<strong>in</strong>ge ist, o<strong>der</strong> die Fähigkeit, etwas unmittelbarzu verstehen, o<strong>der</strong> die Eigenschaft, menschliche Interaktionenzu durchschauen und verborgene Bedeutungen undMotive zu entdecken.»Ich könnte es so beschreiben, daß du heute abend, als du denNachtfalter erblicktest, halb schautest und halb sahst«, fuhr<strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> fort. »Obgleich du <strong>in</strong> diesem Zustand nicht gänzlichde<strong>in</strong> gewohntes Selbst warst, warst du doch <strong>in</strong> <strong>der</strong> Lage, vollbewußt zu se<strong>in</strong>, um dich de<strong>in</strong>er Kenntnis <strong>der</strong> Welt zu bedienen.«<strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> machte e<strong>in</strong>e Pause und schaute mich an. Zuerstwußte ich nicht, was ich sagen sollte. Dann fragte ich: »Wiebediente ich mich me<strong>in</strong>er Kenntnis <strong>der</strong> Welt?« »De<strong>in</strong>eKenntnis <strong>der</strong> Welt sagte dir, daß sich im Gebüsch nurumherschleichende Tiere o<strong>der</strong> Menschen verstecken können.An diesem Gedanken hieltst du fest, und natürlich mußtest due<strong>in</strong>e Möglichkeit f<strong>in</strong>den, die Welt <strong>in</strong> Übere<strong>in</strong>stimmung mitdiesem Gedanken zu br<strong>in</strong>gen.« »Aber ich dachte überhauptnichts. <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong>.« »Nun, nennen wir es nicht Denken. Es isteher die Gewohnheit, die Welt stets <strong>in</strong> Übere<strong>in</strong>stimmung mitunseren Gedanken zu sehen. Wenn sie dies nicht ist. sorgen wire<strong>in</strong>fach dafür, daß sie übere<strong>in</strong>stimmt. Nachtfalter, groß wie e<strong>in</strong>Mann, kann man sich nicht e<strong>in</strong>mal <strong>in</strong> Gedanken ausmalen,daher mußte das, was sich im Gebüsch bewegte, für dich e<strong>in</strong>Mann se<strong>in</strong>. Dasselbe geschah mit dem Koyoten. De<strong>in</strong>e altenGewohnheiten bestimmten auch den Charakter dieserBegegnung. Irgend etwas ereignete sich zwischen dir und demKoyoten, aber es war ke<strong>in</strong> Gespräch. Ich selbst war e<strong>in</strong>mal <strong>in</strong>e<strong>in</strong>em gleichen Dilemma. Ich habe dir erzählt, daß ich e<strong>in</strong>malmit e<strong>in</strong>em Reh sprach; und du hast nun mit e<strong>in</strong>em Koyotengesprochen, aber we<strong>der</strong> du noch ich werden jemals wissen,was bei diesen Gelegenheiten wirklich geschah.« »Was erzählstdu mir da, <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong>?«»Als ich die Erklärung <strong>der</strong> Zauberer begriff, da war es zu spät,um zu erkennen, was das Reh mit mir anstellte. Ich sagte, daßwir mite<strong>in</strong>an<strong>der</strong> sprachen, aber so war es nicht. Wenn ich sage,daß wir e<strong>in</strong> Gespräch hatten, dann ist dies nur e<strong>in</strong>e bildlicheRedeweise, die mir hilft, daß ich darüber sprechen kann. Das30Reh und ich taten irgend etwas, aber damals, als dies geschah,mußte ich die Welt <strong>in</strong> Übere<strong>in</strong>stimmung mit me<strong>in</strong>en Gedankenbr<strong>in</strong>gen, genau wie du es tust. Me<strong>in</strong> Leben lang habe ichgeredet, genau wie du. deshalb beherrschten me<strong>in</strong>e Gewohnheitenmich weiter und erstreckten sich auch auf das Reh. Alsdas Reh zu mir kam und etwas tat. was es auch se<strong>in</strong> mochte,war ich gezwungen, dies als Reden zu verstehen.« »Ist dies dieErklärung <strong>der</strong> Zauberer 1 « »N e<strong>in</strong>. Dies ist me<strong>in</strong>e Erklärung, dieich dir gebe. Aber sie wi<strong>der</strong>spricht nicht <strong>der</strong> Erklärung <strong>der</strong>Zauberer.« Diese Feststellung versetzte mich <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e starkeseelische Erregung. E<strong>in</strong>en Augenblick lang vergaß ich denumherschleichenden Nachtfalter und sogar m e<strong>in</strong> Mitschreiben.Ich versuchte, se<strong>in</strong>e Äußerungen mit me<strong>in</strong>en eigenen Wortenwie<strong>der</strong>zugeben, und wir vertieften uns <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e langeDiskussion über den reflexiven Charakter unserer W elt. DieWelt mußte. wie <strong>Don</strong> Ju a n me<strong>in</strong>te, m it ihrer Beschreibungübere<strong>in</strong>stimmen; das heißt, die Beschreibung reflektierte sichselbst. E <strong>in</strong> weiterer Punkt se<strong>in</strong>er Erläuterungen war. daß wirgelern t hätten, uns zu unserer Beschreibung <strong>der</strong> Welt m ittelsdessen zu verhalten, was er als »Gewohnheiten« bezeichnete.Ich führte e<strong>in</strong>en, w ie ich glaubte, umfassen<strong>der</strong>en Begriff e<strong>in</strong>,nämlich Intentionalität. die Eigenschaft menschlichen Bewußtse<strong>in</strong>s.mit <strong>der</strong>en H ilfe man sich auf e<strong>in</strong> O b je k t beziehto<strong>der</strong> es <strong>in</strong>tendiert.Unser Gespräch fü h rte zu e<strong>in</strong>er sehr <strong>in</strong>teressanten Spekulation.B e tra c h te te m an m e <strong>in</strong> » R e d e n « m i t dem K oyoten imLicht von <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong>s Erklärung, dann nahm es e<strong>in</strong>en n eu enCharakter an. Tatsachlich hatte ich den Dialog »<strong>in</strong>tendiert«,da ich nie e<strong>in</strong> an<strong>der</strong>es M ittel <strong>der</strong> <strong>in</strong>tentionalen Kommunikationgekannt habe. Ich hatte m ich auch erfo lgreich an dieBeschreibung an g ep aß t, daß Kommunikation durch den D ialogstattf<strong>in</strong>det, und so hatte ich es dah<strong>in</strong> gebracht, daß dieBeschreibung sich selbst reflektierte.E<strong>in</strong>en Augenblick geriet ich völlig <strong>in</strong> Verzückung. <strong>Don</strong> Ju anlachte u n d me<strong>in</strong>te, die Tatsache, daß ich mich <strong>der</strong>art vonW orten bee<strong>in</strong>drucken lasse, sei e <strong>in</strong> weiteres Zeichen m e<strong>in</strong>erD um m heit. Er m achte e <strong>in</strong> e kom ische G rimasse la u tlo se nSprechens.


»Alle fallen wir auf den gleichen Quatsch here<strong>in</strong>«, sagte ernach langer Pause. »Die e<strong>in</strong>zige Möglichkeit, dies zu überw<strong>in</strong>den,besteht dar<strong>in</strong>, beharrlich wie e<strong>in</strong> Krieger zu handeln.Das übrige kommt von selbst und durch sich selbst.« »Was istdas übrige, <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong>?«»Wissen und <strong>Kraft</strong>. Die Wissenden haben beides. Und dochkönnte ke<strong>in</strong>er von ihnen sagen, wie er dah<strong>in</strong> gelangt ist, es zubesitzen, außer daß er stets wie e<strong>in</strong> Krieger handelte und daß<strong>in</strong> e<strong>in</strong>em bestimmten Augenblick sich alles än<strong>der</strong>te.« Er sahmich an. Er schien unentschlossen, dann stand er auf und sagte,es bleibe mir nichts an<strong>der</strong>es übrig, als me<strong>in</strong>e Verabredungmit dem Wissen e<strong>in</strong>zuhalten. E<strong>in</strong> Frösteln überkam mich; me<strong>in</strong>Herz schlug schneller. Ich stand auf. <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> umkreiste mich,als wolle er me<strong>in</strong>en Körper von allen Seiten untersuchen. Ergab mir e<strong>in</strong> Zeichen, ich solle mich setzen und weiterschreiben.»Wenn du zuviel Angst hast, wirst du de<strong>in</strong>e Verabredung nichte<strong>in</strong>halten können«, sagte er. »E<strong>in</strong> Krieger muß ruhig undgesammelt se<strong>in</strong>, und er darf niemals die Nerven verlieren.«»Ich fürchte mich wirklich«, sagte ich. »Nachtfalter o<strong>der</strong> wassonst, da draußen schleicht etwas durch die Büsche.«»Natürlich ist da etwas!« rief er. »Ich beanstande nur, daß dubeharrlich glaubst, es sei e<strong>in</strong> Mann, genau wie du beharrlichdenkst, du hättest mit e<strong>in</strong>em Koyoten geredet.« E<strong>in</strong> Teil vonmir verstand vollkommen, was er sagte; da war jedoch noch e<strong>in</strong>an<strong>der</strong>er Teil me<strong>in</strong>er selbst, <strong>der</strong> nicht aufgeben wollte und sich,dem Augensche<strong>in</strong> zum Trotz, an die »Vernunft« klammerte.Ich sagte <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong>, daß se<strong>in</strong>e Erklärung me<strong>in</strong>e S<strong>in</strong>ne nichtzufriedenstelle, wenngleich ich ihr <strong>in</strong>tellektuell völlig zustimmte.»Das ist ja <strong>der</strong> Fehler an den Worten«, sagte er <strong>in</strong> überzeugendemTon. »Sie zw<strong>in</strong>gen uns stets, uns aufgeklärt zu fühlen,aber kaum drehen wir uns um und betrachten die Welt, wie sieist, lassen sie uns im Stich, und wir betrachten die Weltschließlich, wie wir es immer taten, ohne jede Aufklärung. Ausdiesem Grund ist e<strong>in</strong> Zauberer bestrebt, lieber zu handeln, stattzu sprechen, und zu diesem Zweck übernimmt ere<strong>in</strong>e neue Beschreibung <strong>der</strong> W elt - e<strong>in</strong>e neue Beschreibung,wo Reden nicht so wichtig ist und wo neue Taten neueReflexion nach sich ziehen.«Er setzte sich neben mich, starrte mir <strong>in</strong> die Augen undfor<strong>der</strong>te mich auf, auszusprechen, was ich wirklich im Chaparral»gesehen« hätte.Ich stand vor e<strong>in</strong>em beunruhigenden W i<strong>der</strong>spruch; Ich hattedie dunkle Gestalt e<strong>in</strong>es M annes gesehen, aber ich hatte auchgesehen, wie diese Gestalt sich <strong>in</strong> e<strong>in</strong>en Vogel verwandelte.Ich hatte also mehr erlebt, als me<strong>in</strong>e Vernunft mir für möglichzu halten gestattete. Statt aber me<strong>in</strong>e Vernunft überhaupt ausdem Spiel zu lassen, h a tte e<strong>in</strong> Teil m e<strong>in</strong>er selbst gewisseElemente me<strong>in</strong>er Erfahrung - etwa die Größe und die grobenUmrissen <strong>der</strong> dunklen Gestalt - herausgegriffen und sie alsvernünftige M öglichkeiten <strong>in</strong> Betracht gezogen, wobei ichan<strong>der</strong>e Elemente außer acht ließ, so etwa den Umstand, daßdie dunkle Gestalt sich <strong>in</strong> e<strong>in</strong>en Vogel verwandelt hatte.Folglich war ich zu <strong>der</strong> Überzeugung gelangt, daß ich e<strong>in</strong>enM ann gesehen hatte.Als ich m e<strong>in</strong>e V erlegenheit <strong>in</strong> W orte faßte, schüttelte D on<strong>Juan</strong> sich vor Lachen. Er me<strong>in</strong>te, früher o<strong>der</strong> später werde dieErklärung <strong>der</strong> Zauberer mir behilflich se<strong>in</strong>, und dann werdealles vollkommen klarwerden, ohne deshalb notwendig vernünftigo<strong>der</strong> unvernünftig zu se<strong>in</strong>.»Inzwischen kann ich nur e<strong>in</strong>es für dich tun, nämlich dirversichern, daß es ke<strong>in</strong> M ann war«, sagte er. <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong>swachsam er B lick entnervte m ich. U nwillkürlich zitterte ich amganzen Leib. Er machte mich verlegen und nervös.»Ich suche nach irgendwelchen Zeichen an de<strong>in</strong>em Körper«,erklärte er. »V ielleicht weißt du es nicht, aber heute abendhattest du dort draußen e<strong>in</strong>e ziemliche <strong>Kraft</strong>probe zu bestehen.«»Nach was für Zeichen suchst du denn?« »Ke<strong>in</strong>e wirklichenphysischen Zeichen an de<strong>in</strong>em Körper, son<strong>der</strong>n M ale,Anzeichen de<strong>in</strong>er leuchtenden Fasern, glänzende Flecken. W irs<strong>in</strong>d leuchtende W esen, und alles, was wir s<strong>in</strong>d, o<strong>der</strong> alles, waswir fühlen, zeigt sich an unseren Fasern. Die M enschen zeigene<strong>in</strong> für sie eigentümliches Leuchten.32 33


Dies ist die e<strong>in</strong>zige Möglichkeit, sie von an<strong>der</strong>en lebendenleuchtenden Wesen zu unterscheiden.»Hättest du heute abend gesehen, dann hättest du bemerkt, daßdie Gestalt im Gebüsch ke<strong>in</strong> lebendes leuchtendes Wesen war.«Ich wollte noch weiterfragen, aber er legte mir die Hand aufden Mund und gebot mir Schweigen. Dann näherte er sichme<strong>in</strong>em Ohr und flüsterte mir zu, ich solle horchen undversuchen, e<strong>in</strong> leises Rascheln zu hören, die sanften, gedämpftenSchritte e<strong>in</strong>es Nachtfalters auf dem trockenen Laub und aufden Zweigen am Boden.Ich hörte nichts. Plötzlich stand <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> auf, nahm dieLaterne und sagte, wir sollten uns auf die Veranda vor se<strong>in</strong>er<strong>Haus</strong>tür setzen. Er führte mich zur H<strong>in</strong>tertür h<strong>in</strong>aus und. amRande des Chaparral entlang, ums <strong>Haus</strong> herum statt durch denInnenraum und die Vor<strong>der</strong>tür. Er erklärte, es sei wichtig, daßwir unsere Anwesenheit zu erkennen gäben. Wir g<strong>in</strong>gen imHalbkreis l<strong>in</strong>ks um das <strong>Haus</strong>. <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong>s Gang war quälendlangsam. Se<strong>in</strong>e Schritte waren tapsig und schwankend. Se<strong>in</strong>eHand mit <strong>der</strong> Laterne zitterte.Ich fragte, ob ihm etwas fehle. Er w<strong>in</strong>kte mich heran undflüsterte mir zu, <strong>der</strong> große Nachtfalter, <strong>der</strong> hier umherschleiche,habe e<strong>in</strong>e Verabredung mit e<strong>in</strong>em jungen Mann, und <strong>der</strong>langsame Gang e<strong>in</strong>es schwachen, alten Mannes sei das geeigneteMittel um anzuzeigen, wem die Verabredung gelte. Nachdemwir schließlich die Vor<strong>der</strong>front des <strong>Haus</strong>es erreicht hatten,hängte <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> die Laterne an e<strong>in</strong>en Balken und hieß mich,mit dem Rücken gegen die Wand zu sitzen. Er setzte sichrechts neben mich.»Hier werden wir sitzenbleiben«, sagte er, »und du wirstschreiben und dich ganz normal mit mir unterhalten. <strong>Der</strong>Nachtfalter, <strong>der</strong> dich heute angefallen hat, ist dort draußen imGebüsch. Nach e<strong>in</strong>iger Zeit wird er näher kommen, um nachdir zu schauen. Darum habe ich auch die Laterne direkt überdir aufgehängt. Das Licht wird den Nachtfalter leiten, damit erdich f<strong>in</strong>de. Wenn er den Rand des Gebüschs erreicht, wird erdich rufen. Es ist e<strong>in</strong> ganz beson<strong>der</strong>es Geräusch. Schon dasGeräusch alle<strong>in</strong> kann dir vielleicht helfen.« »Was ist das füre<strong>in</strong> Geräusch, <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong>?«34»Es ist e<strong>in</strong> Gesang. E<strong>in</strong> beschwören<strong>der</strong> Lockruf, den Nachtfalterausstoßen. Gewöhnlich kann man ihn nicht hören, aber<strong>der</strong> Falter dort draußen ist e<strong>in</strong> ungewöhnlicher Nachtfalter; duwirst se<strong>in</strong>en Ruf ganz klar hören, und vorausgesetzt, daß dumakellos bist, wird er den Rest de<strong>in</strong>es Lebens bei dir bleiben.«»Wobei wird er mir helfen?«»Heute nacht wirst du versuchen, etwas zu vollenden, was dubereits begonnen hast. Das Sehen geschieht nur, wenn es demKrieger gel<strong>in</strong>gt, se<strong>in</strong>en <strong>in</strong>neren Dialog anzuhalten. Heute hastdu, dort draußen im Gebüsch, willentlich de<strong>in</strong> Selbstgesprächangehalten. Und du hast gesehen. Was du sahst, war nicht klar.Du glaubtest, es sei e<strong>in</strong> Mann. Ich sage, es war e<strong>in</strong> Nachtfalter.Ke<strong>in</strong>er von uns hat recht, aber nur deshalb, weil wir sprechen,uns mit Worten verständigen müssen. Trotzdem b<strong>in</strong> ich imVorteil, weil ich besser sehe als du und weil ich mit <strong>der</strong>Erklärung <strong>der</strong> Zauberer vertraut b<strong>in</strong>; daher weiß ich, auchwenn es nicht ganz richtig ist, daß die Gestalt, die du heuteabend sahst, e<strong>in</strong> Nachtfalter war. Und jetzt wirst duschweigend und ohne Gedanken hier abwarten und diesenkle<strong>in</strong>en Nachtfalter wie<strong>der</strong> zu dir kommen lassen.«Ich konnte kaum mitschreiben. <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> lachte und drängtemich, weiterzuschreiben, als ob nichts mich beunruhigte. Erfaßte mich am Arm und me<strong>in</strong>te, das Schreiben sei <strong>der</strong> besteSchutzschild, den ich hätte.»Wir haben noch nie über die Nachtfalter gesprochen«, fuhr erfort. »Bis jetzt war <strong>der</strong> richtige Zeitpunkt noch nichtgekommen. Wie du weißt, war de<strong>in</strong> Geist nicht im Gleichgewicht.Um dem entgegenzuwirken, habe ich dich gelehrt, wiee<strong>in</strong> Krieger zu leben. Du weißt, e<strong>in</strong> Krieger geht von <strong>der</strong>Gewißheit aus, daß se<strong>in</strong> Geist aus dem Gleichgewicht geratenist; dadurch, daß er <strong>in</strong> vollkommener Selbstkontrolle undBewußtheit. aber ohne Eile o<strong>der</strong> Zwang lebt, tut er se<strong>in</strong>Äußerstes und Bestes, um se<strong>in</strong> Gleichgewicht zu erlangen. Inde<strong>in</strong>em Fall, wie im Fall e<strong>in</strong>es jeden Menschen, war de<strong>in</strong>Ungleichgewicht durch die Summe aller de<strong>in</strong>er Handlungenbed<strong>in</strong>gt. Aber jetzt sche<strong>in</strong>t de<strong>in</strong> Geist im richtigen Zustand zuse<strong>in</strong>, um über die Nachtfalter zu sprechen.«35


»Woher wußtest du, daß dies <strong>der</strong> richtige Zeitpunkt ist, umüber die Nachtfalter zu sprechen?«»Als du ankamst, konnte ich e<strong>in</strong>en kurzen Blick auf denumherschleichenden Nachtfalter werfen. Dies war das ersteMal, daß er sich freundlich und offen zeigte. Ich hatte ihnschon vorher, <strong>in</strong> den Bergen bei Genaros <strong>Haus</strong>, gesehen, abernur als e<strong>in</strong>e bedrohliche Gestalt, die de<strong>in</strong>en Mangel an Ordnungwi<strong>der</strong>spiegelte.«In diesem Augenblick hörte ich e<strong>in</strong> seltsames Geräusch. Es warwie das gedämpfte Knarren e<strong>in</strong>es Astes, <strong>der</strong> sich an e<strong>in</strong>eman<strong>der</strong>en reibt, o<strong>der</strong> wie das aus <strong>der</strong> Ferne gehörte Tuckerne<strong>in</strong>es kle<strong>in</strong>en Motors. Se<strong>in</strong>e Tonhöhe verän<strong>der</strong>te sich, be<strong>in</strong>ahmusikalisch, und schuf e<strong>in</strong>en unheimlichen Rhythmus. Dannhörte es auf.»Das war <strong>der</strong> Nachtfalter«, sagte <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong>. »Vielleicht hast duschon bemerkt, daß hier, obwohl das Licht <strong>der</strong> Laterne hellgenug wäre, um Nachtfalter anzuziehen, ke<strong>in</strong> e<strong>in</strong>ziger umherfliegt.«Dies war mir nicht aufgefallen, aber kaum hatte <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> michdarauf aufmerksam gemacht, bemerkte ich ebenfalls dieunglaubliche Stille <strong>in</strong> <strong>der</strong> Wüste und vor dem <strong>Haus</strong>. »Werdenicht nervös«, sagte er ruhig. »In dieser Welt gibt es nichts,was e<strong>in</strong> Krieger sich nicht erklären könnte. Siehst du, e<strong>in</strong>Krieger betrachtet sich als bereits gestorben, daher hat er nichtszu verlieren. Das Schlimmste ist ihm schon wi<strong>der</strong>fahren, daherbleibt er klar und ruhig; nach se<strong>in</strong>en Taten o<strong>der</strong> Worten zuurteilen, käme niemand auf den Verdacht, daß er etwasBeson<strong>der</strong>es beobachtet hat.«<strong>Don</strong> <strong>Juan</strong>s Worte, und vor allem se<strong>in</strong>e Stimme, wirkten sehrberuhigend auf mich. Ich erzählte ihm, daß ich <strong>in</strong> me<strong>in</strong>emtäglichen Leben nicht mehr wie e<strong>in</strong>st jene zwanghafte Angstverspürte, daß aber me<strong>in</strong> Körper bei dem Gedanken an das,was dort draußen <strong>in</strong> <strong>der</strong> Dunkelheit lauerte, sich vor Angst <strong>in</strong>Krämpfen wand.»Dort draußen ist nur das Wissen«, stellte er sachlich fest.»Das Wissen jagt Furcht e<strong>in</strong>, das ist wahr. Aber wenn <strong>der</strong>Krieger die beängstigende Natur des Wissens akzeptiert, danndurchkreuzt er se<strong>in</strong>e Furchtbarkeit.« Das seltsame pochendeGeräusch setzte wie<strong>der</strong> e<strong>in</strong>. Es kammir jetzt näher und lauter vor. Ich horchte aufmerksam. Jemehr ich darauf achtete, desto schwerer konnte ich bestimmen,was es war. Offenbar war es ke<strong>in</strong> Vogelruf, auch nicht <strong>der</strong>Schrei e<strong>in</strong>es Landtieres. Je<strong>der</strong> e<strong>in</strong>zelne Ton war voll und tief;e<strong>in</strong>ige hielten sich <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er tiefen Tonlage, an<strong>der</strong>e <strong>in</strong> e<strong>in</strong>erhohen. Sie hatten e<strong>in</strong>en eigenen Rhythmus und e<strong>in</strong>e bestimmteDauer; e<strong>in</strong>ige waren lang, ich hörte sie wie e<strong>in</strong>e e<strong>in</strong>zigeK lange<strong>in</strong>heit; an<strong>der</strong>e waren kurz und gehäuft, wie das Stakkatoe<strong>in</strong>es M asch<strong>in</strong>engewehrs.»Die Nachtfalter s<strong>in</strong>d die Boten o<strong>der</strong> besser gesagt, die W ächter<strong>der</strong> Ewigkeit«, sagte <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong>, nachdem das Geräuschaufgehört hatte. »Aus irgende<strong>in</strong>em Grund, o<strong>der</strong> aus gar ke<strong>in</strong>emGrund, s<strong>in</strong>d sie die Bewahrer des Goldstaubs <strong>der</strong> Ewigkeit.«Diese M etapher war mir fremd. Ich bat ihn, sie zu erklären. »DieNachtfalter haben e<strong>in</strong>en Staub auf den Flügeln«, sagte er.»E<strong>in</strong>en dunkel-goldenen Staub. Dieser Staub ist <strong>der</strong> Staub desW issens.«Se<strong>in</strong>e Erklärung machte die M etapher noch unverständlicher.Ich schwankte e<strong>in</strong>en Augenblick, während ich überlegte, wieich me<strong>in</strong>e Frage am besten <strong>in</strong> W orte fassen könnte. Aber erhob wie<strong>der</strong> an zu sprechen.»Das W issen ist e<strong>in</strong>e höchst eigenartige Sache«, sagte er,»beson<strong>der</strong>s für e<strong>in</strong>en Krieger. Für den Krieger ist das W issenetwas, das plötzlich kom m t, i h n überwältigt und m itre iß t.«»W as hat das W issen mit dem Staub auf den Flügeln <strong>der</strong>Nachtfalter zu tun?« fragte ich nach langer Pause. »Das W issenschwebt heran wie Flocken von Goldstaub, vom gleichen Staub,<strong>der</strong> die Flügel <strong>der</strong> N achtfalter bedeckt. D aher wirkt das W issenauf den Krieger, als nähme er e<strong>in</strong>e Dusche, als ließe er sich vonden dunkel-goldenen Staubflocken beregnen.«Ich suchte mich höflich auszudrücken, aber ich mußte ihmdoch sagen, daß se<strong>in</strong>e Erklärungen mich e<strong>in</strong>igermaßen verwirrthätten. Er lachte und versicherte m ir, er rede völlig k la r, nurgestatte me<strong>in</strong>e Vernunft mir nicht, dies zuzugeben. »DieNachtfalter s<strong>in</strong>d seit undenklichen Zeiten die vertrautenFreunde und Helfer <strong>der</strong> Zauberer«, sagte er. »Ich habe diesesThema bisher nicht erwähnt, weil du nicht bereit warst.«36 37


»Aber wieso kann <strong>der</strong> Staub auf ihren Flügeln Wissen se<strong>in</strong>?«»Du wirst es sehen.«Er legte die Hand auf me<strong>in</strong> Notizbuch und befahl mir, dieAugen zu schließen und ruhig zu werden, ohne jeden Gedanken.<strong>Der</strong> Ruf des Nachtfalters im Chaparral, m e<strong>in</strong>te er, werde m irhelfen. Wenn ich darauf achte, werde er mir von bevorstehendenEreignissen erzählen. Er räumte e<strong>in</strong>, daß er we<strong>der</strong> wisse, wiesich die Kommunikation zwischen dem Nachtfalter und mirherstellen, noch um was es bei dieser Kommunikation gehenwerde. Er for<strong>der</strong>te mich auf, unbefangen und zuversichtlichzu se<strong>in</strong> und auf me<strong>in</strong>e persönliche <strong>Kraft</strong> zu vertrauen.Nach e<strong>in</strong>er anfänglichen Phase <strong>der</strong> Ungeduld und Nervositätgelang es mir, mich zu beruhigen. Me<strong>in</strong>e Gedanken wurdenim m er weniger, bis m e<strong>in</strong> Geist völlig leer war. Die Geräuschedes W üstenchaparral schienen im gleichen M aß lauter zuwerden, wie ich ruhiger wurde.Das seltsame Geräusch, das, wie <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> me<strong>in</strong>te, von e<strong>in</strong>emNachtfalter herrührte, war wie<strong>der</strong> da. Ich registrierte es als e<strong>in</strong>Gefühl im Körper, nicht als e<strong>in</strong>en Gedanken <strong>in</strong> me<strong>in</strong>em Kopf.Ich stellte fest, daß es überhaupt nicht bedrohlich o<strong>der</strong> fe<strong>in</strong>dseligwar. Es war lieblich und e<strong>in</strong>fach. Wie <strong>der</strong> Ruf e<strong>in</strong>esK<strong>in</strong>des. Es rief die Er<strong>in</strong>nerung an e<strong>in</strong>en kle<strong>in</strong>en Jungen wach,den ich e<strong>in</strong>st gekannt hatte. Die langen Töne er<strong>in</strong>nerten michan se<strong>in</strong>en runden, blonden Kopf, die kurzen Stakkato-Klänge anse<strong>in</strong> Lachen. E<strong>in</strong> schmerzliches Gefühl bedrückte mich, unddoch war me<strong>in</strong> Geist leer von Gedanken; ich spürte denSchmerz körperlich. Ich konnte nicht mehr aufrecht sitzen undglitt nach <strong>der</strong> Seite zu Boden. Me<strong>in</strong>e Trauer wurde so heftig,daß me<strong>in</strong> Denken wie<strong>der</strong> e<strong>in</strong>setze. Ich überlegte, was es mitme<strong>in</strong>em Schmerz und me<strong>in</strong>em Kummer auf sich haben mochte,und plötzlich fand ich mich mitten <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Selbstgespräch überden kle<strong>in</strong>en Jungen. Das pochende Geräusch hatte aufgehört.Me<strong>in</strong>e Augen waren geschlossen. Ich hörte, wie <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong>aufstand, und dann spürte ich, wie er mir half, mich aufrechtzu setzen. Ich wollte nicht sprechen. Auch er sagte ke<strong>in</strong> W ort.Ich hörte se<strong>in</strong>e Schritte. Dann öffnete ich die A ugen. Er knietevor mir und betrachtete aufmerksam me<strong>in</strong>Gesicht, wobei er mich mit <strong>der</strong> Laterne anleuchtete. Er befahlmir, die Hände über den Magen zu legen. Er stand auf. g<strong>in</strong>g <strong>in</strong>die Küche und brachte mir Wasser. E<strong>in</strong>en Teil davon spritzte ermir <strong>in</strong>s Gesicht, den Rest gab er mir zu tr<strong>in</strong>ken. Er setzte sichneben mich und reichte mir me<strong>in</strong> Notizbuch. Jenes Geräusch,erzählte ich ihm, habe mich <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e ungeme<strong>in</strong> pe<strong>in</strong>igendeTräumerei versetzt. »Du läßt dich grenzenlos gehen«, sagte erscharf. Er schien tief <strong>in</strong> Gedanken versunken, als wollte ere<strong>in</strong>en Vorschlag machen, ohne die rechten Worte zu f<strong>in</strong>den.»Heute abend geht es darum, Menschen zu sehen«, me<strong>in</strong>te erschließlich. »Zuerst muß du de<strong>in</strong>en <strong>in</strong>neren Dialog anhalten.dann mußt du dir das Bild <strong>der</strong> Person vorstellen, die du sehenmöchtest; je<strong>der</strong> Gedanke, den man im Zustand schweigen<strong>der</strong>Ruhe denkt, ist strenggenommen e<strong>in</strong> Befehl, denn es s<strong>in</strong>dke<strong>in</strong>e an<strong>der</strong>en Gedanken vorhanden, die ihm Konkurrenzmachen könnten. Heute nacht will <strong>der</strong> Nachtfalter im Gebüschdir helfen, darum wird er für dich s<strong>in</strong>gen. Se<strong>in</strong> Gesang wird diegoldenen Staubflocken rieseln lassen, und dann wirst du denMenschen sehen, für den du dich entschieden hast.« Ich wolltenoch weitere E<strong>in</strong>zelheiten wissen, aber er vollführte e<strong>in</strong>e jäheGeste und bedeutete mir, ich solle anfangen. Nachdem iche<strong>in</strong>ige M<strong>in</strong>uten darum r<strong>in</strong>gen mußte, me<strong>in</strong>en <strong>in</strong>neren Dialoganzuhalten, wurde ich vollkommen ruhig. Dann bemühte ichmich, an e<strong>in</strong>en Freund von mir zu denken. Ich schloß dieAugen für e<strong>in</strong>en, wie ich me<strong>in</strong>te, kurzen Augenblick, und dannwurde mir bewußt. daß jemand mich an den Schultern schüttelte.Es war wie e<strong>in</strong> langsames Erwachen. Ich öffnete die Augen undstellte fest, daß ich auf <strong>der</strong> l<strong>in</strong>ken Seite lag. Offenbar war ich <strong>in</strong>e<strong>in</strong>en so tiefen Schlaf gefallen, daß ich mich nicht er<strong>in</strong>nernkonnte, wann und ob ich zu Boden gesunken war. <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> halfmir, mich wie<strong>der</strong> aufrecht zu setzen. Er lachte. Er imitierteme<strong>in</strong> Schnarchen und me<strong>in</strong>te. wenn er es nicht selbst gesehenhätte, würde er nicht glauben. daß jemand so schnelle<strong>in</strong>schlafen könne. Jedesmal, wenn er mit mir zusammen seiund ich etwas tun solle, was me<strong>in</strong>e Vernunft nicht wahrhabenwolle, habe er e<strong>in</strong>en Riesenspaß mit mir, me<strong>in</strong>te er. Er schobme<strong>in</strong> Notizbuch beiseite und erklärte, wir müßten von vornbeg<strong>in</strong>nen.38 39


Ich traf die notwendigen Vorbereitungen. Das seltsame, pochendeGeräusch setzte wie<strong>der</strong> e<strong>in</strong>. Diesmal aber kam es nichtaus dem Chaparral; vielmehr schien es <strong>in</strong> mir selbst zu se<strong>in</strong>, alsbrächten me<strong>in</strong>e Lippen, me<strong>in</strong>e Be<strong>in</strong>e o<strong>der</strong> Arme es hervor.B ald hüllte das G eräusch mich ganz e<strong>in</strong>. M ir war, als obweiche Kugeln aus mir heraussprudelten o<strong>der</strong> auf mich nie<strong>der</strong>regneten;ich hatte das besänftigende, angenehme Gefühl,von schweren Baumwollbällchen bombardiert zu werden.Plötzlich hörte ich etwas, wie wenn e<strong>in</strong>e Tür von e<strong>in</strong>emW <strong>in</strong>dstoß aufgesprengt wird, und me<strong>in</strong> Denken setzte wie<strong>der</strong>e<strong>in</strong>. Ich glaubte, ich hätte abermals e<strong>in</strong>e Gelegenheit vertan. Ichöffnete die Augen und fand mich zu <strong>Haus</strong>e <strong>in</strong> me<strong>in</strong>em Zimmerwie<strong>der</strong>. Die D<strong>in</strong>ge auf me<strong>in</strong>em Schreibtisch lagen da, wie ich sieverlassen hatte. Die Tür stand offen; draußen wehte e<strong>in</strong> starkerW <strong>in</strong>d. M ir kam <strong>der</strong> G edanke, ich sollte vielleicht denW arm wasserbereiter kontrollieren. Ich hörte, wie an denSchiebefenstern gerüttelt wurde, die ich selbst e<strong>in</strong>gebaut hatteund die im Rahmen e<strong>in</strong> wenig klemmten. Es war e<strong>in</strong> heftigesRütteln, als ob jemand e<strong>in</strong>steigen wollte. Schlagartig überkammich Angst. Ich stand von me<strong>in</strong>em Stuhl auf. Ich spürte, wiem ich etwas m itzog. Ich schrie. D on <strong>Juan</strong> schüttelte m ich an denSchultern. Aufgeregt berichtete ich ihm von m e<strong>in</strong>er V ision. Siewar so lebhaft gewesen, daß ich davon noch zitterte. Ich me<strong>in</strong>te,eben noch an me<strong>in</strong>em Schreibtisch gesessen zu haben, <strong>in</strong> vollerK örperlichkeit.<strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> schüttelte ungläubig den Kopf und me<strong>in</strong>te, ich seie<strong>in</strong> Genie dar<strong>in</strong>, mich selber here<strong>in</strong>zulegen. Er schien durchme<strong>in</strong>en Bericht nicht son<strong>der</strong>lich bee<strong>in</strong>druckt. Er schob ihne<strong>in</strong>fach beiseite und befahl mir, von neuem zu beg<strong>in</strong>nen. Dannhörte ich wie<strong>der</strong> das geheimnisvolle Geräusch. Es erreichtemich, wie <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> vermutet hatte, <strong>in</strong> Form e<strong>in</strong>es Regensgoldener Flocken. Ich spürte sie nicht wie Flocken o<strong>der</strong> flacheScheiben, als die <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> sie beschrieben hatte, son<strong>der</strong>n eherals sphärische Blasen. Sie schwebten mir entgegen. E<strong>in</strong>e platzteauf und enthüllte m ir e<strong>in</strong> B ild. Es war, als habe sie vor me<strong>in</strong>enAugen angehalten und sich geöffnet, um e<strong>in</strong>en seltsamenGegenstand preiszugeben. Er sah aus wie e<strong>in</strong> Pilz. Ich konnte ese<strong>in</strong>deutig sehen, und was ich erlebte, war40ke<strong>in</strong> Traum. Das pilzähnliche Objekt blieb unverän<strong>der</strong>t <strong>in</strong>me<strong>in</strong>em »Gesichts«-Feld, und dann zerbarst es, wie wenn dasLicht, das es beschienen hatte, ausgeschaltet worden sei.Darauf folgte e<strong>in</strong>e endlose Dunkelheit. Ich spürte e<strong>in</strong> Beben,e<strong>in</strong> sehr beunruhigendes Rütteln, und dann wurde mir plötzlichbewußt, daß mich jemand schüttelte. Plötzlich waren me<strong>in</strong>eS<strong>in</strong>ne wie<strong>der</strong> hell wach. <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> schüttelte mich heftig, undich sah ihn an. Offenbar hatte ich gerade <strong>in</strong> diesem Augenblickdie Augen geöffnet.Er spritzte mir Wasser <strong>in</strong>s Gesicht. Die Kälte war sehr angenehm.Nach kurzer Pause wollte er wissen, was mir diesmalbegegnet sei.Ich berichtete ihm ausführlich von me<strong>in</strong>er Vision.»Aber was war das, was ich da sah, <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong>?«»De<strong>in</strong> Freund«, antwortete er.Ich lachte und erklärte ihm geduldig, ich hätte e<strong>in</strong>e pilzähnlicheFigur »gesehen«. Obwohl mir e<strong>in</strong> Vergleichsmaßstabfehlte, sagte ich, hätte ich sie re<strong>in</strong> nach Gefühl etwa auf e<strong>in</strong>enFuß Länge geschätzt.Das Gefühl, beteuerte <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong>, sei das e<strong>in</strong>zige, worauf esankomme. Me<strong>in</strong>e Gefühle, me<strong>in</strong>te er, seien <strong>der</strong> Maßstab, <strong>der</strong>über den Zustand <strong>der</strong> von mir »gesehenen« Objekte entscheide.»De<strong>in</strong>er Beschreibung und de<strong>in</strong>en Gefühlen muß ich wohlentnehmen«, sagte er, »daß de<strong>in</strong> Freund e<strong>in</strong> fe<strong>in</strong>er Kerl ist.«Se<strong>in</strong>e Worte verblüfften mich.Die pilzähnliche Gestalt, erklärte er mir, sei das typischeKennzeichen <strong>der</strong> Menschen, solange <strong>der</strong> Zauberer sie ausgroßer Entfernung »sieht«; stehe <strong>der</strong> Zauberer dem Betreffendenaber unmittelbar gegenüber, dann zeige sich dessenmenschliche Eigenschaft <strong>in</strong> Form e<strong>in</strong>es eiförmigen Gebildesaus leuchtenden Fasern.»Du hast de<strong>in</strong>em Freund nicht unmittelbar gegenübergestanden«,sagte er. »Darum sah er aus wie e<strong>in</strong> Pilz.« »Aber warumist dies so, <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong>?«»Das weiß niemand. Dies ist halt e<strong>in</strong>fach das Aussehen <strong>der</strong>Menschen bei dieser beson<strong>der</strong>en Art des Sehens.« AlleMerkmale <strong>der</strong> pilzähnlichen Gestalt hätten e<strong>in</strong>e besonde-41


e Bedeutung, fuhr er fort, aber e<strong>in</strong> Anfänger könne dieseBedeutung noch nicht richtig <strong>in</strong>terpretieren. Jetzt kam mir e<strong>in</strong>everblüffende Er<strong>in</strong>nerung. Vor e<strong>in</strong> paar Jahren hatte ich, <strong>in</strong>e<strong>in</strong>em durch die E<strong>in</strong>nahme psychotroper Pflanzenhervorgerufenen Zustand <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Realität, erlebt o<strong>der</strong>wahrgenommen, daß während ich <strong>in</strong> e<strong>in</strong>en Wassergrabenblickte, e<strong>in</strong>e Traube von Blasen auf mich zuschwebte und miche<strong>in</strong>hüllte. Die goldenen Blasen, die ich soeben gesehen hatte,waren genauso herangeschwebt und hatten mich e<strong>in</strong>gehüllt. Ichkonnte sogar feststellen, daß die Trauben jedesmal die gleicheStruktur und das gleiche Muster aufwiesen.<strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> hörte me<strong>in</strong>en Ausführungen un<strong>in</strong>teressiert zu.»Verschwende de<strong>in</strong>e Zeit nicht auf Lappalien«, sagte er. »Duhast es mit <strong>der</strong> Unendlichkeit dort draußen zu tun.« Mit e<strong>in</strong>erHandbewegung deutete er zum Chaparral. »Du gew<strong>in</strong>nst nichtsdabei, wenn du all diese Herrlichkeit als etwas Vernünftigeserklärst. Hier umgibt uns die Ewigkeit selbst. Das Bemühen,sie auf e<strong>in</strong>en handlichen Unfug zu reduzieren, ist kle<strong>in</strong>lich undgeradezu verhängnisvoll.« Dann bestand er darauf, ich solleversuchen, jemand an<strong>der</strong>en aus me<strong>in</strong>em Bekanntenkreis zu»sehen«. Sobald die Vision vorüber sei, fügte er h<strong>in</strong>zu, solleich mich bemühen, aus eigener <strong>Kraft</strong> die Augen zu öffnen undzum vollen Bewußtse<strong>in</strong> me<strong>in</strong>er unmittelbaren Umgebungaufzutauchen. Es gelang mir, den Anblick e<strong>in</strong>er an<strong>der</strong>enpilzähnlichen Gestalt festzuhalten, aber während die erstegelblich und kle<strong>in</strong> gewesen war, war die zweite weißlich,größer und verschwommen.Als wir schließlich unser Gespräch über die zwei Gestalten,die ich »gesehen« hatte, beendeten, hatte ich den »Nachtfalter«im Gebüsch, <strong>der</strong> mich erst zuvor so bee<strong>in</strong>druckt hatte,ganz vergessen. Ich erzählte <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong>, wie sehr es michverwun<strong>der</strong>te, daß ich mich mit solcher Leichtigkeit über etwasso wahrhaft Unheimliches h<strong>in</strong>wegsetzen konnte. Mir schien,als sei ich nicht mehr <strong>der</strong>selbe, als den ich mich kannte. »Ichsehe nicht e<strong>in</strong>, warum du soviel Wesens davon machst«, sagte<strong>Don</strong> <strong>Juan</strong>. »Sobald <strong>der</strong> Dialog aufhört, bricht die Weltzusammen, und außerordentliche Seiten unseres Selbst wer-42den sichtbar, als wären sie bis dah<strong>in</strong> durch unsere W orte strengbewacht worden. Du bist, wie du bist, weil du dir sagst, daß duso bist.«Nach kurzer Pause drängte mich <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong>, weitere Freundevon mir zu »rufen«. Es komme darauf an, me<strong>in</strong>te er, daß man sooft wie möglich, versuche zu »sehen«, um e<strong>in</strong>e Richtschnurdes Fühlens zu gew<strong>in</strong>nen.Nache<strong>in</strong>an<strong>der</strong> rief ich zweiunddreißig Personen an. Nach je demV ersuch verlangte er von m ir e<strong>in</strong>e sorgfältige, ausführlicheSchil<strong>der</strong>ung all dessen, was ich <strong>in</strong> me<strong>in</strong>er Vision wahrgenommenhatte. Dieses Verfahren än<strong>der</strong>te er jedoch <strong>in</strong> dem M aß ab, wieme<strong>in</strong> Bemühen erfolgreicher wurde - jedenfalls danach zuurteilen, wie es mir gelang, den <strong>in</strong>neren Dialog b<strong>in</strong>nenSekunden abzustellen, am Ende e<strong>in</strong>er jeden Erfahrung auseigener <strong>Kraft</strong> die Augen zu öffnen und ohne Übergang wie<strong>der</strong>zu normalen Beschäftigungen zurückzukehren. DieseVerän<strong>der</strong>ung bemerkte ich, während wir die Färbung <strong>der</strong>pilzförm igen G estalten diskutierten. Er hatte gerade festgestellt,daß das, was ic h Färbung nannte, ke<strong>in</strong>e Farbnuance sei,son<strong>der</strong>n e<strong>in</strong> Leuchten von unterschiedlicher Intensität. Ichwollte eben e <strong>in</strong> gelbliches Leuchten schil<strong>der</strong>n, das ich wahrgenommenhatte, als er mich unterbrach und genau beschrieb,was ich »gesehen« hatte. Von diesem Augenblick an diskutierteer den Inhalt e<strong>in</strong>er jeden Vision nicht so, als verstündeer, was ich sagte, son<strong>der</strong>n als hätte er sie selbst »gesehen«. Alsich ihn um e<strong>in</strong>e Erklärung dafür bat, weigerte er sich e<strong>in</strong>fach.darüber zu sprechen.Als ich schließlich alle zweiunddreißig Personen angerufenhatte, war m ir klargeworden, daß ich e <strong>in</strong> e V ielzahl pilzförm i-ger Gestalten von unterschiedlicher Leuchtkraft »gesehen«hatte und daß ich ihnen gegenüber die unterschiedlichstenGefühle hegte, von gel<strong>in</strong>dem Entzücken bis zu schieremAbscheu.Die M enschen, erklärte <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong>, seien von Strukturen erfüllt,die W ünsche, Problem e, Leiden, Sorgen usw. darstellenkönnten. Nur e<strong>in</strong> wirklich starker Zauberer, behauptete er,könne die Bedeutung dieser Strukturen enträtseln, und somüsse ich mich damit abf<strong>in</strong>den, nur die allgeme<strong>in</strong>e Gestalt <strong>der</strong>M enschen zu erkennen.43


Ich war sehr müde. Irgendwie hatten diese seltsamen Gestaltenmich wirklich erschöpft. M e<strong>in</strong> allgeme<strong>in</strong>er E<strong>in</strong>druck ihnengegenüber war - Abneigung. Sie waren mir unangenehmgewesen. Sie hatten bewirkt, daß ich mich gefangen undverurteilt fühlte.<strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> verlangte, ich solle schreiben, um dieses schwermütigeGefühl zu vertreiben. Nach e<strong>in</strong>er längeren Pause, währendwelcher ich nichts notieren konnte, for<strong>der</strong>te er mich auf. Leuteanzurufen, die er selbst auswählen wollte. N un traten e<strong>in</strong>eReihe an<strong>der</strong>er G estalten auf. Sie waren nicht pilzförmig,son<strong>der</strong>n sahen eher wie umgestülpte japanische Sake-Schalenaus. E<strong>in</strong>ige wiesen e<strong>in</strong> kopfförmiges Gebilde auf, ähnlich demFuß e<strong>in</strong>er Sake-Schale. An<strong>der</strong>e waren eher rund. IhreErsche<strong>in</strong>ung war angenehm und friedlich. Ich spürte, daß e<strong>in</strong>eigentümliches Glücksgefühl von ihnen ausg<strong>in</strong>g. Sie fe<strong>der</strong>tenauf und ab, im Gegensatz zu <strong>der</strong> erdgebundenen Schwere, die<strong>der</strong> vorhergehenden Gruppe eigen gewesen war. Die bloßeTatsache, daß sie da waren, l<strong>in</strong><strong>der</strong>te irgendwie me<strong>in</strong>eErschöpfung.Zu den Personen, die <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> auswählte, gehörte se<strong>in</strong>Lehrl<strong>in</strong>g Eligio. Als ich das Bild Eligios herbeibeschwor, erlittich e<strong>in</strong>en Schock, <strong>der</strong> mich aus me<strong>in</strong>em visionären Zustandaufrüttelte. Eligio zeigte sich <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er langen, weißen G estalt,die em porschnellte und sich auf m ich stürzen zu wollen schien.<strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> erklärte, Eligio sei e<strong>in</strong> sehr begabter Lehrl<strong>in</strong>g undhabe zweifellos bemerkt, daß jemand ihn »sah«. E<strong>in</strong>e weitere,von D on <strong>Juan</strong> ausgewählte Person war Pablito. D on G enarosLehrl<strong>in</strong>g. D er Schock, den die V ision Pablitos m ir versetzte,war noch heftiger als bei Eligios Anblick. D on <strong>Juan</strong> lachte, bisi h m die T ränen über d ie W angen rollten.»W arum s<strong>in</strong>d diese M enschen an<strong>der</strong>s geformt?« »Sie habenm ehr persönliche K raft«, erwi<strong>der</strong>te er. »W ie du vielleichtbemerkt hast, haften sie nicht am Boden.« »Was gibt ihnendiese Leichtigkeit? Ist sie ihnen angeboren?«»W ir s<strong>in</strong>d alle m it dieser fe<strong>der</strong>nden Leichtigkeit geboren, abermit <strong>der</strong> Zeit werden wir erdschwer und steif. W ir selbstmachen uns dazu. Vielleicht kann man daher sagen, daß dieseMenschen e<strong>in</strong>e an<strong>der</strong>e Gestalt haben, weil sie wie Kriegerleben. Doch das ist unwesentlich. Entscheidend ist, daß dujetzt an <strong>der</strong> Schwelle stehst. Du hast siebenundvierzigMenschen angerufen, und du brauchst nur noch e<strong>in</strong>en e<strong>in</strong>zigenzu rufen, um die ursprünglichen achtundvierzig vollzumachen.In diesem Augenblick er<strong>in</strong>nerte ich mich, daß er mir vorJahren, als wir über Maiszauber und Wahrsagerei sprachen,erzählt hatte, daß die Anzahl <strong>der</strong> M aiskörner, die e<strong>in</strong> Zaubererbesitze, achtundvierzig sei. Warum, das hatte er mir nieerklärt.»So fragte ich ihn wie<strong>der</strong>: »Warum achtundvierzig?« »DieAchtundvierzig ist unsere Zahl«, sagte er. »Das ist es. wasuns zu M enschen macht. Ich weiß nicht warum. Verschwendede<strong>in</strong>e <strong>Kraft</strong> nicht auf törichte Fragen.« Er stand aufund streckte se<strong>in</strong>e Glie<strong>der</strong>. Er for<strong>der</strong>te mich auf, es ihmgleichzutun. Ich beobachtete, daß sich am Himmel im Ostenschon e<strong>in</strong> Lichtschimmer zeigte. Wir setzten uns wie<strong>der</strong>. Erbeugte sich vor und brachte se<strong>in</strong>en Mund an me<strong>in</strong> Ohr.»<strong>Der</strong> letzte, den du rufen wirst, ist Genaro, <strong>der</strong> wahreM cCoy«, flüsterte er.Neugier und Erregung bestürmten mich. Blitzartig g<strong>in</strong>g ich dieerfor<strong>der</strong>lichen Schritte durch. Das seltsam e Geräusch vomRand des Chaparral wurde lebhafter und nahm erneut anLautstärke zu. Ich hatte es schon be<strong>in</strong>ah vergessen gehabt.Die goldenen Blasen hüllten mich e<strong>in</strong>, und dann erblickte ich<strong>in</strong> e<strong>in</strong>er von ihnen <strong>Don</strong> Genaro selbst. Er stand vor mir undhielt den Hut <strong>in</strong> <strong>der</strong> Hand. Er lächelte. Rasch schlug ich dieAugen auf und wollte zu <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> gerade etwas sagen, dochbevor ich noch e<strong>in</strong> Wort herausbrachte, versteifte me<strong>in</strong> Körpersich wie e<strong>in</strong> B rett; me<strong>in</strong>e Haare standen zu Berge, und e<strong>in</strong>enlangen Augenblick wußte ich nicht, was ich tun o<strong>der</strong> sagensollte. <strong>Don</strong> Genaro stand unm ittelbar vor m ir - le ib haftig!Ich wandte mich zu <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> um; er lächelte. Dann brachendie beiden <strong>in</strong> e<strong>in</strong> gewaltiges Gelächter aus. Auch ich versuchtezu lachen. Es gelang mir nicht. Ich stand auf. <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> reichtemir e<strong>in</strong>en Becher W asser. M echanisch tran k44 45


ich. Ich erwartete, er werde me<strong>in</strong> Gesicht mit Wasser bespritzen.Statt dessen füllte er me<strong>in</strong>en Becher erneut. <strong>Don</strong>Genaro kratzte sich am Kopf und verbarg e<strong>in</strong> Gr<strong>in</strong>sen.»Möchtest du nicht Genaro begrüßen?« fragte <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong>. Eskostete mich e<strong>in</strong>e ungeheure Anstrengung, me<strong>in</strong>e Gedankenund Gefühle zu ordnen. Schließlich murmelte ich <strong>Don</strong> Genaroirgende<strong>in</strong>en Gruß zu. Er machte e<strong>in</strong>e Verbeugung. »Du hastmich gerufen, nicht wahr?« fragte er lächelnd. Stotternddrückte ich me<strong>in</strong>e Verwun<strong>der</strong>ung darüber aus, ihn leibhaftigvor mir zu sehen. »Er hat dich gerufen«, warf <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> e<strong>in</strong>.»Gut, hier b<strong>in</strong> ich«, sagte <strong>Don</strong> Genaro zu mir. »Was kann ichfür dich tun?«Allmählich schien me<strong>in</strong> Verstand wie<strong>der</strong> zu arbeiten, undschließlich hatte ich e<strong>in</strong>e plötzliche E<strong>in</strong>sicht. Me<strong>in</strong>e Gedankenwaren glasklar, und ich »wußte«, was wirklich geschehen war.<strong>Don</strong> Genaro, so dachte ich mir, war bei <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> zu Besuch,und als sie me<strong>in</strong> Auto näherkommen hörten, war <strong>Don</strong> Genaro<strong>in</strong>s Gebüsch geschlichen und hatte sich dort bis zum E<strong>in</strong>bruch<strong>der</strong> Dunkelheit versteckt. Alle Anzeichen sprachen für dieseThese, me<strong>in</strong>te ich. Da <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> zweifellos die ganze Sachegeplant hatte, gab er mir von Zeit zu Zeit Stichworte undlenkte damit den Gang <strong>der</strong> D<strong>in</strong>ge. Zum rechten Zeitpunkt hatte<strong>Don</strong> Genaro mich dann auf se<strong>in</strong>e Anwesenheit aufmerksamgemacht, und als <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> und ich zum <strong>Haus</strong> zurückkehrten,war er uns auffällig gefolgt, um mich <strong>in</strong> Angst und Schreckenzu versetzen. Dann hatte er im Chaparral gewartet und,jedesmal wenn <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> ihm e<strong>in</strong> Zeichen gab, jenesseltsame Geräusch von sich gegeben. Den W<strong>in</strong>k, aus demGebüsch hervorzukommen, mußte <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> ihm schließlichgegeben haben, während ich die Augen geschlossen hatte,nachdem er mich aufgefor<strong>der</strong>t hatte, <strong>Don</strong> Genaro zu »rufen«.Dann war <strong>Don</strong> Genaro offenbar zur Veranda gekommen undhatte gewartet, bis ich die Augen öffnete, und hatte mir diesenSchrecken e<strong>in</strong>gejagt.Die e<strong>in</strong>zigen Unstimmigkeiten <strong>in</strong> me<strong>in</strong>er logischen Theoriewaren, daß ich tatsächlich gesehen hatte, wie <strong>der</strong> im Gebüschversteckte Mann sich <strong>in</strong> e<strong>in</strong>en Vogel verwandelte, und daß ich<strong>Don</strong> Genaro zuerst als e<strong>in</strong> Bild <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er goldenen Blasegesehen hatte. In me<strong>in</strong>er Vision war er genauso gekleidet wienunmehr <strong>in</strong> leibhaftiger Gestalt. Da ich ke<strong>in</strong>e logische Erklärungfür diese Unstimmigkeiten f<strong>in</strong>den konnte, nahm ich an,wie ich es unter ähnlichen Umständen stets zu tun geneigt b<strong>in</strong>,daß <strong>der</strong> emotionale Streß wohl e<strong>in</strong>e wichtige Rolle bei <strong>der</strong>Bestimmung dessen gespielt haben mochte, was ich zu sehengeglaubt hatte.Als ich mir <strong>in</strong> Gedanken diesen grotesken Trick ausmalte,begann ich unwillkürlich zu lachen. Ich berichtete ihnen vonme<strong>in</strong>en Schlußfolgerungen. Sie stimmten e<strong>in</strong> schallendes Gelächteran. Ich war ehrlich überzeugt, daß ihr Lachen e<strong>in</strong>E<strong>in</strong>geständnis war.»Du hattest dich im Gebüsch versteckt, nicht wahr?« fragte ich<strong>Don</strong> Genaro.<strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> setzte sich wie<strong>der</strong> und schlug die Hände über demKopf zusammen.»Ne<strong>in</strong>. Ich habe mich nicht versteckt«, sagte <strong>Don</strong> Genaronachsichtig. »Ich war weit weg von hier, und dann hast dumich gerufen, also b<strong>in</strong> ich zu dir gekommen.« »Wo warst dudenn, <strong>Don</strong> Genaro?« »Weit weg.« »Wie weit?«<strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> unterbrach mich und sagte, wenn <strong>Don</strong> Genarogekommen sei, so habe er mir damit e<strong>in</strong>en Gefallen getan, undich solle nicht fragen, wo er gewesen sei. denn er sei nirgendsgewesen.<strong>Don</strong> Genaro nahm mich <strong>in</strong> Schutz und m e<strong>in</strong>te, es sei ganz <strong>in</strong>Ordnung, wenn ich ih n alles mögliche frage. »Wenn du dichnicht hier beim <strong>Haus</strong> versteckt hast. <strong>Don</strong> Genaro, wo warst dudenn 1 ?« fragte ich. »Ich war bei mir zu <strong>Haus</strong>e«, sagte er ganzaufrichtig. »In Zentralmexiko 1 ?«»Ja! Es ist das e<strong>in</strong>zige Zuhause, das ich habe.« Sie schautensich an und brachen wie<strong>der</strong> <strong>in</strong> Lachen aus. Ich wußte, daß siesich über mich lustig machten, aber ich beschloß, bei diesemThema nicht länger zu verweilen. Ansche<strong>in</strong>end hatten sie e<strong>in</strong>enGrund, e<strong>in</strong>e so komplizierte Inszenierung auszuhecken. Ichsetzte m ich. Ich f ü h l t e mich wirklich entzweigerissen; e <strong>in</strong> Teilvon mir war46 47


gar nicht schockiert und konnte alle Taten <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong>s und <strong>Don</strong>Genaros unbesehen akzeptieren. Aber e<strong>in</strong> an<strong>der</strong>er Teil me<strong>in</strong>erselbst weigerte sich e<strong>in</strong>fach, und dieser war stärker. Me<strong>in</strong>bewußtes Urteil lautete, daß ich <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong>s Beschreibung <strong>der</strong>Welt lediglich auf <strong>in</strong>tellektueller Ebene akzeptiert hatte,während me<strong>in</strong> Körper <strong>in</strong>sgesamt sich ihr wi<strong>der</strong>setzte; daherme<strong>in</strong> Dilemma. Aber an<strong>der</strong>erseits hatte ich all die Jahre, dieich mit <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> und <strong>Don</strong> Genaro zusammen war,außerordentliche Phänomene erlebt, und diese waren körperliche,nicht <strong>in</strong>tellektuelle Erfahrungen. Gerade an diesemAbend hatte ich die »Gangart <strong>der</strong> <strong>Kraft</strong>« geübt, die mir,<strong>in</strong>tellektuell betrachtet, als unvorstellbare Leistung erschien;h<strong>in</strong>zu kam, daß ich unglaubliche Visionen gehabt hatte, undzwar durch ke<strong>in</strong> an<strong>der</strong>es Mittel als me<strong>in</strong>en eigenen Willen. Icherklärte ihnen me<strong>in</strong>e schmerzliche und zugleich aufrichtigeVerwirrung.»<strong>Der</strong> Junge ist e<strong>in</strong> Genie«, sagte <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> zu <strong>Don</strong> Genaro undschüttelte ungläubig den Kopf.»Du bist e<strong>in</strong> gewaltiges Genie, Carlitos«, sagte <strong>Don</strong> Genaro <strong>in</strong>e<strong>in</strong>em Ton, als halte er e<strong>in</strong>e Ansprache. Sie setzten sich nebenmich, <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> zu me<strong>in</strong>er Rechten und <strong>Don</strong> Genaro zu me<strong>in</strong>erL<strong>in</strong>ken. <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> erklärte, daß es wohl bald Tag werdenwürde. In diesem Augenblick hörte ich wie<strong>der</strong> den Ruf desNachtfalters; er hatte se<strong>in</strong>en Platz gewechselt. Das Geräuschkam nun aus <strong>der</strong> entgegengesetzten Richtung. Ich schaute diebeiden an und versuchte ihren Blicken standzuhalten. Me<strong>in</strong>logisches Schema begann sich aufzulösen. Das Geräusch warvon fasz<strong>in</strong>ieren<strong>der</strong> Fülle und Tiefe. Dann hörte ich gedämpfteSchritte wie von leichten Füßen, die durch das dürre Unterholzschlichen. Das pochende Geräusch kam näher, und ichschmiegte mich an <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong>. Tonlos befahl er mir, es zu»sehen«. Ich machte e<strong>in</strong>e äußerste Anstrengung, weniger ihmzuliebe als um me<strong>in</strong>etwillen. Vorh<strong>in</strong> war ich sicher gewesen,daß <strong>Don</strong> Genaro <strong>der</strong> Nachfalter war. Aber <strong>Don</strong> Genaro saßneben mir; was also war dort im Gebüsch? E<strong>in</strong> Nachtfalter?Das pochende Geräusch klang <strong>in</strong> me<strong>in</strong>en Ohren nach. Me<strong>in</strong>en<strong>in</strong>neren Dialog konnte ich ganz und gar nicht abstellen. Ichhörte das Geräusch, aber ich konnte es nicht mehr, wie vorh<strong>in</strong>,<strong>in</strong> me<strong>in</strong>em Körper spüren. E<strong>in</strong>deutig hörte ich Schritte. Irgendetwas schlich durch die Dunkelheit. Dann ertönte e<strong>in</strong> lautesknackendes Geräusch, als ob e<strong>in</strong> Ast entzweibräche, undplötzlich erfaßte mich e<strong>in</strong>e furchtbare Er<strong>in</strong>nerung. Vor Jahrenhatte ich e<strong>in</strong>e schreckliche Nacht <strong>in</strong> <strong>der</strong> Wildnis verbracht undwar von e<strong>in</strong>em Wesen belästigt worden, e<strong>in</strong>em ganz leichtenund weichen Etwas, das immer wie<strong>der</strong> über me<strong>in</strong>en Nackenlief, während ich am Boden kauerte. <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> hatte mirerklärt, dieses Ereignis sei e<strong>in</strong>e Begegnung mit dem »Verbündeten«gewesen, mit e<strong>in</strong>er geheimnisvollen <strong>Kraft</strong>, die e<strong>in</strong>Zauberer, wie er sagte, als Wesenheit wahrzunehmen lerne. Ichbeugte mich näher zu <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> und berichtete ihm flüsterndvon me<strong>in</strong>er Er<strong>in</strong>nerung. <strong>Don</strong> Genaro kroch auf allen vierennäher zu uns her.»Was hat er gesagt?« fragte er <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> flüsternd. »Er sagt,dort draußen ist e<strong>in</strong> Verbündeter«, antwortete <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> leise.<strong>Don</strong> Genaro kroch zurück und setzte sich: Dann wandte er sichan mich und sagte, laut flüsternd: »Du bist e<strong>in</strong> Genie.« Sielachten gedämpft. <strong>Don</strong> Genaro wies mit e<strong>in</strong>er Kopfbewegungzum Chaparral h<strong>in</strong>über.»Geh h<strong>in</strong> und pack ihn«, sagte er. »Zieh dich nackt aus, undjage dem Verbündeten e<strong>in</strong>en Schreck e<strong>in</strong>!« Sie schüttelten sichvor Lachen. Das Geräusch hatte <strong>in</strong>zwischen aufgehört. <strong>Don</strong><strong>Juan</strong> befahl mir, me<strong>in</strong>e Gedanken anzuhalten, aber die Augenoffenzuhalten und mich auf den Rand des Chaparral vor mir zukonzentrieren. Er sagte, <strong>der</strong> Nachtfalter habe se<strong>in</strong>en Platzgewechselt, weil <strong>Don</strong> Genaro da sei, und wenn er sich mirzeigen wolle, dann werde er es vorziehen, von vorn zukommen.Ich mußte e<strong>in</strong>en Augenblick darum r<strong>in</strong>gen, me<strong>in</strong>e Gedankenzu beruhigen, und dann nahm ich das Geräusch wie<strong>der</strong> wahr.Es war jetzt voller denn zuvor. Zuerst hörte ich die gedämpftenSchritte auf trockenem Laub, und dann spürte ich sie aufme<strong>in</strong>em Körper. In diesem Moment entdeckte ich direkt vormir, am Rand des Chaparral, e<strong>in</strong>e dunkle Masse. Ich fühlte,wie ich gerüttelt wurde. Ich schlug die Augen auf. <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong>und <strong>Don</strong> Genaro standen über mich gebeugt, und ich kniete,als sei ich <strong>in</strong> kauern<strong>der</strong> Haltung e<strong>in</strong>geschlafen. <strong>Don</strong>48 49


<strong>Juan</strong> gab mir Wasser zu tr<strong>in</strong>ken, und ich setzte mich wie<strong>der</strong>mit dem Rücken zur Wand.Bald darauf dämmerte es. <strong>Der</strong> Chaparral schien zu erwachen.Die Morgenkühle war scharf und belebend. <strong>Der</strong> Nachtfalterwar nicht <strong>Don</strong> Genaro gewesen. Me<strong>in</strong> rationales Gebäude fielause<strong>in</strong>an<strong>der</strong>. Ich wollte ke<strong>in</strong>e Fragen mehr stellen, aber ichwollte auch nicht schweigen. Ich mußte endlich sprechen.»Aber wenn du doch <strong>in</strong> Zentralmexiko warst. <strong>Don</strong> Genaro, wiebist du dann hierhergekommen?« fragte ich. <strong>Don</strong> Genaromachte komische, sehr belustigende Bewegungen mit demMund.»Tut mir leid«, sagte er, »me<strong>in</strong> Mund will nicht sprechen.«Dann wandte er sich an <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> und sagte gr<strong>in</strong>send:»Warum sagst du es ihm nicht?«<strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> schien unschlüssig. Dann me<strong>in</strong>te er, daß <strong>Don</strong> Genaro,als vollendeter Künstler <strong>der</strong> Zauberei, zu erstaunlichen Tatenimstande sei.<strong>Don</strong> Genaros Brust wölbte sich, als ob <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong>s Worte sieaufblähten. Er hatte ansche<strong>in</strong>end so viel Luft e<strong>in</strong>geatmet, daßse<strong>in</strong> Brustkorb das Doppelte se<strong>in</strong>es normalen Umfangs zuhaben schien. Jeden Moment schien er davonzuschweben. Ersprang <strong>in</strong> die Luft. Ich hatte den E<strong>in</strong>druck, daß die Luft <strong>in</strong>se<strong>in</strong>en Lungen ihn gezwungen hatte zu spr<strong>in</strong>gen. Er raste überdem Boden h<strong>in</strong> und her, bis er ansche<strong>in</strong>end die Kontrolle überse<strong>in</strong>en Brustkorb wie<strong>der</strong> gewann; er klopfte ihn ab und strichkräftig mit den Handflächen von den Brustmuskeln zum Bauchh<strong>in</strong>ab, als ob er die Luft aus e<strong>in</strong>em Autoreifen pressen wollte.Schließlich setzte er sich.<strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> gr<strong>in</strong>ste. Se<strong>in</strong>e Augen leuchteten vor Begeisterung.»Schreib an de<strong>in</strong>en Notizen«, befahl er mir leise. »Schreib,schreib, sonst mußt du sterben.«Dann erklärte er, daß selbst <strong>Don</strong> Genaro es nicht mehr sokomisch f<strong>in</strong>de, wenn ich mir Notizen machte. »Das stimmt!«erwi<strong>der</strong>te <strong>Don</strong> Genaro. »Ich habe selbst schon daran gedacht,mit dem Schreiben anzufangen.« »Genaro ist e<strong>in</strong> Wissen<strong>der</strong>«,sagte <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> wie beiläufig. »Und als Wissen<strong>der</strong> ist er ohneweiteres imstande, sich über große Entfernungen h<strong>in</strong>weg zubeför<strong>der</strong>n.«50Er er<strong>in</strong>nerte mich daran, wie wir drei e<strong>in</strong>mal vor Jahren imGebirge gewesen waren und <strong>Don</strong> Genaro, im Bemühen, mirbei <strong>der</strong> Überw<strong>in</strong>dung me<strong>in</strong>er törichten Vernunft zu helfen,e<strong>in</strong>en gewaltigen Satz h<strong>in</strong>auf zu den Gipfeln <strong>der</strong> Sierra getanhatte - zehn Meilen weit. Ich er<strong>in</strong>nerte mich an das Ereignis,aber mir fiel auch e<strong>in</strong>, daß ich damals nicht e<strong>in</strong>mal begriffenhatte, daß er gesprungen war.<strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> fügte h<strong>in</strong>zu, daß <strong>Don</strong> Genaro zu gewissen Zeitenim stande sei, außerordentliche Taten zu vollbr<strong>in</strong>gen.»Zu gewissen Zeiten ist Genaro nicht Genaro, son<strong>der</strong>n se<strong>in</strong>Doppelgänger«, sagte er.Dies wie<strong>der</strong>holte er drei o<strong>der</strong> viermal. Dann beobachtetenm ich die beiden, als warteten sie auf m e<strong>in</strong>e unm ittelbareReaktion.Ich hatte nicht verstanden, was er mit »se<strong>in</strong>em Doppelgänger«me<strong>in</strong>te. Er hatte nie zuvor <strong>der</strong>gleichen erwähnt. Ich bat ume<strong>in</strong>e Erklärung.»Es gibt noch e<strong>in</strong>en an<strong>der</strong>en Genaro«, erläuterte er.Alle drei blickten wir uns an. M ir wurde ganz ungem ütlich.Durch e<strong>in</strong>en Augenw<strong>in</strong>k drängte mich <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong>, ich solleweitersprechen.»Hast du e <strong>in</strong> e n Zwill<strong>in</strong>gsbru<strong>der</strong>?« fragte ich zu <strong>Don</strong> Genarogewandt.»Natürlich«, sagte er. »Ich habe e<strong>in</strong>en Zwill<strong>in</strong>g.«Ich war unschlüssig, ob sie mich an <strong>der</strong> Nase herumführteno<strong>der</strong> nicht. Die beiden kicherten mit <strong>der</strong> Ausgelassenheit vonK<strong>in</strong><strong>der</strong>n, die jemandem e<strong>in</strong>en Streich spielen.»Man könnte sagen«, fuhr <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> fort, »daß Genaro <strong>in</strong>diesem Augenblick se<strong>in</strong> eigener Zwill<strong>in</strong>g ist.«Auf diese Feststellung h<strong>in</strong> fielen die beiden fast um vorLachen. Aber ich konnte ihrer Heiterkeit nichts abgew<strong>in</strong>nen.M e<strong>in</strong> Körper zitterte unwillkürlich.<strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> sagte <strong>in</strong> strengem Ton, ich sei zu schwerfällig undnähme mich selbst zu wichtig.»Sei locker!« befahl er mir scharf. »Du weißt, daß Genaro e<strong>in</strong>Zauberer und e<strong>in</strong> makelloser Krieger ist. Daher kann er Tatenvollbr<strong>in</strong>gen, die für den normalen Menschen undenkbar s<strong>in</strong>d.Se<strong>in</strong> Doppelgänger, <strong>der</strong> an<strong>der</strong>e Genaro, ist e<strong>in</strong>e dieserTaten.«51


Ich war sprachlos. Ich konnte mir nicht vorstellen, daß siemich e<strong>in</strong>fach an <strong>der</strong> Nase rumführten.»Für e<strong>in</strong>en Krieger wie Genaro«, fuhr er fort, »ist es ke<strong>in</strong> garso ungewöhnliches Unterfangen, den An<strong>der</strong>en hervorzubr<strong>in</strong>gen.«Lange überlegte ich, was ich noch sagen sollte, dann fragte ich:»Ist <strong>der</strong> An<strong>der</strong>e wie das Selbst?« »<strong>Der</strong> An<strong>der</strong>e ist das Selbst«,erwi<strong>der</strong>te <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong>. Se<strong>in</strong>e Erklärung hatte e<strong>in</strong>eunglaubliche Wendung genommen, doch war sie eigentlichnicht unglaublicher als alles an<strong>der</strong>e, was sie taten.»Woraus besteht <strong>der</strong> An<strong>der</strong>e?« fragte ich <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> nachM<strong>in</strong>uten <strong>der</strong> Unentschlossenheit. »Das zu wissen istunmöglich«, sagte er. »Ist er real o<strong>der</strong> bloß e<strong>in</strong>e Illusion?«»Natürlich ist er real.«»Könnte man dann sagen, daß er aus Fleisch und Blut ist?«fragte ich.»Ne<strong>in</strong>, das kann man nicht«, antwortete <strong>Don</strong> Genaro. »Aberwenn er so wirklich ist wie ich . . .« »So wirklich wie du?«unterbrachen mich <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> und <strong>Don</strong> Genaro wie aus e<strong>in</strong>emMund.Sie schauten e<strong>in</strong>an<strong>der</strong> an und lachten, bis ich me<strong>in</strong>te, siemüßten sich gleich übergeben. <strong>Don</strong> Genaro warf se<strong>in</strong>en Hutauf den Boden und tanzte um ihn herum. Se<strong>in</strong> Tanz wargewandt und anmutig und aus irgende<strong>in</strong>em unerklärlichenGrund äußerst spaßig. Vielleicht lag <strong>der</strong> Witz <strong>in</strong> den höchst»professionellen« Schritten, die er ausführte. Diese Unstimmigkeitwar so subtil und gleichzeitig so auffällig, daß ich <strong>in</strong> ihrGelächter e<strong>in</strong>stimmen mußte.»Die Schwierigkeit mit dir, Carlitos«. me<strong>in</strong>te er. als er wie<strong>der</strong>saß, »besteht dar<strong>in</strong>, daß du e<strong>in</strong> Genie bist.« »Ich muß mehrüber den Doppelgänger wissen«, sagte ich. »Es ist unmöglichzu wissen, ob er aus Fleisch und Blut ist«, sagte <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong>.»Denn er ist nicht so wirklich wie du. GenarosDoppelgänger ist so wirklich wie Genaro. Verstehst du, wasich me<strong>in</strong>e?«»Aber du mußt zugeben, <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong>, daß es doch möglich se<strong>in</strong>muß, dies zu wissen.«»<strong>Der</strong> Doppelgänger ist das Selbst. Diese Erklärung solltegenügen. Aber wenn du sehen könntest, dann wüßtest du, daße<strong>in</strong> großer Unterschied zwischen Genaro und se<strong>in</strong>em Doppelgängerbesteht. Für e<strong>in</strong>en Zauberer, <strong>der</strong> sieht, leuchtet <strong>der</strong>Doppelgänger heller.«Ich fühlte mich zu schwach, um noch weitere Fragen zustellen. Ich legte me<strong>in</strong> Schreibzeug weg, und e<strong>in</strong>en Augenblickwar mir, als würde ich ohnmächtig. Ich hatte die Visione<strong>in</strong>es Tunnels; alles um mich her war dunkel, ausgenommene<strong>in</strong> run<strong>der</strong> Fleck vor me<strong>in</strong>en Augen, <strong>der</strong> e<strong>in</strong> klares B ild zeigte.<strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> sagte, ich müsse etwas essen. Ich war nicht hungrig.<strong>Don</strong> Genaro verkündete, er sei ganz ausgehungert, dann stand erauf und g<strong>in</strong>g <strong>in</strong> den rückwärtigen Teil des <strong>Haus</strong>es. <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong>stand ebenfalls auf und bedeutete mir, ihm zu folgen. In <strong>der</strong>Küche füllte <strong>Don</strong> Genaro sich e<strong>in</strong>en Teller und ahmte dannäußerst kom isch e<strong>in</strong>en M enschen nach, <strong>der</strong> essen will, abernicht schlucken kann. M ir kam es so vor, als w olle <strong>Don</strong>Genaro gleich se<strong>in</strong>en Geist aufgeben; er brüllte, strampelte,schrie, keuchte und würgte vor Lachen. Auch ich mußte mirden Bauch halten. <strong>Don</strong> Genaros Possen waren unvergleichlich.Schließlich hielt er <strong>in</strong>ne und blickte <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> und michnache<strong>in</strong>an<strong>der</strong> an; se<strong>in</strong>e Augen leuchteten und er lächeltestrahlend.»Es geht n ic h t«, sagte er achselzuckend. Ich aß e<strong>in</strong>e gewaltigePortion. <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> ebenfalls; dann kehrten wir alle drei zumVorplatz des <strong>Haus</strong>es zurück. Die Sonne strahlte, <strong>der</strong> Himmelwar klar, und die Morgenbrise erfrischte die Atmosphäre. Ichfü h lte mich glücklich und gestärkt.W ir saßen im Dreieck e<strong>in</strong>an<strong>der</strong> gegenüber. Nach e<strong>in</strong>em h ö flichenSchweigen beschloß ich, sie zu bitten, m i r bei <strong>der</strong> K lärungme<strong>in</strong>es Dilemmas zu helfen. Ich fü h lte mich wie<strong>der</strong> <strong>in</strong>bester Form und wollte me<strong>in</strong>e Stärke erproben. »Erzähl mirmehr über den Doppelgänger, <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong>«, sagte ich.<strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> deutete auf <strong>Don</strong> Genaro, und <strong>Don</strong> Genaro verbeugtesich.53


»Das ist er«, sagte <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong>. »Mehr gibt es nicht zu sagen. Er isthier, damit du dich selbst von se<strong>in</strong>er Existenz überzeugenkannst.«»Aber das ist doch <strong>Don</strong> Genaro«, sagte ich <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em schwachenVersuch, das Gespräch zu steuern. »Gewiß b<strong>in</strong> ich Genaro«,sagte er und hob die Schultern. »Was ist also e<strong>in</strong>Doppelgänger, <strong>Don</strong> Genaro?« fragte ich. »Frag ihn doch«, fuhrer mich an und wies auf <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong>. »Er ist es, <strong>der</strong> spricht. Ichb<strong>in</strong> stumm.«»E<strong>in</strong> Doppelgänger ist <strong>der</strong> Zauberer selbst, <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er durch se<strong>in</strong>Träumen hervorgebrachten Gestalt«, erläuterte <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong>. »Fürden Zauberer ist e<strong>in</strong> Doppelgänger e<strong>in</strong> Akt se<strong>in</strong>er <strong>Kraft</strong>, fürdich aber nur e<strong>in</strong>e Erzählung <strong>der</strong> <strong>Kraft</strong>. Im Falle Genaros istse<strong>in</strong> Doppelgänger vom Orig<strong>in</strong>al nicht zu unterscheiden. Undzwar deshalb, weil se<strong>in</strong>e Makellosigkeit als Krieger unübertroffenist; daher hast du selbst nie den Unterschiedbemerkt. Aber <strong>in</strong> all den Jahren, die du ihn kennst, bist du nurzweimal mit dem eigentlichen Genaro zusammen gewesen;alle an<strong>der</strong>en Male warst du mit se<strong>in</strong>em Doppelgänger zusammen.«»Aber das ist doch absurd!« rief ich.Ich spürte, wie Beklemmung me<strong>in</strong>e Brust erfaßte. Ich war soerregt, daß ich me<strong>in</strong> Schreibzeug fallen ließ, und me<strong>in</strong> Bleistiftrollte davon. <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> und <strong>Don</strong> Genaro stürzten sich kopfüberauf den Boden und f<strong>in</strong>gen an, <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er ganz närrischenPantomime nach dem Bleistift zu suchen. Nie hatte ich e<strong>in</strong>eerstaunlichere Darbietung von Bühnenmagie und Taschenspielereigesehen. Nur, daß es ke<strong>in</strong>e Bühne, ke<strong>in</strong>e Kulissen undke<strong>in</strong>erlei technische Apparate gab und daß die Darstellerhöchstwahrsche<strong>in</strong>lich ke<strong>in</strong>e Taschenspielertricks e<strong>in</strong>setzten.<strong>Don</strong> Genaro, <strong>der</strong> Oberzauberer, und se<strong>in</strong> Assistent, <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong>,brachten b<strong>in</strong>nen M<strong>in</strong>uten die erstaunlichste, bizarrste undseltsamste Kollektion von Gegenständen zusammen, die sieunter, h<strong>in</strong>ter o<strong>der</strong> auf jedem größeren Gegenstand im Umkreis<strong>der</strong> Veranda fanden.Im Stil <strong>der</strong> Bühnenmagie stellte <strong>der</strong> Assistent die Requisitenauf, <strong>in</strong> diesem Fall etliche Gegenstände - Ste<strong>in</strong>e, Rupfensäkke,Holzscheite, e<strong>in</strong>e Milchbütte, e<strong>in</strong>e Laterne und me<strong>in</strong>e Jacke-, die sich auf <strong>der</strong> Erde fanden; dann zauberte <strong>der</strong>54M agier, <strong>Don</strong> Genaro, e<strong>in</strong>en Gegenstand hervor, den er beiseitewarf, sobald er sich vergewissert hatte, daß es nicht me<strong>in</strong>Bleistift war. Zu den so gefundenen Gegenständen gehörtenK leidungsstücke, Perücken, B rillen, Spielzeug. H aushaltsgeräte,M asch<strong>in</strong>enteile, Damenunterwäsche, menschliche Gebisse,B utterstullen und religiöse K ultgegenstände. E <strong>in</strong> Stückwar geradezu ekelerregend. Es war e<strong>in</strong> fester Klumpenmenschlichen Kots, den <strong>Don</strong> Genaro unter me<strong>in</strong>er Jackehervorzauberte. Schließlich fand <strong>Don</strong> Genaro me<strong>in</strong>en B leistiftund überreichte ihn mir. nachdem er mit se<strong>in</strong>em Hemdzipfelden Staub abgewischt hatte.Die beiden zelebrierten ihre Possen unter Schreien und Gelächter.Ich stand starr vor Staunen dabei, unfähig, mich ihnenanzuschließen.»N im m die D <strong>in</strong>ge nicht so e rn st, Carlitos«. sagte D on G enarom it besorgter Stim m e. »Sonst fängst du dir noch e <strong>in</strong> . . .« Erm achte e<strong>in</strong>e drollige G ebärde, die alles und nichts bedeutenkonnte.N achdem ihr G elächter sich gelegt h a tte , wollte ich von D onGenaro wissen, was e<strong>in</strong> Doppelgänger mache o<strong>der</strong> was e<strong>in</strong>Zauberer mit dem Doppelgänger mache. <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> gab dieAntwort. <strong>Der</strong> Doppelgänger, sagte er. verfüge über <strong>Kraft</strong> undwerde benutzt, um Taten zu vollbr<strong>in</strong>gen, die untergewöhnlichen Umständen unvorstellbar seien. »Ich habe dirimmer wie<strong>der</strong> gesagt, daß die W elt unergründlich ist«, sagte erzu mir. »Und auch wir s<strong>in</strong>d es, u n d jedes D<strong>in</strong>g, das auf dieserW elt existiert. Daher ist es unmöglich, dem Doppelgängermit <strong>der</strong> Vernunft beizukommen. Doch du hattest Gelegenheit,dich von se<strong>in</strong>er Existenz zu überzeugen, und das sollte m ehr alsgenug se<strong>in</strong>.«»Aber es muß doch möglich se<strong>in</strong>, darüber zu sprechen«, sagteich. »Du selbst hast mir gesagt, daß du über de<strong>in</strong> Gespräch mitdem magischen Reh berichtet hast, um darüber zu sprechen.Kannst du es mit dem Doppelgänger nicht ebenso halten''« Erschwieg e<strong>in</strong>e W eile. Ich drängte ihn. Die Beklemmung, die ichverspürte, überstieg alles, was ich je erlebt hatte. »N un, e <strong>in</strong>Zauberer kann sich verdoppeln«, sagte <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong>. »Mehr gibt'sdarüber nicht zu sagen.« »Aber ist er sich dessen bewußt, daß erdoppelt ist?«


»Natürlich ist er sich dessen bewußt.« »W eiß er, daß er an zweiO rten gleichzeitig ist? « D ie beiden schauten m ich an undwechselten dann e<strong>in</strong>en Blick.»W o ist <strong>der</strong> an<strong>der</strong>e <strong>Don</strong> Genaro?« fragte ich. <strong>Don</strong> Genarobeugte sich vor und starrte mir <strong>in</strong> die Augen. »Ich weiß esnicht«, sagte er. »Ke<strong>in</strong> Zauberer weiß, wo se<strong>in</strong> An<strong>der</strong>er ist.«»Genaro hat recht«, sagte <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong>. »E<strong>in</strong> Zauberer hat ke<strong>in</strong>eVorstellung davon, daß er an zwei Orten zugleich ist. Sichdessen bewußt zu se<strong>in</strong> hieße soviel, wie se<strong>in</strong>em Doppelgänger zubegegnen, und <strong>der</strong> Zauberer, <strong>der</strong> se<strong>in</strong>em Doppelgänger vonAngesicht zu Angesicht gegenübersteht, ist e<strong>in</strong> toter Zauberer.D as ist die Regel. So hat die K raft die D <strong>in</strong>ge e<strong>in</strong>gerichtet.Niemand weiß, warum.«Sobald e<strong>in</strong> Krieger die Fähigkeit des »Träumens« und »Sehens«erreicht und e<strong>in</strong>en Doppelgänger hervorgebracht habe,müsse es ihm, erklärte <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong>, auch gel<strong>in</strong>gen, se<strong>in</strong> persönlicheGeschichte, se<strong>in</strong> Gefühl <strong>der</strong> eigenen W ichtigkeit undse<strong>in</strong>e Rout<strong>in</strong>everhalten auszulöschen. Alle die Techniken, die ermich gelehrt habe und die ich als leeres Gerede betrachtethätte, seien im G runde M ittel zur Aufhebung <strong>der</strong> Unmöglichkeit,<strong>in</strong> <strong>der</strong> gewöhnlichen W elt e<strong>in</strong>en Doppelgänger zu besitzen; undzwar <strong>in</strong>dem man das Selbst und die W elt <strong>in</strong> Bewegung br<strong>in</strong>geund sie beide außerhalb <strong>der</strong> Grenzen des Vorhersagbaren stelle.»E<strong>in</strong> beweglich gewordener Krieger kann die W elt nicht mehrchronologisch anordnen«, erklärte <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong>. »Und für ihns<strong>in</strong>d die W elt und er selbst ke<strong>in</strong>e Objekte mehr. Er ist e<strong>in</strong>leuchtendes W esen, das <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er leuchtenden W elt existiert.<strong>Der</strong> Doppelgänger ist für den Zauberer e<strong>in</strong>e e<strong>in</strong>fache Sache,denn er weiß, was er tut. Das Notizenanlegen ist für dich e<strong>in</strong>ee<strong>in</strong>fache Sache, aber dennoch machst du Genaro mit de<strong>in</strong>emB leistift Angst.«»Kann e<strong>in</strong> Außenstehen<strong>der</strong>, <strong>der</strong> den Zauberer beobachtet,feststellen, daß er an zwei O rten gleichzeitig ist?« fragte ich<strong>Don</strong> <strong>Juan</strong>.»Gewiß. Das wäre die e<strong>in</strong>zige M öglichkeit, es zu erkennen.«»Aber könnte man nicht logischerweise annehmen, daß auch<strong>der</strong> Zauberer nachträglich feststellt, daß er an zwei Ortengleichzeitig gewesen ist?«»A ha!« rief <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong>. »Diesmal hast du es getroffen. Sichermag e<strong>in</strong> Zauberer nachträglich feststellen, daß er an zweiOrten zugleich gewesen ist. Aber dies ist nur Buchhalterei undhat ke<strong>in</strong>erlei Bedeutung für die Tatsache, daß er, während erhandelt, ke<strong>in</strong>e Ahnung von se<strong>in</strong>er Dualität h a t.« M e<strong>in</strong> Verstandstockte. W enn ich jetzt nicht wie wild weiterschriebe, dasfü h lte ich. müßte ich explodieren. »Denk daran«, fuhr er fort,»die W elt erschließt sich uns nicht unm ittelbar! D azwischensteht die Beschreibung <strong>der</strong> W elt. Genaugenommen s<strong>in</strong>d wiralso stets e<strong>in</strong>en Schritt weit von ih r entfernt, und unsereErfahrung <strong>der</strong> W elt ist stets e<strong>in</strong>e Er<strong>in</strong>nerung an die Erfahrung.Immerfort er<strong>in</strong>nern wir uns an den Augenblick, <strong>der</strong> soebengeschehen und vorüber ist. W ir er<strong>in</strong>nern, er<strong>in</strong>nern, er<strong>in</strong>nernuns.«Er drehte se<strong>in</strong>e Hand auf und ab, um mir zu veranschaulichen,was er m e<strong>in</strong>te.»W enn unsere ganze Erfahrung <strong>der</strong> W elt Er<strong>in</strong>nerung ist. dann ist<strong>der</strong> Schluß gar nicht so abwegig, daß e<strong>in</strong> Zauberer an zweiO rten gleichzeitig se<strong>in</strong> kann. Für se<strong>in</strong>e eigene W ahrnehm unggilt dies nicht, denn um die W elt zu erfahren, muß <strong>der</strong>Zauberer, wie je<strong>der</strong> an<strong>der</strong>e M ensch, sich an die Handlung, die ereben ausgeführt hat, an das Ereignis, dem er eben beigewohnthat. an die Erfahrung, die er eben gemacht hat, wie<strong>der</strong> er<strong>in</strong>nern.In se<strong>in</strong>em Bewußtse<strong>in</strong> gibt es nur e<strong>in</strong>e e<strong>in</strong>zige Er<strong>in</strong>nerung. Aberfür e<strong>in</strong>en Außenstehenden, <strong>der</strong> den Zauberer beobachtet, mages so aussehen, als agiere er <strong>in</strong> zwei verschiedenen Episodengleichzeitig. D och <strong>der</strong> Zauberer er<strong>in</strong>nert sich an zwei e<strong>in</strong>zelneunzusammenhängende Augenblicke, denn <strong>der</strong> Leim <strong>der</strong> Zeit-Beschreibung b<strong>in</strong>det ihn nicht mehr.« Als <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> geendethatte, war mir, als hätte ich Fieber. <strong>Don</strong> Genaro beobachtetemich neugierig. »Er hat recht«, sagte er. »W ir s<strong>in</strong>d immere<strong>in</strong>en Schritt h<strong>in</strong>terher.«Er bewegte se<strong>in</strong>e Hand, wie <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> es getan hatte; se<strong>in</strong>K örper f<strong>in</strong>g an zu zittern, und er sprang <strong>in</strong> sitzen<strong>der</strong> H altungzurück. Es war so, als habe er e<strong>in</strong>en Schluckauf und als lasse<strong>der</strong> Schluckauf se<strong>in</strong>en Körper zurückschnellen. Jetzt bewegte56 57


er sich, auf dem Gesäß hüpfend, nach rückwärts bis ans Ende<strong>der</strong> Veranda - und wie<strong>der</strong> vor.Statt daß <strong>der</strong> Anblick <strong>Don</strong> Genaros, wie er da auf se<strong>in</strong>emH<strong>in</strong>terteil h<strong>in</strong>- und hersprang, mich - wie man me<strong>in</strong>en sollte -belustigt hätte, stürzte er m ich <strong>in</strong> e <strong>in</strong> e n solchen Anfall vonAngst, daß <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> mich mehrmals mit den F<strong>in</strong>gerknöchelnauf den Kopf schlagen mußte. um mich wie<strong>der</strong> zu ernüchtern.»Ich begreife das alles nicht. <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong>«, sagte ich. »Ich auchnicht«, entgegnete <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> und hob die Achseln. »Und ichauch nicht, lieber Carlitos«. schloß <strong>Don</strong> Genaro sich an.Me<strong>in</strong>e Erschöpfung, <strong>der</strong> Ansturm <strong>der</strong> S<strong>in</strong>neswahrnehmungen,die leichte, humorvolle Stimmung, die bei alledem vo rherrschte,und <strong>Don</strong> Genaros Possen - das war zuviel f ü r me<strong>in</strong>eNerven. Ich konnte die Erregung me<strong>in</strong>er Bauchmuskeln nichtmehr beherrschen.Auf <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong>s Geheiß wälzte ich mich am Boden, bis ichmich wie<strong>der</strong> beruhigt hatte, und dann nahm ich ihnen gegenüberwie<strong>der</strong> Platz.»Ist <strong>der</strong> Doppelgänger aus fester Materie 1 ?« fragte ich <strong>Don</strong><strong>Juan</strong> nach langem Schweigen. Sie sahen mich an.»Ist <strong>der</strong> Doppelgänger körperlich?« fragte ich. »Gewiß«, sagte<strong>Don</strong> <strong>Juan</strong>. »Festigkeit. Körperlichkeit, das s<strong>in</strong>dEr<strong>in</strong>nerungen. Daher s<strong>in</strong>d sie, wie alles, was wir über die Weltwissen, Er<strong>in</strong>nerungen, die wi r ansammeln. Er<strong>in</strong>nerungen an dieBeschreibung. Du hast e<strong>in</strong>e Er<strong>in</strong>nerung an me<strong>in</strong>e Festigkeit,genau wie du e<strong>in</strong>e Er<strong>in</strong>nerung an die Verständigung mitWorten hast. Daher sprachst du mit e<strong>in</strong>em Kojoten undempf<strong>in</strong>dest mich als fest.«<strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> rückte näher und stieß mich leicht mit <strong>der</strong> Schulteran.»Faß mich an!« sagte er.Ich berührte ihn, und dann fiel ich ihm <strong>in</strong> die Arme. Ich warden Tränen nahe.<strong>Don</strong> Genaro stand auf und kam näher. Er sah aus wie e<strong>in</strong>kle<strong>in</strong>es K<strong>in</strong>d mit leuchtenden, schelmischen Augen. Er spitztedie Lippen und schaute mich e<strong>in</strong>dr<strong>in</strong>glich an.58»Und was ist mit mir?« fragte er und versuchte e<strong>in</strong> Lächeln zuverbergen. »W illst du nicht auch mich umarmen?« Ich standauf und streckte die Arme aus, um ihn anzufassen; me<strong>in</strong>Körper erstarrte auf <strong>der</strong> Stelle. Ich hatte ke<strong>in</strong>e <strong>Kraft</strong>, michzu bewegen. Mit aller Gewalt versuchte ich, den Arm nachihm auszustrecken, aber me<strong>in</strong>e M ühe war vergeblich. <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong>und <strong>Don</strong> Genaro standen da und beobachteten mich. Ichspürte, wie me<strong>in</strong> Körper sich unter e<strong>in</strong>em unheimlichen Druckkrümmte.<strong>Don</strong> Genaro setzte sich und tat so, als sei er gekränkt, weil ichih n nicht um arm t h a tte ; er schm ollte und stampfte mit demFuß auf den Boden - und abermals brachen die beiden <strong>in</strong>brüllendes Gelächter aus.Me<strong>in</strong>e Bauchmuskeln bebten, und ich zitterte am ganzenKörper. <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> beschwor mich, me<strong>in</strong>en Kopf so zu bewegen,wie er es mir früher e<strong>in</strong>mal empfohlen hatte, und me<strong>in</strong>te,dies sei die e<strong>in</strong>zige Möglichkeit, mich zu beruhigen, <strong>in</strong>dem ichnämlich e<strong>in</strong>en Lichtstrahl <strong>in</strong> <strong>der</strong> Hornhaut me<strong>in</strong>er Augen sichspiegeln ließ. M it Gewalt zerrte er m ich unter dem Vordachheraus aufs offene Feld. Nun brachte er me<strong>in</strong>en Körper <strong>in</strong>e<strong>in</strong>e Haltung, bei <strong>der</strong> die östliche Sonne <strong>in</strong> me<strong>in</strong>e Augen fiel.Aber als er mich schließlich <strong>in</strong> die richtige Stellung gebrachthatte, zitterte ich nicht mehr. Erst als <strong>Don</strong> Genaro me<strong>in</strong>te,daß m e<strong>in</strong> Zittern wohl vom Gewicht des Papiers herrührenmüsse, bemerkte ich. daß ich me<strong>in</strong>en Notizblock fest umklammerthielt.Ich sagte <strong>Don</strong> Ju an , daß me<strong>in</strong> Körper mich zum Fortgehendrängte. Ich w<strong>in</strong>kte <strong>Don</strong> Genaro zu. Ich wollte ihnen ke<strong>in</strong>eZeit lassen, m ich um zustim m en.»Lebe wohl. <strong>Don</strong> Genaro«, rief ich. »Ich muß jetzt gehen.«Er w<strong>in</strong>kte zurück.<strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> begleitete mich e<strong>in</strong> paar Schritte bis zu me<strong>in</strong>emAuto.»Hast du auch e<strong>in</strong>en Doppelgänger, <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong>?« fragte ich.»Natürlich!« rief er.In diesem Augenblick kam mir e<strong>in</strong>e beängstigende Idee. Ichwollte sie abschütteln und eilig aufbrechen, aber irgend etwas <strong>in</strong>mir machte mich stutzig. In all den Jahren unserer Verb<strong>in</strong>dunghatte ich mich daran gewöhnt, daß ich jedesmal, wenn59


ich <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> sehen wollte, nur nach Sonora o<strong>der</strong> Zentralmexikozu fahren brauchte, um ihn anzutreffen - stets micherwartend. Ich hatte gelernt, dies als selbstverständlich h<strong>in</strong>zunehmen,und bis dah<strong>in</strong> war mir nie e<strong>in</strong>gefallen, etwas Beson<strong>der</strong>esdabei zu f<strong>in</strong>den.»Sag mir etwas, <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong>«, sagte ich halb im Scherz. »Bist du esselbst o<strong>der</strong> bist du de<strong>in</strong> Doppelgänger?« Er beugte sich zu mirherüber. Er gr<strong>in</strong>ste. »Me<strong>in</strong> Doppelgänger«, flüsterte er.M e<strong>in</strong> Körper schnellte <strong>in</strong> die Luft, wie von e<strong>in</strong>er unheim lichen<strong>Kraft</strong> getrieben. Ich rannte zu me<strong>in</strong>em Auto. »Ich habe bloßSpaß gemacht«, rief <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> mit erhobener Stimme. »Dudarfst noch nicht fort. Du schuldest mir immer noch fünfTage.«Die beiden rannten auf me<strong>in</strong> Auto zu, während ich e<strong>in</strong>stieg.Sie lachten und hüpften auf und ab.»Carlitos, ruf m ich, wann im m er du w illst!« schrie <strong>Don</strong> Genaro.<strong>Der</strong> Träumer und <strong>der</strong> GeträumteIch fuhr zu <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> und traf am frühen M orgen bei ihm e<strong>in</strong>.Die Nacht hatte ich unterwegs <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em M otel verbracht, damitich noch vorm ittags bei ihm e <strong>in</strong> tr ä fe . D on <strong>Juan</strong> w ar im H ausund trat heraus, als ich ihn rief. Er begrüßte mich herzlich,und ich hatte den E<strong>in</strong>druck, daß er sich freute, mich zu sehen.Er machte e<strong>in</strong>e Bemerkung, die mich offenbar aufheiternsollte, die aber die gegenteilige W irkung auf mich hatte.»Ich habe dich kommen gehört«, sagte er lachend, »und b<strong>in</strong><strong>in</strong>s <strong>Haus</strong> gelaufen. Ich fürchtete, wenn ich hier draußen gebliebenwäre, hättest du Angst gekriegt.« Beiläufig me<strong>in</strong>te er.ich sei <strong>in</strong> düsterer und bedrückter Stimmung. Er sagte, icher<strong>in</strong>nerte ih n an Eligio, <strong>der</strong> schwermütig genug sei, um e<strong>in</strong>guter Zauberer zu se<strong>in</strong>, aber zu schwermütig, um e<strong>in</strong> W issen<strong>der</strong>zu werden, und er fügte h<strong>in</strong>zu, um den verheerenden Folgene<strong>in</strong>er Begegnung mit <strong>der</strong> W elt <strong>der</strong> Zauberer entgegenzuwirken,bleibe e<strong>in</strong>em n u r die M öglichkeit, darüber zu lachen.M it se<strong>in</strong>em Urteil über me<strong>in</strong>e Stimmung hatte er recht. Tatsächlichplagten mich Sorgen und Ängste. W ir unternahmene<strong>in</strong>en langen Spaziergang. Es brauchte Stunden, bis ich michunbeschwerter fühlte. E<strong>in</strong>fach neben ihm dah<strong>in</strong>zugehen tatmir wohler, als wenn ich versucht hätte, mich aus me<strong>in</strong>erTrübseligkeit herauszureden.Am Spätnachm ittag kehrten wir zum H aus zurück. Ic h warausgehungert. Nachdem wir gegessen hatten, setzten wir unsauf die Veranda. <strong>Der</strong> Himmel war heiter. Das milde Licht desN achm ittags stim m te m ich behaglich. Ic h w o llte sprechen. »SeitM onaten fühle ich mich unwohl«, sagte ich. »W as du und <strong>Don</strong>Genaro beim letzten M al, als ich hier war. gesagt und getanhabt, war wirklich furchtbar.D on <strong>Juan</strong> sagte nichts. Er stand auf und schritt um dieVeranda herum.»Ich muß darüber sprechen«, sagte ich. »Es verfolgt mich, undich muß dauernd darüber nachdenken.«61


»Hast du Angst?« fragte er.Ich hatte ke<strong>in</strong>e Angst, son<strong>der</strong>n war verwirrt und überwältigtdurch das, was ich gehört und gesehen hatte. Die Lückenme<strong>in</strong>er Vernunft waren so gewaltig, daß ich sie entwe<strong>der</strong>auffüllen o<strong>der</strong> me<strong>in</strong>e Vernunft überhaupt aufgeben mußte.Me<strong>in</strong>e Ausführungen brachten ihn zum Lachen. »Wirf de<strong>in</strong>eVernunft noch nicht fort!« sagte er. »Es ist noch nicht Zeitdafür. Es wird ohneh<strong>in</strong> geschehen, aber ich glaube nicht, daßdies schon <strong>der</strong> richtige Augenblick ist.« »Sollte ich alsoversuchen, für das Geschehene e<strong>in</strong>e Erklärung zu f<strong>in</strong>den?«fragte ich.»Gewiß!« erwi<strong>der</strong>te er. »Es ist de<strong>in</strong>e Pflicht, de<strong>in</strong>en Verstand <strong>in</strong>Ordnung zu br<strong>in</strong>gen. Krieger err<strong>in</strong>gen ihre Siege nicht, <strong>in</strong>demsie mit dem Kopf gegen die Wand stürmen, son<strong>der</strong>n <strong>in</strong>dem siedie Wand überw<strong>in</strong>den. Krieger überspr<strong>in</strong>gen die Wand; siereißen sie nicht nie<strong>der</strong>.« »Aber wie kann ich diese hierüberspr<strong>in</strong>gen?« frage ich. »Vor allem halte ich es fürgrundfalsch, daß du alles <strong>der</strong>maßen ernst nimmst«, sagte er undsetzte sich neben mich. »Es gibt dreierlei schlechteGewohnheiten, <strong>in</strong> die wir immer wie<strong>der</strong> verfallen, sobald wirim Leben mit ungewöhnlichen Situationen konfrontiert s<strong>in</strong>d.Erstens können wir das, was geschieht o<strong>der</strong> geschehen ist,leugnen und so tun, als sei es nie geschehen. So machen es dieBigotten. Zweitens können wir alles unbesehen akzeptierenund so tun, als wüßten wir, was geschieht. So machen es dieFrommen. Drittens kann e<strong>in</strong> Ereignis uns zwanghaftbeschäftigen, weil wir es we<strong>der</strong> leugnen noch rückhaltlosakzeptieren können. So machen es die Narren. Du etwa auch?Doch es gibt noch e<strong>in</strong>e vierte Möglichkeit, die richtige nämlich,die des Kriegers. E<strong>in</strong> Krieger handelt so, als sei überhauptnichts geschehen, weil er an gar nichts glaubt, und dochakzeptiert er alles unbesehen. Er akzeptiert, ohne zuakzeptieren, und leugnet, ohne zu leugnen. Nie tut er so, alswisse er, noch tut er so, als sei nichts geschehen. Er handelt so,als ob er die Situation <strong>in</strong> <strong>der</strong> Hand hätte, auch wenn ihmvielleicht die Hosen schlottern. Diese Art zu handeln vertreibtdie zwanghafte Beschäftigung mit den D<strong>in</strong>gen.« Langeschwiegen wir. <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong>s Worte wirkten wie Balsam auf mich.»Darf ich etwas über <strong>Don</strong> Genaro und se<strong>in</strong>en Doppelgängersagen?« fragte ich.»Es hängt davon ab. was du über ihn sagen willst«, antworteteer. »Willst du dich mit de<strong>in</strong>en Zwangsvorstellungen beschäftigen?«»Ich will mich mit Erklärungen beschäftigen«, sagte ich. »Ichbeschäftige mich zwanghaft damit, weil ich nicht wagte, dichzu besuchen, und nicht imstande war. mit irgend jemandemüber me<strong>in</strong>e Skrupel und Zweifel zu sprechen.« »Redest dudenn nicht mit de<strong>in</strong>en Freunden?« »Das wohl, aber wie könntensie mir helfen' 1 « »Ich habe nie daran gedacht, daß du Hilfebenötigst. Du mußt das Gefühl entwickeln, daß e<strong>in</strong> Kriegernichts benötigt. Du sagst, du brauchst Hilfe. Hilfe wofür'? Duhast alles, was du für diese großartige Reise brauchst, die de<strong>in</strong>Leben ist. Ich habe versucht, dich zu lehren, daß diewirkliche Erfahrung dar<strong>in</strong> besteht, e<strong>in</strong> Mensch zu se<strong>in</strong>, unddaß es nur darauf ankommt zu leben; das Leben ist <strong>der</strong> kle<strong>in</strong>eUmweg, den wir heute machen. Das Leben ist e<strong>in</strong> zureichen<strong>der</strong>Grund, es erklärt sich aus sich selbst und ist vollkommen.E<strong>in</strong> Krieger weiß dies und lebt dementsprechend. Daherkönnte man ohne Überheblichkeit sagen, daß es die Erfahrung<strong>der</strong> Erfahrungen ist. e<strong>in</strong> Krieger zu se<strong>in</strong>.« Er schien darauf zuwarten, daß ich etwas sagte. Ich zögerte. Ich wollte mir me<strong>in</strong>eWorte sorgfältig überlegen. »Wenn e<strong>in</strong> Krieger Trost braucht«,fuhr er fort, »dann wendet er sich e<strong>in</strong>fach an den Nächstbestenund erklärt diesem ausführlich, was ihn bedrückt. Jedenfallssucht <strong>der</strong> Krieger nicht Hilfe o<strong>der</strong> Verständnis; <strong>in</strong>dem er spricht,befreit er sich lediglich von dem Druck, <strong>der</strong> auf ihm lastet.Vorausgesetzt allerd<strong>in</strong>gs, daß es dem Krieger gegeben ist zusprechen: wenn nicht, erzählt er niemandem etwas von sich.Du aber lebst überhaupt nicht wie e<strong>in</strong> Krieger. Jedenfallsnoch nicht. Und die Fallstricke, <strong>in</strong> die du tappst, müssenwahrhaft gewaltig se<strong>in</strong>. Du kannst auf me<strong>in</strong> ganzes Mitleidzählen.« Er me<strong>in</strong>te es nicht scherzhaft. Nach <strong>der</strong> Anteilnahme<strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Blick zu urteilen, schien er zu wissen, wovon ersprach. Er stand auf und streichelte mir den Kopf. Er schritt dievolle Länge <strong>der</strong> Veranda auf und ab und blickte gleichgültigzum62 63


Chaparral h<strong>in</strong>ter dem <strong>Haus</strong> h<strong>in</strong>über. Se<strong>in</strong>e Bewegungen löstenbei mir e<strong>in</strong> Gefühl <strong>der</strong> Rastlosigkeit aus. Um mich zuentspannen, f<strong>in</strong>g ich an. über me<strong>in</strong> Dilemma zu sprechen. Ichhatte den E<strong>in</strong>druck, daß es im Grunde zu spät war, so zu tun,als sei ich e<strong>in</strong> harmloser Außenstehen<strong>der</strong>. Unter <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong>sLeitung hatte ich mich geübt, bis ich zu seltsamenWahrnehmungen fähig war, wie etwa das »Anhalten des<strong>in</strong>neren Dialogs« o<strong>der</strong> das Kontrollieren me<strong>in</strong>er Träume. Daswaren D<strong>in</strong>ge, die man nicht vortäuschen konnte. Ich hatte se<strong>in</strong>eAnweisungen befolgt, wenn auch nie buchstäblich, und es warmir zum Teil gelungen, me<strong>in</strong>e Alltagsrout<strong>in</strong>e zu unterbrechen,die Verantwortung für me<strong>in</strong>e Handlungen zu übernehmen undme<strong>in</strong>e persönliche Geschichte auszulöschen, und schließlichhatte ich e<strong>in</strong>en Punkt erreicht, vor dem ich mich vor Jahrennoch gefürchtet hätte: ich konnte jetzt alle<strong>in</strong> se<strong>in</strong>, ohne daßdies me<strong>in</strong>em körperlichen o<strong>der</strong> emotionalen Wohlbef<strong>in</strong>denAbbruch tat. Dies war vielleicht me<strong>in</strong> allererstaunlichster Sieg.In Anbetracht me<strong>in</strong>er früheren Hoffnungen und Stimmungenwar <strong>der</strong> Zustand, alle<strong>in</strong> und dabei nicht »wie von S<strong>in</strong>nen« zuse<strong>in</strong>, ganz unvorstellbar. Ich war mir all <strong>der</strong> Verän<strong>der</strong>ungen,die <strong>in</strong> me<strong>in</strong>em Leben und <strong>in</strong> me<strong>in</strong>er Weltauffassungstattgefunden hatten, wohl bewußt, und mir war klar, daß esirgendwie überflüssig war, sich von <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong>s und <strong>Don</strong>Genaros Enthüllungen über den »Doppelgänger« so tiefaufwühlen zu lassen. »Was mache ich denn falsch, <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong>?«fragte ich. »Du läßt dich gehen«, fuhr er mich an. »Du me<strong>in</strong>st,es sei e<strong>in</strong> Zeichen von Sensibilität, <strong>in</strong> Zweifeln und Klagen zuschwelgen. Nun, wenn du die Wahrheit hören willst, du bistalles an<strong>der</strong>e als sensibel. Warum gibst du es also vor?Irgendwann habe ich dir e<strong>in</strong>mal gesagt, e<strong>in</strong> Krieger akzeptiert<strong>in</strong> Demut, was er ist.«»Du stellst es so dar, als brächte ich mich absichtlich <strong>in</strong>Verlegenheit«, sagte ich.»Allerd<strong>in</strong>gs br<strong>in</strong>gen wir uns absichtlich <strong>in</strong> Verlegenheit«,sagte er. »Wir s<strong>in</strong>d uns stets unserer Taten bewußt. Unserekümmerliche Vernunft bläht sich absichtlich zu dem Monstrumauf, das sie zu se<strong>in</strong> vorgibt. Sie ist aber zu kle<strong>in</strong> für e<strong>in</strong>e sogroße Schale.«Ich erklärte ihm, daß me<strong>in</strong> D ilemma wohl komplizierter sei. alser es nun darstelle. Denn solange er selbst und <strong>Don</strong> GenaroMenschen wie ich waren, machte ihre e<strong>in</strong>drucksvolleÜ berlegenheit sie zu V orbil<strong>der</strong>n für me<strong>in</strong> eigenes V erhalten.Waren sie aber im Grunde völlig an<strong>der</strong>e Menschen als ich. dannkonnte ich sie nicht mehr als Vorbil<strong>der</strong> akzeptieren, son<strong>der</strong>nmußte sie für wun<strong>der</strong>liche Orig<strong>in</strong>ale halten, denen ichunmöglich nacheifern mochte.»Genaro ist e<strong>in</strong> Mensch«, sagte <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> mit Bestimmtheit.»Gewiß. er ist nicht mehr Mensch als du. Aber das ist se<strong>in</strong>Verdienst, und es sollte dir ke<strong>in</strong>e Angst machen. Wenn eran<strong>der</strong>s ist - um so mehr Grund, ih n zu bewun<strong>der</strong>n.«»Aber se<strong>in</strong> An<strong>der</strong>sse<strong>in</strong> ist ke<strong>in</strong> menschliches An<strong>der</strong>sse<strong>in</strong>«,sagte ich.»Und was. glaubst du wohl, ist es? Etwa w ie <strong>der</strong> U nterschiedzwischen e<strong>in</strong>em Menschen und e<strong>in</strong>em Pferd'!*« »Ich weiß esnicht. Aber er ist nicht wie ich.« »Doch, das war er e<strong>in</strong>m al.«»Aber kann denn ich se<strong>in</strong>e Verän<strong>der</strong>ung begreifen?« »Gewiß.Denn du selbst verän<strong>der</strong>st dich.« »W illst du damit sagen, daßauch ich e<strong>in</strong>en Doppelgänger hervorbr<strong>in</strong>gen werde?«»Niemand br<strong>in</strong>gt e<strong>in</strong>en Doppelgänger hervor. Das ist nur e<strong>in</strong>ebildliche Redeweise. Und du. bei all de<strong>in</strong>em vielen Reden.bist doch den Wörtern h ilflos ausgeliefert. Du gehst ihrerBedeutung auf den Leim. Jetzt me<strong>in</strong>st du. man br<strong>in</strong>ge denDoppelgänger durch unredliche Tricks hervor, nehme ich an.Aber wir leuchtenden Wesen haben alle e<strong>in</strong>en Doppelgänger.Wir alle! E <strong>in</strong> Krieger lernt lediglich, sich dessen bewußt zuse<strong>in</strong>, das ist alles. Es gibt ansche<strong>in</strong>end unüberw<strong>in</strong>dlicheSchranken, die dieses Bewußtse<strong>in</strong> versperren. Aber das kannnicht an<strong>der</strong>s se<strong>in</strong>. Gerade diese Schranken machen das E rreichene<strong>in</strong>es solchen Bewußtse<strong>in</strong>s zu e<strong>in</strong>er so e<strong>in</strong>zigartigenHerausfor<strong>der</strong>ung.«»Warum habe ich soviel Angst davor. <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong>?« »Weil duglaubst, <strong>der</strong> Doppelgänger sei das. was das Wort besagt, e<strong>in</strong>Doppelgänger o<strong>der</strong> e<strong>in</strong> an<strong>der</strong>es Ich. Ich gebrauche diese Wörtern u r, um den Sachverhalt zu beschreiben. <strong>Der</strong>64 65


Doppelgänger - das bist du selbst. An<strong>der</strong>s darfst du es nichtbetrachten.«»Und wie, wenn ich ihn nicht haben will?« »<strong>Der</strong> Doppelgängerist ke<strong>in</strong>e Sache <strong>der</strong> persönlichen Entscheidung. Auch ist eske<strong>in</strong>e Sache <strong>der</strong> persönlichen Entscheidung, wer auserwähltwird, um das W issen <strong>der</strong> Zauberer zu lernen, das zu jenemBewußtse<strong>in</strong> führt. Hast du dich jemals gefragt, warumausgerechnet du es bist?« »Das habe ich immer. Ich habe dirhun<strong>der</strong>tmal diese Frage gestellt, aber du hast sie niebeantwortet.« »Ich me<strong>in</strong>te nicht, daß du es als Frage stellensolltest, die e <strong>in</strong> e A ntw ort verlangt, son<strong>der</strong>n <strong>in</strong> dem S <strong>in</strong> n , w iee<strong>in</strong> Krieger über se<strong>in</strong> großes Glück nachdenkt - das Glück,e<strong>in</strong>e lohnende Herausfor<strong>der</strong>ung gefunden zu haben.Diesen Sachverhalt als gewöhnliche Frage zu formulieren,darauf verfallen e<strong>in</strong>gebildete Leute, die dafür bewun<strong>der</strong>t o<strong>der</strong>bem itleidet werden wollen. E<strong>in</strong>e solche Frage <strong>in</strong> te re ssie rtm ich nicht, weil es unm öglich ist, sie zu beantworten. D ieEntscheidung, dich auszuwählen, war e<strong>in</strong>e Absicht <strong>der</strong> <strong>Kraft</strong>.Niemand kann die Absichten <strong>der</strong> <strong>Kraft</strong> entschlüsseln. Jetzt, dadu e<strong>in</strong>mal ausgewählt bist, gibt es nichts, was du tu n kö nntest,um die Erfüllung dieser Absicht aufzuhalten.« »Aber du selbstsagtest mir doch. <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong>, daß man stets scheitern kann.«»D as ist richtig. M an kann stets scheitern. Aber m ir sc h e <strong>in</strong> t, dirgeht es um etwas an<strong>der</strong>es. Du suchst nach e<strong>in</strong>er A usflucht. D umöchtest die Freiheit haben, nach eigenem Belieben zuscheitern und dich aus dem Staub zu machen. Zu spät dafür!E<strong>in</strong> Krieger ist <strong>in</strong> <strong>der</strong> Hand <strong>der</strong> <strong>Kraft</strong>, und er hat nur noch dieFreiheit, sich für e<strong>in</strong> Leben <strong>der</strong> M akellosigkeit zu entscheiden.Es ist unmöglich, Sieg o<strong>der</strong> Nie<strong>der</strong>lage vorzutäuschen. V ielleichtwill de<strong>in</strong>e V ernunft, daß du überhaupt scheiterst, um dieGanzheit de<strong>in</strong>es Selbst auszulöschen. Aber es gibt e<strong>in</strong> Gegenmittel, das es dir nicht erlauben wird, e<strong>in</strong>en falschen Sieg o<strong>der</strong>e<strong>in</strong>e falsche Nie<strong>der</strong>lage zu bekennen. Falls du glaubst, dukönntest dich <strong>in</strong> den sicheren Hafen des Scheiterns flüchten,dann bist du von S<strong>in</strong>nen. De<strong>in</strong> Körper wird wachsam se<strong>in</strong> unddir we<strong>der</strong> das e<strong>in</strong>e noch das an<strong>der</strong>e erlauben.« Er lachte leisevor sich h<strong>in</strong>.»Warum lachst du?« fragte ich.»Du steckst furchtbar <strong>in</strong> <strong>der</strong> Klemme«, sagte er. »Es ist für dichzu spät, e<strong>in</strong>en Rückzieher zu machen, aber es ist noch zu früh,um zu handeln. Du kannst nichts an<strong>der</strong>es tun als miterleben undbeobachten. Du bist <strong>in</strong> <strong>der</strong> scheußlichen Situation e<strong>in</strong>es K<strong>in</strong>des,das nicht mehr <strong>in</strong> den Mutterleib zurückkehren, aber auch nochnicht fortlaufen und selbst handeln kann. Das K<strong>in</strong>d kann nichtsan<strong>der</strong>es tun als beobachten und den erstaunlichen Geschichtenvon Taten zuhören, die ihm erzählt werden. Genau an diesemPunkt stehst du jetzt. Du kannst nicht <strong>in</strong> den Mutterleib de<strong>in</strong>eralten Welt zurückkehren, aber du kannst auch noch nicht durchdie <strong>Kraft</strong> handeln. Für dich gibt es nur e<strong>in</strong>es: die Taten <strong>der</strong><strong>Kraft</strong> beobachten und den Erzählungen - den Erzählungen <strong>der</strong><strong>Kraft</strong> - zuhören. <strong>Der</strong> Doppelgänger ist e<strong>in</strong>e dieser Erzählungen.Das weißt du. und das ist auch <strong>der</strong> Grund, warum de<strong>in</strong>eVernunft dadurch so sehr erschüttert ist. Wenn du vorgibst zuverstehen, dann rennst du mit dem Kopf gegen e<strong>in</strong>e Wand.Alles, was ich im S<strong>in</strong>n e<strong>in</strong>er Erklärung darüber sagen kann, ist,daß e<strong>in</strong> Doppelgänger, obgleich man durch das Träumen zuihm gelangt, so wirklich ist, wie er nur se<strong>in</strong> könnte.«»Nach allem, was du mir gesagt hast. <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong>, kann <strong>der</strong>Doppelgänger handeln. Kann er also auch . . .« Er ließ michme<strong>in</strong>e Überlegungen nicht fortsetzen. Es sei doch unpassend,ermahnte er mich, davon zu sprechen, er habe mir vomDoppelgänger erzählt, während ich doch behaupten dürfe, ihnselbst erlebt zu haben.»Offensichtlich kann <strong>der</strong> Doppelgänger handeln«, sagte ich.»Offensichtlich!« erwi<strong>der</strong>te er.»Aber kann <strong>der</strong> Doppelgänger anstelle des Selbst handeln?«»Verdammt, er ist das Selbst!«Ich hatte große Mühe, mich verständlich zu machen. Ich hattedie Vorstellung, daß - wenn e<strong>in</strong> Zauberer zwei Handlungengleichzeitig ausführen konnte - se<strong>in</strong>e Fähigkeit, nützlicheD<strong>in</strong>ge zu tun. sich verdoppeln mußte. Demnach konnte ergleichzeitig zwei Arbeiten verrichten, an zwei Orten se<strong>in</strong>, zweiBesuche machen usw. <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> hörte geduldig zu. »Darf ich esmal folgen<strong>der</strong>maßen ausdrücken?« sagte ich.66 67


»M an könnte doch hypothetisch behaupten, daß <strong>Don</strong> GenaroHun<strong>der</strong>te von Kilometern entfernt jemanden töten kann,<strong>in</strong>dem er se<strong>in</strong>en Doppelgänger dies ausführen läßt, nichtwahr?«<strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> sah mich an. Er schüttelte den Kopf und wandte sichab.»D u bist voll von gewalttätigen G eschichten«, sagte er. »G e-naro kann niemanden töten, weil er ke<strong>in</strong> Interesse mehr anse<strong>in</strong>en M itmenschen hat. W enn e<strong>in</strong> Krieger e<strong>in</strong>mal das Sehenund das Träumen beherrscht und sich se<strong>in</strong>er leuchtendenG estalt bewußt ist, dann hat er für <strong>der</strong>lei ke<strong>in</strong> Interesse mehr.«Ich wandte e<strong>in</strong>, er habe doch zu Beg<strong>in</strong>n me<strong>in</strong>er Lehrzeitgeäußert, daß e<strong>in</strong> Zauberer sich mit Hilfe se<strong>in</strong>es »Verbündeten«über viele hun<strong>der</strong>t Kilometer h<strong>in</strong>wegsetzen könne, ume<strong>in</strong>en Schlag gegen se<strong>in</strong>e Fe<strong>in</strong>de zu führen. »Ich b<strong>in</strong>verantwortlich für de<strong>in</strong>e V erwirrung«, sagte er. »Aber er<strong>in</strong>neredich: bei e<strong>in</strong>er an<strong>der</strong>en Gelegenheit sagte ich dir, daß ich beidir nicht jene Schritte e<strong>in</strong>gehalten habe, die me<strong>in</strong> eigenerLehrer mir vorschrieb. Er war e<strong>in</strong> Zauberer, und ich hätte dichregelrecht <strong>in</strong> diese W elt h<strong>in</strong>e<strong>in</strong>stürzen sollen. Ich tat es nicht,weil ich mich nicht mehr um das Auf und Ab me<strong>in</strong>erM itmenschen kümmere. Dennoch hafteten die W orte me<strong>in</strong>esLehrers mir an. Viele M ale habe ich zu dir gesprochen, genauwie er selbst zu sprechen pflegte. Aber Genaro ist e<strong>in</strong>W issen<strong>der</strong>. <strong>Der</strong> vollkommenste von allen. Se<strong>in</strong>e Taten s<strong>in</strong>dunfehlbar. Er steht über den gewöhnlichen M enschen, auchüber den Zauberern. Se<strong>in</strong> Doppelgänger ist e<strong>in</strong> Ausdruckse<strong>in</strong>er Freude und se<strong>in</strong>es Humors. Daher kann er ihnunm öglich e<strong>in</strong>setzen, um alltägliche Situationen zu schaffeno<strong>der</strong> zu lösen. Soviel ich weiß, ist <strong>der</strong> Doppelgänger dasBewußtse<strong>in</strong> von unserem Zustand als leuchtende W esen. Ichm ag tun, was ich will, und doch zieht er es vor, unauffällig undfreundlich zu se<strong>in</strong>.Es war m e<strong>in</strong> Fehler, daß ich dich m it entlehnten W orten <strong>in</strong> dieIrre führte. M e<strong>in</strong> Lehrer war nicht fähig, solche D<strong>in</strong>ge zubewirken wie Genaro. Unglücklicherweise blieben für me<strong>in</strong>enLehrer - genau wie für dich - gewisse D<strong>in</strong>ge lediglich Erzählungen<strong>der</strong> <strong>Kraft</strong>.«Ich fühlte mich gezwungen, me<strong>in</strong>en Standpunkt zu verteidigen.Ich sagte, ich spräche doch nur <strong>in</strong> hypothetischem S<strong>in</strong>ne. »Esgibt ke<strong>in</strong>en hypothetischen S<strong>in</strong>n, sobald man über die Welt <strong>der</strong>Wissenden spricht«, sagte er. »E<strong>in</strong> Wissen<strong>der</strong> kann se<strong>in</strong>enMitmenschen niemals Schaden zufügen, ob hypothetisch o<strong>der</strong>sonst wie.«»Aber wie, wenn se<strong>in</strong>e Mitmenschen e<strong>in</strong>en Anschlag auf se<strong>in</strong>eSicherheit und se<strong>in</strong> Wohl planen? Kann er dann se<strong>in</strong>en Doppelgängere<strong>in</strong>setzen, um sich zu schützen?« Er schnalztemißbilligend mit <strong>der</strong> Zunge. »Welch unglaublicheGewalttätigkeit steckt <strong>in</strong> de<strong>in</strong>en Gedanken«, sagte er. »Niemandkann e<strong>in</strong>en Anschlag auf die Sicherheit und das Wohl e<strong>in</strong>esWissenden planen. Er sieht, daher wird er Vorkehrungentreffen, um <strong>der</strong>gleichen zu verh<strong>in</strong><strong>der</strong>n. Genaro zum Beispielnimmt e<strong>in</strong> kalkuliertes Risiko auf sich, wenn er sich mit dirabgibt. Aber du könntest gar nichts tun, um se<strong>in</strong>e Sicherheit zugefährden. Falls es <strong>der</strong>gleichen gäbe, würde se<strong>in</strong> Sehen es ihnwissen lassen. Wenn nun irgend etwas an dir ist, das von Naturaus schädlich für ihn ist, und se<strong>in</strong> Sehen dies nicht erfassenkann, dann ist es eben se<strong>in</strong> Schicksal, und diesem kann we<strong>der</strong>Genaro noch sonst jemand entgehen. Du siehst also, e<strong>in</strong>Wissen<strong>der</strong> hat die Kontrolle, ohne irgend etwas zukontrollieren.«Wir schwiegen. Die Sonne berührte schon die hohen Büschean <strong>der</strong> westlichen Seite des <strong>Haus</strong>es. Somit blieben noch zweiStunden Tageslicht.»Warum rufst du nicht Genaro?« fragte <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> beiläufig.Me<strong>in</strong> Körper schnellte empor. Me<strong>in</strong>e erste Reaktion war, allesfallenzulassen und zum Auto zu rennen. <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> lachte ausvollem Hals. Ich sagte ihm, ich hätte es nicht nötig, mir irgendetwas zu beweisen, und es genüge mir vollauf, mit ihm zusprechen. <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> konnte sich nicht halten vor Lachen. Es seie<strong>in</strong>e Schande, me<strong>in</strong>te er schließlich, daß <strong>Don</strong> Genaro nicht hiersei, um dieses tolle Spektakel mitzuerleben. »Hör mal, wenndu schon ke<strong>in</strong>e Lust hast, Genaro zu rufen, dann will ich estun«, sagte er entschlossen. »Ich liebe se<strong>in</strong>e Gesellschaft.«Ich spürte e<strong>in</strong>en scheußlich bitteren Geschmack unter demGaumen. Schweißperlen liefen mir über die Stirn und über die68 69


O berlippe. Ich wollte etwas e<strong>in</strong>wenden, aber es gab wirklichnichts zu sagen.<strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> musterte mich mit e<strong>in</strong>em langen, prüfenden Blick.»K om m schon!« sagte er. »E<strong>in</strong> K rieger ist im m er bereit. U me<strong>in</strong> K rieger zu se<strong>in</strong>, ist es nicht e<strong>in</strong>fach damit getan, daß mane<strong>in</strong>er se<strong>in</strong> möchte. Vielmehr ist es e<strong>in</strong> endloser Kampf, <strong>der</strong> biszum allerletzten Augenblick unseres Lebens währt. Niemandist als Krieger geboren, genau wie niemand als vernunftbegabtesW esen geboren wird. W ir machen das e<strong>in</strong>e o<strong>der</strong> dasan<strong>der</strong>e aus uns.Reiß dich zusam m en! Ich will nicht, daß G enaro sieht, wie duzitterst.«Er stand auf und schritt auf dem sauber gefegten V orplatz aufund ab. Ich konnte nicht gelassen bleiben. M e<strong>in</strong>e Nervositätwurde so heftig, daß ich nicht mehr schreiben konnte, und ichsprang auf die Füße.<strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> hieß mich, mit dem Gesicht nach W esten auf <strong>der</strong>Stelle traben. Schon vorher hatte er mich bei verschiedenenGelegenheiten dieselbe Bewegung ausführen lassen. Dabeig<strong>in</strong>g es darum, aus <strong>der</strong> anbrechenden Dämmerung »<strong>Kraft</strong>« zuziehen, <strong>in</strong>dem man die Arme mit fächerförmig gespreiztenF<strong>in</strong>gern zum Himmel streckte und dann, wenn die Arme sich <strong>in</strong><strong>der</strong> M itte zwischen H orizont und Zenit befanden, die Händekraftvoll zu Fäusten ballte.Diese Übung tat ihre W irkung, und fast augenblicklich wurdeich ruhig und gefaßt. Ich konnte jedoch nicht umh<strong>in</strong>, mich zufragen, was m it m e<strong>in</strong>em a lte n »Ic h « geschehen se<strong>in</strong> m ochte,das sich durch das Ausführen so e<strong>in</strong>facher und törichterBewegungen niemals so vollkommen hätte entspannen können.N un wollte ich m e<strong>in</strong>e ganze Aufmerksamkeit auf das V erfahrenkonzentrieren, das <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> zweifellos befolgen würde,um <strong>Don</strong> Genaro zu rufen. Ich erwartete irgendwelche groteskenVorkehrungen. <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> aber stand, nach Südosten gewandt,auf <strong>der</strong> Veranda, legte die Hände trichterförmig um den Mundund rief: »Genaro! Komm her!« Im nächsten Augenblicktauchte <strong>Don</strong> Genaro aus dem Chaparral auf. Die beidenstrahlten. Sie tanzten buchstäblich vor mir h<strong>in</strong> und her.70<strong>Don</strong> Genaro begrüßte mich überschwänglich und setzte sichdann auf die M ilchbütte.Irgend etwas stimmte ganz und gar nicht mit mir. Ich warruhig, gelassen. E<strong>in</strong>e unglaubliche G leichgültigkeit und Entrücktheithatten me<strong>in</strong> ganzes W esen erfaßt. Fast war es so, alsbeobachtete ich m ich selbst aus e <strong>in</strong> e m V ersteck. G anz unbekümm ert berichtete ich D on G enaro, daß er m ich bei m e<strong>in</strong>emletzten Besuch be<strong>in</strong>ahe zu Tode erschreckt habe und ich nichte<strong>in</strong>m al bei m e<strong>in</strong>en Erlebnissen m it psychotropen Pflanzen <strong>in</strong>e<strong>in</strong>em so völlig chaotischen Zustand gewesen sei. D ie beidenbejubelten me<strong>in</strong>e Äußerungen, als hätte ich e<strong>in</strong>en guten W itzgemacht. Ich fiel <strong>in</strong> ihr Lachen e<strong>in</strong>.O ffensichtlich wußten sie um m e<strong>in</strong>e em otionale B etäubung.Sie beobachteten mich und hänselten mich, als ob ich b e tru n kenwäre.Irgend etwas <strong>in</strong> m ir käm pfte verzweifelt, um die Situation <strong>in</strong>den Griff zu bekommen. Ich hätte mich lieber betroffen undverängstigt gefühlt.Schließlich spritzte D on J u a n m ir W asser <strong>in</strong> s G esicht undnötigte mich, ruhig sitzen zu bleiben und mir Notizen zumachen. Er sagte, wie schon vorh<strong>in</strong>, ich müsse entwe<strong>der</strong>schreiben, o<strong>der</strong> ich würde sterben. <strong>Der</strong> bloße Akt. e<strong>in</strong> paarW orte nie<strong>der</strong>zuschreiben, brachte mir me<strong>in</strong>e v e rtra u te Stimmungwie<strong>der</strong>. Es war, als würde irgend etwas wie<strong>der</strong> glasklar -etwas, das e<strong>in</strong>en Augenblick zuvor noch stumpf und taub war.Das W ie<strong>der</strong>auftauchen me<strong>in</strong>es gewohnten Selbst bedeuteteauch das W ie<strong>der</strong>auftauchen me<strong>in</strong>er gewohnten Ängste. Seltsamerweisehatte ich weniger Angst davor, Angst zu haben,als ke<strong>in</strong>e Angst zu haben. Die Vertrautheit me<strong>in</strong>er altenGewohnheiten, ganz gleich, wie unangenehm sie se<strong>in</strong> mochten,brachte mir e<strong>in</strong>e wun<strong>der</strong>bare Erleichterung. Dann erstwurde mir voll bewußt, daß <strong>Don</strong> Genaro gerade aus demChaparral aufgetaucht war. M e<strong>in</strong>e gewohnten Denkprozessebegannen wie<strong>der</strong> zu arbeiten. Von Anfang an weigerte ichmich, über den ganzen Vorgang nachzudenken o<strong>der</strong> zuspekulieren. Ich faßte den Entschluß. ihn nichts zu fragen.D iesm al wollte ich e <strong>in</strong> stum m er Zeuge bleiben. »Genaro istwie<strong>der</strong>gekommen, ausschließlich für dich«, sagte <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong>.71


<strong>Don</strong> Genaro lehnte an <strong>der</strong> <strong>Haus</strong>wand, gegen die er, auf <strong>der</strong>umgestürzten Milchbütte hockend, se<strong>in</strong>en Rücken stützte. Ersah aus, als reite er auf e<strong>in</strong>em Pferd. Die Hände hielt er nachvorn gestreckt, so daß man den E<strong>in</strong>druck hatte, er halte dieZügel fest.»Stimmt, Carlitos«, sagte er und stieß die Milchbütte gegenden Boden.Er stieg ab, wobei er das rechte Be<strong>in</strong> über e<strong>in</strong>en imag<strong>in</strong>ärenPferdehals schwang, und sprang auf den Boden. Se<strong>in</strong>e Bewegungenwaren so perfekt, daß sie mir das unzweifelhafteGefühl e<strong>in</strong>gaben, er sei hoch zu Pferde angekommen. Er kamzu mir herüber und setzte sich zu me<strong>in</strong>er L<strong>in</strong>ken. »Genaro istgekommen, weil er dir von dem An<strong>der</strong>en erzählen will«, sagte<strong>Don</strong> <strong>Juan</strong>.Er machte e<strong>in</strong>e Gebärde, als ob er <strong>Don</strong> Genaro das Worterteilte. <strong>Don</strong> Genaro verbeugte sich. Er drehte sich näher zumir.»Was möchtest du wissen, Carlitos?« fragte er mit überzogenerStimme.»Nun, wenn du mir etwas über den Doppelgänger erzählenwillst, dann erzähl mir bitte alles«, sagte ich, Gelassenheitvortäuschend. Die beiden schüttelten die Köpfe und schautensich an.»Genaro wird dir etwas über den Träumer und den Geträumtenerzählen«, sagte <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong>.»Wie du weißt, Carlitos«, sagte <strong>Don</strong> Genaro mit <strong>der</strong> Mienee<strong>in</strong>es sich <strong>in</strong> Eifer redenden Volksredners, »beg<strong>in</strong>nt <strong>der</strong> Doppelgängerim Träumen.«Er warf mir e<strong>in</strong>en Blick zu und lächelte. Se<strong>in</strong>e Augen glittenvon me<strong>in</strong>em Gesicht zu me<strong>in</strong>em Schreibzeug h<strong>in</strong>ab. »<strong>Der</strong>Doppelgänger ist e<strong>in</strong> Traum«, sagte er, kratzte sich unter demArm und stand auf.Er g<strong>in</strong>g zum Rand des Vorplatzes und trat <strong>in</strong> den Chaparralh<strong>in</strong>aus. Er stand neben e<strong>in</strong>em Busch, wobei er uns se<strong>in</strong> Profilzu drei Vierteln zeigte; ansche<strong>in</strong>end ur<strong>in</strong>ierte er. Im nächstenAugenblick bemerkte ich, daß mit ihm etwas nicht <strong>in</strong> Ordnungwar. Offenbar versuchte er verzweifelt, zu ur<strong>in</strong>ieren, konnteaber nicht. <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong>s Lachen zeigte mir, daß <strong>Don</strong> Genarowie<strong>der</strong> se<strong>in</strong>e Possen trieb. <strong>Don</strong> Genaro wand und drehte sichso komisch, daß er <strong>Don</strong> Ju a n und mich zu hysterischemG elächter reizte.<strong>Don</strong> Genaro kehrte zur Veranda zurück und setzte sich. Se<strong>in</strong>Lächeln strahlte e<strong>in</strong>e seltsame W ärme aus. »W enn's nicht geht,dann geht's halt nicht«, sagte er achselzuckend.Nach kurzer Pause fügte er seufzend h<strong>in</strong>zu: »Ja. Carlitos. <strong>der</strong>Doppelgänger ist e<strong>in</strong> Traum.« »D u me<strong>in</strong>st, er ist nicht real?«fragte ich. »N e<strong>in</strong>. Ich me<strong>in</strong>e, er ist e<strong>in</strong> Traum«, erwi<strong>der</strong>te er.<strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> mischte sich e<strong>in</strong> und erklärte. <strong>Don</strong> Genaro beziehesich auf das erste Anzeichen <strong>der</strong> E rkenntnis, daß wir leuchtendeW esen seien.»W ir alle s<strong>in</strong>d verschieden, und daher s<strong>in</strong>d die E <strong>in</strong>zelheitenunserer Kämpfe verschieden«, sagte <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong>. »Gleichwohls<strong>in</strong>d die Schritte, die wir tun müssen, um den Doppelgänger zugew<strong>in</strong>nen, die gleichen. Beson<strong>der</strong>s die ersten Schritte, die stetsverworren und unsicher s<strong>in</strong>d.«<strong>Don</strong> Genaro pflichtete ihm bei und sagte etwas über dieUnsicherheit, die e<strong>in</strong> Zauberer auf dieser Stufe habe. »A ls esmir zum erstenmal passierte, wußte ich nicht, daß es geschehenw ar«, erklärte er. »E<strong>in</strong>es Tages sammelte ich Kräute r imGebirge. Ich war zu e<strong>in</strong>er Stelle gegangen, die bereits vonan<strong>der</strong>en Kräutersammlern abgesucht worden war. Ich hattezwei große Säcke voll Kräuter bei mir. Ich war bereit, nach<strong>Haus</strong>e zu gehen, aber vorher wollte ich noch e<strong>in</strong>e kurze Rastmachen. Ich legte mich am W egrand <strong>in</strong> den Schatten e<strong>in</strong>esBaumes und schlief e<strong>in</strong>. Ich hörte die Stimmen vonM enschen, die den Berg herabkamen, und wachte a u f. Schnellrannte ich <strong>in</strong> Deckung und versteckte mich h<strong>in</strong>ter e<strong>in</strong> paarBüschen, nicht weit von <strong>der</strong> Straße e n tfe rn t, wo ich e<strong>in</strong>gesc h la fe n war. D ort v e rste c k t, h a tte ich das pe<strong>in</strong>igende G e f ü h l ,ich hätte etwas vergessen. Ich schaute nach, ob ich me<strong>in</strong>ebeiden Kräutersäcke bei m ir hatte. Sie waren nicht da. Ichspähte über die Straße zu dem P latz h<strong>in</strong>über, wo ich geschlafenhatte, und da verlor ich vor Schreck fast die Hosen: Dort lagich immer noch und schlief! Ich war es! Ich faßte me<strong>in</strong>enKörper an. Das war ich auch selbst! Inzwischen hatten dieLeute, die den Berg herabkamen, mich, den Schlafenden.72 73


erreicht, während ich. <strong>der</strong> Hellwache, hilflos aus me<strong>in</strong>emVersteck hervorspähte. Zum Teufel! Gleich würden sie michentdecken und mir me<strong>in</strong>e Säcke wegnehmen. Aber sie g<strong>in</strong>genvorüber, als sei ich gar nicht dagewesen. Me<strong>in</strong>e Vision war solebhaft, daß ich ganz außer mir geriet. Ich schrie, und dannwachte ich noch e<strong>in</strong>mal auf. Verflucht! Es war e<strong>in</strong> Traumgewesen!«<strong>Don</strong> Genaro unterbrach se<strong>in</strong>e Erzählung und schaute mich an.als warte er auf e<strong>in</strong>e Frage o<strong>der</strong> e<strong>in</strong>en Kommentar. »Sag ihm,wo du das zweite Mal aufgewacht bist«, sagte <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong>.»Ich wachte neben <strong>der</strong> Straße auf«, sagte <strong>Don</strong> Genaro, »woich e<strong>in</strong>geschlafen war. Aber e<strong>in</strong>e Weile wußte ich nicht recht,wo ich wirklich war. Fast möchte ich sagen, daß ich mir immernoch zuschaute, wie ich dort aufwachte. Dann zog irgendetwas mich an den Straßenrand, und ich saß da und rieb mirdie Augen.«Es entstand e<strong>in</strong>e lange Pause. Ich wußte nicht, was ich sagensollte.»Und was hast du dann getan?« fragte <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong>. Als diebeiden zu lachen anf<strong>in</strong>gen, erk an n te ich. daß er mich verulkte.Er im itierte m e<strong>in</strong>e Art, Fragen zu stellen . <strong>Don</strong> Genaro sprachweiter. Er sagte, er sei e <strong>in</strong> e n Augenblick verblüfft gewesen,und dann habe er sich darangemacht, alles zu überprüfen.»Die Stelle, wo ich m ich versteckt h a tte , war genauso, wie ichsie gesehen hatte«, sagte er. »Und die Leute, die auf <strong>der</strong>Straße an mir vorbeigegangen waren, befanden sich ganz <strong>in</strong><strong>der</strong> Nähe. Das weiß ich, weil ich ihnen h<strong>in</strong>terherlief. Es warendie gleichen Leute, die ich gesehen hatte. Ich folgte ihnen, bissie <strong>in</strong>s Dorf kamen. Sie müssen mich für verrückt geh altenhaben. Ich fragte sie, ob sie me<strong>in</strong>en Freund am Straßenrandschlafen gesehen hätten. Alle verne<strong>in</strong>ten dies.« »Du siehst«,sagte <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong>, »wir alle machen die gleichen Zweifeldurch. W ir fürchten uns. verrückt zu werden. Zu unseremUnglück s<strong>in</strong>d wir natürlich alle bereits verrückt.«»Immerh<strong>in</strong> bist du e<strong>in</strong> bißchen verrückter als wir«, sagte <strong>Don</strong>Genaro und zw<strong>in</strong>kerte mir zu. »Und mißtrauischer.«Sie hänselten mich wegen me<strong>in</strong>es Mißtrauens. Und dannsprach <strong>Don</strong> Genaro weiter.»Wir alle s<strong>in</strong>d etwas schwer von Begriff«, sagte er. »Du bistnicht <strong>der</strong> e<strong>in</strong>zige, Carlitos. E<strong>in</strong> paar Tage lang war ich überme<strong>in</strong>en Traum erschrocken, aber dann mußte ich für me<strong>in</strong>enLebensunterhalt arbeiten und mich um zu viele D<strong>in</strong>ge kümmernund hatte wirklich ke<strong>in</strong>e Zeit, über das Geheimnis me<strong>in</strong>erTräume nachzugrübeln. Daher vergaß ich es b<strong>in</strong>nen kurzem.Dar<strong>in</strong> war ich ganz wie du.Aber e<strong>in</strong>es Tages, e<strong>in</strong> paar Monate später, nach e<strong>in</strong>em furchtbaranstrengenden Tag, schlief ich am Nachmittag tief wie e<strong>in</strong> Bär.Es hatte gerade angefangen zu regnen, und e<strong>in</strong> Loch im Dachweckte mich auf. Ich sprang aus dem Bett und kletterte aufsDach, um das Loch zuzustopfen, bevor es here<strong>in</strong>regnete. Ichfühlte mich so wohl und stark, daß ich augenblicklich mit dieserArbeit fertig war und nicht e<strong>in</strong>mal naß wurde. Me<strong>in</strong> kurzesNickerchen hatte mir, dachte ich, sehr gutgetan. Als ich fertigwar, kehrte ich <strong>in</strong>s <strong>Haus</strong> zurück, um mir etwas zu essen zuholen, und da erkannte ich, daß ich nicht schlucken konnte. Ichglaubte, ich sei krank. Ich zerstampfte e<strong>in</strong> paar Wurzeln undBlätter, strich mir diese Paste um den Hals und g<strong>in</strong>g zume<strong>in</strong>em Bett. Und als ich vor dem Bett stand - da verlor ichbe<strong>in</strong>ahe wie<strong>der</strong> die Hosen. Ich lag im Bett und schlief, ichwollte mich wachrütteln, aber ich wußte, daß dies nicht dasRichtige war. Also rannte ich aus dem <strong>Haus</strong>. Mich hatte diePanik gepackt. Ziellos streifte ich durch die Berge. Ich hatteke<strong>in</strong>e Ahnung, woh<strong>in</strong> ich lief, und obgleich ich me<strong>in</strong> ganzesLeben dort verbracht hatte, verirrte ich mich. Ich lief durchden Regen und spürte ihn nicht e<strong>in</strong>mal. Mir war. als könne ichnicht denken. Dann wurden Blitz und <strong>Don</strong>ner so heftig, daßich davon abermals erwachte.« Er machte e<strong>in</strong>e Pause.»Möchtest du wissen, wo ich aufwachte' 1 « fragte er mich.»Natürlich«, antwortete <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong>. »Ich erwachte <strong>in</strong> denBergen, im Regen«, sagte er. »Aber wieso wußtest du, daß duaufgewacht warst?« fragte ich.»Me<strong>in</strong> Körper wußte es«, erwi<strong>der</strong>te er. »Das war e<strong>in</strong>e dummeFrage«, warf <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> e<strong>in</strong>. »Du weißt74 75


doch selbst, daß irgend etwas <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Krieger sich stets je<strong>der</strong>Verän<strong>der</strong>ung bewußt ist. Es ist ja gerade das Ziel <strong>der</strong> Lebensweisedes K riegers, dieses B ewußtse<strong>in</strong> zu entwickeln und zuerhalten. D er K rieger pflegt es, poliert es und hält es <strong>in</strong>Schuß.«Er hatte recht. Ich mußte ihnen zugestehen, daß ich wußte,daß es irgend etwas <strong>in</strong> mir gab, das alles registrierte und sichall dessen, was ich tat, bewußt war. Und doch hatte dies nichtsm it dem gewöhnlichen B ewußtse<strong>in</strong> me<strong>in</strong>er selbst zu tun. Eswar etwas an<strong>der</strong>es, das ich nicht erfassen konnte. Vielleichtkönnte <strong>Don</strong> Genaro es besser beschreiben als ich, me<strong>in</strong>te ich.»Du schaffst es ganz gut alle<strong>in</strong>«, sagte <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong>. »Es ist e<strong>in</strong>e<strong>in</strong>nere Stim m e, die dir sagt, was los ist. U nd dam als sagte siemir, daß ich zum zweitenmal erwacht war. Sobald ichaufwachte, war ich natürlich überzeugt, daß ich geträumthaben mußte. Offenbar war es ke<strong>in</strong> gewöhnlicher Traumgewesen, aber es war auch nicht eigentlich Träumen gewesen.Daher kam ich zu dem Schluß, daß es etwas an<strong>der</strong>es gewesense<strong>in</strong> mußte: Schlafwandeln war es, im Halbschlaf, nehme ichan. Ich konnte es mir nicht an<strong>der</strong>s erklären.« <strong>Don</strong> Genaroerzählte, se<strong>in</strong> W ohltäter habe ih m erklärt, daß das, was ererlebt hatte, alles an<strong>der</strong>e als e<strong>in</strong> Traum war und daß er sichnicht damit begnügen dürfe, es als Schlafwandeln aufzufassen.»W as, me<strong>in</strong>te er, war es denn?« fragte ich.Sie tauschten e<strong>in</strong>en Blick aus.»Er sagte mir, es war <strong>der</strong> Butzemann«, antwortete <strong>Don</strong>Genaro, wobei er die Stimme e<strong>in</strong>es kle<strong>in</strong>en K<strong>in</strong>des nachahmte.Ich erklärte ihnen, ich wüßte gern, ob <strong>Don</strong> Genaros W ohltäter esgenauso erklärt habe, wie sie selbst es taten. »Natürlich tat erdas«, sagte <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong>. »M e<strong>in</strong> W ohltäter erklärte«, fuhr <strong>Don</strong>G enaro fort, »d a ß <strong>der</strong> Traum , <strong>in</strong> dem m an sich selbst im Schlafbeobachtet, die Zeit des Doppelgängers sei. Er empfahl mir, ichsolle, statt me<strong>in</strong>e <strong>Kraft</strong> auf Grübeleien und Zweifel zuverschwenden, die Gelegenheit zum Handeln nutzen, und fallsich noch e<strong>in</strong>mal e<strong>in</strong>e Gelegenheit bekäme, darauf vorbereitetse<strong>in</strong>. M e<strong>in</strong>e nächste Chance ergab sich im <strong>Haus</strong>e me<strong>in</strong>esW ohltäters.Ich hatte ihm bei <strong>der</strong> H ausarbeit geholfen. N un legte ichmich zur Ruhe und fiel wie gewöhnlich <strong>in</strong> e<strong>in</strong>en gesundenSchlaf. Se<strong>in</strong> <strong>Haus</strong> war für mich e<strong>in</strong>deutig e<strong>in</strong> Ort <strong>der</strong> <strong>Kraft</strong> undhalf mir. Plötzlich beunruhigte mich e<strong>in</strong> lautes Geräusch, vondem ich erwachte. D as H aus m e<strong>in</strong>es W ohltäters war groß. Erwar e<strong>in</strong> wohlhaben<strong>der</strong> M ann und ließ viele für sich arbeiten.<strong>Der</strong> Lärm schien von e<strong>in</strong>er im Kies scharrenden Schaufelherzurühren. Ich setzte mich auf, um zu horchen, und dannstand ich auf. Das Geräusch beunruhigte mich sehr, aber ichkonnte nicht feststellen, warum. Ich überlegte, ob ich nachschauensollte, als ich bem erkte, daß ich am B oden lag undschlief. Diesmal wußte ich. was ich zu erwarten und zu tunhatte, und folgte dem Geräusch. Ich g<strong>in</strong>g <strong>in</strong> den h<strong>in</strong>teren Teildes <strong>Haus</strong>es. Dort war niemand. Das Geräusch schien vondraußen zu kommen. Ich g<strong>in</strong>g ihm nach. Je länger ich ihmfolgte, desto schneller konnte ich mich bewegen. Schließlichgelangte ich an e<strong>in</strong>e entfernte Stelle, wo ich Zeuge unglaublicherVorgänge wurde.«Zur Zeit jener Ereignisse, erklärte er, sei er noch <strong>in</strong> denAnfängen se<strong>in</strong>er Lehrzeit gewesen und habe auf dem Gebietdes »Träumens« noch wenig Erfahrung gehabt, aber er habeüber e<strong>in</strong>e unheimliche Gabe verfügt, sich selbst im Traum zusehen.»W oh<strong>in</strong> bist du gegangen. <strong>Don</strong> Genaro?« fragte ich. »Dies wardas erste M al, daß ich m ich wirklich beim Träumen fortbewegthabe«, sagte er. »Aber ich wußte genug darüber, um michrichtig zu verhalten. Ich achtete darauf, nichts direktanzuschauen, und fand mich schließlich <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er tiefen Schluchtwie<strong>der</strong>, wo m e<strong>in</strong> W ohltäter e <strong>in</strong> e n Teil se<strong>in</strong>er K raft-Pflanzenstehen hatte.«»M e<strong>in</strong>st du, es funktioniert besser, wenn man nur wenig überdas Träumen w e iß ? «, fragte ich.»N e<strong>in</strong>!« warf <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> e<strong>in</strong>. »Je<strong>der</strong> von uns hat die Gabe zuetwas Beson<strong>der</strong>em. Genaros Begabung ist das Träumen.« »W ashast du dort <strong>in</strong> <strong>der</strong> Schlucht gesehen, <strong>Don</strong> Genaro?« fragte ich.»Ich sah m e<strong>in</strong>en W ohltäter, <strong>der</strong> gefährliche D <strong>in</strong>ge m it an<strong>der</strong>enLeuten anstellte. Ic h glaubte, ich sei dort, um ihm zu helfen,und versteckte mich h<strong>in</strong>ter den Bäumen. Doch ich76 77


konnte nicht wissen, wie ich ihm helfen sollte. Im m erh<strong>in</strong> warich nicht dumm, und ich erkannte, daß diese Szene nur dazubestimmt war, daß ich beobachtete, nicht aber selbst an ihrm itwirkte.«»Wann und wie und wo bist du aufgewacht?« »Ich weiß nicht,wann ich aufwachte. Es muß Stunden später gewesen se<strong>in</strong>. Ichweiß nur, daß ich me<strong>in</strong>em Wohltäter und den an<strong>der</strong>enMännern folgte, und als sie be<strong>in</strong>ahe das <strong>Haus</strong> me<strong>in</strong>esWohltäters erreicht hatten, wurde ich durch den Lärm, den siem achten - denn sie stritten m ite<strong>in</strong>an<strong>der</strong> -, aufgeweckt. Ich w aran <strong>der</strong> Stelle, wo ich mich schlafend liegen gesehen hatte.Beim Erwachen erkannte ich, daß, was immer ich geseheno<strong>der</strong> getan haben mochte, ke<strong>in</strong> Traum gewesen war. Ich warwirklich, durch das Geräusch geführt, e<strong>in</strong> Stück weit gegangen.«»W ußte de<strong>in</strong> W ohltäter, was du tatst?« »A ber sicher. Er hattedieses Geräusch mit <strong>der</strong> Schaufel gemacht, um mir zu helfen,me<strong>in</strong>e Aufgabe zu erfüllen. Als er <strong>in</strong>s <strong>Haus</strong> trat, gab er vor, michauszuschelten, weil ich e<strong>in</strong>geschlafen w ar. Ich w ußte aber,daß er mich gesehen hatte. Später, als se<strong>in</strong>e Freundegegangen waren, erzählte er mir, er habe me<strong>in</strong> Leuchten h<strong>in</strong>terden Bäumen bemerkt.« Diese drei Episoden, sagte <strong>Don</strong>Genaro, hätten ihn auf den Weg des »Träumens« gebracht,und es habe fünfzehn Jahre gedauert, bis er se<strong>in</strong>e nächsteGelegenheit bekommen habe. »Das vierte Mal war e<strong>in</strong>ephantastischere und vollkommenere Vision«, sagte er. »Ich fandm ich schlafend <strong>in</strong>m itten bebauter Fel<strong>der</strong>. D ort sah ich m ich,wie ich <strong>in</strong> tiefem Schlaf auf <strong>der</strong> Seite lag. Ich wußte, daß diesdas Träumen war, denn ich hatte mich jeden Abend daraufvorbereitet zu träumen. In <strong>der</strong> Regel hatte ich m ich jedesm al,wenn ich mich im Schlaf sah, an <strong>der</strong> Stelle befunden, wo iche<strong>in</strong>geschlafen war. Diesmal aber war ich nicht <strong>in</strong> me<strong>in</strong>emBett, und ich wußte, daß ich an diesem Abend zu Bettgegangen war. Bei diesem Träumen war es Tag. Also wollteich <strong>der</strong> Sache auf den Grund gehen. Ich verließ die Stelle, woich lag, und versuchte mich zu orientieren. Ich wußte, wo ichm ich befand. Tatsächlich war ich nicht allzu weit, vielleichte<strong>in</strong> paar Meilen, von me<strong>in</strong>em78<strong>Haus</strong> entfernt. Ich g<strong>in</strong>g umher und sah mir alle E<strong>in</strong>zelheitendieses Platzes an. Ich stand im Schatten e<strong>in</strong>es großen Baumesund spähte über e<strong>in</strong>en flachen Landstrich zu den Maisfel<strong>der</strong>nam Hang e<strong>in</strong>es Hügels h<strong>in</strong>über. Dann überraschte mich etwasganz Ungewöhnliches. Die Details <strong>der</strong> Umgebung verän<strong>der</strong>tensich nicht und verschwanden auch nicht, wie lange ich sie auchanstarrte. Ich bekam es mit <strong>der</strong> Angst zu tun und lief dorth<strong>in</strong>zurück, wo ich schlief. Ich lag noch genau an <strong>der</strong> Stelle, woich vorher gewesen war. Ich" f<strong>in</strong>g an. mich zu beobachten. Ichempfand e<strong>in</strong>e unheimliche Gleichgültigkeit gegenüber diesemKörper, den ich beobachtete. Dann hörte ich die Schritte vonnäherkommenden Menschen. Ansche<strong>in</strong>end waren immerirgendwelche Leute h<strong>in</strong>ter mir her. Ich lief e<strong>in</strong>en kle<strong>in</strong>en Hügelh<strong>in</strong>auf und beobachtete vorsichtig von dort oben, was geschah.Es kamen etwa zehn Menschen zu dem Feld, wo ich schlafendlag. Lauter junge Männer. Ich rannte zurück zu <strong>der</strong> Stelle, woich lag, und nun erlebte ich e<strong>in</strong>en <strong>der</strong> verzweifeltstenAugenblicke me<strong>in</strong>es Lebens, während ich mich dort liegen sah- schnarchend wie e<strong>in</strong> Schwe<strong>in</strong>. Ich wußte, daß ich michaufwecken mußte, aber ich hatte ke<strong>in</strong>e Ahnung, wie ich esanfangen sollte. Auch wußte ich. daß es für mich tödlichausgehen konnte, wenn ich mich selbst weckte. Aber fallsdiese jungen Männer mich dort fänden, würde es für sie sehrunangenehm se<strong>in</strong>. Alle diese Überlegungen, die mir durch denKopf schössen, waren nicht eigentlich Gedanken. Bessergesagt, es waren Szenen, die sich vor me<strong>in</strong>en Augen abspielten.Me<strong>in</strong>e Besorgnis zum Beispiel war e<strong>in</strong>e Szene, bei <strong>der</strong> ich michsah. während ich das Gefühl hatte, <strong>in</strong> <strong>der</strong> Falle zu sitzen. Ichnenne das Besorgnis. Nach diesem ersten Mal ist es mir nochviele Male passiert. Nun gut, da ich nicht wußte, was ich tunsollte, stand ich da und schaute mich an, auf das Schlimmstegefaßt. E<strong>in</strong>e Reihe flüchtiger Bil<strong>der</strong> zog vor me<strong>in</strong>en Augenvorbei. Beson<strong>der</strong>s an e<strong>in</strong>es klammerte ich mich: den Anblickvon me<strong>in</strong>em <strong>Haus</strong>, me<strong>in</strong>em Bett. Das Bild wurde ganz klar.Ach, wie wünschte ich, daheim im Bett zu se<strong>in</strong>! Dann rütteltemich jemand; es fühlte sich an, als ob mich jemand schlüge, undich erwachte. Ich lag auf dem Bett! Offenbar hatte ich geträumt.Ich sprang auf und lief zu <strong>der</strong> Stelle, wo me<strong>in</strong> Träumenstattgefunden79


hatte. Sie war genauso, wie ich sie gesehen hatte. Die jungenMänner waren da und arbeiteten. Lange schaute ich ihnen zu.Es waren dieselben, die ich gesehen hatte. Gegen Ende desTages, als alle gegangen waren, kehrte ich zu <strong>der</strong> gleichen Stellezurück und stand genau an dem Fleck, wo ich mich im Schlafgesehen hatte. Ja, dort hatte jemand gelegen. Das Gras warnie<strong>der</strong>gedrückt.« <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> und <strong>Don</strong> Genaro beobachtetenmich. Sie sahen aus wie zwei seltsame Tiere. E<strong>in</strong> Frösteln liefmir über den Rücken. Ich stand im Begriff, mich <strong>der</strong> ganzbegründeten Angst h<strong>in</strong>zugeben, sie könnten ke<strong>in</strong>e wirklichenMenschen se<strong>in</strong> wie ich, aber <strong>Don</strong> Genaro lachte.»Zu jener Zeit«, sagte er, »war ich genau wie du, Carlitos. Ichwollte alles herausf<strong>in</strong>den. Ich war genauso mißtrauisch wiedu.«Er machte e<strong>in</strong>e Pause, dann hob er drohend den F<strong>in</strong>ger.Anschließend schaute er <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> an.»Warst du nicht ebenso mißtrauisch wie dieser Kerl hier?«fragte er.»Ke<strong>in</strong>e Spur«, sagte <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong>. »Er ist unbestrittener Meister.«<strong>Don</strong> Genaro wandte sich zu mir und machte e<strong>in</strong>e Geste desBedauerns.»Ich glaube, ich habe mich geirrt«, sagte er. »Ich war nichtganz so mißtrauisch wie du.«Sie kicherten leise, als wollten sie ke<strong>in</strong>en Lärm machen. <strong>Don</strong><strong>Juan</strong>s Körper wand sich <strong>in</strong> unterdrücktem Lachen. »Dies ist fürdich e<strong>in</strong> Ort <strong>der</strong> <strong>Kraft</strong>«, flüsterte <strong>Don</strong> Genaro. »Du hast dir jadie F<strong>in</strong>ger wund geschrieben, hier, wo du hockst. Hast du hierjemals wilde Träume gehabt?« »Ne<strong>in</strong>, das nicht«, sagte <strong>Don</strong><strong>Juan</strong> leise. »Aber er hat wie wild geschrieben.«Sie konnten kaum noch an sich halten. Ansche<strong>in</strong>end wolltensie nicht laut lachen. Es schüttelte sie förmlich. Ihr unterdrücktesLachen klang wie e<strong>in</strong> rhythmisches Gackern. <strong>Don</strong>Genaro setzte sich aufrecht und rückte näher. Er klopfte mirmehrmals auf die Schulter und sagte, ich sei e<strong>in</strong> Halunke, unddann riß er plötzlich me<strong>in</strong>en l<strong>in</strong>ken Arm heftig zu sich. Ich verlordas Gleichgewicht und fiel nach vorn. Fast schlug ich80mit dem Gesicht auf dem harten Boden auf. Automatisch hieltich me<strong>in</strong>en rechten Arm nach vorn und suchte me<strong>in</strong>en Sturz zudämpfen. E<strong>in</strong>er von ihnen hielt mich fest, <strong>in</strong>dem er me<strong>in</strong>Genick nach unten drückte. Ich war nicht sicher, wer vonbeiden es war. Die Hand, die mich festhielt, fühlte sich nach<strong>Don</strong> Genaro an. Ich erlebte e<strong>in</strong>en Augenblick verheeren<strong>der</strong>Panik. Mir war. als ob ich <strong>in</strong> Ohnmacht fiele, vielleicht tat ich esauch. Auf me<strong>in</strong>em Magen lastete e<strong>in</strong> solcher Druck, daß ichmich übergeben mußte. Me<strong>in</strong>e nächste klare Wahrnehmungwar, daß jemand mir half, mich aufrecht zu setzen. <strong>Don</strong> Genarohockte vor mir. Ich wandte mich um und suchte <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong>. Erwar nirgends zu sehen. <strong>Don</strong> Genaro zeigte mir e<strong>in</strong> strahlendesLächeln. Se<strong>in</strong>e Augen leuchteten. Sie blickten starr <strong>in</strong> dieme<strong>in</strong>en. Ich fragte ihn, was er denn mit mir angestellt hätte, un<strong>der</strong> sagte, ich sei <strong>in</strong> Stücke gegangen. Se<strong>in</strong>e Stimme klangvorwurfsvoll, und er schien verärgert o<strong>der</strong> unzufrieden mit mir.Mehrmals wie<strong>der</strong>holte er, ich sei <strong>in</strong> Stücke gegangen undmüsse wie<strong>der</strong> ganz und heil werden. Er versuchte e<strong>in</strong>enstrengen Ton vorzutäuschen, aber mitten <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Rede mußteer lachen. Er erzählte mir, wie furchtbar es sei. daß ich über denganzen Platz verstreut sei. und daß er wohl e<strong>in</strong>en Besen holenmüsse, um alle me<strong>in</strong>e Teile auf e<strong>in</strong>en Haufen zu kehren.Schließlich me<strong>in</strong>te er. ich würde die Teile womöglich falschzusammensetzen, und endlich würde me<strong>in</strong> Penis noch dortsitzen, wo me<strong>in</strong> Daumen se<strong>in</strong> sollte. An diesem Punktplatzte er heraus. Ich wollte lachen, und dann hatte ich e<strong>in</strong>ehöchst ungewöhnliche Empf<strong>in</strong>dung. Me<strong>in</strong> Körper fielause<strong>in</strong>an<strong>der</strong>. Es war, als sei ich e<strong>in</strong> mechanisches Spielzeug,das sich e<strong>in</strong>fach <strong>in</strong> se<strong>in</strong>e Bestandteile auflöste. Ich hatteke<strong>in</strong>erlei körperliche Empf<strong>in</strong>dungen mehr und verspürte auchwe<strong>der</strong> Angst noch Sorge. Das Ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong>fallen war e<strong>in</strong>eSzene, die ich aus dem Blickw<strong>in</strong>kel e<strong>in</strong>es unbeteiligtenBeobachters erlebte, und doch gewahrte ich nichts, was e<strong>in</strong>erS<strong>in</strong>neswahrnehmung gleichgekommen wäre. Das nächste, wasmir bewußt wurde, war. daß <strong>Don</strong> Genaro sich an me<strong>in</strong>emKörper zu schaffen machte. Dann hatte ich e<strong>in</strong>e körperlicheEmpf<strong>in</strong>dung, e<strong>in</strong> so heftiges Beben, daß ich alles um mich heraus den Augen verlor. Abermals hatte ich das Gefühl, daßjemand mir behilflich war.81


mich aufrecht zu setzen. Wie<strong>der</strong> sah ich <strong>Don</strong> Genaro vor mirhocken. Er zog mich an den Schultern hoch und half mirumherzugehen. Ich konnte nicht feststellen, wo ich war. Ichhatte das Gefühl, <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Traum zu se<strong>in</strong>, und doch hatte iche<strong>in</strong> exaktes Gefühl für den Zeitablauf. Ich war mir genaubewußt, daß ich soeben mit <strong>Don</strong> Genaro und <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> auf <strong>der</strong>Veranda von <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong>s <strong>Haus</strong> gewesen war. <strong>Don</strong> Genaro g<strong>in</strong>gneben mir her und stützte mich unter <strong>der</strong> l<strong>in</strong>ken Achsel. DieSzene, die ich beobachtete, verän<strong>der</strong>te sich dauernd. Doch ichkonnte nicht feststellen, was ich da eigentlich beobachtete. Wasich vor mir sah, war eher wie e<strong>in</strong> Gefühl o<strong>der</strong> e<strong>in</strong>e Stimmung;und <strong>der</strong> Mittelpunkt, von dem all diese Verän<strong>der</strong>ungenausg<strong>in</strong>gen, war e<strong>in</strong>deutig me<strong>in</strong> Bauch. Dieser Zusammenhangwurde mir nicht als Gedanke o<strong>der</strong> Erkenntnis klar, son<strong>der</strong>n alskörperliche Empf<strong>in</strong>dung, die ganz deutlich wurde und allesbeherrschte. Die Schwankungen kamen aus me<strong>in</strong>em Bauch.Ich schuf e<strong>in</strong>e Welt, e<strong>in</strong>en endlosen Ablauf von Gefühlen undBil<strong>der</strong>n. Alles, was ich wußte, war sichtbar da. Dies war selbste<strong>in</strong> Gefühl, nicht aber e<strong>in</strong> Gedanke o<strong>der</strong> e<strong>in</strong>e bewußteFeststellung.E<strong>in</strong>ige Zeit versuchte ich mir Rechenschaft zu geben, waseigentlich vor sich g<strong>in</strong>g; me<strong>in</strong>e Gewohnheit, mir über alles e<strong>in</strong>Urteil zu bilden, war ansche<strong>in</strong>end nicht kle<strong>in</strong>zukriegen. Irgendwannaber setzte me<strong>in</strong>e <strong>in</strong>nere Buchhaltung aus, und e<strong>in</strong>namenloses Etwas hüllte mich e<strong>in</strong> - Gefühle und Bil<strong>der</strong> allerArt.An e<strong>in</strong>em gewissen Punkt setzte das <strong>in</strong>nere Registrieren beimir wie<strong>der</strong> e<strong>in</strong>, und ich bemerkte, daß e<strong>in</strong> B ild sich dauerndwie<strong>der</strong>holte: Es waren <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> und <strong>Don</strong> Genaro, die michzu fassen versuchten. Das Bild war flüchtig, es glitt schnell anmir vorbei. Es war so ähnlich, als sähe ich sie aus dem Fenstere<strong>in</strong>es schnellen Fahrzeugs. Offenbar versuchten sie, mich zufangen, während ich vorbeischwebte. Das Bild wurde klarerund hielt länger an, je öfter es sich wie<strong>der</strong>holte. Irgendwanngewahrte ich bewußt, daß ich es willkürlich aus Tausendenan<strong>der</strong>er Bil<strong>der</strong> isolieren konnte. Die übrigen überflog ichsozusagen, um zu dieser beson<strong>der</strong>en Szene zu gelangen.Schließlich konnte ich sie festhalten, <strong>in</strong>dem ich an sie dachte.Kaum hatte ich angefangen zu denken, setzten me<strong>in</strong>e gewohn-ten Prozesse wie<strong>der</strong> e<strong>in</strong>. Sie waren nicht so deutlich wie me<strong>in</strong>egewohnten Aktivitäten, aber klar genug, um zu erkennen, daßdie Szene o<strong>der</strong> das Gefühl, das ich isoliert hatte, dar<strong>in</strong> bestand,daß <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> und <strong>Don</strong> Genaro auf <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong>s Veranda warenund mich unter den Armen festhielten. Ich wollte weiter durchan<strong>der</strong>e Bil<strong>der</strong> und Gefühle fliehen, aber sie ließen mich nichtlos. E<strong>in</strong>en Augenblick wehrte ich mich. Ich fühlte michbeschw<strong>in</strong>gt und glücklich. Ich wußte, daß ich die beiden gernhatte, und dann wußte ich auch, daß ich ke<strong>in</strong>e Angst vor ihnenhatte. Ich wollte mit ihnen scherzen, doch ich wußte nicht wie,und ich lachte dauernd und schlug sie auf die Schultern. Nochetwas war mir bewußt. Ich war sicher, daß ich »träumte«. Sobaldich me<strong>in</strong>en Blick auf irgend etwas konzentrierte, wurde es sofortverschwommen. <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> und <strong>Don</strong> Genaro sprachen zu mir.Ich konnte ihre Worte nicht recht festhalten, und ich konntenicht unterscheiden, wer von beiden sprach. Dann drehte <strong>Don</strong><strong>Juan</strong> me<strong>in</strong>en Körper um und wies auf e<strong>in</strong> am Boden liegendesEtwas. <strong>Don</strong> Genaro zog mich näher heran und führte mich umes herum. Das Etwas war e<strong>in</strong> Mann, <strong>der</strong> am Boden lag. Er lagauf dem Bauch, das Gesicht nach rechts gewandt. Während siesprachen, zeigten sie immer wie<strong>der</strong> auf den Mann. Sie zogenund zerrten mich im Kreis um ihn herum. Ich konnte me<strong>in</strong>enBlick nicht auf ihn fixieren, aber schließlich hatte ich e<strong>in</strong> Gefühl<strong>der</strong> Ruhe und Nüchternheit, und ich schaute den Mann an. Ganzlangsam dämmerte mir die Erkenntnis, daß <strong>der</strong> Mann dort amBoden ich selbst war. Diese Erkenntnis bereitete mir ke<strong>in</strong>erleiAngst o<strong>der</strong> Unbehagen. Ich akzeptierte es e<strong>in</strong>fach ohne Gefühlsbeteiligung.In diesem Augenblick schlief ich nicht ganz,aber ich war auch nicht völlig wach o<strong>der</strong> bei klarem Bewußtse<strong>in</strong>.Auch erkannte ich <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> und <strong>Don</strong> Genaro jetzt besserund konnte sie ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong>halten, wenn sie mit mir sprachen.<strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> sagte, wir würden nun zu dem kreisrunden Platz <strong>der</strong><strong>Kraft</strong> im Chaparral gehen. Kaum hatte er es ausgesprochen, datauchte <strong>in</strong> me<strong>in</strong>em Kopf schlagartig das Bild jenes Ortes auf.Ich sah die dunkle Masse <strong>der</strong> ihn umgebenden Büsche. Ichwandte mich nach rechts; auch <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> und <strong>Don</strong> Genarowaren da. Ich spürte e<strong>in</strong>en Schlag und hatte das Gefühl, daßich mich vor ihnen fürchtete. Vielleicht83


deshalb, weil sie wie zwei bedrohliche Schatten aussahen. Siekamen näher. Sobald ich ihre Gesichter erkannte, verschwandenme<strong>in</strong>e Ängste. Ich hatte sie wie<strong>der</strong> gern. Es war, als sei ichbetrunken und könne me<strong>in</strong>e Gedanken nirgends festmachen.Sie packten mich an den Schultern und schüttelten mich mitvere<strong>in</strong>ten Kräften. Sie befahlen mir aufzuwachen. Ich konnteihre Stimmen deutlich hören und unterscheiden. Dann kam e<strong>in</strong>e<strong>in</strong>zigartiger Augenblick. Ich hatte zwei Bil<strong>der</strong> vor me<strong>in</strong>em<strong>in</strong>neren Auge, zwei Träume. Mir war, als ob irgend etwas <strong>in</strong> mirfest schlief und nun erwachte, und ich fand mich auf demFußboden <strong>der</strong> Veranda liegend wie<strong>der</strong>, während <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> und<strong>Don</strong> Genaro mich schüttelten. Aber ich war auch an dem Ort<strong>der</strong> <strong>Kraft</strong>, und <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> und <strong>Don</strong> Genaro schüttelten michebenfalls. Es gab e<strong>in</strong>en entscheidenden Moment, wo ich we<strong>der</strong>an <strong>der</strong> e<strong>in</strong>en noch an <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Stelle war, son<strong>der</strong>n an zweiOrten als Beobachter zwei Szenen gleichzeitig sah. Ich hatte dieunglaubliche Empf<strong>in</strong>dung, als könne ich mich <strong>in</strong> diesemAugenblick für das e<strong>in</strong>e o<strong>der</strong> das an<strong>der</strong>e entscheiden. Ichbrauchte nur den Gesichtsw<strong>in</strong>kel zu wechseln und e<strong>in</strong>e <strong>der</strong>beiden Szenen, statt sie von außen zu beobachten, aus <strong>der</strong>Perspektive des Subjekts zu erfühlen. Von <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong>s <strong>Haus</strong>g<strong>in</strong>g irgendwie e<strong>in</strong>e starke Wärme aus. Diese Szene bevorzugteich.Sodann spürte ich e<strong>in</strong>en fürchterlichen Schau<strong>der</strong>, so schrecklich,daß me<strong>in</strong> volles, normales Bewußtse<strong>in</strong> augenblicklich zumir zurückkehrte. <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> und <strong>Don</strong> Genaro gössen ausEimern Wasser über mich. Ich war auf <strong>der</strong> Veranda vor <strong>Don</strong><strong>Juan</strong>s <strong>Haus</strong>.E<strong>in</strong> paar Stunden später saßen wir <strong>in</strong> <strong>der</strong> Küche. <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong>hatte darauf bestanden, daß ich mich so benähme, als se<strong>in</strong>ichts geschehen. Er gab mir etwas zu essen und sagte, ichsolle ordentlich zugreifen, um me<strong>in</strong>e verausgabte Energiewie<strong>der</strong> aufzufrischen.Nachdem wir uns zu Tisch gesetzt hatten, schaute ich auf dieUhr; es war halb neun abends. Me<strong>in</strong> Erlebnis hatte mehrereStunden gedauert. Was aber me<strong>in</strong>e Er<strong>in</strong>nerung betraf, so schienes mir, als hätte ich nur e<strong>in</strong>e kurze Weile geschlafen. Obgleichich jetzt ganz ich selbst war, war ich immer noch wie84betäubt. Erst nachdem ich angefangen hatte, <strong>in</strong> me<strong>in</strong>em Notizbuchzu schreiben, erlangte ich me<strong>in</strong> normales Bewußtse<strong>in</strong>wie<strong>der</strong>. Es war e<strong>in</strong>e Überraschung für mich, daß das Schreibene<strong>in</strong>e sofortige Ernüchterung bewirken konnte. In demAugenblick, als ich wie<strong>der</strong> ich selbst war, stürmte sogleich e<strong>in</strong>Trommelfeuer von vernünftigen Gedanken auf mich e<strong>in</strong>; siedrehten sich um die Erklärung des Phänomens, das ich soebenerlebt hatte. Ich »wußte« auf <strong>der</strong> Stelle, daß <strong>Don</strong> Genaro mich<strong>in</strong> dem Moment hypnotisiert hatte, als er mich auf den Bodendrückte, aber ich versuchte nicht, herauszuf<strong>in</strong>den, wie er esangestellt hatte.Als ich me<strong>in</strong>e Gedanken vortrug, lachten die beiden fasthysterisch. <strong>Don</strong> Genaro untersuchte me<strong>in</strong>en Bleistift undme<strong>in</strong>te, dieser Bleistift sei <strong>der</strong> Schlüssel, mit dem man me<strong>in</strong>Uhrwerk aufziehen könne. Ich war streitlustig, war müde undreizbar. Schließlich schrie ich sie förmlich an. während sie sichvor Lachen schüttelten.Dann sagte <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong>, es sei wohl verzeihlich, e<strong>in</strong>mal danebenzu treffen, aber nicht mit so weitem Abstand; und <strong>Don</strong> Genarosei schließlich nur gekommen, um mir zu helfen und mir dasGeheimnis des Träumenden und Geträumten zu zeigen.Me<strong>in</strong>e Gereiztheit erreichte e<strong>in</strong>en Höhepunkt. <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> gab<strong>Don</strong> Genaro mit e<strong>in</strong>er Kopfbewegung e<strong>in</strong> Zeichen. Beidestanden auf und führten mich h<strong>in</strong>ter das <strong>Haus</strong>. Dort demonstrierte<strong>Don</strong> Genaro se<strong>in</strong> großes Repertoire von Tierstimmenund -schreien. Er for<strong>der</strong>te mich auf, mich für e<strong>in</strong>e davon zuentscheiden, und lehrte mich, sie nachzuahmen. Nachstundenlanger Übung gelang es mir. sie e<strong>in</strong>igermaßen gut zuimitieren. Zu guter Letzt hatten sie selbst an me<strong>in</strong>enunbeholfenen Versuchen Spaß gefunden und lachten, bis ihnenförmlich die Tränen kamen, und ich hatte durch dasNachahmen e<strong>in</strong>es lauten Tierschreis die Spannung <strong>in</strong> mirgemil<strong>der</strong>t. Diese me<strong>in</strong>e Imitation, so sagte ich ihnen, war mirwirklich irgendwie unheimlich. Me<strong>in</strong>e körperliche Entspanntheitwar unvergleichlich. Wenn ich diesen Schrei vervollkommnete,me<strong>in</strong>te <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong>, dann könnte ich ihn zu e<strong>in</strong>emMedium <strong>der</strong> <strong>Kraft</strong> machen, o<strong>der</strong> ich könnte ihn auch e<strong>in</strong>fachbenutzen, um me<strong>in</strong>e Spannung zu l<strong>in</strong><strong>der</strong>n, wann immer es85


nötig se<strong>in</strong> sollte. D ann schlug er vor, ich solle schlafen gehen.Aber ich fürchtete mich vor dem E<strong>in</strong>schlafen. E<strong>in</strong>ige Zeit saßich noch bei ihnen am Herdfeuer, und dann fiel ich ganz vonselbst <strong>in</strong> e<strong>in</strong>en tiefen Schlaf.Bei Tagesanbruch erwachte ich. <strong>Don</strong> Genaro schlief neben<strong>der</strong> Tür. Ansche<strong>in</strong>end erwachte er zur gleichen Zeit wie ich.Sie hatten mich zugedeckt und mir me<strong>in</strong>e Jacke als Kissenunter den Kopf geschoben. Ich war sehr ruhig und fühlte michausgeruht. Ich bemerkte zu <strong>Don</strong> Genaro, ich sei am Vorabendwohl recht erschöpft gewesen. Er ebenfalls, m e<strong>in</strong>te er. Erflüsterte, als wolle er mir etwas anvertrauen, und erzählte mir,daß D on <strong>Juan</strong> noch erschöpfter gewesen sei, weil er im merh<strong>in</strong>älter sei als wir.»Du und ich, wir s<strong>in</strong>d jung«, sagte er, und se<strong>in</strong>e Augenfunkelten. »Er aber ist alt. Er muß jetzt an die dreihun<strong>der</strong>tJahre alt se<strong>in</strong>.«Ich setzte mich rasch auf. <strong>Don</strong> Genaro zog sich die Deckeübers Gesicht und lachte dröhnend. In diesem Augenblickkam <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> here<strong>in</strong>.Ich spürte so etwas wie Vollkommenheit und Frieden. ImAugenblick wenigstens konnte mir gar nichts etwas anhaben.Ich fühlte mich so wohl, daß mir nach W e<strong>in</strong>en zumute war. In<strong>der</strong> vergangenen Nacht, me<strong>in</strong>te <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong>, hätte ich angefangen,mir me<strong>in</strong>er leuchtenden Gestalt bewußt zu werden. Erempfahl mir, nicht <strong>in</strong> dem W ohlgefühl zu schwelgen, das ichempfand, denn es könnte sich <strong>in</strong> Selbstgefälligkeit verwandeln.»Im Augenblick«, me<strong>in</strong>te ich, »w ill ich nichts erklärt haben.Es ist ganz egal, was <strong>Don</strong> Genaro gestern abend mit mirgemacht hat.«»Ich habe nichts mit dir gemacht«, erwi<strong>der</strong>te <strong>Don</strong> Genaro.»Schau, ich b<strong>in</strong> es, Genaro! De<strong>in</strong> Genaro! Faß mich doch an!Ich umarmte <strong>Don</strong> Genaro, und wir lachten beide wie K<strong>in</strong><strong>der</strong>.Er fragte mich, ob es mir nicht seltsam ersche<strong>in</strong>e, daß ich ihnjetzt umarmen könne, während ich ihn das letzte M al, als ichihn hier traf, nicht hätte anrühren können. Ich versicherte ihm,<strong>der</strong>lei Fragen <strong>in</strong>teressierten mich nicht mehr. <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong>bemerkte, ich schwelgte jetzt wohl ganz im Gefühl, großzügigund gut zu se<strong>in</strong>.86»Paß auf!« sagte er. »E<strong>in</strong> Krieger legt se<strong>in</strong>e Wachsamkeit nieab. Wenn du weiterh<strong>in</strong> so glücklich bist, dann wirst du dasbißchen <strong>Kraft</strong>, das dir geblieben ist, bald aufgezehrt haben.«»Was soll ich denn tun?« fragte ich.»Sei du selbst«, sagte er. »Zweifle an allem! Sei mißtrauisch!«»Aber es gefällt mir nicht, so zu se<strong>in</strong>. <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong>.« »Es kommtnicht darauf an, was dir gefällt o<strong>der</strong> nicht. Worauf es e<strong>in</strong>zigankommt, ist: Was kannst du als Schild benutzen? E<strong>in</strong> Kriegermuß alles ihm Verfügbare benutzen, um se<strong>in</strong>e tödliche Lückezu schließen, sobald sie sich öffnet. Es ist also ganz unerheblich,daß es dir nicht gefällt, mißtrauisch zu se<strong>in</strong> o<strong>der</strong> Fragen zustellen. Die ist jetzt de<strong>in</strong> e<strong>in</strong>ziger Schild. Schreib, schreib!Sonst stirbst du. An freudiger Erregung zu sterben, das ist e<strong>in</strong>kläglicher Tod.«»Wie sollte e<strong>in</strong> Krieger denn sterben?« fragte <strong>Don</strong> Genarogenau <strong>in</strong> me<strong>in</strong>em Tonfall.»E<strong>in</strong> Krieger stirbt schwer«, sagte <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong>. »Se<strong>in</strong> Tod mußmit ihm kämpfen, wenn er ihn holen will. E<strong>in</strong> Krieger wirftsich ihm nicht <strong>in</strong> die Arme.«<strong>Don</strong> Genaro riß die Augen gewaltig auf, dann bl<strong>in</strong>zelte er.»Was Genaro dir gestern gezeigt hat. ist von größter Wichtigkeit«,fuhr <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> fort. »Du kannst es jetzt nicht durchfrommen Eifer von dir abwehren. Gestern sagtest du mir, du<strong>in</strong>teressiertest dich nur für den Doppelgänger. Aber sieh, wasdu jetzt machst! Du kümmerst dich gar nicht mehr um ihn.Das ist das Problem mit den Übereifrigen, sie s<strong>in</strong>d nach beidenSeiten übereifrig. Gestern nichts als Fragen, heute nichts alsE<strong>in</strong>verständnis.«Ich wandte e<strong>in</strong>. er f<strong>in</strong>de doch an allem, was ich tat, e<strong>in</strong>enMakel, ganz gleich, wie ich es anstellte. »Das ist nicht wahr!«rief er. »An <strong>der</strong> Lebensweise e<strong>in</strong>es Kriegers gibt es ke<strong>in</strong>enMakel. Befolge sie, und niemand wird de<strong>in</strong>e Handlungenkritisieren können. Wie war es zum Beispiel gestern? Es wäre<strong>der</strong> Art e<strong>in</strong>es Kriegers gemäß gewesen, wenn du zuerst ohneFurcht und Mißtrauen Fragen gestellt hättest und dir dann vonGenaro das Geheimnis des Träumers hättest zeigen lassen, ohnedich gegen ihn aufzulehnen und ohne dich zu erschöpfen.Heute entspräche es <strong>der</strong> Art e<strong>in</strong>es Kriegers, wenn du aus dem,was du gelernt hast, die Summe87


zögest - ohne Überheblichkeit und ohne frommen Eifer. Tudas, und niemand wird e<strong>in</strong>en Makel daran f<strong>in</strong>den.« Nach demTon se<strong>in</strong>er Stimme zu urteilen, mußte <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> über me<strong>in</strong>eStümperei sehr verärgert se<strong>in</strong>. Aber er lächelte mir zu, unddann kicherte er, als müsse er über se<strong>in</strong>e eigenen Worte lachen.Ich sagte ihm, ich hielte mich bloß zurück, da ich sie nicht mitme<strong>in</strong>en Grübeleien langweilen wolle. Tatsächlich war ich ganzüberwältigt von dem, was <strong>Don</strong> Genaro getan hatte. Ich warüberzeugt gewesen - obgleich es mir jetzt nicht mehr daraufankam -, daß <strong>Don</strong> Genaro im Gebüsch gewartet hatte, bis <strong>Don</strong><strong>Juan</strong> ihn rief. Später hatte er dann me<strong>in</strong>e Furcht mißbrauchtund sie ausgenutzt, um mich zu betäuben. Zweifellos war ich,als ich gewaltsam zu Boden gedrückt wurde, ohnmächtiggeworden, und dann hatte <strong>Don</strong> Genaro mich wohlhypnotisiert.<strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> wandte e<strong>in</strong>, ich sei zu stark, mich so leicht überwältigenzu lassen.»Was geschah also wirklich?« fragte ich ihn. »Genaro kam zudir, um dir etwas ganz Außerordentliches mitzuteilen«, sagteer. »Als er aus dem Gebüsch kam, da war es Genaro, <strong>der</strong>Doppelgänger. Man könnte es noch an<strong>der</strong>s ausdrücken, und dieswürde es noch besser erklären, aber das kann ich jetzt nochnicht.« »Warum nicht, <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong>?«»Weil du noch nicht bereit bist, über die Ganzheit des Selbst zusprechen. Im Augenblick kann ich dir nur sagen, daß dieserGenaro hier nicht <strong>der</strong> Doppelgänger ist.« Mit e<strong>in</strong>erKopfbewegung wies er auf <strong>Don</strong> Genaro. Dieser bl<strong>in</strong>zelte e<strong>in</strong>paarmal.»<strong>Der</strong> Genaro von gestern abend war <strong>der</strong> Doppelgänger. Undwie ich dir schon sagte, hat <strong>der</strong> Doppelgänger unvorstellbare<strong>Kraft</strong>. Er hat dir etwas ganz Wichtiges gezeigt. Zu diesemZweck mußte er dich berühren. <strong>Der</strong> Doppelgänger berührtedich e<strong>in</strong>fach im Genick, an <strong>der</strong>selben Stelle, wo vor Jahren <strong>der</strong>Verbündete auf dich getreten ist. Natürlich warst du weg wiee<strong>in</strong>e ausgeblasene Kerze. Und natürlich hast du dich auch wiee<strong>in</strong> Hanswurst gehenlassen. Wir brauchten Stunden, um dichwie<strong>der</strong> auf die Be<strong>in</strong>e zu br<strong>in</strong>gen. Dadurch hast du de<strong>in</strong>e <strong>Kraft</strong>88vertan, und als es für dich Zeit war, die Tat e<strong>in</strong>es Kriegers zuvollbr<strong>in</strong>gen, hattest du nicht mehr genug Mumm.« »Was wärediese Tat e<strong>in</strong>es Kriegers gewesen. <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> 0 « »Ich sagte dirdoch, daß Genaro zu dir kam. um dir etwas zu zeigen, nämlichdas Geheimnis <strong>der</strong> leuchtenden Wesen als Träumer. Duwolltest etwas über den Doppelgänger erfahren. Nun. er beg<strong>in</strong>nt<strong>in</strong> den Träumen. Aber dann fragtest du: >Was ist <strong>der</strong>Doppelgänger?


<strong>Der</strong> Körper ist nicht unzerstörbar. Du hättest schwer krankwerden können. Du wurdest es nicht, nur weil Genaro und ichde<strong>in</strong>en Leichts<strong>in</strong>n etwas aufgefangen haben.« Die volleWucht se<strong>in</strong>er Worte begann auf mich e<strong>in</strong>zuwirken.»Gestern abend führte Genaro dich durch die Schwierigkeitendes Doppelgängers h<strong>in</strong>durch«, fuhr <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> fort. »Nur erkann dies für dich tun. Und es war ke<strong>in</strong>e Vision o<strong>der</strong>Halluz<strong>in</strong>ation, als du dich am Boden liegen sahst. Du hättestdies mit unendlicher Klarheit erkennen können, wenn du dichnicht <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Schwelgerei verloren hättest, und dann hättest duerkennen können, daß du selbst wie e<strong>in</strong> Traum bist, daß de<strong>in</strong>Doppelgänger dich träumt, genau wie du ihn gestern abendgeträumt hast.« »Aber wie kann das se<strong>in</strong>, <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> 9 «»Niemand weiß, wie es geschieht. Wir wissen nur, daß esgeschieht. Dies ist das Geheimnis von uns Menschen alsleuchtenden Wesen. Gestern abend hattest du zwei Träume,und du hättest <strong>in</strong> jedem von ihnen erwachen können, aber duhattest nicht genug <strong>Kraft</strong>, das zu begreifen.« Sie schauten miche<strong>in</strong>e Weile e<strong>in</strong>dr<strong>in</strong>glich an. »Ich glaube, er begreift«, sagte<strong>Don</strong> Genaro.Das Geheimnis <strong>der</strong> leuchtenden WesenStundenlang unterhielt mich <strong>Don</strong> Genaro mit absurden Instruktionen,wie ich m ich im täglichen Leben verhalten sollte.<strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> me<strong>in</strong>te, ich solle mir <strong>Don</strong> Genaros Empfehlungenernstlich zu H erzen nehm en, denn sie seien, obzwar scherzhaftvorgetragen, ke<strong>in</strong>eswegs spaßig gem e<strong>in</strong>t. G egen M ittag stand<strong>Don</strong> Genaro auf und g<strong>in</strong>g ohne e<strong>in</strong> W ort <strong>der</strong> Erklärung <strong>in</strong>sG ebüsch. Ich wollte ebenfalls aufstehen, aber D on <strong>Juan</strong> hieltmich sanft zurück und verkündete mit feierlicher Stimme, daß<strong>Don</strong> Genaro wie<strong>der</strong> etwas mit mir vorhabe.»W as wird er tun?« fragte ich. »W as will er diesmal mit miranstellen?«<strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> versicherte mir. ich hätte ke<strong>in</strong>en Grund, mich zubeunruhigen.»Du näherst dich e<strong>in</strong>em Scheideweg«, sagte er. »E<strong>in</strong>em gewissenScheideweg, den je<strong>der</strong> Krieger e<strong>in</strong>mal erreicht.« M irkam <strong>in</strong> den S<strong>in</strong>n, er spreche vielleicht von me<strong>in</strong>em Tod. Erschien me<strong>in</strong>e Frage zu ahnen und bedeutete mir, nichts zusagen.»Darüber wollen wir nicht d iskutieren«, sagte er. »Es muß dirgenügen, wenn ich dir sage, daß <strong>der</strong> Scheideweg, den ichme<strong>in</strong>e, die Erklärung <strong>der</strong> Zauberer ist. Genaro glaubt, du bistbereit d a f ü r .«»W ann wirst du mir etwas darüber sagen?« »Ich weiß nicht,wann. Du bist <strong>der</strong> Empfänger, daher hängt es von d ir ab. Duwirst entscheiden müssen, wann es an <strong>der</strong> Zeit ist.«»Und warum nicht jetzt gleich?«»Entscheiden heißt nicht, e<strong>in</strong>en willkürlichen Zeitpunkt bestimm en«, sagte er. »Entscheiden heißt, daß du de<strong>in</strong>en G eistmakellos gestählt und alles getan haben mußt, um des W issensund <strong>der</strong> K raft würdig zu se<strong>in</strong>.Heute aber wird Genaro dir e<strong>in</strong> kle<strong>in</strong>es Rätsel aufgeben. Er istvorausgegangen und wird irgendwo im Chaparral auf unswarten. Niemand weiß die Stelle, wo er se<strong>in</strong> wird, o<strong>der</strong> den91


genauen Zeitpunkt, zu dem wir ihn treffen. Gel<strong>in</strong>gt es dir. dierichtige Zeit zu bestimmen, das <strong>Haus</strong> zu verlassen, dann wird esdir auch gel<strong>in</strong>gen, dich dorth<strong>in</strong> zu lenken, wo er ist.« Ich sagte<strong>Don</strong> <strong>Juan</strong>, ich könne mir nicht vorstellen, daß jemandimstande sei, e<strong>in</strong> solches Rätsel zu lösen. »Wie kann <strong>der</strong>Umstand, daß ich zu e<strong>in</strong>er bestimmten Zeit das <strong>Haus</strong> verlasse,mich dorth<strong>in</strong> führen, wo <strong>Don</strong> Genaro sich aufhält?« fragte ich.<strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> lächelte und f<strong>in</strong>g an, e<strong>in</strong> Lied zu summen. Me<strong>in</strong>eAufregung schien ihn zu belustigen.»Das ist ja das Problem, das Genaro dir aufgibt«, sagte er.»Falls du genügend persönliche <strong>Kraft</strong> hast, wirst du mit absoluterGewißheit den richtigen Zeitpunkt bestimmen, zu demdu das <strong>Haus</strong> verlassen mußt. Warum die Tatsache, daß du zurrichtigen Zeit aufbrichst, dich führen wird, das ist etwas, wasniemand weiß. Und doch, wenn du genug <strong>Kraft</strong> hast, dannwirst du selbst feststellen, daß es so ist.« »Aber auf welcheWeise werde ich geführt werden, <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong>?«»Auch das weiß niemand.«»Ich glaube, <strong>Don</strong> Genaro spielt mir e<strong>in</strong>en Streich.« »Dann seilieber vorsichtig«, sagte er. »Falls Genaro dir e<strong>in</strong>en Streichspielt, dann könnte es se<strong>in</strong>, daß du von diesem Streich nichtmehr aufstehst.«<strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> lachte über se<strong>in</strong> Wortspiel. Ich konnte nicht e<strong>in</strong>stimmen.Me<strong>in</strong>e Angst vor <strong>der</strong> Gefahr, die von <strong>Don</strong> GenarosMachenschaften ausg<strong>in</strong>g, war zu real.»Kannst du mir nicht wenigstens e<strong>in</strong> paar Tipps geben?« fragteich.»Da gibt es ke<strong>in</strong>e Tipps!« sagte er scharf. »Warum will <strong>Don</strong>Genaro so etwas tun?« »Er will dich auf die Probe stellen«,antwortete er. »Nehmen wir an, es ist f ü r ihn sehr wichtig zuwissen, ob du die Erklärung <strong>der</strong> Zauberer erfassen kannst.Wenn du das Rätsel löst, dann zeigt dies, daß du genügendpersönliche <strong>Kraft</strong> gespeichert hast und bereit bist. Wenn esdir aber nicht gel<strong>in</strong>gt, dann deshalb, weil du nicht genug <strong>Kraft</strong>hast, und <strong>in</strong> diesem Fall wäre die Erklärung <strong>der</strong> Zauberer für dichs<strong>in</strong>nlos. Ich me<strong>in</strong>e, wir sollten dir die Erklärung geben, ganzgleich, ob92du sie verstehst o<strong>der</strong> nicht. Das ist me<strong>in</strong>e Auffassung. Genaroist e <strong>in</strong> eher konservativer K rieger, er will die richtige Reihenfolge<strong>der</strong> D<strong>in</strong>ge e<strong>in</strong>halten, und er wird sich nicht zufriedengeben,bis er glaubt, daß du bereit bist.«»W arum erzählst du mir nicht selbst von <strong>der</strong> Erklärung <strong>der</strong>Zauberer?«»Genaro muß <strong>der</strong>jenige se<strong>in</strong>, <strong>der</strong> dir h ilft.«»W arum ist dies so, <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong>?«»G enaro will nicht, daß ich dir sage, warum «, sagte e r, »nochnicht.«»W ürde es mir denn schaden, die Erklärung <strong>der</strong> Zauberer zukennen?« fragte ich.»Das glaube ich nicht.«»B itte. <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong>, dann sag sie m ir.«»Du machst wohl W itze. Genaro hat über diese Sache genaueVorstellungen, und wir müssen ihm Ehre erweisen und ihnrespektieren.«M it e<strong>in</strong>er gebieterischen Geste brachte er mich zumSchweigen.Nach e<strong>in</strong>er langen, entnervenden Pause wagte ich e<strong>in</strong>e Fragezu stellen.»Aber wie kann ich dieses Rätsel lösen, <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong>?«»W irklich, das weiß ich nicht. Darum kann ich dir auch nichtraten, was du tun sollst«, sagte er. »Genaro weiß, was er will.Er hat dieses Rätsel für dich ausgedacht. Da er dies zu de<strong>in</strong>emBesten tut. ist er e<strong>in</strong>zig auf dich e<strong>in</strong>gestimmt, und daherkannst nur du den richtigen Zeitpunkt des Aufbruchs f<strong>in</strong>den.Er selbst wird dich rufen und dich mit Hilfe se<strong>in</strong>es Rufsführen.«»Was ist das für e<strong>in</strong> Ruf?«»Ich weiß nicht. Se<strong>in</strong> Ruf gilt dir, nicht mir. Genaro wirdunmittelbar de<strong>in</strong>en Willen ansprechen. Mit an<strong>der</strong>en Worten, dumußt de<strong>in</strong>en Willen benutzen, um den Ruf zu erkennen. Genarome<strong>in</strong>t, er muß sich nunmehr davon überzeugen, daß dugenügend persönliche <strong>Kraft</strong> angesammelt hast, imstande zu se<strong>in</strong>,de<strong>in</strong>en Willen zu etwas Funktionsfähigem zu machen.« »Wille«war e<strong>in</strong> Begriff, den <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> ebenfalls sehr sorgfältigumschrieben hatte, ohne ihn jedoch zu erklären. Aus se<strong>in</strong>enErläuterungen konnte ich entnehmen, daß »Wille«93


e<strong>in</strong>e <strong>Kraft</strong> sei, die vom Unterleib ausg<strong>in</strong>g, und zwar durch e<strong>in</strong>eunsichtbare Öffnung unterhalb des Nabels, e<strong>in</strong>e Öffnung, dieer als »Lücke« bezeichnete. »Wille« war etwas, das angeblichnur Zauberer entwickelten. Er wird demjenigen, <strong>der</strong> die Zaubereipraktiziert, als Mysterium zuteil und verleiht ihm angeblichdie Fähigkeit, unglaubliche Taten zu vollbr<strong>in</strong>gen. Es sei wohlaussichtslos, bemerkte ich zu <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong>, daß etwas soUnbestimmtes <strong>in</strong> me<strong>in</strong>em Leben jemals zu e<strong>in</strong>er funktionierendenE<strong>in</strong>heit werden könnte.»Da irrst du dich«, sagte er. »<strong>Der</strong> Wille entwickelt sich beimKrieger entgegen allen Wi<strong>der</strong>ständen <strong>der</strong> Vernunft.« »Kann<strong>Don</strong> Genaro, da er doch e<strong>in</strong> Zauberer ist, denn nicht, ohnemich auf die Probe zu stellen, wissen, ob ich bereit b<strong>in</strong> o<strong>der</strong>nicht" 1 «, fragte ich.»Gewiß kann er das«, sagte er. »Aber dieses Wissen bliebeohne Wert und ohne Folgen, denn es hätte nichts mit dir zutun. Du bist <strong>der</strong> Lernende, daher mußt du selbst dir Wissen als<strong>Kraft</strong> erwerben, nicht aber Genaro. Genaro kommt es wenigerauf se<strong>in</strong> Wissen als auf de<strong>in</strong> Wissen an. Du mußt herausf<strong>in</strong>den,ob de<strong>in</strong> Wille funktioniert o<strong>der</strong> nicht. Dies festzustellen ist sehrschwierig. Unabhängig davon, was Genaro o<strong>der</strong> ich über dichwissen, mußt du dir selbst beweisen, daß du <strong>in</strong> <strong>der</strong> Lage bist,Wissen als <strong>Kraft</strong> zu beanspruchen. Mit an<strong>der</strong>en Worten, dumußt dich selbst davon überzeugen, daß du de<strong>in</strong>en Willenbetätigen kannst. Wenn du es noch nicht bist, dann mußt duheute davon überzeugt werden. Kannst du diese Aufgabe nichtlösen, dann wird Genaro, unabhängig davon, was er vielleichtan dir sieh:, daraus schließen, daß du noch nicht bereit bist.«Mich befiel e<strong>in</strong>e unwi<strong>der</strong>stehliche Furcht. »Ist all dies dennnotwendig?« fragte ich. »Es ist Genaros Wunsch, und du mußtihm nachkommen«, sagte er bestimmt, aber freundlich. »Aberwas hat <strong>Don</strong> Genaro mit mir im S<strong>in</strong>n' 1 « »Das wirst du heutevielleicht herausf<strong>in</strong>den«, sagte er lächelnd.Ich bedrängte <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong>, mir aus dieser unerträglichen Situationherauszuhelfen und mir all diese geheimnisvollen Reden zuerklären. Er lachte und klopfte mir auf die Brust, wobeier über e<strong>in</strong>en mexikanischen Gewichtheber w itzelte, <strong>der</strong>gewaltig entwickelte B rustm uskeln h a tte , aber ke<strong>in</strong>e schwereArbeit leisten konnte, weil se<strong>in</strong> Rücken zu schwach war.»Schau diese Muskeln an!« sagte er. »Sie sollten nicht nurzum Vorzeigen da se<strong>in</strong>.«»M e<strong>in</strong>e M uskeln haben gar nichts mit dem zu tun, wovon dusprichst«, sagte ich streitlustig.»D och«, antwortete e r. »D er K örper m uß vollkom m en se<strong>in</strong>,bevor <strong>der</strong> W ille e<strong>in</strong>e funktionierende E <strong>in</strong>heit wird.« <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong>w a r es gelungen, me<strong>in</strong>e Überlegungen <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e an<strong>der</strong>eRichtung zu lenken. Ich war unruhig und frustriert. Ich standa u f. g<strong>in</strong>g <strong>in</strong> die Küche und tra n k etwas W asser. <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> fo lg temir und schlug vor. ich solle mich <strong>in</strong> dem Tierschrei üben, den<strong>Don</strong> Genaro m ir beigebracht h atte. W ir g<strong>in</strong>gen neben das<strong>Haus</strong>: ich setzte mich auf e<strong>in</strong>en Holzstapel und versenkte michganz <strong>in</strong> die Nachahmung dieses Schreies. <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> korrigiertemich und gab m ir e<strong>in</strong> paar H <strong>in</strong>weise f ü r me<strong>in</strong>e Atmung. DasErgebnis w a r e<strong>in</strong> Zustand vollkommener physischerEntspannung.W ir kehrten auf die Veranda zurück und setzten uns w ie<strong>der</strong>.Ich sagte ihm. wie sehr ich mich manchmal über mich ärgerte.weil ich so h ilflo s sei.»Es ist nichts Schlechtes an dem G efü h l, hilflos zu se<strong>in</strong>«, sagteer. »Wir alle kennen es nur zu gut. Denk daran, daß wir e<strong>in</strong>eEwigkeit als hilflose K<strong>in</strong><strong>der</strong> leben! Ich sagte d ir ja schon, daßdu im Augenblick wie e<strong>in</strong> kle<strong>in</strong>es K <strong>in</strong> d bist, das noch n ich talle<strong>in</strong> aus <strong>der</strong> Wiege klettern , geschweige denn selbständighandeln kann. Genaro h ilft dir sozusagen aus <strong>der</strong> Wiege heraus,<strong>in</strong>dem er dich aufhebt. Aber e<strong>in</strong> K<strong>in</strong>d will handeln. und daes das n ich t kann, jammert es eben. D ies ist an sich nichtschlecht, aber etw as an<strong>der</strong>es ist es, sich gehenzulassen und <strong>in</strong>Grübeln und Jammern zu schwelgen.« Er verlangte, ich sollemich entspannen. Er for<strong>der</strong>te mich auf. ihm noch e<strong>in</strong>e WeileFragen zu stellen, bis ich <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er besseren seelischenVerfassung w ä re .E<strong>in</strong>en Moment war ich ratlos und konnte mich nicht entschließen,was ic h fragen sollte. D on <strong>Juan</strong> b re ite te e <strong>in</strong> e Strohm atte aus undm e <strong>in</strong> te , ich solle94 95


mich daraufsetzen. Dann füllte er e<strong>in</strong>e große Kalebasse mitW asser und tat sie <strong>in</strong> e<strong>in</strong> Tragenetz. Ansche<strong>in</strong>end traf erVorbereitungen für e<strong>in</strong>en Ausflug. Dann setzte er sich wie<strong>der</strong>und for<strong>der</strong>te mich augenzw<strong>in</strong>kernd auf. mit me<strong>in</strong>en Fragen zubeg<strong>in</strong>nen.Ich bat ihn. mir mehr über den Nachtfalter zu erzählen. Erwarf mir e<strong>in</strong>en langen, prüfenden B lick zu und lachte <strong>in</strong> sichh<strong>in</strong>e<strong>in</strong>.»Das war e<strong>in</strong> Verbündeter«, sagte er. »D u weißt es selbst.«»Aber was ist e<strong>in</strong> Verbündeter eigentlich. <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong>?« »E s istganz unmöglich zu sagen, was e<strong>in</strong> Verbündeter w irklichist. genauso wie es unmöglich ist zu sagen, was e<strong>in</strong> Baumeigentlich ist.«»E <strong>in</strong> Baum ist e<strong>in</strong> leben<strong>der</strong> Organismus«, sagte ich. »D as w illnichts besagen«, me<strong>in</strong>te er. »Ich kann auch sagen, daß e<strong>in</strong>Verbündeter e<strong>in</strong>e <strong>Kraft</strong>, e<strong>in</strong>e Spannung ist. Das habe ich dirbereits gesagt, aber dies besagt nicht viel über denVerbündeten.Genau wie im Fall des Baumes kann man auch den Verbündetennur erkennen, <strong>in</strong>d em man ihn erfährt. All die Jahrehabe ich mich bemüht, dich auf die folgenschwere Begegnungmit e<strong>in</strong>em Verbündeten vorzubereiten. V ielleicht bist du dirnicht im klaren darüber, aber du brauchtest ja auch Jahre <strong>der</strong>Vorbereitung, um e<strong>in</strong>em Baum zu begegnen. Nichts an<strong>der</strong>esist es. e<strong>in</strong>em Verbündeten zu begegnen. <strong>Der</strong> Lehrer mußse<strong>in</strong>en Schüler nach und nach. Stück um Stück mit demVerbündeten vertraut machen. Im Lauf <strong>der</strong> Jahre hast du e<strong>in</strong>eM enge W issen über ihn angesammelt, und jetzt bist du fähig,dieses W issen zusammenzusetzen, um den Verbündeten geradesozu erfahren, w ie du e<strong>in</strong>en Baum erfäh rst.« » I c h habe k e <strong>in</strong> eVorstellung davon, daß ich dies tue. <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong>.«»D e<strong>in</strong>e Vernunft ist sich dessen nicht bewußt, weil sie dieM öglichkeit des Verbündeten von vornhere<strong>in</strong> nicht akzeptierenkann. Zum Glück ist es nicht die Vernunft, die denVerbündeten zusammensetzt. <strong>Der</strong> Körper ist es. Du hast denVerbündeten <strong>in</strong> verschiedenen Graden und bei verschiedenenGelegenheiten wahrgenommen. Jede dieser W ahrnehmungenwurde <strong>in</strong> de<strong>in</strong>em Körper gespeichert. Die Summe dieser Teile96ist <strong>der</strong> Verbündete. Ich kenne ke<strong>in</strong>e an<strong>der</strong>e M öglichkeit, ihnzu beschreiben.«Ich wandte e<strong>in</strong>, ich könne mir nicht vorstellen, daß me<strong>in</strong>Körper von sich aus handele, als sei er e<strong>in</strong>e von me<strong>in</strong>erVernunft unabhängige E<strong>in</strong>heit.»Das ist er nicht, aber dah<strong>in</strong> haben wir ihn gebracht«, sagte er.»Unsere Vernunft ist rechthaberisch, und sie liegt dauernd imStreit m it unserem K örper. D ies ist natürlich nur e<strong>in</strong>e bildlicheRedeweise, aber <strong>der</strong> Sieg e<strong>in</strong>es W issenden besteht dar<strong>in</strong>, daß erdie beiden mite<strong>in</strong>an<strong>der</strong> versöhnt. Da du ke<strong>in</strong> W issen<strong>der</strong> bist,tu t de<strong>in</strong> Körper heute noch D<strong>in</strong>ge, die de<strong>in</strong>e Vernunft nichtbegreift. E<strong>in</strong>es dieser D<strong>in</strong>ge ist <strong>der</strong> Verbündete. Du warstwe<strong>der</strong> verrückt, noch hast du geträumt, als du den Verbündetengestern nacht, genau hier an dieser Stelle, wahrgenommen hast.«Ich fragte ihn nach <strong>der</strong> beängstigenden Vorstellung, die er und<strong>Don</strong> Genaro mir e<strong>in</strong>gegeben hatten, daß nämlich <strong>der</strong> Verbündetee<strong>in</strong> W esen sei, das mich am Rande e<strong>in</strong>er kle<strong>in</strong>en Schlucht <strong>in</strong> denBergen Nordmexikos erwarte. Früher o<strong>der</strong> später, hatten siegesagt, müsse ich me<strong>in</strong>e Verabredung mit dem Verbündetene<strong>in</strong>halten und m it ihm r<strong>in</strong>gen. » A ll dies ist nur e<strong>in</strong>eb ild liche Art, über Geheimnisse zu sprechen, für die es ke<strong>in</strong>eW orte gib t«, sagte er. »Genaro und ich sagten, daß <strong>der</strong>Verbündete dich am Rand <strong>der</strong> Ebene erwarten wird. DieserSatz, war richtig, aber er hat nicht die Bedeutung, die du ihmbeilegst. <strong>Der</strong> Verbündete wartet auf dich, das steht fest, aberer h ä lt sich nicht am Rand irgende<strong>in</strong>er Ebene auf. Er ist h ie ro<strong>der</strong> dort o<strong>der</strong> an jedem an<strong>der</strong>en Ort. <strong>Der</strong> Verbündete wartetauf dich, gerade wie <strong>der</strong> Tod auf dich wartet, überall undnirgends.« »W arum wartet <strong>der</strong> Verbündete auf mich?« »Ausdem gleichen Grund, warum <strong>der</strong> Tod auf dich wartet«, sagte er,»w eil du geboren worden bist. Im Augenblick gibt es ke<strong>in</strong>eM öglichkeit zu erklären, was dam it gem e<strong>in</strong>t ist. Zuerst mußt duden Verbündeten erfahren. Du mußt ihn <strong>in</strong> all se<strong>in</strong>er M achtwahrnehmen, dann kann die Erklärung <strong>der</strong> Zauberer ihnvielleicht begreiflich machen. Bislang hattest du nichtgenügend <strong>Kraft</strong>, dir auch nur e<strong>in</strong>es zu erklären, daß nämlich<strong>der</strong> V erbündete e<strong>in</strong> N achtfalter ist.97


Vor e<strong>in</strong> paar Jahren g<strong>in</strong>gen wir beide <strong>in</strong>s Gebirge, und dumußtest e<strong>in</strong>en Kampf mit irgend etwas bestehen. Damals war esmir unmöglich, dir zu sagen, was dabei vor sich g<strong>in</strong>g. Du sahste<strong>in</strong>en seltsamen Schatten vor dem Feuer h<strong>in</strong>- und herhuschen.Du kamst selbst darauf, daß er wie e<strong>in</strong> Nachtfalter aussah.Obwohl du nicht wußtest, was du da sagtest, hattest du absolutrecht, denn <strong>der</strong> Schatten war e<strong>in</strong> Nachtfalter. Dann, bei e<strong>in</strong>eran<strong>der</strong>en Gelegenheit, brachte irgend etwas dich vor Angst fastvon S<strong>in</strong>nen, nachdem du e<strong>in</strong>geschlafen warst, und wie<strong>der</strong> wares <strong>in</strong> <strong>der</strong> Nähe e<strong>in</strong>es Feuers. Ich hatte dich gewarnt, nichte<strong>in</strong>zuschlafen, aber du hast me<strong>in</strong>e Warnung <strong>in</strong> den W<strong>in</strong>dgeschlagen. Dies lieferte dich dem Verbündeten aus, und <strong>der</strong>Nachtfalter trat dir <strong>in</strong>s Genick. Wieso du das überlebt hast, wirdmir immer e<strong>in</strong> Rätsel bleiben. Du wußtest es nicht, aber damalshatte ich dich schon aufgegeben. So schwerwiegend wardieser Schnitzer.Seit damals, auch wenn du es nicht bemerkt hast, folgte <strong>der</strong>Nachtfalter uns immer, wenn wir uns im Gebirge o<strong>der</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong>Wüste aufhielten. Alles <strong>in</strong> allem können wir also sagen, daß<strong>der</strong> Verbündete für dich e<strong>in</strong> Nachtfalter ist. Aber ich kann nichtsagen, daß er wirklich e<strong>in</strong> Nachtfalter ist. so wie wirNachtfalter kennen. Den Verbündeten als Nachtfalter zu bezeichnenist abermals nur e<strong>in</strong>e bildliche Redeweise, e<strong>in</strong>e Möglichkeit,die Unermeßlichkeit dort draußen verständlich zumachen.«»Ist <strong>der</strong> Verbündete auch f ü r dich e<strong>in</strong> Nachtfalter 1 '« fragteich.»Ne<strong>in</strong>. Die Art, wie man den Verbündeten begreift, ist e<strong>in</strong>eFrage des Temperaments«, sagte er.Ich hielt ihm vor. daß wir wie<strong>der</strong> am Ausgangspunkt seien:denn er hatte mir nicht gesagt, was e<strong>in</strong> Verbündeter wirklichist.»Es ist nicht nötig, sich verwirren zu lassen«, sagte er. »DieVerwirrung ist e<strong>in</strong>e Stimmung, <strong>in</strong> die man h<strong>in</strong>e<strong>in</strong>stürzt, aberman kann auch wie<strong>der</strong> aus ihr herausgelangen. Im Augenblickist es unmöglich, irgend etwas zu erklären. Vielleicht werdenwir heute noch, später, Gelegenheit haben, diese Fragenausführlich zu erörtern. Das hängt ganz von dir ab. O<strong>der</strong>besser, es hängt von de<strong>in</strong>er persönlichen <strong>Kraft</strong> ab.«98Er weigerte sich, noch e<strong>in</strong> weiteres Wort zu sagen. Ich warganz durche<strong>in</strong>an<strong>der</strong>, aus Furcht, ich könnte die Probe nichtbestehen. <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> führte mich h<strong>in</strong>ter das <strong>Haus</strong> und hießmich auf e<strong>in</strong>er Strohmatte am Rand e<strong>in</strong>es Wassergrabensnie<strong>der</strong>sitzen. Das W asser flöß so langsam , daß es fast stillzustehenschien. Er befahl mir, ruhig sitzen zu bleiben, me<strong>in</strong>en<strong>in</strong>neren Dialog abzustellen und <strong>in</strong>s Wasser zu schauen. Erer<strong>in</strong>nerte mich daran, daß ich vor Jahren an mir e<strong>in</strong>e gewisseAff<strong>in</strong>ität zu Gewässern entdeckt hätte, e<strong>in</strong> Gefühl, das fürme<strong>in</strong> jetziges Bemühen höchst för<strong>der</strong>lich sei. Ich entgegnete.daß ich ke<strong>in</strong>e beson<strong>der</strong>e Vorliebe für Gewässer hätte, aberauch ke<strong>in</strong>e Abneigung. Dies sei gerade <strong>der</strong> Grund, me<strong>in</strong>te er.warum Wasser so gut für mich sei, denn ich sei ihm gegenüber<strong>in</strong>different. Unter schwierigen Bed<strong>in</strong>gungen könne das Wassermich nicht gefangenhalten, aber es könne mich auch nichtabstoßen.Er saß knapp h<strong>in</strong>ter mir zu me<strong>in</strong>er Rechten und empfahl mir.mich zu entspannen und ke<strong>in</strong>e Angst zu haben, denn er sei jada, um m ir zu helfen, f a lls es irgend nötig werden sollte. E<strong>in</strong>enAugenblick lang hatte ich Angst. Ich schaute ihn an und warteteauf weitere Anweisungen. Gewaltsam drehte er m e<strong>in</strong>en Kopfzum Wasser und befahl mir weiterzumachen. Ich hatte ke<strong>in</strong>eAhnung, was er von mir wollte, daher entspannte ich m iche<strong>in</strong>fach. Während ich so übers Wasser schaute, fiel me<strong>in</strong> Blickauf das Schilf am an<strong>der</strong>en Ufer. Unbewußt ließ ich me<strong>in</strong>enunkonzentrierten Blick darauf ruhen. Es bebte unter <strong>der</strong>langsamen Strömung. Das Wasser hatte die Farbe vonWüstensand. Mir fiel au f, daß die Wellen an den Schilfhalmenwie k le<strong>in</strong> e Rillen o<strong>der</strong> Spalten <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er weichen Oberflächeaussahen. Plötzlich wurden die Schilfhalme ganz riesig, dasWasser war e<strong>in</strong>e weiche, glatte, ockerfarbene Fläche, unddann befand ich mich b<strong>in</strong>nen Sekunden im tiefem Schlaf; o<strong>der</strong>besser, ich verfiel <strong>in</strong> e<strong>in</strong>en Wahrnehmungszustand, wie ich ihnnoch nie erlebt hatte. Die angemessenste Umschreibung wäre zusagen, daß ich e<strong>in</strong>schlief und e<strong>in</strong>en absurden Traum hatte.Diesen Traum me<strong>in</strong>te ich unendlich fortsetzen zu können,wenn ich nur wollte, aber ich beendete ihn absichtlich, <strong>in</strong>demich e<strong>in</strong> bewußtes Selbstgespräch anf<strong>in</strong>g. Ich öffnete die Au-99


gen. Ich lag auf <strong>der</strong> Strohmatte. <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> befand sich e<strong>in</strong> paarMeter entfernt. Me<strong>in</strong> Traum war so wun<strong>der</strong>voll gewesen, daßich ihm davon erzählen wollte. Er gebot mir Schweigen. Mite<strong>in</strong>em langen Zweig wies er auf zwei lange Schatten, die dieÄste des Wüstenchaparral auf die Erde warfen. Die Spitzese<strong>in</strong>es Zweiges folgte den Umrissen des e<strong>in</strong>en Schattens, alswollte sie ihn nachzeichnen, dann sprang sie zum an<strong>der</strong>enh<strong>in</strong>über und tat dort dasselbe. Die Schatten waren etwa e<strong>in</strong>enhalben Meter lang und fast fünf Zentimeter breit; sie lagenzwanzig bis dreißig Zentimeter von e<strong>in</strong>an<strong>der</strong> entfernt. Me<strong>in</strong>eAugen, die den Bewegungen des Zweiges folgten, gerietendadurch außer Kontrolle, und schließlich sah ich mit schielendenAugen vier Schatten; auf e<strong>in</strong>mal verschmolzen die zweimittleren Schatten zu e<strong>in</strong>em e<strong>in</strong>zigen und riefen e<strong>in</strong>e außerordentlichtiefenscharfe Wahrnehmung hervor. <strong>Der</strong> so gebildeteSchatten wies e<strong>in</strong>e unerklärliche Fülle und Räumlichkeit auf;er war be<strong>in</strong>ah wie e<strong>in</strong> durchsichtiges Rohr, e<strong>in</strong>e runde Stangeaus irgende<strong>in</strong>er unbekannten Substanz. Ich wußte, daß me<strong>in</strong>eAugen schielten, und doch schienen sie auf e<strong>in</strong>e Stelle zentriertzu se<strong>in</strong>; was ich dort sah, war glasklar. Ich konnte die Augenbewegen, ohne daß das Bild sich auflöste. Ich schaute dauerndh<strong>in</strong>, ohne jedoch me<strong>in</strong>e Wachsamkeit abzulegen. Ich verspürtee<strong>in</strong>en komischen Zwang, mich zu entspannen und mich ganz <strong>in</strong>die Szene zu vertiefen. Irgendwie schien das, was ichbeobachtete, mich anzuziehen; aber etwas an<strong>der</strong>es <strong>in</strong> mirdrängte sich <strong>in</strong> den Vor<strong>der</strong>grund, und ich f<strong>in</strong>g e<strong>in</strong> halbbewußtesSelbstgespräch an. Fast augenblicklich kam mir die Umgebungme<strong>in</strong>er alltäglichen Welt zu Bewußt-se<strong>in</strong>.<strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> beobachtete mich. Er schien beunruhigt. Ich fragteihn, was denn los sei. Er antwortete nicht. Er war mir behilflich,mich aufzusetzen. Erst dann erkannte ich, daß ich auf demRücken gelegen und <strong>in</strong> den Himmel geschaut hatte, während<strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> sich über me<strong>in</strong> Gesicht beugte. Me<strong>in</strong> erster Impulswar, ihm zu sagen, daß ich tatsächlich die Schatten am Bodengesehen hatte, während ich <strong>in</strong> den Himmel schaute, aber erlegte mir die Hand auf den Mund. E<strong>in</strong>ige Zeit saßen wirschweigend da. Ich hatte ke<strong>in</strong>erlei Gedanken. Ich empfande<strong>in</strong>en köstlichen Frieden, und dann spürte100ich ganz plötzlich e<strong>in</strong>en unwi<strong>der</strong>stehlichen Drang, aufzustehenund <strong>in</strong> den Chaparral zu gehen, um <strong>Don</strong> Genaro zu suchen.Ich machte e<strong>in</strong>en Versuch, mit <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> zu sprechen. Er hobdas K<strong>in</strong>n und preßte die Lippen zusammen - es war e<strong>in</strong>wortloser Befehl, jetzt nichts zu sagen. Ich versuchte mir e<strong>in</strong>vernünftiges Bild von me<strong>in</strong>er merkwürdigen Situation zu machen;aber me<strong>in</strong> Schweigen machte mich so glücklich, daß ichm ich nicht m it logischen Spitzf<strong>in</strong>digkeiten herum schlagenwollte.Nach kurzer Pause verspürte ich abermals das zw<strong>in</strong>gendeBedürfnis, <strong>in</strong>s Gebüsch h<strong>in</strong>e<strong>in</strong>zugehen. Ich folgte e<strong>in</strong>emschmalen Pfad. <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> tro ttete h <strong>in</strong> terh er, als sei ich <strong>der</strong>Führer.Wir g<strong>in</strong>gen ungefähr e<strong>in</strong>e Stunde. Es gelang mir, frei vonirgendwelchen Gedanken zu bleiben. Dann kamen wir ane<strong>in</strong>en Hügel. Dort war <strong>Don</strong> Genaro; er saß <strong>in</strong> <strong>der</strong> Nähe desGipfels auf e<strong>in</strong>er Felsmauer. Er begrüßte mich überschwenglich,wobei er laut schreien mußte; er befand sich an diedreißig Meter über dem Boden. <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> befahl mir, mich zusetzen, und nahm neben mir Platz. <strong>Don</strong> Genaro erklärte, ichhätte den Platz gefunden, wo er mich erwartet hätte, denn erhabe mich durch e<strong>in</strong> Geräusch geleitet, das er hervorgebrachthabe. Kaum hatte er dies gesagt, da wurde mir klar, daß ichtatsächlich e<strong>in</strong> seltsam es Geräusch gehört hatte, das m ir wieOhrensausen erschienen war; ich hatte es eher als e<strong>in</strong> <strong>in</strong>neresPhänomen aufgefaßt, e<strong>in</strong>en körperlichen Zustand, e<strong>in</strong>e sounbestimmte Klangempf<strong>in</strong>dung, daß es sich je<strong>der</strong> bewußtenBeurteilung und Deutung entzog.Ich glaubte zu sehen, daß <strong>Don</strong> Genaro e<strong>in</strong> kle<strong>in</strong>es Instrument <strong>in</strong><strong>der</strong> l<strong>in</strong>ken Hand hielt. Von dort, wo ich saß, konnte ich esnicht genau erkennen. Es sah aus wie e<strong>in</strong>e Maultrommel;damit brachte er e<strong>in</strong>en weichen, unheimlichen Klang hervor,<strong>der</strong> praktisch kaum wahrnehmbar war. Er spielte noch e<strong>in</strong>enAugenblick weiter, als wolle er m ir Zeit lassen, ganz zuermessen, was er eben gesagt hatte. Dann zeigte er mir se<strong>in</strong>el<strong>in</strong>ke Hand. Sie war leer; ke<strong>in</strong>e Spur von e<strong>in</strong>em Instrument.Durch die Art, wie er die Hand an den Mund hielt, hatte ichden E<strong>in</strong>druck gehabt, als ob er e<strong>in</strong> Instrument spielte. In101


W irklichkeit brachte er diesen K lang mit den Lippen und mit<strong>der</strong> l<strong>in</strong>ken Handkante, zwischen Daumen und Zeigef<strong>in</strong>ger,hervor.Ich wandte mich an <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong>, um ihm zu erklären, daß ichmich durch <strong>Don</strong> Genaros Gebärden hätte täuschen lassen. Ermachte e<strong>in</strong>e rasche Handbewegung und sagte, ich solle nichtsprechen und gut achtgeben, was <strong>Don</strong> Genaro tun werde. Ichschaute mich wie<strong>der</strong> nach <strong>Don</strong> Genaro um, aber er war nichtm ehr da. Ich m e<strong>in</strong>te, er sei wohl herabgeklettert. E<strong>in</strong>ige Zeitwartete ich darauf, daß er aus dem Gebüsch auftauchte. <strong>Der</strong>Felsen, auf dem er gestanden hatte, war e<strong>in</strong>e eigentümlicheGeste<strong>in</strong>sformation; er sah eher wie e<strong>in</strong> riesiger Vorsprung an<strong>der</strong> Flanke e<strong>in</strong>er noch höheren Felswand aus. Ich hatte dochnur für e<strong>in</strong> paar Sekunden weggeschaut. Falls er h<strong>in</strong>aufgeklettertwar, hätte ich ihn bestimmt gesehen, bevor er den Gipfel <strong>der</strong>Felswand erreichte, und fa lls er herabgeklettert war, hätte ichihn von dort, wo ich saß ebenfalls sehen müssen. Ich fragte <strong>Don</strong><strong>Juan</strong>, wo <strong>Don</strong> Genaro se<strong>in</strong> mochte. Er antwortete, er steheimmer noch auf dem Felsvorsprung. Soviel ich erkennenkonnte, war dort niemand, aber <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> behauptete immerwie<strong>der</strong>, <strong>Don</strong> Genaro stehe immer noch oben auf dem Felsen.Offenbar scherzte er nicht. Se<strong>in</strong>e Augen blickten fest undwild. In scharfem Ton sagte er, me<strong>in</strong>e S<strong>in</strong>ne seien nicht dasgeeignete M ittel, um zu ermessen, was D on G enaro tue. Erbefahl mir, me<strong>in</strong>en <strong>in</strong>neren Dialog abzustellen. Ich lehntem ich auf und wollte eben me<strong>in</strong>e Augen schließen. D a sprang<strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> herbei und rüttelte mich an den Schultern. Erflüsterte, ich müsse die Augen auf den Felsvorsprung richten.Ich war schläfrig und hörte <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong>s W orte wie aus weiterFerne. Automatisch schaute ich zum Vorsprung h<strong>in</strong>auf. <strong>Don</strong>Genaro war wie<strong>der</strong> da. Das <strong>in</strong>teressierte mich nicht mehr.H alb bewußt stellte ich fe st, daß m ir das Atm en schwerfiel,aber bevor ich noch e<strong>in</strong>en Gedanken daran wenden konnte,sprang <strong>Don</strong> Genaro herab. Auch dieser Vorgang weckte nichtme<strong>in</strong> Interesse. Er kam herbei und half mir, aufrecht zu stehen,<strong>in</strong>dem er mich am Arm festhielt; <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> hielt me<strong>in</strong>enan<strong>der</strong>en Arm. So stützten die beiden mich von l<strong>in</strong>ks undrechts. Dann war es nur noch <strong>Don</strong> Genaro, <strong>der</strong> mir beimGehen half. Er flüsterte mir etwas <strong>in</strong>s Ohr, das ich nichtverstand, und plötzlich hatte ich das Gefühl, als ob er me<strong>in</strong>enKörper auf ganz komische Art vorwärtszog. Er packte michbuchstäblich an <strong>der</strong> Haut über me<strong>in</strong>em Bauch und zog michauf den Felsvorsprung o<strong>der</strong> vielleicht auf e<strong>in</strong>en an<strong>der</strong>en Felsenh<strong>in</strong>auf. Ich wußte, daß ich mich e<strong>in</strong>en Augenblick lang aufe<strong>in</strong>em Felsen befand. Ich hätte schwören können, daß es jenerFelsvorsprung war; das Bild war jedoch so flüchtig, daß ich esnicht im e<strong>in</strong>zelnen erkennen konnte. Dann spürte ich. wieirgend etwas <strong>in</strong> mir aussetzte und ich stürzte rückl<strong>in</strong>gs h<strong>in</strong>ab.Ganz schwach empfand ich so etwas wie Angst o<strong>der</strong> körperlichesUnbehagen. Als nächstes merkte ich. daß <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> mit mirsprach. Ich konnte ihn nicht verstehen. Ich konzentrierte me<strong>in</strong>eAufmerksamkeit auf se<strong>in</strong>e Lippen. Ich fühlte mich wie imTraum und versuchte e<strong>in</strong>e folienartige Hülle, die miche<strong>in</strong>schloß. von <strong>in</strong>nen aufzureißen, während <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> sichbemühte, sie von außen aufzureißen. Schließlich platzte sietatsächlich auf. und <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong>s Worte wurden hörbar - undihre Bedeutung glasklar. Er befahl mir. aus eigener <strong>Kraft</strong>wie<strong>der</strong>aufzutauchen. Verzweifelt mühte ich mich, me<strong>in</strong> klaresBewußtse<strong>in</strong> wie<strong>der</strong>zugew<strong>in</strong>nen: doch ohne Erfolg. Ganz bewußtfragte ich mich, wieso es mir nur so schwerfiel. Ichkämpfte darum, mit mir selbst zu sprechen. Ansche<strong>in</strong>endwußte <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> um me<strong>in</strong>e Schwierigkeiten. Er for<strong>der</strong>te michauf, mich noch mehr anzustrengen. Irgend etwas da draußenh<strong>in</strong><strong>der</strong>te mich daran, <strong>in</strong> me<strong>in</strong>en vertrauten <strong>in</strong>neren Dialog zuverfallen. Es war. als ob e<strong>in</strong>e eigentümliche Macht michschläfrig und gleichgültig machte. Ich kämpfte dagegen an, bisich außer Atem war. Ich hörte, wie <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> auf miche<strong>in</strong>redete. Unwillkürlich krümmte me<strong>in</strong> Körper sich unter<strong>der</strong> Anspannung. Mir war. als kämpfte ich eng umschlungene<strong>in</strong>en tödlichen Kampf gegen irgend etwas, das mich amAtmen h<strong>in</strong><strong>der</strong>te. Ich hatte ke<strong>in</strong>e Angst, eher war ich vone<strong>in</strong>er unkontrollierbaren Wut besessen. Me<strong>in</strong> Zorn nahm solcheFormen an, daß ich wie e<strong>in</strong> Tier knurrte und brüllte. Dannwurde me<strong>in</strong> Körper von e<strong>in</strong>em Frösteln geschüttelt. Ichverspürte e<strong>in</strong>en Schock, <strong>der</strong> mich auf <strong>der</strong> Stelle stoppte. Ichkonnte wie<strong>der</strong> normal atmen, und dann wurde mir klar, daß<strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> se<strong>in</strong>en Wasserbehälter über102 103


me<strong>in</strong>en Bauch und me<strong>in</strong> Genick geleert hatte und ich tropfnaßwar.Er half mir aufrecht zu sitzen. <strong>Don</strong> Genaro stand auf demFelsvorsprung. Er rief mich beim Namen, und dann sprang er<strong>in</strong> die Tiefe. Ich sah ihn aus e<strong>in</strong>er Höhe von etwa zwanzigM etern herabstürzen und spürte e<strong>in</strong> unerträgliches Gefühl imUnterleib. Ich kannte dieses Gefühl aus Träumen, <strong>in</strong> denen ichabstürzte.<strong>Don</strong> Genaro trat herzu und fragte lächelnd, ob mir se<strong>in</strong>Sprung gefallen habe. Vergeblich versuchte ich etwas zu sagen.W ie<strong>der</strong> rief D on G enaro m ich beim N am en. »Carlitos! Schauher!« sagte er.Er schwenkte die Arme vier- o<strong>der</strong> fünfmal h<strong>in</strong> und her. wieum Anlauf zu nehmen, und dann sprang er außer Sichtweite,o<strong>der</strong> wenigstens glaubte ich dies. O<strong>der</strong> vielleicht tat er nochetwas an<strong>der</strong>es, f ü r das ich ke<strong>in</strong>e W orte hatte. Er war zw ei, dreiM eter von mir en tfern t, und dann verschwand er. als ob e<strong>in</strong>eunkontrollierbare M acht i h n verschluckt hätte. Ich fühlte michgleichgültig und m üde. Irgendwie war m ir a lle s egal, und ichwollte we<strong>der</strong> denken noch me<strong>in</strong> Selbstgespräch führen. Ichverspürte ke<strong>in</strong>e Angst, nur e<strong>in</strong>e unerklärliche Traurigkeit. M irwar nach W e<strong>in</strong>en zumute. <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> schlug mich mehrmalsmit den F<strong>in</strong>gerknöcheln auf den Kopf und lachte, als sei alles,was geschehen war, nur e<strong>in</strong> Spaß. Dann verlangte er, ich sollemit mir selbst reden, denn dies sei <strong>der</strong> Augenblick, da ich den<strong>in</strong>neren Dialog verzweifelt nötig hätte. Ich hörte, wie er mirb e fa h l: »Rede, rede!« Ich spürte, wie die M uskeln me<strong>in</strong>erLippen sich unwillkürlich verkrampften. Me<strong>in</strong> Mundbewegte sich, ohne e<strong>in</strong>en Ton hervorzubr<strong>in</strong>gen. Ich er<strong>in</strong>nertemich daran, wie <strong>Don</strong> Genaro se<strong>in</strong>en M und ganz ähnlichbewegt hatte, als er se<strong>in</strong>e Spaße machte, und ich wünschtemir. ich könnte, wie er damals, sagen: M e<strong>in</strong> M und will nichtsprechen. Ich versuchte die W orte auszustoßen, und me<strong>in</strong>eLippen verzerrten sich schmerzhaft. <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> schien sich vorLachen ausschütten zu wollen. Se<strong>in</strong>e Lustigkeit war soansteckend, daß ich ebenfalls lachen mußte. Schließlich h alf ermir auf die Be<strong>in</strong>e. Ich fragte ihn, ob <strong>Don</strong> Genaro denn nichtzurückkäme. Er me<strong>in</strong>te. <strong>Don</strong> Genaro habe für heute genug vonmir.104»Be<strong>in</strong>ah hast du es geschafft«, sagte <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong>. Wir saßenneben <strong>der</strong> Feuerstelle. Er hatte darauf bestanden, daß ich etwasäße. Ich war we<strong>der</strong> hungrig noch müde. E<strong>in</strong>e ungewohnteTraurigkeit hatte mich befallen: alle Ereignisse dieses Tagesschienen mir so fern. <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> reichte mir me<strong>in</strong> Schreibzeug.Ich machte e<strong>in</strong>e gewaltige Anstrengung, um me<strong>in</strong>enNormalzustand wie<strong>der</strong>zugew<strong>in</strong>nen. Ich kritzelte e<strong>in</strong> paarSätze unseres Gesprächs h<strong>in</strong>. Nach und nach kehrte me<strong>in</strong>ealte Form wie<strong>der</strong>. Es war. als würde e<strong>in</strong> Schleier weggezogen:auf e<strong>in</strong>mal fand ich wie<strong>der</strong> zu me<strong>in</strong>er vertrauten Haltung vonInteresse und Staunen zurück. »Brav, brav«, sagte <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong>und streichelte mir den Kopf. »Ich sagte dir schon, daß diewahre Kunst des Kriegers dar<strong>in</strong> besteht. Erschrecken undErstaunen im Gleichgewicht zu halten.«<strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> war <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er merkwürdigen Stimmung. Be<strong>in</strong>ahekam er mir nervös und besorgt vor. Er schien bereit, von sichaus das Wort an mich zu richten. Ich glaubte, er habe vor.mich auf die Erklärung <strong>der</strong> Zauberer vorzubereiten, und ichwurde selbst ganz unruhig. Se<strong>in</strong>e Augen zeigten e<strong>in</strong> seltsamesGlitzern, das ich nur e<strong>in</strong>ige Male vorher bei ihm gesehenhatte. Nachdem ich ihm mitgeteilt hatte, was ich von se<strong>in</strong>emungewöhnlichen Benehmen hielt, me<strong>in</strong>te er, er freue sich f ü rmich, denn e<strong>in</strong> Krieger könne über die Triumphe se<strong>in</strong>erMitmenschen frohlocken, falls es Triumphe des Geistes seien.Unglücklicherweise, fügte er h<strong>in</strong>zu, sei ich noch nicht für dieErklärung <strong>der</strong> Zauberer bereit, und das trotz <strong>der</strong> Tatsache, daßich <strong>Don</strong> Genaros Rätsel erfolgreich gelöst hatte. Erbeanstandete, daß ich. als er me<strong>in</strong>en Körper mit Wasserbegossen hatte, be<strong>in</strong>ahe gestorben wäre: me<strong>in</strong>e ganze Leistungsei durch me<strong>in</strong>e Unfähigkeit. <strong>Don</strong> Genaros letzten Angriffabzuwehren, zunichte geworden. »Genaros <strong>Kraft</strong> war wie e<strong>in</strong>eFlut, die dich wegspülte«, sagte er.»Wollte <strong>Don</strong> Genaro mir denn Schaden zufügen?« fragte ich.»Ne<strong>in</strong>«, sagte er. »Genaro will dir helfen. Aber <strong>Kraft</strong> ist nurdurch <strong>Kraft</strong> aufzuwiegen. Er hat dich auf die Probe gestellt,und du hast versagt.« »Aber ich habe doch se<strong>in</strong> Rätsel gelöst,nicht wahr?«105


»Das hast du gut gemacht«, sagte er. »So gut, daß Genaroannehmen mußte, du seist imstande, die Tat e<strong>in</strong>es Kriegers zuvollbr<strong>in</strong>gen. Du hast es be<strong>in</strong>ahe geschafft. W as dich diesmalzurückwarf, war aber nicht de<strong>in</strong>e Neigung, dich gehenzulassen.«»W as war es denn?«»Du warst zu ungeduldig und heftig; statt dich zu entspannenund Genaro zu folgen, hast du angefangen, ihn zu bekämpfen.Gegen ihn kannst du nicht gew<strong>in</strong>nen; er ist stärker als du.«Dann gab <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> mir etliche Ratschläge und Empfehlungenfür me<strong>in</strong>e persönlichen Beziehungen mit an<strong>der</strong>enM enschen. Se<strong>in</strong>e Bemerkungen waren e<strong>in</strong> ernstes Nachspielzu dem, was <strong>Don</strong> Genaro mir zuvor im Scherz gesagt hatte.Er war <strong>in</strong> gesprächiger Stimmung, und ohne jede Überredungme<strong>in</strong>erseits f<strong>in</strong>g er an, mir zu erklären, was die beiden letztenM ale, als ich bei ihm gewesen, wirklich vorgegangen war.»W ie du weißt«, sagte er, »ist die Crux <strong>der</strong> Zauberei <strong>der</strong> <strong>in</strong>nereDialog. Dies ist <strong>der</strong> Schlüssel zu allem an<strong>der</strong>en. W enn e<strong>in</strong>Krieger ihn anzuhalten lernt, wird alles für ihn möglich, dieausgefallensten Vorsätze werden erreichbar. Das Tor zu allden seltsamen, unheimlichen Erfahrungen, die du <strong>in</strong> letzter Zeitgemacht hast, war die Tatsache, daß du aufhören konntest, mitdir selbst zu reden. In vollkommener Nüchternheit hast du denVerbündeten gesehen. Genaros Doppelgänger, den Träumerund Geträumten, und heute hättest du be<strong>in</strong>ahe die Ganzheitde<strong>in</strong>er selbst erfahren. Dies war' die Tat des Kriegers gewesen,die Genaro von dir erwartete. A ll dies war möglich wegen <strong>der</strong>Summe persönlicher <strong>Kraft</strong>, die du gespeichert hast. Es begann,als du das letzte M al hier warst und als ich e<strong>in</strong> sehrvielversprechendes Omen entdeckte. A ls du e<strong>in</strong>trafst, hörte ichden Verbündeten umherschleichen. Zuerst hörte ich se<strong>in</strong>e leisenSchritte, und dann sah ich den N achtfalter, wie er dichanschaute, als du aus dem Auto stiegst. <strong>Der</strong> Verbündeteverharrte reglos und beobachtete dich. Das war für mich dasbeste Omen. W äre <strong>der</strong> Verbündete unruhig gewesen, wäre erherumgelaufen, als sei ihm de<strong>in</strong>e Anwesenheit unangenehm,wie es bisher stets <strong>der</strong> Fall war. dann wäre106<strong>der</strong> Verlauf <strong>der</strong> Ereignisse e<strong>in</strong> an<strong>der</strong>er gewesen. Viele Malehabe ich den Verbündeten <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er dir unfreundlichen Verfassunggesehen, aber diesmal war es das richtige Omen, und ichwußte, daß <strong>der</strong> Verbündete e<strong>in</strong> Stück Wissen für dich bereithielt.Das war auch <strong>der</strong> Grund, warum ich dir sagte, du habeste<strong>in</strong>e Verabredung mit dem Wissen, e<strong>in</strong>e Verabredung mite<strong>in</strong>em Nachtfalter, die seit langem fällig war. Aus uns unerf<strong>in</strong>dlichenGründen wählte <strong>der</strong> Verbündete die Gestalt e<strong>in</strong>esNachtfalters, um sich dir zu offenbaren.« »Aber du sagtestdoch, <strong>der</strong> Verbündete sei gestaltlos, und man könne ihn nur anse<strong>in</strong>en Wirkungen erkennen«, sagte ich. »Das ist wahr«, sagteer. »Aber für außenstehende Betrachter, die mit dir <strong>in</strong>Verb<strong>in</strong>dung stehen - für Genaro und mich -, ist <strong>der</strong> Verbündetee<strong>in</strong> Nachtfalter. Für dich ist er nur e<strong>in</strong> Effekt, e<strong>in</strong>e Empf<strong>in</strong>dung<strong>in</strong> de<strong>in</strong>em Körper o<strong>der</strong> e<strong>in</strong> Geräusch o<strong>der</strong> die goldenen Fleckendes Wissens. Tatsache ist aber, daß <strong>der</strong> Verbündete, <strong>in</strong>dem erdie Gestalt e<strong>in</strong>es Nachtfalters annimmt, Genaro und mir etwassehr Wichtiges mitteilt. Nachtfalter s<strong>in</strong>d Boten des Wissensund Freunde und Helfer <strong>der</strong> Zauberer. Gerade weil es demVerbündeten gefallen hat, <strong>in</strong> de<strong>in</strong>er Gegenwart e<strong>in</strong>Nachtfalter zu se<strong>in</strong>, nimmt Genaro es bei dir so genau.Jene Nacht, als du, wie ich vorhergesehen hatte, dem Nachtfalterbegegnet bist, da war es für dich e<strong>in</strong>e echte Verabredungmit dem Wissen. Du lerntest den Ruf des Nachtfalters kennen,spürtest den Goldstaub se<strong>in</strong>er Flügel, aber vor allem warst dudir <strong>in</strong> dieser Nacht zum erstenmal bewußt, daß du sahst, undde<strong>in</strong> Körper erfuhr, daß wir leuchtende Wesen s<strong>in</strong>d. Bisherhast du dir noch ke<strong>in</strong>en rechten Begriff von diesem folgenschwerenEreignis <strong>in</strong> de<strong>in</strong>em Leben gemacht. Genaro bewiesdir mit ungeheurer E<strong>in</strong>dr<strong>in</strong>glichkeit und Klarheit, daß wir e<strong>in</strong>Gefühl s<strong>in</strong>d und daß das. was wir unseren Körper nennen, e<strong>in</strong>Bündel leuchten<strong>der</strong> Fasern ist, die Bewußtse<strong>in</strong> haben. Und alsdu gestern abend herkamst, standst du wie<strong>der</strong> unter <strong>der</strong>freundlichen Obhut des Verbündeten. Als du e<strong>in</strong>trafst, kam ichund schaute dich an, und da wußte ich, daß ich Genaro rufenmußte, damit er dir das Geheimnis vom Träumer und demGeträumten erkläre. Wie immer glaubtest du, ich spielte dire<strong>in</strong>en Streich. Aber Genaro war nicht im107


Gebüsch versteckt, wie du annehmen mochtest. Er kam eigensfür dich herbei, auch wenn de<strong>in</strong>e Vernunft sich weigert, es zuglauben.«Diesen Teil von <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong>s Erläuterungen konnte ich allerd<strong>in</strong>gsam wenigsten glauben. Ich konnte es e<strong>in</strong>fach nichtzugeben. Genaro, sagte ich, sei doch real und von dieser Weltgewesen.»Alles, was du bisher erlebt hast, war real und von dieserWelt«, sagte er. »Es gibt ke<strong>in</strong>e an<strong>der</strong>e Welt. De<strong>in</strong> Stolperste<strong>in</strong>ist de<strong>in</strong>e merkwürdige Halsstarrigkeit, und diese de<strong>in</strong>e Eigenheitwird sich nicht durch Erklärungen kurieren lassen. Daher hatGenaro heute de<strong>in</strong>en Körper direkt angesprochen. Untersuchstdu e<strong>in</strong>mal sorgfältig, was du heute getan hast, dann wirst duerkennen, daß de<strong>in</strong> Körper gewisse D<strong>in</strong>ge auf höchstlobenswerte Art zusammengesetzt hat. Irgendwie hast dudarauf verzichtet, dich <strong>in</strong> de<strong>in</strong>en Visionen am Wassergrabengehenzulassen. Du hast e<strong>in</strong>e ungewöhnliche Beherrschtheitund Distanziertheit bewahrt, wie sie e<strong>in</strong>em Krieger ansteht.Du hast nichts geglaubt, aber du hast dennoch rasch gehandelt,und dadurch warst du fähig, Genaros Ruf zu folgen. Du hastihn tatsächlich ohne me<strong>in</strong>e Hilfe gefunden. Als wir bei jenemFelsvorsprung ankamen, warst du von <strong>Kraft</strong> erfüllt, und du sahstGenaro dort stehen, wo schon an<strong>der</strong>e Zauberer aus ähnlichenGründen gestanden s<strong>in</strong>d. Nachdem er von dem Vorsprungherabgesprungen war, g<strong>in</strong>g er auf dich zu. Er selbst war durchund durch <strong>Kraft</strong>. Hättest du dich verhalten, wie du es vorheram Wassergraben getan hast, dann hättest du ihn als das gesehen,was er wirklich ist. e<strong>in</strong> leuchtendes Wesen. Statt dessenbekamst du es mit <strong>der</strong> Angst, als Genaro dir spr<strong>in</strong>gen half.Dieser Sprung an sich hätte ausreichen müssen, um dich überde<strong>in</strong>e Grenzen h<strong>in</strong>auszutragen. Aber du warst nicht stark genug,du fielst <strong>in</strong> die Welt de<strong>in</strong>er Vernunft zurück. Dann gerietst dunatürlich <strong>in</strong> e<strong>in</strong>en Kampf auf Leben und Tod mit dir selbst.Etwas <strong>in</strong> dir, de<strong>in</strong> Wille. wollte mit Genaro gehen, währendde<strong>in</strong>e Vernunft sich ihm wi<strong>der</strong>setzte. Hätte ich dir nichtgeholfen, dann lägst du jetzt an diesem Platz <strong>der</strong> <strong>Kraft</strong> tot undbegraben. Aber sogar mit me<strong>in</strong>er Hilfe war das Ergebnis e<strong>in</strong>enAugenblick zweifelhaft.« M<strong>in</strong>utenlang schwiegen wir. Ichwollte, daß er weiterspräche.Schließlich fragte ich: »Hat <strong>Don</strong> Genaro mich auf den Felsvorsprungh<strong>in</strong>aufspr<strong>in</strong>gen lassen?«»Betrachte diesen Sprung nicht als dasselbe, was du normalerweiseunter e<strong>in</strong>em Sprung verstehst«, sagt er. »Dies ist wie<strong>der</strong>umnur e<strong>in</strong>e bildliche Redeweise. Solange du glaubst, duseist e<strong>in</strong> fester Körper, wirst du nicht begreifen, wovon ichspreche.«Dann streute er neben <strong>der</strong> Laterne etwas Asche auf den Boden,auf e<strong>in</strong>e Fläche von etwa fünfzig mal fünfzig Zentimeter, undzeichnete mit dem F<strong>in</strong>ger e<strong>in</strong> Diagramm - e<strong>in</strong> Diagramm, dasacht mite<strong>in</strong>an<strong>der</strong> durch L<strong>in</strong>ien verbundene Punkte aufwies. Eswar e<strong>in</strong>e geometrische Figur. Schon vor Jahren hatte er e<strong>in</strong>male<strong>in</strong> ähnliches gezeichnet, als er mir zu erklären versuchte, daßes ke<strong>in</strong>e Illusion gewesen sei, als ich das gleiche Blattviermal vom gleichen Baum herabfallen sah.Das <strong>in</strong> die Asche gezeichnete Diagramm hatte zwei Epizentren;das e<strong>in</strong>e nannte er »Vernunft«, das an<strong>der</strong>e »Wille«.»Vernunft« war direkt mit e<strong>in</strong>em Punkt verbunden, den er»Sprechen« nannte; durch »Sprechen« war »Vernunft« <strong>in</strong>direktmit drei an<strong>der</strong>en Punkten verbunden, nämlich »Fühlen«.»Träumen« und »Sehen«. Das an<strong>der</strong>e Epizentrum, »Wille«,war direkt mit »Fühlen«, »Träumen« und »Sehen« verbunden;aber auch <strong>in</strong>direkt mit »Vernunft« und »Sprechen«. Ich wandtee<strong>in</strong>, daß das Diagramm sich von demjenigen unterschied, daser vor Jahren aufgezeichnet hatte. »Die äußere Form istbedeutungslos«, sagte er. »Diese Punkte stellen e<strong>in</strong>en Menschendar und können gezeichnet werden. wie es e<strong>in</strong>em beliebt.«»Stellen sie den Körper e<strong>in</strong>es Menschen dar'?« fragte ich.»Nenne es nicht den Körper«, sagte er. »Dies s<strong>in</strong>d achtPunkte auf den Fasern e<strong>in</strong>es leuchtenden Wesens. <strong>Der</strong> Zauberersagt nun, daß e<strong>in</strong> Mensch, wie du aus dem Diagramm ersiehst,vor allem Wille ist, denn Wille ist direkt mit den drei PunktenFühlen, Träumen und Sehen verbunden; sodann ist <strong>der</strong> MenschVernunft. Die ist, genaugenommen, e<strong>in</strong> kle<strong>in</strong>eres Zentrum alsWille; es ist nur mit Sprechen verbunden.« »Was s<strong>in</strong>d die zweian<strong>der</strong>en Punkte, <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong>?« Er sah mich an und lächelte.108 109liili 1


»Heute bist du viel stärker als damals, als wir zum erstenmalüber dieses Diagramm sprachen«, sagte er. »Aber du bist nochnicht stark genug, um alle acht Punkte zu kennen. E<strong>in</strong>es Tageswird Genaro dir die beiden an<strong>der</strong>en zeigen.« »Hat je<strong>der</strong>Mensch diese acht Punkte o<strong>der</strong> nur die Zauberer?«»Man kann wohl sagen, daß je<strong>der</strong> acht Punkte mit auf die Weltbr<strong>in</strong>gt. Zwei von ihnen, Vernunft und Sprechen, kennt e<strong>in</strong>je<strong>der</strong>. Fühlen ist immer unbestimmt, aber irgendwie bekannt.Doch nur <strong>in</strong> <strong>der</strong> Welt <strong>der</strong> Zauberer wird man mit Träumen,Sehen und Wille gänzlich vertraut. Und schließlich f<strong>in</strong>det manam äußersten Rand dieser Welt die an<strong>der</strong>en zwei. Diese achtPunkte bilden die Ganzheit des Selbst.« Er zeigte mir auf demDiagramm, daß im Grunde alle Punkte <strong>in</strong>direkt mite<strong>in</strong>an<strong>der</strong>verbunden werden könnten. Ich fragte ihn nach den beidenübrigen geheimnisvollen Punkten. Er zeigte mir, daß sie nurmit »Wille« verbunden waren, daß sie von »Fühlen«,»Träumen« und »Sehen« entfernt lagen und noch viel fernervon »Sprechen« und »Vernunft«. Er zeigte mit dem F<strong>in</strong>gerdarauf, um mir zu zeigen, daß sie von den an<strong>der</strong>en und auchvone<strong>in</strong>an<strong>der</strong> getrennt waren. »Diese zwei Punkte werden sichniemals dem Sprechen o<strong>der</strong> <strong>der</strong> Vernunft unterordnen«, sagteer. »Nur <strong>der</strong> Wille kann sie bee<strong>in</strong>flussen. Vernunft ist so weitvon ihnen entfernt, daß es völlig nutzlos ist, sie vernünftigergründen zu wollen. Dies ist e<strong>in</strong>es <strong>der</strong> am schwerstenverstehbaren D<strong>in</strong>ge. Immerh<strong>in</strong> ist es das Privileg <strong>der</strong> Vernunft,daß sie alles vernünftelnd ergründen will.«Ich fragte ihn. ob die acht Punkte gewissen Körperregioneno<strong>der</strong> Organen des Menschen entsprächen. »Allerd<strong>in</strong>gs«,erwi<strong>der</strong>te er und verwischte das Diagramm. Er berührte me<strong>in</strong>enKopf und sagte, dies sei das Zentrum von »Vernunft« und»Sprechen«. Die Spitze me<strong>in</strong>es Brustbe<strong>in</strong>s sei das Zentrum von»Fühlen«. Die Region unterhalb des Nabels sei »Wille«.»Träumen« sei auf <strong>der</strong> rechten Seite des Brustkorbs. »Sehen«auf <strong>der</strong> l<strong>in</strong>ken. Manchmal, bei gewissen Kriegern, sagte er, seien»Sehen« und »Träumen« beide auf <strong>der</strong> rechten Seite. »Wo s<strong>in</strong>ddie zwei an<strong>der</strong>en Punkte?« fragte ich.Er antwortete mit e<strong>in</strong>er <strong>der</strong>ben Obszönität und lachte schallend.»Du bist aber listig«, sagte er. »Du glaubst wohl, ich b<strong>in</strong> e<strong>in</strong>verschlafenes altes Schaf, nicht wahr?«Ich erklärte ihm. daß me<strong>in</strong>e Fragen ihre eigene Richtungentwickelten.»Du brauchst dich nicht zu beeilen«, sagte er. »Du wirst esrechtzeitig erfahren, und dann wirst du alle<strong>in</strong> se<strong>in</strong>, ganz aufdich gestellt.«»Du me<strong>in</strong>st, ich werde dich dann nicht Wie<strong>der</strong>sehen. <strong>Don</strong><strong>Juan</strong>?«»Niemals w ie<strong>der</strong>«, sagte er. »Genaro und ich werden dann se<strong>in</strong>,was wir immer gewesen s<strong>in</strong>d, Staub auf dem Weg.« Ich spürtee<strong>in</strong>en Schock <strong>in</strong> <strong>der</strong> Magengrube. »Was sagst du da. <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> 11 «»Ich sage, daß wir alle unergründliche Wesen s<strong>in</strong>d, leuchtendund grenzenlos. Du. Genaro und ich s<strong>in</strong>d durch e<strong>in</strong>e Absichtvere<strong>in</strong>t, die außerhalb unserer Entscheidung liegt.« »Vonwelcher Absicht sprichst d u 9 «»D ie Lebensart des Kriegers zu le rn e n . D u kom m st nicht m ehrdavon los. aber auch wir beide nicht. Solange unsere Vollendungnoch aussteht, wirst du mich o<strong>der</strong> Genaro immer wie<strong>der</strong>f<strong>in</strong>den,aber sobald sie vollbracht ist. wirst du frei fliegen, und niemandweiß, woh<strong>in</strong> die <strong>Kraft</strong> de<strong>in</strong>es Lebens dich führen wird.«»Welche Rolle spielt Genaro dabei?«»Dieses Thema ist dir je tz t noch nicht zu gän glich «, sagte er.»Heute habe ich nur die Aufgabe, den Nagel e<strong>in</strong>zutreiben, denGenaro abgesteckt hat - nämlich die Tatsache, daß w irleuchtende Wesen s<strong>in</strong>d. Wir s<strong>in</strong>d Wahrnehmung. Wir s<strong>in</strong>dBewußtse<strong>in</strong>. Wir s<strong>in</strong>d ke<strong>in</strong>e Objekte, wir haben ke<strong>in</strong> e festeKonsistenz, wir s<strong>in</strong> d grenzenlos. D ie W elt <strong>der</strong> f e s t e n O b j e k t eist e<strong>in</strong> M ittel, unsere W an<strong>der</strong>schaft auf Erden angenehm zumachen. Sie ist nur e<strong>in</strong>e Beschreibung, geschaffen, um uns zuh e lfe n . W ir - o<strong>der</strong> besser: unsere Vernunft- vergessen gern,daß die Beschreibung nur e<strong>in</strong>e Beschreibung ist. und soschließen wir die Ganzheit unseres Selbst <strong>in</strong> e<strong>in</strong>en Teufelskreise<strong>in</strong>. dem wir, solange wir leben, kaum entr<strong>in</strong>nen können.110 11


Im Augenblick bist du zum Beispiel dabei, dich aus dem Chaosanzusam m eln, dam it du die G anzheit de<strong>in</strong>er selbst erreichst.<strong>der</strong> Vernunft zu befreien. Es ersche<strong>in</strong>t dir grotesk undV ielleicht schon das nächste M al, wenn du kommst, wirst duundenkbar, daß Genaro e<strong>in</strong>fach am Rand des Chaparral erschienenist, und doch kannst du nicht leugnen, daß du es miteigenen Augen gesehen hast. So und nicht an<strong>der</strong>s hast du eswahrgenommen.«<strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> lachte leise. Sorgfältig zeichnete er e<strong>in</strong> an<strong>der</strong>esDiagramm <strong>in</strong> die Asche und bedeckte es mit se<strong>in</strong>em Hut, bevorich es kopieren konnte.»Wir s<strong>in</strong>d wahrnehmende Wesen«, fuhr er fort. »Die Welt, diewir wahrnehmen, ist jedoch e<strong>in</strong>e Illusion. Sie ist entstandengenug davon haben. Jedenfalls, warte bis du fühlst, wie du esheute am W assergraben gefühlt hast, daß e<strong>in</strong>e <strong>in</strong>nere Stimme esdir befiehlt. K om m st du <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em an<strong>der</strong>en G eist, dann wird ese<strong>in</strong>e Zeitverschwendung und zudem gefährlich für dich se<strong>in</strong>.«Falls ich auf diese <strong>in</strong>nere Stim m e warten sollte, wandte ich e<strong>in</strong>,würde ich die beiden nie W ie<strong>der</strong>sehen.»Du wirst dich wun<strong>der</strong>n, was man alles kann, wenn man mitdem Rücken zur W and steht«, sagte er. Er stand auf und griffnach e<strong>in</strong>em Bündel Feuerholz. Er legte e<strong>in</strong> paar trockenedurch e<strong>in</strong>e Beschreibung, die man uns seit dem AugenblickScheiter auf das Herdfeuer. Die Flammen warfen e<strong>in</strong>enunserer Geburt erzählt hat.Wir s<strong>in</strong>d leuchtende Wesen, s<strong>in</strong>d mit zwei <strong>R<strong>in</strong>g</strong>en <strong>der</strong> <strong>Kraft</strong>geboren, aber wir benutzen nur e<strong>in</strong>en davon, um die Welt zuerschaffen. Dieser <strong>R<strong>in</strong>g</strong>, <strong>der</strong> sich schließt, bald nachdem wirgeboren s<strong>in</strong>d, ist die Vernunft - und ihr Begleiter das Sprechen.Geme<strong>in</strong>sam hecken die beiden die Welt aus und halten sie <strong>in</strong>Schwung.Die Welt, die de<strong>in</strong>e Vernunft erhalten möchte, ist also imGrunde e<strong>in</strong>e Welt, geschaffen durch e<strong>in</strong>e Beschreibung undihre dogmatischen, unumstößlichen Regeln, welche die Vernunftzu akzeptieren und zu verteidigen lernt. Das Geheimnis<strong>der</strong> leuchtenden Wesen ist, daß sie noch e<strong>in</strong>en weiteren <strong>R<strong>in</strong>g</strong> <strong>der</strong>gelblichen Schimmer auf den Boden. Dann löschte er dieLampe und hockte sich vor se<strong>in</strong>en Hut, <strong>der</strong> die <strong>in</strong> die Aschegezeichnete Skizze bedeckte. Er befahl mir. ruhig sitzen zubleiben, me<strong>in</strong>en <strong>in</strong>neren Dialog abzustellen und unverwandtse<strong>in</strong>en Hut anzuschauen. Ich gab mir e<strong>in</strong>e W eile M ühe, unddann hatte ich das Gefühl zu schweben, von e<strong>in</strong>er Klippe zustürzen. Es war. wie wenn mich nichts mehr stützte, ich nichtmehr auf festem Boden säße, ke<strong>in</strong>en Körper mehr hätte.<strong>Don</strong> Ju an hob den Hut auf. Darunter wurde e<strong>in</strong>e <strong>in</strong> die Aschee<strong>in</strong>gezeichnete Spirale sichtbar. Ich betrachtete sie. ohne miretwas zu denken. Dann spürte ich, daß die Spirale sich bewegte.Ich spürte sie förmlich <strong>in</strong> me<strong>in</strong>em Bauch. Die Asche schien sich<strong>Kraft</strong> haben, <strong>der</strong> gewöhnlich nie benutzt wird, den Willen. <strong>Der</strong>aufzuhäufen. Dann kreiselte sie und stob empor, undTrick <strong>der</strong> Zauberer ist <strong>der</strong> gleiche Trick, wie ihn die normalenMenschen anwenden. Beide haben sie e<strong>in</strong>e Beschreibung. <strong>Der</strong>e<strong>in</strong>e, <strong>der</strong> normale Mensch, erhält sie mit Hilfe se<strong>in</strong>er Vernunftaufrecht, <strong>der</strong> an<strong>der</strong>e, <strong>der</strong> Zauberer, erhält sie mit se<strong>in</strong>em Willenaufrecht. Beide Beschreibungen haben ihre Regeln, und dieRegeln s<strong>in</strong>d wahrnehmbar, doch <strong>der</strong> Vorteil des Zauberers liegtdar<strong>in</strong>, daß <strong>der</strong> Wille umfassen<strong>der</strong> ist als die Vernunft.Was ich dir jetzt vorschlagen möchte, ist, daß du von nun ande<strong>in</strong>e Wahrnehmung entscheiden lassen sollst, ob die Beschreibung<strong>der</strong> Welt durch de<strong>in</strong>e Vernunft o<strong>der</strong> durch de<strong>in</strong>enWillen aufrechterhalten wird. Ich glaube, dies ist de<strong>in</strong>e e<strong>in</strong>zigeplötzlich saß <strong>Don</strong> Genaro vor m ir. Dieser Anblick zwang michaugenblicklich, me<strong>in</strong>en <strong>in</strong>neren Dialog wie<strong>der</strong>aufzunehmen.Ich m e<strong>in</strong>te, ich müsse wohl e<strong>in</strong>geschlafen se<strong>in</strong>. Ich f<strong>in</strong>g an.kurz und keuchend zu atmen, und versuchte die Augen zuöffnen, aber me<strong>in</strong>e Augen waren bereits offen. Ich hörte, wie<strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> zu mir sagte, ich solle aufstehen und mich bewegen.Ich sprang auf und lief auf die Veranda. <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> und <strong>Don</strong>Genaro rannten h<strong>in</strong>ter mir her. <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> brachte se<strong>in</strong>e Laternemit. Ich war ganz außer Atem. Ich versuchte mich zuberuhigen, wie ich es schon vorher getan hatte, <strong>in</strong>dem ich, nachW esten schauend, auf <strong>der</strong> Stelle trabte.Möglichkeit, de<strong>in</strong>e alltägliche Welt als Herausfor<strong>der</strong>ung undals Vehikel zu nutzen, um genügend persönliche <strong>Kraft</strong>112 113


Ich hob die Arme und atmete tief. <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> trat neben michund sagte, diese Bewegung sei nur <strong>in</strong> <strong>der</strong> Dämmerung auszuführen.<strong>Don</strong> Genaro schrie, für mich sei wohl gerade »Dämmerung«,und die beiden lachten herzlich. <strong>Don</strong> Genaro lief bis zumSaum des Chaparral und hüpfte wie<strong>der</strong> zur Veranda zurück, alsob er an e<strong>in</strong>em langen Gummiband h<strong>in</strong>ge, das ihn zurückschnellenließ. Diese Bewegungen wie<strong>der</strong>holte er drei- o<strong>der</strong>viermal, dann kam er zu mir. <strong>Der</strong>weil hatte <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> michunverwandt angeschaut, lachend wie e<strong>in</strong> K<strong>in</strong>d. Sie wechseltene<strong>in</strong>en verstohlenen Blick. Mit lauter Stimme sagte <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong>zu <strong>Don</strong> Genaro, me<strong>in</strong>e Vernunft sei e<strong>in</strong>e gefährliche Sache undkönne mich töten, falls sie nicht beschwichtigt werde.»Um Himmels willen!« schrie <strong>Don</strong> Genaro mit dröhnen<strong>der</strong>Stimme. »Beschwichtige e<strong>in</strong>er se<strong>in</strong>e Vernunft!« Sie hüpften aufund ab und lachten wie die K<strong>in</strong><strong>der</strong>. <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> veranlaßte mich,unter <strong>der</strong> Laterne nie<strong>der</strong>zusitzen. und reichte mir me<strong>in</strong>Notizbuch.»Heute abend spielen wir dir wirklich übel mit«, sagte erversöhnlich. »Hab ke<strong>in</strong>e Angst. Genaro war unter me<strong>in</strong>em Hutversteckt.«2.TeilDas Tonal und Nagual


Man muß glaubenIch wan<strong>der</strong>te den Paseo de la Reforma h<strong>in</strong>ab stadte<strong>in</strong>wärts. Ichwar müde; zweifellos war die Höhenluft von Mexico Cityschuld daran. Ich hätte auch den Bus o<strong>der</strong> e<strong>in</strong> Taxi nehmenkönnen, aber irgendwie wollte ich, trotz me<strong>in</strong>er Erschöpfung, zuFuß gehen. Es war am Sonntagnachmittag. <strong>Der</strong> Verkehr warger<strong>in</strong>g, und doch verwandelten die Auspuffgase <strong>der</strong> Busse undLastwagen mit ihren Dieselmotoren die engen Straßen <strong>der</strong>Innenstadt <strong>in</strong> Schluchten voller Smog. Ich kam am Zocalovorbei und stellte fest, daß die Kathedrale von Mexico Citydiesmal noch schiefer stand als beim letzten Mal, als ich sie sah.Ich schlen<strong>der</strong>te e<strong>in</strong> paar Schritte durch die riesigen Gewölbe.E<strong>in</strong> zynischer Gedanke kam mir <strong>in</strong> den S<strong>in</strong>n.Von dort machte ich mich zum Lagunilla-Markt auf. Ich hatteeigentlich ke<strong>in</strong>e bestimmte Absicht. Ziellos, aber mit schnellemTempo lief ich drauflos, ohne mir etwas Beson<strong>der</strong>esanzusehen. Schließlich landete ich bei den Ständen mit altenMünzen und antiquarischen Büchern.»Hallo, hallo! Sieh mal an, wer da ist!« sagte jemand undklopfte mir leicht auf die Schulter.Diese Stimme und die Berührung ließen mich auffahren. Raschdrehte ich mich nach rechts. Vor Überraschung blieb mir <strong>der</strong>Mund offenstehen. Wer mich da angesprochen hatte -war <strong>Don</strong><strong>Juan</strong>.»Me<strong>in</strong> Gott, <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong>!« rief ich, und e<strong>in</strong> Schau<strong>der</strong> lief mirüber den Körper, vom Scheitel bis zur Sohle. »Was machst dudenn hier?«»Was machst du denn hier?« echote er. Ich sagte ihm, ich seiauf e<strong>in</strong> paar Tage <strong>in</strong> <strong>der</strong> Stadt geblieben, bevor ich <strong>in</strong> die Bergevon Zentralmexiko aufbrechen wollte, um ihn aufzusuchen.»Na schön«, sagte er lächelnd, »dann b<strong>in</strong> ich eben von denBergen heruntergekommen, um dich aufzusuchen.« Er klopftemir ständig auf die Schulter. Offenbar freute er sich, mich zusehen. Er stemmte die Fäuste <strong>in</strong> die Hüften,117


lähte die Brust vor und fragte mich, was ich zu se<strong>in</strong>emAussehen sagte. Jetzt erst fiel mir auf. daß er e<strong>in</strong>en Anzugtrug. Diese Unstimmigkeit machte mich ganz betroffen. Ichwar verblüfft.»W ie gefällt dir m e<strong>in</strong> tacuche'l«. fragte er strahlend. Ergebrauchte das Dialektwort »tacuche« statt des hochspanischen»traje« für Anzug.»Heute habe ich e<strong>in</strong>en Anzug an«, sagte er, als ob dies noche<strong>in</strong>er Erläuterung bedurfte. Dann deutete er auf me<strong>in</strong>en Mundund me<strong>in</strong>te: »M ach ihn zu, mach ihn zu!« Ich lachte zerstreut.Er bemerkte me<strong>in</strong>e Verwirrung und schüttelte sich vorLachen, während er sich e<strong>in</strong>mal im Kreis drehte, damit ich ihnvon allen Seiten bewun<strong>der</strong>n konnte. Se<strong>in</strong> Aufzug warunglaublich. Er trug e<strong>in</strong>en hellbraunen Nadel-Streifen-Anzug,braune Schuhe, e<strong>in</strong> weißes Hemd. Und e<strong>in</strong>e Krawatte! Unddies brachte mich auf die Frage, ob er überhaupt Sockenanhatte o<strong>der</strong> ob se<strong>in</strong>e Füße am Ende barfuß <strong>in</strong> den Schuhensteckten.M e<strong>in</strong>e Verwirrung wurde noch durch den seltsamen E<strong>in</strong>druckgesteigert, daß ich nämlich, als <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> mich auf die Schulterklopfte und ich m ich um drehte, gem e<strong>in</strong>t hatte, ih n <strong>in</strong> se<strong>in</strong>enKhakihosen, se<strong>in</strong>em Khakihemd, se<strong>in</strong>en Sandalen und se<strong>in</strong>emStrohhut zu sehen und daß dann erst, als er mich auf se<strong>in</strong>eKleidung aufmerksam gemacht und ich sie überhaupt erst <strong>in</strong>allen E<strong>in</strong>zelheiten wahrgenommen hatte, die Gesamtheit se<strong>in</strong>erErsche<strong>in</strong>ung zu e<strong>in</strong>em festen Bild gerann, so als hätte ich sieerst durch me<strong>in</strong>e Gedanken geschaffen. M e<strong>in</strong> M und waransche<strong>in</strong>end <strong>der</strong> am stärksten von me<strong>in</strong>er Überraschung betroffeneKörperteil. Er öffnete sich unw illkürlich. <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong>faßte mich sanft am K<strong>in</strong>n, als ob er mir helfen wollte, denM und zu schließen.»Du kriegst bestimmt noch e<strong>in</strong> Doppelk<strong>in</strong>n«, sagte er undlachte rhythm isch.Jetzt bem erkte ich auch, daß er ke<strong>in</strong>en H ut trug und daß se<strong>in</strong>kurzes weißes Haar auf <strong>der</strong> rechten Seite gescheitelt war. Ersah aus wie e<strong>in</strong> mexikanischer alter Herr, e<strong>in</strong> makellos gekleideterStädter.Ihn hier anzutreffen, sagte ich ihm, br<strong>in</strong>ge mich so durche<strong>in</strong>an<strong>der</strong>,daß ich mich erst mal h<strong>in</strong>setzen müsse. Er schien zu118verstehen und schlug vor, wir sollten <strong>in</strong> e<strong>in</strong>en nahegelegenenPark gehen.Schweigend g<strong>in</strong>gen wir e<strong>in</strong> paar Straßen w eit, dann erreichtenwir die Plaza Garribaldi, e<strong>in</strong>en Platz, wo M usiker ihre Diensteanboten, e<strong>in</strong>e Art Arbeitsamt f ü r M usikanten. <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> undich tauchten <strong>in</strong> die M enge <strong>der</strong> Zuschauer und Touristen e<strong>in</strong>und wan<strong>der</strong>ten durch den Park. Nach e<strong>in</strong>er W eile blieb erstehen, lehnte sich an e<strong>in</strong>e M auer und zog die Hosen bis zu denKnien hoch: er trug hellbraune Socken. Ich bat ihn. mir dieBedeutung se<strong>in</strong>es wun<strong>der</strong>lichen Aufzugs zu erklären. Se<strong>in</strong>ere ic h lic h unbestim m te Antwort war, er m üsse heute eben e <strong>in</strong> e nAnzug tragen, aus Gründen, die mir später klarwerden würden.Daß ich <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Anzug begegnet war. w a r mir sounheimlich, daß ich me<strong>in</strong>e Erregung kaum beherrschen konnte.Zwar hatte ich ih n monatelang nicht gesehen und wünschtem ir m ehr als alles an<strong>der</strong>e auf <strong>der</strong> W elt, m it ihm zu sprechen,aber irgendwie war dies nicht die richtige Situation, und me<strong>in</strong>eAufmerksamkeit wan<strong>der</strong>te hierh<strong>in</strong> und dorth<strong>in</strong>. Offenbar hatte<strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> me<strong>in</strong>e Verlegenheit bemerkt, denn er schlug vor, wirsollten nach La Alameda gehen, e<strong>in</strong>em e<strong>in</strong> paar Straßenzeilenentfernten, ruhigeren Park. Hier waren nur wenige M enschen,und wir fanden ohne M ühe e<strong>in</strong>e leere Bank. W ir setzten uns.M e<strong>in</strong>e Nervosität war e<strong>in</strong>em unbehaglichen Gefühl gewichen.Ich wagte es nicht, <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> anzusehen.Nun entstand e<strong>in</strong>e lange, entnervende Pause; immer nochohne <strong>in</strong> anzuschauen, sagte ich. daß die <strong>in</strong>nere Stimme michschließlich getrieben habe, ih n aufzusuchen, daß die erschütterndenEreignisse, die ich <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em <strong>Haus</strong> erlebt hatte, me<strong>in</strong>Leben tiefgreifend verän<strong>der</strong>t hätten und daß ich ganz e<strong>in</strong>fachdarüber sprechen müsse.Er machte e<strong>in</strong>e ungeduldige Handbewegung und me<strong>in</strong>te, essei se<strong>in</strong> Grundsatz, sich niemals mit Vergangenem aufzuhalten.»W orauf es jetzt e<strong>in</strong>zig ankommt, ist, daß du dich an me<strong>in</strong>enVorschlag gehalten hast«, sagte er. »Du hast de<strong>in</strong>e alltäglicheW elt als Herausfor<strong>der</strong>ung angenommen, und <strong>der</strong> Beweis, daßdu genügend persönliche <strong>Kraft</strong> gespeichert hast, ist die unbe-119


streitbare Tatsache, daß du mich ganz mühelos gefunden hast,genau an <strong>der</strong> Stelle, wo du es solltest.« »DiesenZusammenhang möchte ich doch sehr bezweifeln«, sagte ich.»Ich habe auf dich gewartet, und jetzt bist du da«, sagte er.»Das ist alles, was ich weiß. Das ist alles, was e<strong>in</strong> Krieger zuwissen braucht.»Und was geschieht jetzt, da ich dich gefunden habe?« fragteich.»E<strong>in</strong>es zum<strong>in</strong>dest«, sagte er. »Wir werden nicht die Problemede<strong>in</strong>er Vernunft diskutieren; diese Erfahrungen gehören zue<strong>in</strong>er an<strong>der</strong>en Zeit und zu e<strong>in</strong>er an<strong>der</strong>en Stimmung. Genaugenommens<strong>in</strong>d sie nur Stufen auf e<strong>in</strong>er endlosen Leiter. Sichmit ihnen aufzuhalten, würde heißen, die Bedeutung dessen zuschmälern, was hier und jetzt geschieht. Und das kann e<strong>in</strong>Krieger sich nicht leisten.«Ich spürte e<strong>in</strong>en unwi<strong>der</strong>stehlichen Drang, mich zu beklagen.Nicht daß ich irgend etwas bereut hätte, das mir wi<strong>der</strong>fahrenwar, aber ich sehnte mich nach Trost und Mitleid. <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong>schien me<strong>in</strong>e Stimmung zu erkennen, und er sprach jetzt so, alshätte ich tatsächlich me<strong>in</strong>e Gedanken geäußert. »Nur alsKrieger kann man den Weg des Wissens ertragen«, sagte er.»E<strong>in</strong> Krieger darf nichts bereuen und sich über nichts beklagen.Se<strong>in</strong> Leben ist e<strong>in</strong>e immerwährende Herausfor<strong>der</strong>ung, undHerausfor<strong>der</strong>ungen s<strong>in</strong>d niemals gut o<strong>der</strong> schlecht.Herausfor<strong>der</strong>ungen s<strong>in</strong>d e<strong>in</strong>fach Herausfor<strong>der</strong>ungen.« Ersprach mit knappen, ernsten Worten, aber se<strong>in</strong> Lächeln warherzlich und entwaffnend.»Jetzt, wo du hier bist, wollen wir auf e<strong>in</strong> Omen warten«, sagteer.»Was für e<strong>in</strong> Omen??« fragte ich.»Wir müssen herausf<strong>in</strong>den, ob de<strong>in</strong>e <strong>Kraft</strong> alle<strong>in</strong> für sichbestehen kann«, sagte er. »Beim letzten Mal hat sie ja kläglichversagt. Diesmal sche<strong>in</strong>en die Umstände de<strong>in</strong>es persönlichenLebens dir - zum<strong>in</strong>dest oberflächlich betrachtet - alles zugeben, was du brauchst, um die Erklärung <strong>der</strong> Zaubererauszuhalten.«»Ist es denn nicht möglich, daß du mir etwas darüber erzählst?«fragte ich.»Das hängt von de<strong>in</strong>er persönlichen <strong>Kraft</strong> ab«, sagte er. »Wiestets beim Tun und Nichttun von Kriegern <strong>der</strong> Fall, ist diepersönliche <strong>Kraft</strong> das e<strong>in</strong>zige, worauf es ankommt. Bislang,me<strong>in</strong>e ich, machst du es ganz gut.«Er ließ e<strong>in</strong>e kurze Pause entstehen, wie um das Thema zuwechseln, dann stand er auf und deutete auf se<strong>in</strong>en Anzug.»Ich habe me<strong>in</strong>en Anzug für dich angelegt«, sagte er geheimnisvoll.»Dieser Anzug ist me<strong>in</strong>e Herausfor<strong>der</strong>ung. Schau nur,wie gut ich dar<strong>in</strong> aussehe! Wie gut er sitzt! Na? Da fehltnichts!«Tatsächlich stand <strong>der</strong> Anzug <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> außerordentlich gut.<strong>Der</strong> e<strong>in</strong>zige Vergleich, <strong>der</strong> mir e<strong>in</strong>fiel, war die Art, wie me<strong>in</strong>Großvater <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em schweren englischen Flanell-Anzug auszusehenpflegte. Er machte mir stets den E<strong>in</strong>druck, als fühle ersich <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Anzug unnatürlich, fremd. <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> dagegenwa r so unbefangen.»Glaubst du. es fällt mir leicht, <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Anzug natürlich zuwirken'?« fragte <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong>.Ich wußte nicht, was ich sagen sollte. Nach se<strong>in</strong>em Aussehenund Auftreten zu urteilen, so dachte ich bei mir, war es für ihnwohl das Leichteste von <strong>der</strong> Welt.»E<strong>in</strong>en Anzug zu tragen ist e<strong>in</strong>e Herausfor<strong>der</strong>ung für mich«,sagte er. »E<strong>in</strong>e Herausfor<strong>der</strong>ung, so schwierig, wie es für dichwäre. Sandalen und e<strong>in</strong>en Poncho zu tragen. Doch du hast esnie nötig gehabt, <strong>der</strong>lei als Herausfor<strong>der</strong>ung anzunehmen. Inme<strong>in</strong>em Fall ist es an<strong>der</strong>s. Ich b<strong>in</strong> e<strong>in</strong> Indianer.« Wir schautenuns an. Als stumme Frage zog er die Brauen hoch, als wolleer me<strong>in</strong>e Me<strong>in</strong>ung hören. »<strong>Der</strong> grundlegende Unterschiedzwischen e<strong>in</strong>em normalen Menschen und e<strong>in</strong>em Krieger ist,daß <strong>der</strong> Krieger alles als Herausfor<strong>der</strong>ung annimmt«, fuhr erfort, »während <strong>der</strong> normale Mensch alles entwe<strong>der</strong> als Segeno<strong>der</strong> als Fluch auffaßt. Die Tatsache, daß du heute hier bist,zeigt mir, daß du die Gewichte zugunsten <strong>der</strong> Lebensweisee<strong>in</strong>es Kriegers verschoben hast.«Se<strong>in</strong> Blick machte mich nervös. Ich wollte aufstehen undweitergehen, aber er hieß mich, sitzen zu bleiben. »Hierbleibst du sitzen, ohne Ausflüchte, bis wir fertig s<strong>in</strong>d«, sagte ergebieterisch. »Wir warten auf e<strong>in</strong> Omen. Ohne dies120 121


können wir nicht weitermachen, denn es genügt nicht, daß dumich gefunden hast, wie es auch nicht genügte, daß du damalsGenaro <strong>in</strong> <strong>der</strong> Wüste gefunden hast. De<strong>in</strong>e <strong>Kraft</strong> muß sichsammeln und e<strong>in</strong> Zeichen geben.«»Ich ahne nicht, was du willst«, sagte ich.»Ich habe etwas durch diesen Park schleichen sehen«, sagteer.»War es <strong>der</strong> Verbündete?«»Ne<strong>in</strong>, <strong>der</strong> war es nicht. Wir müssen also hier sitzen bleibenund herausf<strong>in</strong>den, was f ü r e<strong>in</strong> Omen de<strong>in</strong>e <strong>Kraft</strong> herbeiziehenwird.«Dann for<strong>der</strong>te er mich auf, ihm ausführlich zu berichten, wieich die Empfehlungen ausgeführt hätte, die <strong>Don</strong> Genaro un<strong>der</strong> mir für me<strong>in</strong>e alltägliche Welt und me<strong>in</strong>e Beziehungen mitan<strong>der</strong>en Menschen gegeben hatten. Ich wurde etwas verlegen.Er zerstreute me<strong>in</strong>e Bedenken mit dem Argument, daß me<strong>in</strong>epersönlichen Angelegenheiten nichts Privates seien, weil siee<strong>in</strong>e Obliegenheit <strong>der</strong> Zauberei darstellten, <strong>in</strong> <strong>der</strong> er selbstund <strong>Don</strong> Genaro mich för<strong>der</strong>ten. Ich bemerkte scherzhaft,daß diese Obliegenheit <strong>der</strong> Zauberei me<strong>in</strong> Leben ru<strong>in</strong>ierthabe, und berichtete dann von me<strong>in</strong>en Schwierigkeiten, me<strong>in</strong>ealltägliche Welt beisammenzuhalten.Ich sprach sehr lange. <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> lachte über me<strong>in</strong>en Bericht,bis ihm Tränen über die Wangen rollten. Immer wie<strong>der</strong> schluger sich auf die Schenkel; diese Geste, die ich Hun<strong>der</strong>te Malebei ihm gesehen hatte, wirkte e<strong>in</strong>deutig fehl am Platz, wenn esauf den Bügelfalten e<strong>in</strong>es Anzugs geschah. Ich war vollerBefürchtungen, die ich loswerden mußte.»De<strong>in</strong> Anzug erschreckt mich mehr als alles an<strong>der</strong>e, was dumit mir angestellt hast«, sagte ich.»Du wirst dich dran gewöhnen«, sagte er. »E<strong>in</strong> Krieger mußbeweglich se<strong>in</strong> und sich harmonisch mit <strong>der</strong> ihn umgebendenWelt verän<strong>der</strong>n, sei es die Welt <strong>der</strong> Vernunft o<strong>der</strong> die Weltdes Willens.<strong>Der</strong> gefährlichste Moment dieser Verän<strong>der</strong>ung tritt immerdann e<strong>in</strong>, wenn <strong>der</strong> Krieger feststellt, daß die Welt we<strong>der</strong> dase<strong>in</strong>e noch das an<strong>der</strong>e ist. Ich mußte lernen, daß die e<strong>in</strong>zigeMöglichkeit, diesen entscheidenden Wechsel zu überstehen.dar<strong>in</strong> besteht, daß man bei se<strong>in</strong>en Handlungen so tut. als122glaubte man. Mit an<strong>der</strong>en Worten, das Geheimnis e<strong>in</strong>es Kriegersist, daß er glaubt, ohne zu glauben. Aber natürlich kann<strong>der</strong> Krieger nicht e<strong>in</strong>fach sagen, er glaubt, und es damitbewenden lassen. Das wäre zu leicht. E<strong>in</strong>fach glauben, daswürde ihn von <strong>der</strong> Verpflichtung entb<strong>in</strong>den, se<strong>in</strong>e Situation zuüberprüfen. Immer wenn e<strong>in</strong> Krieger sich darauf e<strong>in</strong>lassenmuß, zu glauben, dann tut er es als freie Entscheidung, alsAusdruck se<strong>in</strong>er <strong>in</strong>nersten Wahl. E<strong>in</strong> Krieger glaubt nicht, e<strong>in</strong>Krieger muß glauben.«Er starrte mich sekundenlang an, während ich <strong>in</strong> me<strong>in</strong>emNotizbuch schrieb. Ich schwieg still. Ich konnte nicht sagen,daß ich den Unterschied verstanden hätte, aber ich wollte nichtargumentieren o<strong>der</strong> Fragen stellen. Ich wollte darübernachdenken, was er gesagt hatte, aber me<strong>in</strong>e Gedanken wurdenabgelenkt, als ich mich umschaute. Auf <strong>der</strong> Straße h<strong>in</strong>ter unsbildeten hupende Autos und Busse e<strong>in</strong>e lange Schlange. AmRande des Parks, etwa zwanzig Meter entfernt, seitlich von <strong>der</strong>Bank, auf <strong>der</strong> wir saßen, stand e<strong>in</strong>e Gruppe von etwa siebenLeuten, e<strong>in</strong>schließlich dreier Polizisten <strong>in</strong> hellgrauenUniformen, über e<strong>in</strong>en Mann gebeugt, <strong>der</strong> reglos im Gras lag.Ansche<strong>in</strong>end war er betrunken o<strong>der</strong> ernstlich krank. Ich warf<strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> e<strong>in</strong>en Blick zu. Auch er hatte zu dem Mannh<strong>in</strong>übergeschaut. Ich sagte ihm, daß ich aus irgende<strong>in</strong>emGrund nicht <strong>in</strong> <strong>der</strong> Lage sei, mir klarzumachen, was er ebengesagt hatte.»Ich möchte ke<strong>in</strong>e Fragen mehr stellen«, sagte ich. »Aberwenn ich dich nicht um Erklärungen bitte, dann verstehe ichnichts. Ke<strong>in</strong>e Fragen zu stellen, das ist ganz unnormal fürmich.«»Bitte, sei normal, um alles <strong>in</strong> <strong>der</strong> Welt!« sagte er mit gespieltemErnst.Ich sagte, ich verstünde nicht den Unterschied zwischen glaubenund glauben müssen. Für mich sei es dasselbe. DieUnterscheidung zwischen den beiden Aussagen erschiene mirals Haarspalterei.»Er<strong>in</strong>nerst du dich an die Geschichte von de<strong>in</strong>er Freund<strong>in</strong> undihrer Katze, die du mir e<strong>in</strong>mal erzählt hast?« fragte er beiläufig.Er sah zum Himmel h<strong>in</strong>auf, lehnte sich auf <strong>der</strong> Bankzurück123


und streckte die Be<strong>in</strong>e. Er legte die Hände h<strong>in</strong>ter den Kopfund spannte am ganzen Körper se<strong>in</strong>e M uskeln an. W ie immergaben se<strong>in</strong>e Knochen laute, knackende Geräusche von sich.W orauf er angespielt hatte, das war e<strong>in</strong>e Geschichte, die ichihm e<strong>in</strong>mal über e<strong>in</strong>e Freund<strong>in</strong> erzählt hatte, die zwei kle<strong>in</strong>eK ätzchen halbtot <strong>in</strong> <strong>der</strong> Trockentrommel e<strong>in</strong>er Automatenwäschereigefunden hatte. Sie brachte sie wie<strong>der</strong> zum Lebenund päppelte sie durch vorzügliche Nahrung und Pflege zuzwei stattlichen K atzen heran, die e<strong>in</strong>e schwarz, die an<strong>der</strong>erötlich.Zwei Jahre später verkaufte sie ihre W ohnung. Sie konnte dieKatzen nicht mitnehmen und fand auch ke<strong>in</strong> an<strong>der</strong>es Heim fürsie; unter diesen Umständen blieb ihr nichts an<strong>der</strong>s übrig, alssie <strong>in</strong> die Tierkl<strong>in</strong>ik zu br<strong>in</strong>gen und e<strong>in</strong>schläfern zu lassen. Ichhalf ihr, sie h<strong>in</strong>zubr<strong>in</strong>gen. Die Katzen waren noch nie <strong>in</strong>e<strong>in</strong>em Auto gefahren. Die Freund<strong>in</strong> versuchte sie zu beruhigen.Sie kratzten und bissen sie, beson<strong>der</strong>s die rötliche, <strong>der</strong> sieden Namen M ax gegeben hatte. Als wir schließlich die Tierkl<strong>in</strong>ikerreichten, griff sie zuerst nach <strong>der</strong> schwarzen Katze. Sie nahmsie auf den Arm und stieg wortlos aus dem Auto. Die Katzespielte m it ihr und haschte mit dem Pfötchen nach ihr.während sie die Glastür zur Tierkl<strong>in</strong>ik aufstieß. Ich schautemich nach M ax um. Er hockte auf <strong>der</strong> H<strong>in</strong>terbank. M e<strong>in</strong>eKopfbewegung mußte ihn erschreckt haben, denn er schoßunter den Fahrersitz. Ich ließ den Sitz nach h<strong>in</strong>ten gleiten. Ichwollte nicht h<strong>in</strong>untergreifen, denn ich fürchtete, er würde michkratzen o<strong>der</strong> beißen. <strong>Der</strong> Kater lag <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Vertiefung imBoden des W agens. Er schien sehr aufgeregt. Se<strong>in</strong> Atem g<strong>in</strong>gstoßweise. Er sah mich an. Unsere B licke trafen sich, undm ich überwältigte e<strong>in</strong> starkes G efühl. Irgend etwas bemächtigtesich me<strong>in</strong>es Körpers, e<strong>in</strong>e Art Angst, Verzweiflung o<strong>der</strong>vielleicht auch e<strong>in</strong> schlechtes Gewissen, da ich an dem, was hiergespielt wurde, beteiligt war. Ich verspürte das Bedürfnis, Maxzu erklären, daß es doch die Entscheidung me<strong>in</strong>er Freund<strong>in</strong> warund daß ich ihr nur dabei half. <strong>Der</strong> Kater schaute mich an, alsverstünde er me<strong>in</strong>e Worte. Ich schaute h<strong>in</strong>aus, ob sie schonzurückkäme. Ich sah sieh<strong>in</strong>ter <strong>der</strong> Glastür. Sie g<strong>in</strong>g zur Pförtnerloge. M e<strong>in</strong> Körperverspürte e<strong>in</strong>en seltsamen Schock, und ganz automatisch öffneteich den W agenschlag. »Lauf, Max, lauf!« sagte ich zu demKater. Er sprang h<strong>in</strong>aus und schoß - flach am Boden geduckt,wie e<strong>in</strong>e echte Raubkatze - über die Straße. Die Straßenseitegegenüber war leer. Dort parkten ke<strong>in</strong>e Autos, und so konnteich M ax sehen, wie er am R<strong>in</strong>nste<strong>in</strong> entlang die Straße entlangraste. Er erreichte die Kreuzung mit e<strong>in</strong>er breiten Allee undtauchte durch e<strong>in</strong> Gully <strong>in</strong> die Kanalisation h<strong>in</strong>ab. M e<strong>in</strong>eFreund<strong>in</strong> kam zurück. Ich sagte ihr, M ax sei fort. Sie stieg e<strong>in</strong>und wir fuhren davon, ohne e<strong>in</strong> e<strong>in</strong>ziges W ort. In dendarauffolgenden M onaten gewann <strong>der</strong> Zwischenfall für miche<strong>in</strong>e symbolische Bedeutung. Hatte ich es mir e<strong>in</strong>gebildet o<strong>der</strong>sah ich wirklich e<strong>in</strong> unheimliches Flackern <strong>in</strong> M ax' Augen, alser mich anstarrte, bevor er aus dem Auto sprang? Und ichglaubte, daß dieses kastrierte, überfütterte und nutzlose<strong>Haus</strong>tier für e<strong>in</strong>en Augenblick e<strong>in</strong> Kater geworden war. Ich seidavon überzeugt, erzählte ich <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong>, daß, als M ax über dieStraße gerannt und <strong>in</strong> <strong>der</strong> Kanalisation verschwunden war, se<strong>in</strong>Katzengeist makellos gewesen und daß vielleicht zu ke<strong>in</strong>eman<strong>der</strong>en Zeitpunkt se<strong>in</strong>es Lebens se<strong>in</strong>e Katzenhaftigkeit sooffenbar gewesen sei. <strong>Der</strong> E<strong>in</strong>druck, den dieser Zwischenfallbei mir h<strong>in</strong>terließ, war unvergeßlich. Damals hatte ich dieGeschichte allen me<strong>in</strong>en Freunden erzählt. Nachdem ich sieimmer wie<strong>der</strong> zum besten gegeben hatte, gefiel ich mir sehrdar<strong>in</strong>, m ich m it dem K ater zu identifizieren. Ich stellte m ir vor,ich sei wie M ax, übermäßig verwöhnt, <strong>in</strong> je<strong>der</strong> H<strong>in</strong>sichtdomestiziert, und doch konnte ich nicht an<strong>der</strong>s als glauben, daßes stets die M öglichkeit e<strong>in</strong>es Augenblicks gab, da <strong>der</strong> Geiste<strong>in</strong>es freien M enschen me<strong>in</strong> ganzes Se<strong>in</strong> erfassen würde, genauwie <strong>der</strong> Geist <strong>der</strong> »Katzen-haftigkeit« M ax' aufgeschwemmtenund nutzlosen Körper erfaßt hatte.<strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> hatte diese Geschichte gefallen, und er hatte e<strong>in</strong>paar Anmerkungen dazu gemacht. Es sei nicht schwer, me<strong>in</strong>teer, den Geist e<strong>in</strong>es freien M enschen zu wecken und sich vonihm erfassen zu lassen; doch ihn festzuhalten, das sei etwas,was nur e<strong>in</strong> Krieger könne.124 125


»W as soll die Geschichte von den Katzen?« fragte ich. »Dusagtest mir doch, daß du me<strong>in</strong>test, du würdest de<strong>in</strong>e Chancenutzen, genau wie M ax«, sagte er. »Das glaube ich allerd<strong>in</strong>gs.«»W as wir dir beizubr<strong>in</strong>gen versuchten, ist, daß e<strong>in</strong> Kriegerdies nicht e<strong>in</strong>fach glauben und es dabei bewenden lassen darf.Im Falle von M ax bedeutet glauben müssen, daß du auch dieTatsache akzeptierst, daß se<strong>in</strong>e Flucht vielleicht e<strong>in</strong> s<strong>in</strong>nloserAusbruch gewesen ist. V ielleicht ist er <strong>in</strong> die K analisationgesprungen und auf <strong>der</strong> Stelle verreckt. Vielleicht ist er ersoffeno<strong>der</strong> verhungert o<strong>der</strong> vielleicht sogar von den Rattenaufgefressen worden. E<strong>in</strong> Krieger zieht alle diese M öglichkeiten<strong>in</strong> B etracht, und dann entscheidet er sich dafür, im E<strong>in</strong>klangmit se<strong>in</strong>er <strong>in</strong>nersten W ahl zu glauben. Als Krieger mußt duglauben, daß Max es geschafft hat, daß er nicht nur ausgerissenist, son<strong>der</strong>n daß er se<strong>in</strong>e K raft behalten hat. Du mußt esglauben. Sagen wir, ohne diesen Glauben hast du gar nichts.«Jetzt wurde m it <strong>der</strong> U nterschied ganz k la r. Ic h h a tte michwohl wirklich dafür entschieden zu glauben, daß M ax amLeben geblieben war, obwohl ich wußte, daß er durch e<strong>in</strong>elebenslange Verweichlichung und Hätschelei benachteiligt war.»Glauben - das ist e<strong>in</strong> klarer Fall«, fuhr <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> fort.»Glauben müssen ist etwas an<strong>der</strong>es. In diesem Fall zum B eispielerteilte die K raft dir e<strong>in</strong>e hervorragende Lehre, aber duhast dich damit begnügt, nur e<strong>in</strong>en Teil davon zu nutzen.W enn du glauben mußt, dann mußt du jedoch den ganzenVorgang nutzen.«»Ich verstehe, was du m e<strong>in</strong>st«, sagte ich. Ich befand mich <strong>in</strong>e<strong>in</strong>em Zustand geistiger K larheit und me<strong>in</strong>te, ich könne se<strong>in</strong>eBegriffe ganz mühelos erfassen. »Ich fürchte, du verstehstimmer noch nicht«, sagte er be<strong>in</strong>ahe flüsternd.Er starrte mich an. E<strong>in</strong>e W eile hielt ich se<strong>in</strong>em B lick stand.»Und was ist mit <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Katze?« fragte er. »Ach? Diean<strong>der</strong>e K atze?« wie<strong>der</strong>holte ich unwillkürlich. Ich hatte sieganz vergessen. M e<strong>in</strong> Symbol drehte sich nur um M ax. Diean<strong>der</strong>e Katze hatte ke<strong>in</strong>erlei Bedeutung für mich.»Aber das hat sie doch!« rief <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong>, nachdem ich ihmme<strong>in</strong>e Gedanken vorgetragen hatte.»Glauben müssen bedeutet, daß du auch die an<strong>der</strong>e Katze <strong>in</strong>Betracht ziehen mußt. D iejenige, die verspielt die Händeleckte, die sie <strong>in</strong> ihr Ver<strong>der</strong>ben trugen. Dies war die Katze, dievoll Vertrauen <strong>in</strong> ihren Tod g<strong>in</strong>g, erfüllt von ihren Katzen-E<strong>in</strong>sichten.Du glaubst, du seist wie Max. darum hast du die an<strong>der</strong>e Katzevergessen. Du weißt nicht e<strong>in</strong>mal ihren Namen. Glaubenmüssen bedeutet, daß du alles <strong>in</strong> Betracht ziehen mußt. undbevor du beschließt, daß du wie Max bist, mußt du erwägen,daß du auch wie die an<strong>der</strong>e Katze se<strong>in</strong> könntest. Statt um de<strong>in</strong>Leben zu laufen und de<strong>in</strong>e Chance zu nutzen, könntest du auchglücklich <strong>in</strong> de<strong>in</strong> Ver<strong>der</strong>ben gehen, erfüllt von de<strong>in</strong>enE<strong>in</strong>sichten.«In se<strong>in</strong>en W orten lag e<strong>in</strong>e durchdr<strong>in</strong>gende Traurigkeit, o<strong>der</strong>vielleicht war es auch me<strong>in</strong>e eigene Traurigkeit. Langeschwiegen wir. Es war mir nie <strong>in</strong> den S<strong>in</strong>n gekommen, daß ichauch wie die an<strong>der</strong>e Katze se<strong>in</strong> könnte. Dieser Gedanke warsehr beunruhigend für mich.Plötzlich wurde ich durch e<strong>in</strong>en gel<strong>in</strong>den Aufruhr und gedämpftesStimmengewirr aus me<strong>in</strong>en Überlegungen gerissen.Polizisten vertrieben die Leute, die sich um den im Grasliegenden M ann gesammelt hatten. Irgendwer hatte den Kopfdes M annes auf e <strong>in</strong> zusam m engerolltes J a c k e t t gestützt. D erM ann lag parallel zur Straße. Er blickte nach Osten. Vonme<strong>in</strong>em Platz aus konnte ich b e<strong>in</strong>ahe feststellen, daß er dieAugen offen hatte. <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> seufzte.»Was für e<strong>in</strong> wun<strong>der</strong>barer N achm ittag«, sagte er und schautezum Himmel auf.»Ich liebe Mexico City nicht«, sagte ich.»Warum nicht?« »Ich hasse den Smog.«Er nickte rhythmisch mit dem Kopf, so als pflichte er mir bei.»Lieber wäre ich mit d ir <strong>in</strong> <strong>der</strong> W üste o<strong>der</strong> <strong>in</strong> den Bergen«,sagte ich. »Ich an de<strong>in</strong>er Stelle würde so etwas nie sagen«,sagte er.126 127


»Ich habe mir nichts Böses dabei gedacht, <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong>.« »Daswissen wir beide. Es kommt aber nicht darauf an, was du denkst.E<strong>in</strong> Krieger, und <strong>in</strong> diesem Fall auch je<strong>der</strong> an<strong>der</strong>e, darf niemalswünschen, er wäre woan<strong>der</strong>s. E<strong>in</strong> Krieger, weil er gemäß <strong>der</strong>Herausfor<strong>der</strong>ung lebt - e<strong>in</strong> gewöhnlicher Mensch, weil er nichtweiß, wo se<strong>in</strong> Tod ihn f<strong>in</strong>den wird. Schau dir den Mann dadrüben im Gras an! Was, me<strong>in</strong>st du, fehlt ihm?«»Er ist betrunken o<strong>der</strong> krank«, sagte ich. »Er stirbt!« sagte<strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> mit absoluter Gewißheit. »Als wir uns hier auf dieBank setzten, habe ich se<strong>in</strong>en Tod erspäht, wie er ihnumkreiste. Deshalb befahl ich dir auch, nicht aufzustehen.Mach, was du willst, du kommst von dieser Bank nicht los, bises zu Ende ist! Dies ist das Omen, auf das wir gewartet haben.Es ist schon spät. Gleich wird die Sonne untergehen. Das istde<strong>in</strong>e Stunde <strong>der</strong> <strong>Kraft</strong>. Schau! <strong>Der</strong> Anblick dieses Mannes istnur für uns da.« Er machte mich auf den Umstandaufmerksam, daß wir von unserem Platz aus e<strong>in</strong>e unverstellteSicht auf den Mann hatten. Auf <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Seite, unsgegenüber, sammelte sich e<strong>in</strong>e Gruppe von Neugierigen imHalbkreis. <strong>Der</strong> Anblick dieses Menschen, <strong>der</strong> da im Gras lag,beunruhigte mich stark. Er war schlank und von dunklem Te<strong>in</strong>t,noch ziemlich jung. Se<strong>in</strong> schwarzes Haar war kurz und lockig.Se<strong>in</strong> Hemd stand offen, und die Brust war entblößt. Er trug e<strong>in</strong>eorangefarbene Strickjacke, die an den Ellbogen Löcher hatte,und e<strong>in</strong>e abgewetzte graue Hose. Se<strong>in</strong>e Schuhe, von e<strong>in</strong>erundef<strong>in</strong>ierbaren, verblichenen Farbe, waren aufgenestelt. Er lagreglos. Ich konnte nicht feststellen, ob er atmete. Ich fragte mich,ob er sterben würde, wie <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> gesagt hatte. O<strong>der</strong> benutzte<strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> den Vorgang etwa nur, um mir etwas zu erläutern?Me<strong>in</strong>e bisherigen Erfahrungen mit ihm hatten mich überzeugt,daß es ihm irgendwie gelang, alles <strong>in</strong> se<strong>in</strong> mysteriöses Systeme<strong>in</strong>zubauen.Nach langem Schweigen wandte ich mich ihm wie<strong>der</strong> zu. Erhatte die Augen geschlossen. Ohne sie zu öffnen, f<strong>in</strong>g er an zusprechen.»<strong>Der</strong> Mann wird gleich sterben«, sagte er. »Du willst es abernicht glauben, nicht wahr?«Er schlug die Augen auf und sah mich e<strong>in</strong>e Weile an. Se<strong>in</strong>Blick war so durchdr<strong>in</strong>gend, daß er mich betäubte. »Ne<strong>in</strong>. Ichglaube es nicht«, sagte ich.Ich me<strong>in</strong>te wirklich, daß dies alles zu e<strong>in</strong>fach sei. Wir hattenuns <strong>in</strong> den Park gesetzt, und schon - als sei alles <strong>in</strong>szeniert -lagda e<strong>in</strong> Mann im Sterben.»Die Welt paßt sich an sich selbst an«, sagte <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong>,nachdem er me<strong>in</strong>e Zweifel angehört hatte. »Dies ist ke<strong>in</strong>eabgekartete Sache. Dies ist e<strong>in</strong> Omen, e<strong>in</strong> Akt <strong>der</strong> <strong>Kraft</strong>. Dievon <strong>der</strong> Vernunft aufrechterhaltene Welt macht aus all dem e<strong>in</strong>Ereignis, das wir e<strong>in</strong>en Augenblick beobachten können,während wir unterwegs zu wichtigeren D<strong>in</strong>gen s<strong>in</strong>d. Dase<strong>in</strong>zige, was wir darüber sagen können, ist, daß dort e<strong>in</strong> Mannim Gras liegt - vielleicht betrunken. Die vom Willenaufrechterhaltene Welt macht es zu e<strong>in</strong>em Akt <strong>der</strong> <strong>Kraft</strong>, denwir sehen können. Wir können sehen, wie <strong>der</strong> Tod um diesenMann herumwirbelt und se<strong>in</strong>en Haken immer tiefer <strong>in</strong> se<strong>in</strong>eleuchtenden Fasern senkt. Wir können sehen, wie dieleuchtenden Fäden ihre Spannung verlieren und e<strong>in</strong>er um denan<strong>der</strong>en verschw<strong>in</strong>den.Dies s<strong>in</strong>d die zwei Möglichkeiten, die uns als leuchtendenWesen offenstehen. Du stehst jetzt irgendwo <strong>in</strong> <strong>der</strong> Mitte,denn du willst immer noch alles unter die Rubrik Vernunfte<strong>in</strong>ordnen. Und doch, wie kannst du die Tatsache leugnen, daßde<strong>in</strong>e persönliche <strong>Kraft</strong> e<strong>in</strong> Omen angezogen hat? Wir s<strong>in</strong>d <strong>in</strong>diesen Park gekommen, nachdem du mich an <strong>der</strong> Stelle gefundenhattest, wo ich auf dich wartete - du fandst mich, <strong>in</strong>dem du mire<strong>in</strong>fach über den Weg liefst, ohne zu denken, zu planen o<strong>der</strong>absichtlich de<strong>in</strong>e Vernunft zu gebrauchen - und nachdem wiruns hierher gesetzt hatten, um auf e<strong>in</strong> Omen zu warten,entdeckten wir diesen Mann. Je<strong>der</strong> von uns nahm ihn auf se<strong>in</strong>eWeise wahr, du mit de<strong>in</strong>er Vernunft und ich mit me<strong>in</strong>emWillen.Dieser Sterbende ist e<strong>in</strong>er jener Kubikzentimeter Chance, diedie <strong>Kraft</strong> für e<strong>in</strong>en Krieger stets bereithält. Die Kunst desKriegers ist es, dauernd beweglich zu se<strong>in</strong>, um ihn zu packen.Ich habe ihn gepackt. Aber hast du es auch?« Ich konnte nichtantworten. Mir war e<strong>in</strong> gewaltiger Riß <strong>in</strong> me<strong>in</strong>em Innernbewußt geworden, und e<strong>in</strong>en Moment128 129


wußte ich irgendwie um die zwei Welten, von denen er sprach.»Welch e<strong>in</strong> großartiges Omen!« fuhr er fort. »Und das alles fürdich. Die <strong>Kraft</strong> zeigt dir, daß <strong>der</strong> Tod e<strong>in</strong> unentbehrlicherBestandteil des Glaubenmüssens ist. Ohne das Bew u ßtse<strong>in</strong> vomTode ist alles gewöhnlich, banal. Nur deshalb, weil <strong>der</strong> Tod unsumschleicht, ist die Welt e<strong>in</strong> unergründliches Mysterium. Dieshat die <strong>Kraft</strong> dir gezeigt. Ich habe nichts an<strong>der</strong>es getan, als dieDetails dieses Omens zusammenzufügen, damit dir dieRichtung klar werde. Aber <strong>in</strong>dem ich die Detailszusammenfügte, habe ich dir auch gezeigt, daß ich alles, wasich dir heute sagte, selbst glauben muß, denn dies ist die <strong>in</strong>nereWahl me<strong>in</strong>er Seele.« Wir blickten uns e<strong>in</strong>e Weile <strong>in</strong> die Augen.»Ich er<strong>in</strong>nere mich an e<strong>in</strong> Gedicht, das du mir immer vorgelesenhast«, sagte er und wandte die Augen ab. »Es handelt von e<strong>in</strong>emMann, <strong>der</strong> sich geschworen hat, <strong>in</strong> Paris zu sterben. Wie geht esnur gleich?«Es handelte sich um Cesar Vallejos »Schwarzer Ste<strong>in</strong> aufweißem Ste<strong>in</strong>«. Die ersten beiden Verse hatte ich <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> aufse<strong>in</strong>en Wunsch unzählige Male vorgelesen und aufgesagt.Ich will <strong>in</strong> Paris sterben, wenn es regnet. An e<strong>in</strong>em Tag,an den ich mich bereits er<strong>in</strong>nere. Ich will <strong>in</strong> Parissterben - und ich laufe nicht weg -Vielleicht im Herbst,an e<strong>in</strong>em <strong>Don</strong>nerstag, wie heute.ihm bevorstand, und daß er. wie <strong>der</strong> Mann dort drüben, genug<strong>Kraft</strong> hatte, um wenigstens den Platz se<strong>in</strong>es Endes zu wählen.Aber dann war da noch die an<strong>der</strong>e Katze, genau wie es nochan<strong>der</strong>e Menschen gibt, <strong>der</strong>en Tod sie e<strong>in</strong>kreisen wird, währendsie alle<strong>in</strong> s<strong>in</strong>d, bewußtlos, und an die Wände und die Deckee<strong>in</strong>es häßlichen, öden Zimmers starren. Dieser Mann h<strong>in</strong>gegenstirbt dort, wo er immer gelebt hat, <strong>in</strong> den Straßen <strong>der</strong> Stadt.Drei Polizisten s<strong>in</strong>d se<strong>in</strong>e Ehrenwache. Und während erverlöscht, werden se<strong>in</strong>e Augen e<strong>in</strong> letztes Bild von den Lichtern<strong>der</strong> Geschäfte auf <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Straßenseite auffangen, von denAutos, den Bäumen, den umherirrenden Menschentrauben, undse<strong>in</strong>e Ohren werden zum letztenmal vom Verkehrslärm und denStimmen <strong>der</strong> vorübereilenden Männer und Frauen erfüllt se<strong>in</strong>.Du siehst also, ohne e<strong>in</strong> Bewußtse<strong>in</strong> von <strong>der</strong> Gegenwart unseresTodes gibt es ke<strong>in</strong>e <strong>Kraft</strong>, ke<strong>in</strong> Mysterium.« Lange starrte ichden Mann an. Er lag reglos da. Vielleicht war er tot. Aber me<strong>in</strong>eZweifel zählten nicht mehr. <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> hatte recht. Glauben zumüssen, daß die Welt geheimnisvoll und unergründlich ist, daswar e<strong>in</strong> Ausdruck <strong>der</strong> <strong>in</strong>nersten Wahl e<strong>in</strong>es Kriegers. Ohne diesbesäße er nichts.E<strong>in</strong> <strong>Don</strong>nerstag wird es se<strong>in</strong>, denn heuteAm <strong>Don</strong>nerstag, da ich diese Zeilen schreibeSpüren me<strong>in</strong>e Knochen die Wende,Und nie war ich wie heute, auf me<strong>in</strong>em langen Weg.Mit mir so alle<strong>in</strong>.Dieses Gedicht enthielt für mich e<strong>in</strong>e unbeschreibliche Traurigkeit.<strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> flüsterte mir zu, er müsse glauben, daß <strong>der</strong> sterbendeMann genug persönliche <strong>Kraft</strong> hatte, die ihn befähigte. dieStraßen von Mexico City als Ort se<strong>in</strong>es Sterbens zu wählen.»Damit s<strong>in</strong>d wir wie<strong>der</strong> bei <strong>der</strong> Geschichte von den zweiKatzen«, sagte er. »Wir müssen glauben, daß Max wußte, was130


Die Insel des TonalAn<strong>der</strong>ntags, gegen Mittag, trafen <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> und ich uns wie<strong>der</strong>im gleichen Park. Er trug immer noch se<strong>in</strong>en braunen Anzug.Wir setzten uns auf e<strong>in</strong>e Bank; er zog se<strong>in</strong>en Rock aus, faltete ihnsehr sorgfältig, aber mit überlegener Gleichgültigkeit zusammenund legte ihn auf die Bank. Se<strong>in</strong>e Gleichgültigkeit wirkte sehre<strong>in</strong>studiert und dennoch vollkommen natürlich. Ich ertapptemich dabei, wie ich ihn unverwandt anschaute. Er schien zuwissen, welch e<strong>in</strong> Paradox er mir aufgab, und lächelte. Er rücktese<strong>in</strong>e Krawatte zurecht. Er trug e<strong>in</strong> beigefarbenes,langärmeliges Hemd. Es kleidete ihn sehr gut. »Ich habeimmer noch me<strong>in</strong>en Anzug an, weil ich dir etwas sehrWichtiges sagen will«, me<strong>in</strong>te er und klopfte mir auf dieSchulter. »Gestern hast du dich sehr gut gehalten. Jetzt ist esZeit, daß wir uns über e<strong>in</strong> paar abschließende D<strong>in</strong>ge e<strong>in</strong>igen.« Ermachte e<strong>in</strong>e lange Pause. Ansche<strong>in</strong>end überdachte er se<strong>in</strong>eWorte. Ich hatte e<strong>in</strong> seltsames Gefühl im Magen. Me<strong>in</strong>e ersteVermutung war, er würde mir die Erklärung <strong>der</strong> Zauberermitteilen. Etliche Male stand er auf und g<strong>in</strong>g vor mir auf undab, als ob es ihm schwerfiele, se<strong>in</strong>e Gedanken <strong>in</strong> Worte zufassen.»Laß uns doch <strong>in</strong> das Restaurant da drüben gehen und e<strong>in</strong>eKle<strong>in</strong>igkeit essen!« sagte er schließlich. Er faltete se<strong>in</strong> Jackettause<strong>in</strong>an<strong>der</strong>, und bevor er es anzog, zeigte er mir, daß es ganzgefüttert war. »Es ist tadellos gearbeitet«, sagte er undlächelte, als sei er stolz darauf, als sei ihm viel daran gelegen.»Ich muß dich darauf aufmerksam machen, sonst würdest du esnicht bemerken, und es ist sehr wichtig, daß du es merkst. Dumerkst nur dann etwas, wenn du glaubst, du solltest es. DieBed<strong>in</strong>gung e<strong>in</strong>es Kriegers ist aber, daß er zu je<strong>der</strong> Zeit allesmerkt.Me<strong>in</strong> Anzug und das ganze Drum und Dran s<strong>in</strong>d wichtig, weiles me<strong>in</strong>e Bed<strong>in</strong>gung im Leben darstellt. O<strong>der</strong> besser, dieBed<strong>in</strong>gung e<strong>in</strong>es <strong>der</strong> zwei Teile me<strong>in</strong>er Ganzheit. Diese Diskussionwar schon lange fällig. Ich glaube, jetzt ist die rechteZeit dafür. Sie muß jedoch korrekt geführt werden, sonst hättesie gar ke<strong>in</strong>en S<strong>in</strong>n. Ich wollte, daß me<strong>in</strong> Anzug dir das ersteStichwort gibt. Das hat er, glaube ich. getan. Jetzt ist es Zeit zusprechen, denn was dieses Thema betrifft, so gibt es ohneSprechen ke<strong>in</strong> völliges Verstehen.« »Welches Thema denn,<strong>Don</strong> <strong>Juan</strong>?« »Die Ganzheit des Selbst«, sagte er.Er stand abrupt auf und führte mich <strong>in</strong> den Speisesaal e<strong>in</strong>esgroßen Hotels auf <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Straßenseite. E<strong>in</strong>e ziemlichunfreundliche Kellner<strong>in</strong> wies uns e<strong>in</strong>en Tisch <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er rückwärtigenNische an. Die bevorzugten Plätze waren offensichtlichan den Fenstern.Ich erzählte <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong>, daß diese Frau mich an e<strong>in</strong>e an<strong>der</strong>eKellner<strong>in</strong> <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Restaurant <strong>in</strong> Arizona er<strong>in</strong>nerte, wo <strong>Don</strong><strong>Juan</strong> und ich e<strong>in</strong>mal gegessen hatten, an e<strong>in</strong>e Frau, die unsfragte, bevor sie uns die Speisekarte reichte, ob wir auch genugGeld zum Bezahlen hätten.»Auch dieser armen Frau will ich ke<strong>in</strong>en Vorwurf machen«,sagte <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong>, als habe er Mitleid mit ihr. »Auch sie, wie jenean<strong>der</strong>e, hat Angst vor Mexikanern.« Er lachte leise. E<strong>in</strong> paarMenschen an den Nachbartischen drehten die Köpfe undschauten uns an. <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> me<strong>in</strong>te, die Kellner<strong>in</strong> habe unsunwissentlich o<strong>der</strong> vielleicht sogar entgegen ihrer Absicht denbesten Tisch des <strong>Haus</strong>es gegeben, e<strong>in</strong>en Tisch, wo ich nachHerzenslust schreiben und wir mite<strong>in</strong>an<strong>der</strong> reden könnten. Ichhatte gerade me<strong>in</strong> Schreibzeug aus <strong>der</strong> Tasche geholt und aufden Tisch gelegt, als <strong>der</strong> Kellner sich plötzlich vor unsaufbaute. Er schien genauso schlechter Laune zu se<strong>in</strong>. Mitherausfor<strong>der</strong>n<strong>der</strong> Miene schaute er auf uns herab. <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong>bestellte sich e<strong>in</strong> sehr ausgefallenes Gericht. Ergab se<strong>in</strong>eBestellung auf, ohne auf die Speisekarte zu schauen, als wisse ersie auswendig. Ich war im Nachteil. <strong>Der</strong> Kellner war unerwartetaufgetaucht, und ich hatte ke<strong>in</strong>e Zeit gehabt, die Speisekartezu lesen, daher sagte ich ihm, ich wolle das gleiche.<strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> flüsterte mir <strong>in</strong>s Ohr: »Ich wette, sie haben nicht, wasich bestellt habe.« Er reckte se<strong>in</strong>e Arme und Be<strong>in</strong>e und for<strong>der</strong>temich auf, es mir132 133


equem zu machen und mich zu entspannen, denn die Zubereitungdes Menüs werde e<strong>in</strong>e Ewigkeit dauern. »Du bef<strong>in</strong>destdich an e<strong>in</strong>em ganz vertrackten Scheideweg«, sagte er.»Vielleicht ist es <strong>der</strong> letzte und vielleicht auch <strong>der</strong> amschwersten verstehbare. E<strong>in</strong>ige D<strong>in</strong>ge, die ich dir heute erklärenwill, werden dir wahrsche<strong>in</strong>lich nie klarwerden. Sie brauchendir ohneh<strong>in</strong> nicht klarzuwerden. Laß dich also nicht verwirreno<strong>der</strong> entmutigen! Wir alle s<strong>in</strong>d dumme Toren, sobald wir dieWelt <strong>der</strong> Zauberer betreten, und sie zu betreten versichert uns <strong>in</strong>ke<strong>in</strong>er Weise, daß wir uns än<strong>der</strong>n werden. Manche von unsbleiben dumm bis ans Ende.« Mir gefiel es, daß er sich selbstzu den Toren rechnete. Ich wußte allerd<strong>in</strong>gs, daß er das nichtaus Bescheidenheit tat. son<strong>der</strong>n es als didaktisches Hilfsmittele<strong>in</strong>setzte. »Mach dir nichts draus, wenn du nicht den S<strong>in</strong>ndessen verstehst, was ich dir sagen werde!« fuhr er fort. »InAnbetracht de<strong>in</strong>es Temperaments fürchte ich, du wirst dichhalb umbr<strong>in</strong>gen, um es vielleicht doch zu verstehen. Tu dasnicht! Was ich dir sagen will, soll dir lediglich e<strong>in</strong>e Richtungzeigen.« Plötzlich beschlich mich Angst. <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong>sErmahnungen zwangen mich zu endlosen Spekulationen. Ganzähnlich hatte er mich schon bei an<strong>der</strong>en Gelegenheiten gewarnt,und jedes-mal, wenn er dies tat, hatte sich das, wovor er michwarnte, als e<strong>in</strong>e verheerende Sache erwiesen.»Es macht mich ganz nervös, wenn du so zu mir sprichst«,sagte ich.»Das weiß ich«, entgegnete er ruhig. »Ich versuche absichtlich,dir auf die Sprünge zu helfen. Ich brauche de<strong>in</strong>e Aufmerksamkeit,de<strong>in</strong>e ungeteilte Aufmerksamkeit.« Er machtee<strong>in</strong>e Pause und sah mich an. Unwillkürlich mußte ich nervöslachen. Ich wußte, daß er die dramatische Spannung desAugenblicks h<strong>in</strong>auszögerte, so gut es g<strong>in</strong>g. »Dies sage ich dirnicht aus Effekthascherei«, sagte er, als habe er me<strong>in</strong>eGedanken gelesen. »Ich will dir nur Zeit geben, dich richtigdarauf e<strong>in</strong>zustellen.«In diesem Augenblick blieb <strong>der</strong> Kellner vor unserem Tischstehen, um zu verkünden, daß es das, was wir bestellt hatten,nicht gab. <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> lachte laut heraus und bestellte Tortillasund Bohnen. <strong>Der</strong> Kellner lachte verächtlich und me<strong>in</strong>te, soetwas würde hier nicht serviert. Er schlug statt dessen Steakso<strong>der</strong> Hühnchen vor. Wir e<strong>in</strong>igten uns auf e<strong>in</strong>e Suppe. Wir aßenschweigend. Die Suppe schmeckte mir nicht, und ich konnte sienicht aufessen, aber <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> aß se<strong>in</strong>en Teller leer.»Ich habe e<strong>in</strong>en Anzug angezogen«, sagte er unverm ittelt,»u m dir etwas zu verstehen zu geben, etwas, was du bereitsweißt, was aber e<strong>in</strong>er Klärung bedarf, wenn es für dich wirksamwerden soll. Ich habe bis jetzt gewartet, weil Genaro me<strong>in</strong>t,daß du nicht nur gewillt se<strong>in</strong> m ußt, den W eg des W issens aufdich zu nehmen, son<strong>der</strong>n daß de<strong>in</strong>e Bemühungen selbstmakellos genug se<strong>in</strong> müssen, um dich dieses Wissens würdigzu erweisen. Du hast es gut gemacht. Jetzt will ich dir dieErklärung <strong>der</strong> Zauberer sagen.«Wie<strong>der</strong> machte er e<strong>in</strong>e Pause, rieb sich die Wangen undbewegte die Zunge im Mund, als ob er se<strong>in</strong>e Zähne befühlte.»Ich werde d ir jetzt etwas über das Tonal und das Nagualerzählen«, sagte er und sah mich e<strong>in</strong>dr<strong>in</strong>glich an. Dies war daserste Mal, seit wir uns kannten, daß er diese beiden Begriffeerwähnte. Aus <strong>der</strong> anthropologischen Literatur über dieKulturen Zentralm exikos war ich ungefähr m it ihnen vertraut.Ich wußte, daß das »Tonal« (gesprochen toh-na'hl) als e<strong>in</strong>eA rt Schutzgeist - <strong>in</strong> <strong>der</strong> R egel e <strong>in</strong> Tier -vorgestellt wurde, dene<strong>in</strong> K<strong>in</strong>d bei <strong>der</strong> Geburt erhielt und mit dem es se<strong>in</strong> Leben lange<strong>in</strong>e enge B<strong>in</strong>dung unterhielt. »Nagual« (gesprochen:nah'w a'hl) war <strong>der</strong> Name des Tieres, <strong>in</strong> das e<strong>in</strong> Zauberer sichangeblich verwandeln konnte, o<strong>der</strong> des Zauberers, <strong>der</strong> e<strong>in</strong>esolche Verwandlung vornahm. »Dies ist me<strong>in</strong> Tonal«. sagte <strong>Don</strong><strong>Juan</strong> und strich sich m it den Händen über die Brust. »De<strong>in</strong>Anzug?« »N e<strong>in</strong>, me<strong>in</strong>e Person.«Er klopfte sich auf die Brust, die Schenkel und die Rippen. »Alldies ist m e<strong>in</strong> Tonal.«Er erklärte, daß je<strong>der</strong> M ensch zwei Seiten habe, zwei getrennteWesenheiten, zwei Gegenstücke, die im Augenblick <strong>der</strong>Geburt ihr Dase<strong>in</strong> aufnehmen: das e<strong>in</strong>e heiße das »Tonal«,das an<strong>der</strong>e das »Nagual«. Ich erzählte ihm, was dieAnthropologen über die beiden134 135


Begriffe wüßten. Er ließ mich reden, ohne mich zu unterbre-Dchen.»M e<strong>in</strong>etwegen. W as du auch darüber zu wissen glaubst, es istbarer Uns<strong>in</strong>n«, sagte er. »Diese Behauptung gründe ich aufdie Tatsache, daß alles, was ich dir über das Tonal und dasNagual sage, dir unmöglich vorher hätte gesagt werdenkönnen. Je<strong>der</strong> Idiot wüßte, daß du nichts darüber weißt, dennum mit diesen Begriffen vertraut zu se<strong>in</strong>, müßtest du e<strong>in</strong>Zauberer se<strong>in</strong>, und das bist du nicht. O<strong>der</strong> du hättest darübermit e<strong>in</strong>em Zauberer sprechen müssen, und das hast du nicht.Vergiß also alles, was du bisher darüber gehört hast, denn estrifft nicht zu!«»Es war doch nur als Kommentar geme<strong>in</strong>t«, sagte ich. Er hob dieBrauen und schnitt e<strong>in</strong> kom isches G esicht. »D e <strong>in</strong> e Kom m entares<strong>in</strong>d fehl am Platz«, sagte er. »Diesmal brauche ich de<strong>in</strong>eungeteilte A ufm erksam keit, denn ic h werde dich m it dem Tonalund dem Nagual vertraut machen. Die Zauberer haben e<strong>in</strong>beson<strong>der</strong>es, e<strong>in</strong>zigartiges Interesse an diesem Wissen. Ichmöchte sagen, Tonal und Nagual s<strong>in</strong>d ausschließlich denWissenden zugänglich. In de<strong>in</strong>em Fall ist dies sozusagen <strong>der</strong>Deckel, <strong>der</strong> alles abschließt, was ich dich bisher gelehrt habe.Darum habe ich bis jetzt gewartet, um dir davon zu erzählen.Das Tonal ist nicht e<strong>in</strong> Tier, das über e<strong>in</strong>em Menschen wacht.Eher könnte man sagen, es ist e<strong>in</strong> Wächter, den man sich alse<strong>in</strong> Tier vorstellen kann. Aber dies ist nicht die entscheidendeFrage.«Er lächelte und zw<strong>in</strong>kerte mir zu.»Ich will jetzt mal de<strong>in</strong>e eigenen Worte gebrauchen«, sagte er.»Das Tonal ist die soziale Person.«Er lachte, wie ich annahm, über me<strong>in</strong> bestürztes Gesicht. »DasTonal gilt, mit Recht, als e<strong>in</strong> Beschützer, e<strong>in</strong> Wächter -e<strong>in</strong>Wächter, <strong>der</strong> sich meistens <strong>in</strong> e<strong>in</strong>en Wärter verwandelt.« Ichfummelte an me<strong>in</strong>em Notizbuch herum. Ich versuchtemitzubekommen, was er sagte. Er lachte und äffte me<strong>in</strong>enervösen Bewegungen nach.»Das Tonal ist <strong>der</strong> Organisator <strong>der</strong> Welt«, fuhr er fort.»Vielleicht kann man se<strong>in</strong>e gewaltige Arbeit am besten beschreiben,wenn man sagt, daß auf se<strong>in</strong>en Schultern die Auf-136gäbe ruht, das Chaos <strong>der</strong> Welt zu ordnen. Es ist nicht zu weithergeholt, wenn man - wie die Zauberer - behauptet, daß alles,was wir als Menschen wissen und tun, das Werk des Tonal ist.Im Augenblick zum B eispiel ist es de<strong>in</strong> Tonal, das versucht,unser Gespräch zu verstehen. Ohne dieses gäbe es nur komischeGeräusche und Grimassen, und du würdest nichts vonalledem verstehen, was ich sage.Ich sage also, das Tonal ist e<strong>in</strong> W ächter, <strong>der</strong> etwas K ostbaresbewacht, unser ganzes Se<strong>in</strong>. D aher ist es e <strong>in</strong> e wesentlicheEigenschaft des Tonal, daß es bei se<strong>in</strong>em Tun vorsichtig undbedachtsam ist. U nd da se<strong>in</strong>e Taten <strong>der</strong> bei weitem wichtigsteTeil unseres Lebens s<strong>in</strong>d, ist es ke<strong>in</strong> W un<strong>der</strong>, daß es sichschließlich bei jedem von uns aus e<strong>in</strong>em W ächter <strong>in</strong> e<strong>in</strong>enW ärter verwandelt.«Er h ielt <strong>in</strong>ne und fragte mich, ob ich verstanden hätte. Automatischnickte ich bestätigend, und er lächelte mit ungläubigerM iene.»E <strong>in</strong> W ächter ist großzügig und verständnisvoll«, erklärte er.»E <strong>in</strong> W ärter dagegen ist e<strong>in</strong> Sicherheitsorgan, engherzig undmeistens despotisch. Ich behaupte also, daß das Tonal bei unsallen zu e<strong>in</strong>em kle<strong>in</strong>lichen, despotischen W ärter gemachtwird, während es doch e<strong>in</strong> großzügiger W ächter se<strong>in</strong> sollte.«Zweifellos konnte ich dem Gang se<strong>in</strong>er Erläuterung nichtfolgen. Ich hörte zwar jedes W ort und schrieb es m it, und dochh<strong>in</strong>g ich irgendwie e<strong>in</strong>em eigenen <strong>in</strong>neren Dialog nach. »Esfällt mir sehr schwer, dir zu folgen«, sagte ich. »Würdest dudich nicht an de<strong>in</strong> Selbstgespräch klammern, dann hättest duke<strong>in</strong>e Schwierigkeiten«, sagte er scharf. Diese Bemerkungv eran laß te mich zu e<strong>in</strong>er langen, weitschweifigen Erklärung.Schließlich f<strong>in</strong>g ich mich wie<strong>der</strong> und entschuldigte michfür me<strong>in</strong>e beharrliche Selbstrechtfertigung.Er lächelte und machte e<strong>in</strong>e Gebärde, die anzudeuten schien,daß er sich nicht wirklich über me<strong>in</strong> Verhalten geärgert hatte.»Das Tonal, das ist alles, was wir s<strong>in</strong>d«, fuhr er fort. »Schaud ic h um ! Alles, wofür w i r W örter haben, ist das Tonal. Und dadas Tonal n ic h ts an<strong>der</strong>es ist als se<strong>in</strong> eigenes Tun, muß folglichalles <strong>in</strong> se<strong>in</strong>e Sphäre f a l l e n .«137


Ich er<strong>in</strong>nerte ihn daran, daß er gesagt hatte, das »Tonal« sei diesoziale Person - e<strong>in</strong> Begriff, den ich selbst ihm gegenüberverwendet hatte, um den Menschen als Endresultat von Sozialisierungsprozessenzu bezeichnen. Falls das »Tonal« diesesProdukt sei, führte ich aus, könne es nicht »alles« se<strong>in</strong>, wie ergesagt hatte, denn die uns umgebende Welt sei nicht dasProdukt e<strong>in</strong>er Sozialisation.<strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> verwies mich darauf, daß me<strong>in</strong> E<strong>in</strong>wand für ihngegenstandslos sei, denn er habe mir schon vor langem erklärt,daß es ke<strong>in</strong>e Welt schlechth<strong>in</strong> gebe, son<strong>der</strong>n nur e<strong>in</strong>e Beschreibung<strong>der</strong> Welt, die wir uns vorzustellen und als gesicherth<strong>in</strong>zunehmen gelernt hätten.»Das Tonal ist alles, was wir kennen«, sagte er. »Ich me<strong>in</strong>e,dies alle<strong>in</strong> ist e<strong>in</strong> zureichen<strong>der</strong> Grund, warum das Tonal e<strong>in</strong>eso überragende Bedeutung hat.«Er ließ e<strong>in</strong>e Pause entstehen. Zweifellos wartete er auf e<strong>in</strong>eBemerkung o<strong>der</strong> Frage von mir, aber mir fiel nichts e<strong>in</strong>.Dennoch fühlte ich mich verpflichtet, e<strong>in</strong>e Frage zu stellen.und so bemühte ich mich, etwas Passendes zu formulieren. Esgelang mir nicht. Vielleicht, so me<strong>in</strong>te ich, wirkten die Warnungen,mit denen er unser Gespräch eröffnet hatte, alsAbschreckung gegen jegliches Nachfragen me<strong>in</strong>erseits. Ichwar seltsam betäubt. Ich konnte me<strong>in</strong>e Gedanken nicht sammelnnoch ordnen. Tatsächlich spürte und wußte ich ohne denleisesten Zweifel, daß ich nicht zu denken vermochte, und dochwußte ich dies, ohne es zu denken, wenn so etwas überhauptmöglich war.Ich blickte <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> an. Er starrte auf me<strong>in</strong>e Körpermitte.Dann hob er den Blick, und sofort kehrte me<strong>in</strong> klares Denkenwie<strong>der</strong>.»Das Tonal ist alles, was wir kennen«, wie<strong>der</strong>holte er langsam.»Und dies schließt nicht nur uns als Personen e<strong>in</strong>,son<strong>der</strong>n alles <strong>in</strong> unserer Welt. Man kann sagen, das Tonal istalles, worauf unser Auge fällt.Bereits im Augenblick unserer Geburt beg<strong>in</strong>nen wir es zuhegen und zu pflegen. In dem Moment, da wir den erstenAtemzug tun, atmen wir auch <strong>Kraft</strong> für das Tonal e<strong>in</strong>: es trifftalso zu, daß das Tonal e<strong>in</strong>es Menschen eng mit se<strong>in</strong>er Geburtverbunden ist.Dieses Faktum mußt du im S<strong>in</strong>n behalten. Es ist sehr wichtig,um all dies zu verstehen. Das Tonal beg<strong>in</strong>nt mit <strong>der</strong> Geburt undendet mit dem Tod.«Ich wollte alle se<strong>in</strong>e Behauptungen gern noch e<strong>in</strong>mal zusammenfassen.Ich war sogar schon so weit, daß ich me<strong>in</strong>en Mundaufmachte, um ihn zu bitten, mir die wesentlichen Punkteunseres Gesprächs zu wie<strong>der</strong>holen, aber zu me<strong>in</strong>er Verwun<strong>der</strong>ungkonnte ich ke<strong>in</strong> Wort hervorbr<strong>in</strong>gen. Ich erlebte e<strong>in</strong>eganz eigenartige Lähmung, me<strong>in</strong>e Zunge war schwer, und ichhatte ke<strong>in</strong>erlei Kontrolle über diese Empf<strong>in</strong>dung. Ich schaute<strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> an, um ihm zu verstehen zu geben, daß ich nichtsprechen konnte. Wie<strong>der</strong> starrte er auf me<strong>in</strong>e Magengegend.Er hob den Blick und fragte, wie ich mich fühlte. Die Wörtersprudelten nur so aus mir heraus, als sei e<strong>in</strong> Riegel fortgeschobenworden. Ich erzählte ihm, daß ich gerade das eigenartigeGefühl gehabt hätte, nicht sprechen noch denken zu können,dennoch seien me<strong>in</strong>e Gedanken kristallklar gewesen. »De<strong>in</strong>eGedanken waren also kristallklar?« fragte er. Nun erkannte ich.daß diese Klarheit sich nicht auf me<strong>in</strong>e Gedanken, son<strong>der</strong>nauf me<strong>in</strong>e Wahrnehmung <strong>der</strong> Welt bezog.»Machst du eigentlich irgend etwas mit mir. <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong>?«fragte ich.»Ich versuche, dich davon zu überzeugen, daß de<strong>in</strong>e E<strong>in</strong>wändeunnötig s<strong>in</strong>d«, sagte er und lachte. »Du me<strong>in</strong>st, du möchtestnicht, daß ich Fragen stelle?« »Ne<strong>in</strong>. ne<strong>in</strong>. Frag nur alles, wasdu willst, aber laß nicht <strong>in</strong> de<strong>in</strong>er Aufmerksamkeit nach.«Ich mußte zugeben, daß ich durch die Ungeheuerlichkeit desThemas zerstreut gewesen war.»Ich verstehe immer noch nicht, <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong>, was du mit <strong>der</strong>Feststellung me<strong>in</strong>st, daß das Tonal Alles se<strong>in</strong> soll«, me<strong>in</strong>te ichnach kurzer Pause.»Das Tonal ist das, was die Welt schafft.«»Ist das Tonal <strong>der</strong> Schöpfer <strong>der</strong> Welt?« <strong>Don</strong><strong>Juan</strong> kratzte sich am Kopf.»Das Tonal schafft die Welt - das ist nur e<strong>in</strong>e bildlicheRedeweise. Es kann nichts erschaffen o<strong>der</strong> verän<strong>der</strong>n, und138 139


doch schafft es die Welt, denn es ist se<strong>in</strong>e Funktion, zuurteilen, zu bewerten und zu bezeugen. Ich sage, das Tonalschafft die Welt, denn es bezeugt und bewertet sie gemäß denRegeln des Tonal. Auf ganz seltsame Weise ist das Tonal e<strong>in</strong>Schöpfer, <strong>der</strong> nichts erschaffen kann. Mit an<strong>der</strong>en Worten, dasTonal stellt die Regeln auf, nach denen es die Welt begreift.Also erschafft es sozusagen die Welt.« Er summte e<strong>in</strong>volkstümliches Lied, wobei er den Rhythmus mit den F<strong>in</strong>gernauf <strong>der</strong> Stuhllehne trommelte. Se<strong>in</strong>e Augen leuchteten; sieschienen Funken zu sprühen. Er lachte und schüttelte denKopf.»Du kannst mir nicht folgen«, sagte er lachend. »Aber doch!Es macht mir ke<strong>in</strong>e Mühe«, sagte ich, aber es klang nicht sehrüberzeugend.»Das Tonal K\ e<strong>in</strong>e Insel«, erklärte er. »Am besten kann man esbeschreiben, wenn man sagt, dies hier ist das Tonal.« Er strichmit <strong>der</strong> Hand über die Tischplatte. »Man kann sagen, das Tonalist wie diese Tischplatte. E<strong>in</strong>e Insel. Und auf dieser Inselhaben wir alles mögliche. Diese Insel ist also die Welt.Hier gibt es e<strong>in</strong> persönliches Tonal für jeden von uns. und daist zu jedem gegebenen Zeitpunkt e<strong>in</strong> kollektives für uns alle,das wir als das Tonal <strong>der</strong> Zeiten bezeichnen können.« Erdeutete auf die Tischreihen im Restaurant. »Schau! Je<strong>der</strong> Tischzeigt das gleiche Bild. Auf allen gibt es gewisse Gegenstände.Doch sie unterscheiden sich im e<strong>in</strong>zelnen von e<strong>in</strong>an<strong>der</strong>. Aufmanchen Tischen f<strong>in</strong>det sich mehr als auf an<strong>der</strong>en.Verschiedene Speisen stehen auf ihnen, verschiedene Teller, daist e<strong>in</strong>e unterschiedliche Atmosphäre, und doch müssen wirzugeben, daß alle Tische <strong>in</strong> diesem Restaurant sich sehr ähnlichs<strong>in</strong>d. Das gleiche gilt für das Tonal. Man kann sagen, es ist dasTonal <strong>der</strong> Zeiten, was uns e<strong>in</strong>an<strong>der</strong> ähnlich macht, genau wiees alle Tische <strong>in</strong> diesem Restaurant sich gleichen läßt. Dennochist je<strong>der</strong> Tisch für sich e<strong>in</strong> E<strong>in</strong>zelfall, genau wie daspersönliche Tonal e<strong>in</strong>es jeden von uns. Doch dasentscheidende Faktum, das wir nicht vergessen dürfen, ist, daßalles, was wir über uns selbst und über unsere Welt wissen, sichauf <strong>der</strong> Insel des Tonal bef<strong>in</strong>det. Siehst du. was ich me<strong>in</strong>e?«»W enn das Tonal all das ist, was wir über uns und unsere W eltwissen, was ist dann das Nagual?«»Das Nagual ist <strong>der</strong>jenige Teil von uns, <strong>der</strong> uns ganz unzugänglichist.« »W ie bitte?«»Das Nagual ist <strong>der</strong> Teil von uns, f ü r den es ke<strong>in</strong>e Beschreibunggibt - ke<strong>in</strong>e W örter, ke<strong>in</strong>e Namen, ke<strong>in</strong>e Gefühle, ke<strong>in</strong>W issen.«»Das ist e<strong>in</strong> W i<strong>der</strong>spruch, <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong>. W enn es nicht gefühlto<strong>der</strong> beschrieben o<strong>der</strong> benannt werden kann, dann kann esme<strong>in</strong>er M e<strong>in</strong>ung nach nicht existieren.« »Nur de<strong>in</strong>er M e<strong>in</strong>ungnach ist es e<strong>in</strong> W i<strong>der</strong>spruch. Ich habe dich schon gewarnt,br<strong>in</strong>g dich nicht um im Bemühen, dies zu verstehen.«»W ürdest du sagen, das das Nagual <strong>der</strong> G eist ist? « »N e<strong>in</strong>. D erGeist ist nur e<strong>in</strong> Gegenstand auf dem Tisch. <strong>Der</strong> Geist ist Teildes Tonal. Sagen wir e <strong>in</strong> m a l, <strong>der</strong> G eist ist diese Chiliflasche.«Er nahm e<strong>in</strong>e Gewürzflasche und stellte sie vor mir auf denTisch.»Ist das Nagual die Seele?«»Ne<strong>in</strong>. Auch die Seele gibt es auf dem Tisch. Nehmen wire<strong>in</strong>mal an, die Seele sei <strong>der</strong> Aschenbecher.« »S<strong>in</strong>d es dieGedanken <strong>der</strong> M enschen?« »Ne<strong>in</strong>. Auch die Gedanken s<strong>in</strong>dauf dem Tisch. Die Gedanken s<strong>in</strong>d das Besteck hier.«Er nahm e<strong>in</strong>e Gabel und legte sie neben die Chiliflasche undden Aschenbecher.»Ist es e<strong>in</strong> Zustand <strong>der</strong> Gnade? <strong>Der</strong> Himmel?« »Ne<strong>in</strong>, das auchnicht. Das. was es auch se<strong>in</strong> mag. ist ebenfalls Teil des Tonal.Sagen wir, es sei die Serviette.« Ich fuhr fort und zählte alleM öglichkeiten <strong>der</strong> Beschreibung auf für das, was er me<strong>in</strong>enmochte: Intellekt, Psyche, Energie, Lebenskraft,U nsterblichkeit. Lebenspr<strong>in</strong>zip. Für je d e n B egriff, den ichnannte, fand er auf dem Tisch e<strong>in</strong>en Gegenstand, den er alsGegenstück benutzte und vor mir aufbaute, bis er alle auf demTisch bef<strong>in</strong>dlichen Objekte auf e<strong>in</strong>em Haufen versammelt hatte.<strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> schien die ganze Sache ungeheuren Spaß zu ma-140 141


chen. Er kicherte und rieb sich die Hände, sooft ich e<strong>in</strong>eweitere Möglichkeit erwähnte.»Ist das Nagual das höchste Wesen? <strong>Der</strong> Allmächtige, Gott?«»Ne<strong>in</strong>. Auch Gott gibt es auf dem Tisch. Nehmen wir an, Gottsei das Tischtuch.«Er machte e<strong>in</strong>e spaßige Gebärde, als wolle er das Tischtuch anden Zipfeln hochheben, um es über die an<strong>der</strong>en Gegenständezu breiten, die er vor mir aufgestellt hatte. »Aber sagtest dunicht, daß Gott nicht existiert?« »Ne<strong>in</strong>. Das habe ich nichtgesagt. Ich sagte nur, daß das Nagual nicht Gott ist, denn Gottist e<strong>in</strong> Gegenstand unseres persönlichen Tonal und des Tonal<strong>der</strong> Zeiten. Wie schon gesagt, das Tonal ist alles, woraus dieWelt sich, wie wir glauben, zusammensetzt - e<strong>in</strong>schließlichGott, natürlich. Gott hat nicht mehr Bedeutung, als daß er e<strong>in</strong>Teil des Tonal unserer Zeit ist.«»In me<strong>in</strong>em Verständnis, <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong>, ist Gott alles. Sprechenwir überhaupt über dasselbe?«»Ne<strong>in</strong>. Gott ist nur all das, was du zu denken vermagst, daherist er, genaugenommen, nur e<strong>in</strong>er unter den Gegenständen auf<strong>der</strong> Insel. Man kann Gott nicht willentlich erleben, man kannnur über ihn sprechen. Das Nagual h<strong>in</strong>gegen steht dem Kriegerzu Gebot. Man kann es erleben, aber man kann nicht darübersprechen.«»Wenn das Nagual ke<strong>in</strong>es <strong>der</strong> D<strong>in</strong>ge ist. die ich genannt habe,kannst du mir dann vielleicht etwas über se<strong>in</strong>en Aufenthaltsortsagen? Wo ist es?«<strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> fegte mit <strong>der</strong> Hand durch die Luft und wies auf denRaum außerhalb <strong>der</strong> Tischkanten. Er bewegte die Hand, alswollte er e<strong>in</strong>e imag<strong>in</strong>äre Oberfläche säubern, die über dieKanten des Tisches h<strong>in</strong>ausreichte.»Das Nagual ist dort«, sagte er. »Dort, es umgibt die Insel.Das Nagual ist dort, wo die <strong>Kraft</strong> schwebt. Vom Augenblickunserer Geburt an fühlen wir, daß wir aus zwei Teilenbestehen. Zum Zeitpunkt <strong>der</strong> Geburt und noch kurz danachs<strong>in</strong>d wir nur Nagual. Dann fühlen wir, daß wir. um zufunktionieren, e<strong>in</strong> Gegenstück zu dem brauchen, was wirhaben. Was fehlt, ist das Tonal, und dies gibt uns vonAnfang an e<strong>in</strong> Gefühl <strong>der</strong> Unvollkommenheit. Dann fängt dasTonal an zu wachsen, und es wird ungeme<strong>in</strong> wichtig, sowichtig, daß es den Glanz des Nagual verdunkelt, es zurückdrängt.Von dem Augenblick an, da wir ganz Tonal s<strong>in</strong>d, tunwir nichts an<strong>der</strong>es, als jenes alte Gefühl <strong>der</strong> Unvollkommenheitzu verstärken, das uns seit dem Augenblick unserer Geburtbegleitet und das uns beständig sagt, daß es noch e<strong>in</strong>en an<strong>der</strong>enTeil braucht, um uns zu vervollständigen. Von dem Augenblickan. da wir ganz Tonal werden, fangen wir an, Paare zu bilden.Wir fühlen unsere zwei Seiten, aber wir stellen sie uns immernur anhand von Gegenständen des Tonal vor. So sagen wir. daßunsere zwei Teile Körper und Seele s<strong>in</strong>d. O<strong>der</strong> Geist undMaterie. O<strong>der</strong> Gut und Böse. Gott und Satan. Aber nie erkennenwir. daß wir nur Gegenstände unserer Insel zu Paarenzusammenfassen, ganz ähnlich wie wenn wir Kaffee und Tee.Brot und Tortillas, Chili und Senf paarweise bezeichnen. Wirs<strong>in</strong>d komische Wesen, sage ich dir. Wir tappen im Dunkel, und<strong>in</strong> unserer Torheit machen wir uns vor, alles zu verstehen.«<strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> stand auf und sprach mich an, als sei er e<strong>in</strong> Volksredner.Er deutete mit dem Zeigef<strong>in</strong>ger auf mich und ließse<strong>in</strong>en Kopf zittern.»<strong>Der</strong> Mensch bewegt sich nicht zwischen Gut und Böse«,sagte er <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em fröhlich rhetorischen Tonfall und griff mitbeiden Händen nach Pfeffer und Salz. »I n Wirklichkeit bewegter sich zwischen Negativität und Positivität.« Er ließ die SalzundPfefferstreuer fallen und griff nach Messer und Gabel.»Du irrst! Es gibt ke<strong>in</strong>e Bewegung«, fuhr er fort, als ob er sichselbst wi<strong>der</strong>spräche. »<strong>Der</strong> Mensch ist nur Geist!« Er griff zurChiliflasche hob sie hoch. Dann stellte er sie h<strong>in</strong>. »Wie dusiehst«, sagte er leise, »können wir ohne weiteres Chiliflaschefür Geist e<strong>in</strong>setzen und schließlich feststellen: <strong>Der</strong> Mensch istnur Chilisoße! Wenn wir dies tun, machen wir uns nur nochverrückter, als wir schon s<strong>in</strong>d.« »Ich fürchte, ich habe nicht dierichtige Frage gestellt«, sagte ich. »Vielleicht verstünden wiruns besser, wenn ich fragte, was sich im e<strong>in</strong>zelnen <strong>in</strong> diesemRaum außerhalb <strong>der</strong> Insel bef<strong>in</strong>det?«142 143


»Das zu beantworten ist unmöglich. Würde ich sagen: Nichts,dann würde ich das Nagual nur zu e<strong>in</strong>em Teil des Tonalmachen. Man kann nichts an<strong>der</strong>es sagen, als daß man dort,jenseits <strong>der</strong> Insel, das Nagual f<strong>in</strong>det.«»Aber wenn du es das Nagual nennst, br<strong>in</strong>gst du es dann nichtebenfalls auf <strong>der</strong> Insel unter?«»Ne<strong>in</strong>. Ich habe ihm nur e<strong>in</strong>en Namen gegeben, weil ich dichdarauf aufmerksam machen wollte.«»Na schön! Aber <strong>in</strong>dem ich darauf aufmerksam werde, tue ichdoch den Schritt, <strong>der</strong> das Nagual zu e<strong>in</strong>em weiteren Gegenstandme<strong>in</strong>es Tonal macht.«»Ich fürchte, du verstehst nicht. Ich habe das Tonal und dasNagual als e<strong>in</strong> echtes Paar benannt. Etwas an<strong>der</strong>es habe ichnicht getan.«Er er<strong>in</strong>nerte mich daran, daß ich e<strong>in</strong>mal, als ich ihm erklärenwollte, warum mir so viel am S<strong>in</strong>n <strong>der</strong> Wörter gelegen sei, dieVorstellung erörtert hatte, daß K<strong>in</strong><strong>der</strong> vielleicht nicht imstandes<strong>in</strong>d, den Unterschied zwischen »Vater« und »Mutter« zuverstehen, bevor sie nicht e<strong>in</strong>e Entwicklungsstufe erreichthaben, auf <strong>der</strong> sie mit S<strong>in</strong>n umgehen können, und daß sievielleicht glauben konnten, »Vater« bedeute, >Hosen tragenRöcke trägem - o<strong>der</strong> an<strong>der</strong>e Unterschiedeh<strong>in</strong>sichtlich Haartracht, Körpergröße o<strong>der</strong> Kleidung.»Sicher tun wir dasselbe mit unseren zwei Teilen«, sagte er.»Wir fühlen, daß es noch e<strong>in</strong>e an<strong>der</strong>e Seite von uns gibt. Abersobald wir versuchen, diese an<strong>der</strong>e Seite festzumachen, gelangtdas Tonal ans Ru<strong>der</strong>, und als Kommandant ist es ziemlichkle<strong>in</strong>lich und eifersüchtig. Es blendet uns mit se<strong>in</strong>er List undzw<strong>in</strong>gt uns, auch noch die leiseste Ahnung von dem an<strong>der</strong>enTeil des echten Paares, dem Nagual. auszutilgen.«<strong>Der</strong> Tag des NagualAls wir das Restaurant verließen, sagte ich zu <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong>, daß errecht gehabt habe, mich vor <strong>der</strong> Schwierigkeit des Themas zuwarnen, und daß me<strong>in</strong>e <strong>in</strong>tellektuellen Fähigkeiten nichtausreichten, um se<strong>in</strong>e Begriffe und Erklärungen zu verstehen.Ich schlug vor. ich sollte vielleicht <strong>in</strong> me<strong>in</strong> Hotel gehen undme<strong>in</strong>e Aufzeichnungen noch e<strong>in</strong>mal durchlesen, um e<strong>in</strong> besseresVerständnis des Themas zu gew<strong>in</strong>nen. Er suchte mich zuberuhigen. Er me<strong>in</strong>te, ich regte mich über Wörter auf. Währen<strong>der</strong> sprach, verspürte ich e<strong>in</strong> Frösteln, und e<strong>in</strong>en Augenblickfühlte ich. daß es tatsächlich e<strong>in</strong>en an<strong>der</strong>en Bereich <strong>in</strong> mir gab.Ich berichtete <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong>, ich hätte gewisse, unerklärlicheEmpf<strong>in</strong>dungen. Me<strong>in</strong>e Äußerung weckte ansche<strong>in</strong>end se<strong>in</strong>eNeugier. Ich erzählte ihm, ich hätte diese Empf<strong>in</strong>dungenschon vorher gehabt, und ansche<strong>in</strong>end seien es momentaneEntgleisungen, e<strong>in</strong> Aussetzen me<strong>in</strong>er Bewußtse<strong>in</strong>svorgänge.Sie manifestierten sich stets als körperlicher Schock, gefolgtvon dem Gefühl, daß irgend etwas mich <strong>in</strong> <strong>der</strong> Schwebe hielt.Wir g<strong>in</strong>gen gemächlich stadte<strong>in</strong>wärts. <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> bat mich, ihmdiese »Entgleisungen« ausführlich zu beschreiben. Es fiel mirschwer, sie zu schil<strong>der</strong>n, außer daß ich sie als momentaneVergeßlichkeit, geistige Abwesenheit o<strong>der</strong> als Nichtwissen umme<strong>in</strong> Tun bezeichnen konnte.Geduldig wehrte er ab. Er wies darauf h<strong>in</strong>, ich sei e<strong>in</strong> sehranspruchsvoller Mensch, hätte e<strong>in</strong> hervorragendes Gedächtnisund sei <strong>in</strong> me<strong>in</strong>em Handeln sehr umsichtig. Zuerst hatte ichgeme<strong>in</strong>t, daß diese eigenartigen Entgleisungen mit dem Abstellendes <strong>in</strong>neren Dialogs verbunden seien, doch ich erlebtesie auch, während ich extensive Selbstgespräche führte. Sieschienen aus e<strong>in</strong>er Region me<strong>in</strong>es Inneren herzurühren, dieganz unabhängig von allen bewußten Vorgängen war. <strong>Don</strong><strong>Juan</strong> klopfte mir auf den Rücken. Er lächelte mit sichtlichemVergnügen.»Endlich beg<strong>in</strong>nst du die richtigen Zusammenhänge zu erkennen«,sage er.145


146Ich bat ihn, diese geheimnisvolle Feststellung zu erläutern,aber er brach das Gespräch abrupt ab und for<strong>der</strong>te mich auf.ihn <strong>in</strong> e<strong>in</strong>en kle<strong>in</strong>en Park neben e<strong>in</strong>er Kirche zu begleiten.»Dies ist das Ende unseres Spaziergangs durch die Stadt«,sagte er und setzte sich auf e<strong>in</strong>e Bank. »H ier haben wir e<strong>in</strong>enganz idealen Platz, um die Leute zu beobachten. Die e<strong>in</strong>engehen auf <strong>der</strong> Straße vorüber, und an<strong>der</strong>e kommen aus <strong>der</strong>Kirche. Von hier aus können wir jeden sehen.« Er deutete aufe<strong>in</strong>e breite Geschäftsstraße und auf e<strong>in</strong>en Kiesweg, <strong>der</strong> zurTreppe vor <strong>der</strong> Kirche führte. Unsere Bank stand halbwegszwischen Kirche und Straße. »Das ist me<strong>in</strong>e Liebl<strong>in</strong>gsbank«,sagte er und streichelte das Holz.Er zw<strong>in</strong>kerte mir zu und fuhr gr<strong>in</strong>send fort: »Sie liebt mich.Deshalb saß auch ke<strong>in</strong> an<strong>der</strong>er hier. Sie wußte, daß ichkommen würde.« »Das wußte die Bank?« »Ne<strong>in</strong>! Nicht dieBank. Me<strong>in</strong> Nagual.«»Hat das Nagual e<strong>in</strong> Bewußtse<strong>in</strong>? Ist es sich <strong>der</strong> D<strong>in</strong>gebewußt?«»Selbstverständlich. Es w eiß alles. D aher f <strong>in</strong> d e ich auch d e <strong>in</strong>enBericht so <strong>in</strong>teressant. W as du Entgleisungen und Gefühlenanntest, ist das Nagual. W ollten w ir darüber sprechen,dann müßten wir bei <strong>der</strong> Insel des Tonal Anleihen machen,darum ist es praktischer, es nicht zu erklären, son<strong>der</strong>n n u r vonse<strong>in</strong>en Auswirkungen zu berichten.«Ich w ollte noch etw as über diese eigenartigen Em pf<strong>in</strong>dungensagen, aber er gebot mir Schweigen.»Genug! Heute ist nicht <strong>der</strong> Tag des .Nagual. heute ist <strong>der</strong> Tagdes Tonal«, sagte er. »Ich habe me<strong>in</strong>en Anzug angelegt, weilich heute ganz Tonal b<strong>in</strong>.«Er ließ se<strong>in</strong>en Blick auf mir ruhen. Ich wollte ihm geradesagen, daß unser Thema mir schwieriger erschien als allesan<strong>der</strong>e, was er mir je erklärt hatte: er schien me<strong>in</strong>e W orteerahnt zu haben.»Es ist schwierig«, fuhr er fort. »Ich weiß. Aber wenn dubedenkst, daß dies <strong>der</strong> abschließende Deckel, die letzte Stufedessen ist, was ich dich gelehrt habe, dann ist es nicht übertriebenzu behaupten, daß es alles umfaßt. was ich seit dem erstenTag. als w ir uns begegneten, gesagt habe.« Lange Zeitschwiegen wir. Ic h m e<strong>in</strong>te, ich m üsse warten, bis er se<strong>in</strong>eErklärung noch e<strong>in</strong>mal zusammenfaßte. aber plötzlich überfielmich e<strong>in</strong>e Ahnung, und ich fragte schnell: »S<strong>in</strong>d das Nagualund das Tonal m uns selbst 0 « Er sah mich e<strong>in</strong>dr<strong>in</strong>glich an.»E <strong>in</strong>e sehr schwierige Frage«, sagte er. »Du würdest sagen,sie s<strong>in</strong>d <strong>in</strong> uns. Ich würde sagen, sie s<strong>in</strong>d es nicht, aber ke<strong>in</strong>ervon uns hätte recht. Das Tonal de<strong>in</strong>er Zeit verlangt, daß dubehauptest, alles, was mit de<strong>in</strong>en Gefühlen und Gedanken zutun hat, f<strong>in</strong>de <strong>in</strong> dir statt. Das Tonal <strong>der</strong> Zauberer sagt, imGegenteil, alles ist draußen. W er hat nun recht? Ke<strong>in</strong>er vonbeiden. Dr<strong>in</strong>nen o<strong>der</strong> draußen - darauf kommt es wirklichnicht an.«Ich erhob e<strong>in</strong>en E<strong>in</strong>wand. A ls er über das »Tonal« u n d das»Nagual« gesprochen hatte, sagte ich, da habe es so geklungen,als gebe es noch e<strong>in</strong>en dritten Teil. Er hatte gesagt, das»Tonal« zw<strong>in</strong>ge uns, Handlungen zu tun. Ich bat ihn nun, mirzu sagen, wer f ü r ihn <strong>der</strong>jenige sei. <strong>der</strong> gezwungen werde. Erantwortete m ir nicht d ir e k t.»D ies läßt sich nicht so e<strong>in</strong>fach erklären«, sagte er. »Ganzgleich, wie schlau die Kontrollen des Tonal s<strong>in</strong>d -Tatsache ist,daß das Nagual dennoch auftaucht. Se<strong>in</strong> Auftauchen geschiehtjedoch im m er unabsichtlich. Es ist die große K unst des Tonal,jegliche Bekundung des Nagual so weitgehend zu unterdrükken,daß es. selbst wenn se<strong>in</strong> Dase<strong>in</strong> das Offenkundigste von<strong>der</strong> W elt wäre, unbemerkbar bleibt.« »Für wen ist esunbemerkbar' 1 «Er lachte und nickte mit dem Kopf. Ich bedrängte ihn um e<strong>in</strong>eAntwort.»Für das Tonal«. sagte er. »Ich spreche ausschließlich vomTonal. V ielleicht bewege ich mich im Kreis, aber das darf dichnicht überraschen o<strong>der</strong> stören. Ich habe dich bereits gewarnt,wie schwierig es ist. was ich dir zu sagen habe. Ich nehme alldiese Verrenkungen auf mich, weil me<strong>in</strong> Tonal sich dessenbewußt ist. daß es über sich selbst spricht. M it an<strong>der</strong>en W orten,me<strong>in</strong> Tonal benutzt sich selbst, um die Information zuverstehen, über die de<strong>in</strong> Tonal sich klarwerden soll. M an kann147


sagen, daß das Tonal, da es genau weiß, wie strapaziös es ist.von sich selbst zu sprechen, zum Ausgleich die Begriffe >ichmich< usw. geschaffen hat, und mit <strong>der</strong>en Hilfe kann es mitan<strong>der</strong>en Tonais o<strong>der</strong> mit sich selbst über sich selbst sprechen.Wenn ich nun sage, daß das Tonal uns zw<strong>in</strong>gt, etwas zu tun.dann me<strong>in</strong>e ich nicht, daß es noch e<strong>in</strong> Drittes gäbe. Offensichtlichzw<strong>in</strong>gt es sich selbst, se<strong>in</strong>e eigenen E<strong>in</strong>sichten zubefolgen.Doch bei bestimmten Gelegenheiten o<strong>der</strong> unter gewissen,beson<strong>der</strong>en Umständen wird etwas im Tonal sich dessenbewußt, daß es <strong>in</strong> uns noch etwas an<strong>der</strong>es gibt. Es ist wie e<strong>in</strong>eStimme, die von tief <strong>in</strong>nen kommt, die Stimme des Nagual. Dusiehst, die Ganzheit unseres Selbst ist e<strong>in</strong> natürlicher Zustand,den das Tonal nicht gänzlich austilgen kann, und es gibtAugenblicke, beson<strong>der</strong>s im Leben e<strong>in</strong>es Kriegers, da dieGanzheit <strong>in</strong> Ersche<strong>in</strong>ung tritt. In solchen Augenblicken könnenwir mutmaßen und anschätzen. was wir wirklich s<strong>in</strong>d.Jene Schocks, die du verspürt hast, haben mich beson<strong>der</strong>s<strong>in</strong>teressiert, denn dies ist die Art, wie das Nagual auftaucht. Insolchen Augenblicken wird das Tonal sich <strong>der</strong> Ganzheit unseresSelbst bewußt. Dies ist stets e<strong>in</strong> Schock, denn diesesBewußtse<strong>in</strong> unterbricht die W<strong>in</strong>dstille. Dieses Bewußtse<strong>in</strong>nenne ich die Ganzheit des Wesens, das weiß, daß es sterbenwird. Man kann es sich so vorstellen, daß im Augenblick desTodes <strong>der</strong> an<strong>der</strong>e Partner des echten Paares, das Nagual, voll <strong>in</strong>Funktion tritt und das <strong>in</strong> unseren Waden und Schenkeln, imRücken, <strong>in</strong> den Schultern und im Hals gespeicherte Bewußtse<strong>in</strong>- unsere Er<strong>in</strong>nerungen und Wahrnehmungen - sich auszudehnenund aufzulösen beg<strong>in</strong>nt. Wie die Perlen e<strong>in</strong>er endlosen,zerrissenen Halskette fallen sie, ohne die b<strong>in</strong>dende <strong>Kraft</strong> desLebens, ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong>.«Er blickte mich an. Se<strong>in</strong>e Augen waren voller Frieden. Ichfühlte mich unwohl, blöde.»Die Ganzheit unseres Selbst ist e<strong>in</strong>e sehr dehnbare Sache«,sagte er. »Wir brauchen nur e<strong>in</strong>en sehr ger<strong>in</strong>gen Teil davon,um die kompliziertesten Aufgaben des Lebens zu bewältigen.Doch wenn wir sterben, dann sterben wir mit <strong>der</strong> Ganzheitunseres Selbst. E<strong>in</strong> Zauberer stellt sich die Frage: W enn wirschon mit <strong>der</strong> Ganzheit unseres Selbst sterben, warum dannnicht m it dieser G anzheit leben?«Durch e<strong>in</strong>e Kopfbewegung for<strong>der</strong>te er mich auf, die vielenvorbeigehenden M enschen zu beobachten. »Sie alle s<strong>in</strong>dTonal«-, sagte er. »Ic h werde je tz t etliche von ihnenherausgreifen, damit de<strong>in</strong> Tonal sie beurteilt, und <strong>in</strong>dem es siebeurteilt, wird es sich selbst b e u rte ile n .« E r lenkte m e<strong>in</strong>eAufmerksamkeit auf zwei alte Damen, die eben aus <strong>der</strong> Kirchekamen. Sie standen e<strong>in</strong>en M oment oben auf <strong>der</strong> Ste<strong>in</strong>treppeund schickten sich nun an, mit unendlicher Vorsichtherabzusteigen, wobei sie auf je<strong>der</strong> Stufe stehenblieben.»Schau dir diese zwei Frauen sehr genau an«, sagte er. »Aberbetrachte sie nicht als Personen o<strong>der</strong> als Gestalten, die etwasmit uns geme<strong>in</strong>sam haben. >Betrachte sie als Tonais.


ten, falls sie e<strong>in</strong>mal das Gleichgewicht verlieren und h<strong>in</strong>fallensollten, reglos auf dem Fleck liegenbleiben, bis <strong>der</strong> Krankenwagenkäme. Dies sagte er <strong>in</strong> völlig ernstem, überzeugendemTon. Die Frauen bekreuzigten sich.<strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> setzte sich wie<strong>der</strong>. Se<strong>in</strong>e Augen strahlten. Er sprachleise weiter.»Diese Frauen s<strong>in</strong>d gar nicht so alt, und ihre Körper s<strong>in</strong>d nichtso schwach, und doch s<strong>in</strong>d sie h<strong>in</strong>fällig. Alles an ihnen isttrostlos, ihre Kleidung, ihr Geruch, ihr Verhalten. Warum,glaubst du. s<strong>in</strong>d sie so?«»Vielleicht wurden sie so geboren«, me<strong>in</strong>te ich. »Niemandwird so geboren. Wir machen uns selbst dazu. Das Tonal dieserFrauen ist schwach und verzagt. Ich sagte dir ja, heute ist <strong>der</strong>Tag des Tonal. Ich me<strong>in</strong>te damit, daß ich mich heuteausschließlich mit diesem befassen will. Ich sagte dir auch, daßich zu diesem beson<strong>der</strong>en Zweck me<strong>in</strong>en Anzug angezogenhabe. Damit wollte ich dir zeigen, daß e<strong>in</strong> Krieger mit se<strong>in</strong>emTonal auf ganz bestimmte, sorgsame Weise umgeht. Ich habedich auch darauf aufmerksam gemacht, daß me<strong>in</strong> Anzugtadellos gearbeitet ist und daß alles, was ich heute trage, michperfekt kleidet. Nicht me<strong>in</strong>e Eitelkeit wollte ich dir damitbeweisen, son<strong>der</strong>n me<strong>in</strong>en Krieger-Geist, me<strong>in</strong> Krieger- Tonal.Diese beiden Frauen haben dir heute de<strong>in</strong>en erster, E<strong>in</strong>druckvom Tonal gegeben. Das Leben kann mit dir ebenso erbarmungslosse<strong>in</strong> wie mit ihnen, wenn du sorglos mit de<strong>in</strong>emTonal umgehst. Mich selbst möchte ich e<strong>in</strong>mal als Gegenbeispielanführen. Falls du mich recht verstehst. brauche ich diesnicht näher zu erläutern.«Plötzlich wurde ich unsicher und bat ihn. mir genauer zusagen, was ich verstanden haben sollte. Wahrsche<strong>in</strong>lich klangme<strong>in</strong>e Stimme hoffnungslos. Er lachte laut heraus.»Schau dir diesen jungen Mann <strong>in</strong> grünen Hosen und e<strong>in</strong>emrosa Hemd an!« flüsterte <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> und deutete auf e<strong>in</strong>en sehrmageren, sehr dunkelhäutigen jungen Mann mit scharfenGesichtszügen, <strong>der</strong> be<strong>in</strong>ahe vor uns stand. Er schien unentschlossen,ob er sich zur Straße o<strong>der</strong> zur Kirche wenden sollte.Zweimal hob er die Hand <strong>in</strong> Richtung Kirche, als spreche ermit sich selbst und sei im Begriff, dorth<strong>in</strong> zu gehen. Dannstarrte er mich mit ausdruckslosem Gesicht an. »Schau nur. wieer angezogen ist!« flüsterte <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong>. »Schau dir diese Schuhean!«Die Kleidung des jungen Mannes war zerlumpt und zerknittertund se<strong>in</strong>e Schuhe h<strong>in</strong>gen <strong>in</strong> Fetzen. »Er ist offenbar sehr arm«,sagte ich. »Ist das alles, was du über ihn zu sagen weißt?«fragte er. Ich zählte e<strong>in</strong>e Reihe von Gründen auf, die dasschäbige Aussehen des jungen Mannes erklären mochten:Krankheit. Unglück, Nachlässigkeit. Gleichgültigkeit gegenüberse<strong>in</strong>em Äußeren o<strong>der</strong> auch die Möglichkeit, daß er gerade ausdem Gefängnis entlassen worden war.<strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> me<strong>in</strong>te, ich spekulierte bloß drauflos und er habeke<strong>in</strong> Interesse, irgend etwas durch den H<strong>in</strong>weis zu rechtfertigen,daß <strong>der</strong> Mann e<strong>in</strong> Opfer unüberw<strong>in</strong>dlicher Schwierigkeitensei.»Vielleicht ist er e<strong>in</strong> Geheimagent, <strong>der</strong> sich wie e<strong>in</strong> Strolchausstaffiert hat«, scherzte ich.<strong>Der</strong> junge Mann bewegte sich mit fahrigen Schritten auf dieStraße zu.»Er ist nicht wie e<strong>in</strong> Strolch ausstaffiert, er ist e<strong>in</strong> Strolch«,sagte <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong>. »Schau nur. wie schwächlich se<strong>in</strong> Körper ist!Se<strong>in</strong>e Arme und Be<strong>in</strong>e s<strong>in</strong>d ausgemergelt. Er kann kaumgehen. Niemand kann vortäuschen, so auszusehen. Irgendetwas an ihm ist von Grund auf falsch, aber es s<strong>in</strong>d nicht se<strong>in</strong>eäußeren Umstände. Ich betone noch e<strong>in</strong>mal, ich möchte, daßdu diesen Mann als Tonal betrachtest.« »Was folgt daraus,wenn man e<strong>in</strong>en Mann als Tonal betrachtet?«»Daraus folgt, daß man aufhört, ihn moralisch zu beurteileno<strong>der</strong> ihn mit <strong>der</strong> Begründung zu entschuldigen, er sei wie e<strong>in</strong>hilfloses Blatt im W<strong>in</strong>d. Mit an<strong>der</strong>en Worten, es folgt daraus.daß man e<strong>in</strong>en Mann ansieht, ohne ihn dabei f ü r verzweifelto<strong>der</strong> hilflos zu halten.Du weißt genau, wovon ich spreche. Du kannst diesen jungenMann beurteilen, ohne <strong>in</strong> zu verurteilen o<strong>der</strong> zu entschuldigen.«»Er tr<strong>in</strong>kt zuviel«, sagte ich.150 151


Diese Feststellung hatte ich nicht willentlich getroffen. Ichhatte es e<strong>in</strong>fach gesagt, ohne eigentlich zu wissen, warum .E<strong>in</strong>en M oment hatte ich sogar geme<strong>in</strong>t, es stehe jemandh<strong>in</strong>ter mir und sagte diese W orte. Ich fühlte mich verpflichtetzu erklären, daß me<strong>in</strong>e Behauptung doch wie<strong>der</strong> nur e<strong>in</strong>eme<strong>in</strong>er Spekulationen gewesen sei.»Das ist nicht wahr«, sagte <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong>. »De<strong>in</strong>e Stimme besaße<strong>in</strong>e Festigkeit, die ihr vorher fehlte. Du hast nicht gesagt:V ielleicht ist er e <strong>in</strong> Tr<strong>in</strong>ker.«Ich war verwirrt, wenngleich ich nicht genau zu sagen wußte,warum. <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> lachte.»Du hast durch den M ann h<strong>in</strong>durch gesehen«, sagte er. »Daswar Sehen. So etwa ist das Sehen. M an äußert se<strong>in</strong> U rteilm it großer G ewißheit, und m an weiß nicht, wie es dazukam.Du weißt, daß das Tonal des jungen M annes kaputt ist, aberdu weißt nicht, wieso du es w e iß t.«Irgendwie, mußte ich zugeben, hatte ich diesen E<strong>in</strong>druckgehabt.»D u hast recht«, sagte D on <strong>Juan</strong>. »Es will gar nichts besagen,daß er jung ist, er ist genauso h<strong>in</strong>fällig wie die zwei Frauen.Die Jugend ist ke<strong>in</strong>eswegs e<strong>in</strong>e Schranke gegen den Verfalldes Tonal.Du glaubtest, es gebe vielleicht e<strong>in</strong>e Menge Gründe für denZustand dieses Mannes. Ich me<strong>in</strong>e, es gibt nur e<strong>in</strong>en: se<strong>in</strong>Tonal. Doch es ist nicht so, daß se<strong>in</strong> Tonal etwa schwach wäre,weil er tr<strong>in</strong>kt. Vielmehr umgekehrt, er tr<strong>in</strong>kt, weil se<strong>in</strong> Tonalschwach ist. Diese Schwäche zw<strong>in</strong>gt ihn zu se<strong>in</strong>, was er ist.Aber dasselbe geschieht <strong>in</strong> <strong>der</strong> e<strong>in</strong>en o<strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Form mituns allen.«»Aber rechtfertigst du nicht ebenfalls se<strong>in</strong> Verhalten, sobalddu sagst, es sei se<strong>in</strong> Tonal?«-»Ich gebe dir e<strong>in</strong>e Erklärung, auf die du vorher nie gekommenwärest. Das ist aber ke<strong>in</strong>e Rechtfertigung o<strong>der</strong> Verurteilung.Das Tonal dieses jungen Mannes ist schwach und verzagt.Aber er steht nicht e<strong>in</strong>zig da. Wir alle sitzen mehr o<strong>der</strong> m<strong>in</strong><strong>der</strong>im gleichen Boot.«In diesem Augenblick g<strong>in</strong>g e<strong>in</strong> sehr dicker Mann an unsvorüber, <strong>in</strong> Richtung Kirche. Er trug e<strong>in</strong>en teuren dunkel-grauen E<strong>in</strong>reiher und hatte e<strong>in</strong>e Aktentasche <strong>in</strong> <strong>der</strong> Hand. Se<strong>in</strong>Hemdkragen war aufgeknöpft, und <strong>der</strong> Schlips h<strong>in</strong>g lockerherab. Er schwitzte übermäßig. Se<strong>in</strong>e Haut war sehr hell, wasdie Schweißperlen noch sichtbarer machte. »Beobachte ihn!«befahl mir <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong>. <strong>Der</strong> Mann g<strong>in</strong>g mit kurzen, schwerenSchritten. Se<strong>in</strong> Gang hatte etwas Plumpsendes an sich. Er g<strong>in</strong>gnicht zur Kirche h<strong>in</strong>auf; er g<strong>in</strong>g außen herum und verschwandh<strong>in</strong>ter ihr. »Es ist doch nicht nötig, den Körper so schrecklich zumißhandeln«, sagte <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> mit e<strong>in</strong>em Anflug vonVerachtung. »Aber es ist e<strong>in</strong>e traurige Tatsache, daß wir allees bis zur Perfektion gelernt haben, unser Tonal zu schwächen.Dies nenne ich Sichgehenlassen.«Er legte die Hand auf me<strong>in</strong> Notizbuch und ließ mich nichtweiterschreiben. Se<strong>in</strong>e Begründung lautete, ich könne michnicht konzentrieren, solange ich mir dauernd Notizen machte.Er empfahl mir, mich zu entspannen, den <strong>in</strong>neren Dialogabzustellen und mich frei fließen zu lassen, um mit <strong>der</strong> beobachtetenPerson zu verschmelzen.Ich bat ihn zu erklären, was er mit »Verschmelzen« me<strong>in</strong>te. Ersagte, dies könne man nicht erklären, es sei vielmehr etwas, das<strong>der</strong> Körper fühlt o<strong>der</strong> tut, wenn er <strong>in</strong> beobachtenden Kontaktmit an<strong>der</strong>en Körpern tritt. Dann verdeutlichte er das Gesagte,<strong>in</strong>dem er feststellte, er habe diesen Vorgang sonst als »Sehen«bezeichnet und es handle sich dabei um e<strong>in</strong>e Pause echtenSchweigens im Innern, gefolgt von e<strong>in</strong>er äußeren Verlängerungirgende<strong>in</strong>es Teils des Selbst - e<strong>in</strong>e Verlängerung, die auf denan<strong>der</strong>en Körper treffe und mit ihm verschmelze o<strong>der</strong> mit allem,was sich <strong>in</strong> unserem Wahrnehmungsfeld f<strong>in</strong>de. An diesem Punktwollte ich me<strong>in</strong> Schreibzeug wie<strong>der</strong> aufnehmen, aber er gebotmir E<strong>in</strong>halt und f<strong>in</strong>g an, verschiedene Menschen aus <strong>der</strong>vorüberziehenden Menge herauszugreifen. So machte er michauf Dutzende von Personen aufmerksam, die denverschiedensten Typen von Männern, Frauen und K<strong>in</strong><strong>der</strong>n allerAltersgruppen angehörten. <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> sagte, er habe absichtlichMenschen ausgewählt, <strong>der</strong>en schwaches »Tonal« sich <strong>in</strong> e<strong>in</strong>Kategorienschema e<strong>in</strong>ordnen lasse, um mir dadurch dieverschiedenen vorstellbaren Spielarten des Sich-gehenlassensvorzuführen.152 153


Ich konnte mich nicht an all die Leute er<strong>in</strong>nern, die er mirgezeigt und über die er gesprochen hatte. Ich beschwerte mich,daß ich, hätte ich mir Notizen gemacht, zum<strong>in</strong>dest <strong>in</strong>Umrissen se<strong>in</strong>e schematische Darstellung des Sichgehenlassensbegriffen hätte. Wie dem auch sei. er wollte es nichtwie<strong>der</strong>holen, o<strong>der</strong> vielleicht er<strong>in</strong>nerte er sich auch nicht mehr.Lachend me<strong>in</strong>te er. er ents<strong>in</strong>ne sich nicht mehr, denn im Lebene<strong>in</strong>es Zauberers sei nur das »Nagual« f ü r schöpferischeH<strong>in</strong>falle zuständig.Er sah zum Himmel auf und me<strong>in</strong>te, es sei schon spät und wirmüßten von nun an an<strong>der</strong>s vorgehen. Statt uns mit schwachen»Tonais« zu befassen, wollten wir jetzt auf das Ersche<strong>in</strong>ene<strong>in</strong>es korrekten »Tonal« warten. Nur e<strong>in</strong> Krieger, fügte erh<strong>in</strong>zu, habe e<strong>in</strong> »korrektes Tonal«. und <strong>der</strong> normale Menschkönne bestenfalls e<strong>in</strong> »richtiges Tonal« haben. Nach etlichenM<strong>in</strong>uten des Wartens schlug er sich lachend auf die Schenkel.»Schau, wer da kommt!« sagte er und deutete mit e<strong>in</strong>erKopfbewegung auf die Straße. »Ganz, als ob sie . . .« Ich sahdrei Indianer näherkommen. Sie trugen braune Ponchos, weißeHosen, die bis zur halben Wade reichten, langärmelige Jacken,schmutzige, ausgetretene Sandalen und alte Strohhüte. Je<strong>der</strong>von ihnen trug e<strong>in</strong> Bündel auf dem Rücken. <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> standauf und g<strong>in</strong>g ihnen entgegen. Er sprach mit ihnen. Sie schienenüberrascht und umr<strong>in</strong>gten ihn. Sie lächelten ihn an.Ansche<strong>in</strong>end erzählte er ihnen etwas über mich; die dreidrehten sich um und lächelten mir zu. Sie standen etwa dreibis vier Meter entfernt. Ich horchte aufmerksam, aber ichkonnte nicht hören, was sie sagten. <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> griff <strong>in</strong> die Tascheund reichte ihnen e<strong>in</strong> paar Geldsche<strong>in</strong>e. Sie schienen sich zufreuen: sie scharrten nervös mit den Füßen. Ich hatte sie sehrgern. Sie sahen aus wie K<strong>in</strong><strong>der</strong>. Alle hatten sie kle<strong>in</strong>e weißeZähne und sehr ansprechende, sanfte Gesichtszüge. E<strong>in</strong>er,allem Ansche<strong>in</strong> nach <strong>der</strong> älteste, hatte e<strong>in</strong>en Schnurrbart.Se<strong>in</strong>e Augen waren müde, aber freundlich. Er nahm den Hutab und näherte sich <strong>der</strong> Bank. Die an<strong>der</strong>en folgten ihm. Diedrei begrüßten mich e<strong>in</strong>stimmig. Wir schüttelten uns die Hand.<strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> bat mich, ihnen etwas Geld zu geben. Sie bedanktensich, und nache<strong>in</strong>em höflichen Schweigen sagten sie Lebewohl. <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong>setzte sich wie<strong>der</strong>, und wir sahen ihnen nach, wie sie <strong>in</strong> <strong>der</strong>Menge verschwanden.Ich sagte zu <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong>, ich hätte sie aus irgende<strong>in</strong>em seltsamenGrund sehr gern gehabt.»Das ist gar nicht so seltsam«, sagte er. »Du mußt gefühlthaben, daß ihr Tonal ganz richtig ist. Es ist richtig, aber nichtf ü r unsere Zeit.Wahrsche<strong>in</strong>lich spürtest du, daß sie wie K<strong>in</strong><strong>der</strong> s<strong>in</strong>d. Das s<strong>in</strong>dsie. Und das ist sehr schwer für sie. Ich verstehe sie besser alsdu, darum konnte ich nicht an<strong>der</strong>s als e<strong>in</strong>e Spur traurig se<strong>in</strong>.Die Indianer s<strong>in</strong>d wie Hunde, sie haben nichts. Aber dies isteben ihr Schicksal, und ich sollte nicht traurig darüber se<strong>in</strong>.Me<strong>in</strong>e Traurigkeit ist natürlich me<strong>in</strong>e eigene Art, mich gehenzulassen.»Woher kommen sie. <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong>?«»Aus den Sierras. Sie s<strong>in</strong>d hergekommen, um ihr Glück zumachen. Sie wollen Händler werden. Sie s<strong>in</strong>d Brü<strong>der</strong>. Ichsagte ihnen, daß ich ebenfalls aus <strong>der</strong> Sierra komme und selbste<strong>in</strong> Händler sei. Ich sagte ihnen, du seist me<strong>in</strong> Partner. DasGeld, das wir ihnen gaben, war e<strong>in</strong> Andenken. Solche Andenkensollte e<strong>in</strong> Krieger immer verschenken. Zweifellosbrauchen sie das Geld, aber ihre Bedürftigkeit sollte ke<strong>in</strong>entscheiden<strong>der</strong> Grund se<strong>in</strong>, wenn man e<strong>in</strong> Andenken schenkt.Was man suchen muß. ist das Gefühl. Ich persönlich war vonden dreien gerührt.Die Indianer s<strong>in</strong>d die Verlierer unserer Zeit. Ihr Nie<strong>der</strong>gangf<strong>in</strong>g mit den Spaniern an. und jetzt, unter <strong>der</strong> Herrschaft <strong>der</strong>Nachfahren jener Spanier, haben die Indianer alles verloren.Es ist nicht übertrieben, wenn man sagt, daß die Indianer ihrTonal verloren haben.« »Ist das e<strong>in</strong>e Metapher, <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong>'?«»Ne<strong>in</strong>! Es ist e<strong>in</strong>e Tatsache. Das Tonal ist sehr verletzlich.Mißhandlung erträgt es nicht. Seit dem Tag. da <strong>der</strong> weißeMann se<strong>in</strong>en Fuß auf dieses Land gesetzt hat. hat er systematischnicht nur das <strong>in</strong>dianische Tonal <strong>der</strong> Zeit, son<strong>der</strong>n auchdas persönliche Tonal jedes e<strong>in</strong>zelnen Indianers zerstört. Mankann sich leicht vorstellen, daß die Herrschaft <strong>der</strong> Weißen fürden durchschnittlichen armen Indianer die re<strong>in</strong>e Hölle ist.154 155


Und doch ist es e<strong>in</strong>e Ironie, daß sie für an<strong>der</strong>e Indianer <strong>der</strong>re<strong>in</strong>e Segen war.«»Von wem sprichst du? W elche an<strong>der</strong>en Indianer me<strong>in</strong>st du?«»Die Zauberer. Für die Zauberer war die Conquista dieHerausfor<strong>der</strong>ung ihres Lebens. Sie waren die e<strong>in</strong>zigen, dienicht durch sie zerstört wurden, son<strong>der</strong>n sich ihr anpaßten undsie zu ihrem besten Vorteil nutzten.«»W ie war das möglich, <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong>? Ich hatte stets den E<strong>in</strong>druck,daß die Spanier ke<strong>in</strong>en Ste<strong>in</strong> auf dem an<strong>der</strong>en gelassenhaben.«»Nun, vielleicht stürzten sie alle Ste<strong>in</strong>e um, die <strong>in</strong> Reichweiteihres eigenen Tonal lagen. Im Leben <strong>der</strong> Indianer aber gab esD<strong>in</strong>ge, die für den weißen M ann unbegreiflich waren. DieseD<strong>in</strong>ge bemerkte er nicht e<strong>in</strong>mal. Vielleicht hatten die Zauberere<strong>in</strong>fach Glück, o<strong>der</strong> vielleicht war es ihr W issen, das sierettete. Nachdem das Tonal <strong>der</strong> Zeit und das persönlicheTonal jedes e<strong>in</strong>zelnen Indianers ausgetilgt waren, h ie lte n dieZauberer sich an das e<strong>in</strong>zige, was unangefochten gebliebenwar, das Nagual. M it an<strong>der</strong>en W orten, ihr Tonal nahm Zufluchtbei ihrem Nagual. Dies hätte nicht geschehen können,es sei denn unter den qualvollen Lebensbed<strong>in</strong>gungen e<strong>in</strong>esunterworfenen Volkes. Die heutigen W issenden s<strong>in</strong>d das Produktdieser Bed<strong>in</strong>gungen, und sie s<strong>in</strong>d die besten Kenner desNagual, da sie ganz alle<strong>in</strong> auf dieses angewiesen waren. Bisdah<strong>in</strong> ist <strong>der</strong> weiße M ann niemals vorgedrungen. Tatsächlichhat er nicht mal e<strong>in</strong>e Ahnung, daß es existiert.« An diesemPunkt drängte es mich, e<strong>in</strong>en E<strong>in</strong>wand vorzubr<strong>in</strong>gen. Ichbehauptete allen Ernstes, daß wir im europäischen Denkene<strong>in</strong>e Erklärung für das hätten, was er das »Nagual« nannte.Ich verwies auf den Begriff des transzendentalen Ich o<strong>der</strong> den<strong>in</strong> allen unseren Gedanken, W ahrnehmungen und Gefühlenanwesenden unsichtbaren Beobachter. Ich erklärte <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong>,das Individuum könne sich durch das transzendentale Ich als e<strong>in</strong>Selbst wahrnehmen o<strong>der</strong> <strong>in</strong>tuitiv erfahren, denn dieses sei diee<strong>in</strong>zige Instanz, die Urteile fällen könne, die im Bereich se<strong>in</strong>esB ewußtse<strong>in</strong>s Realität bezeuge. <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> war wenigbee<strong>in</strong>druckt. Er lachte. »Realität bezeugen«, äffte er mich nach.»D as ist das Tonal.« Das »Tonal«, wandte ich e<strong>in</strong>, könne manals das empirische156Ich bezeichnen, das sich im fließenden Strom unseres Bewußtse<strong>in</strong>so<strong>der</strong> unserer Erfahrung zeige, während das transzendentaleIch h<strong>in</strong>ter diesem Strom stehe. »Beobachtend . . .. vermuteich«, sagte er spöttisch. »Ganz richtig! Sich selbstbeobachtend«, sagte ich. »Ich höre dich reden« sagte er, »aberdu sagst nichts. Das Nagual ist we<strong>der</strong> Erfahrung noch Intuition,noch Bewußtse<strong>in</strong>. Diese Begriffe und alles an<strong>der</strong>e, was du <strong>in</strong>sFeld führen magst, s<strong>in</strong>d nur Gegenstände auf <strong>der</strong> Insel desTonal. Das Nagual h<strong>in</strong>gegen ist nur Wirkung. Das Tonalbeg<strong>in</strong>nt bei <strong>der</strong> Geburt und endet mit dem Tod, aber das Nagualendet niemals. Das Nagual ist grenzenlos. Ich habe gesagt, dasNagual sei dort, wo die <strong>Kraft</strong> schwebt. Das war nur e<strong>in</strong>eBenennung. Aufgrund se<strong>in</strong>er Wirkung läßt das Nagual sichvielleicht am besten als <strong>Kraft</strong> verstehen. Als du dich zumBeispiel heute nachmittag wie betäubt fühltest und nichtsprechen konntest, da habe ich dich allerd<strong>in</strong>gs beschwichtigt,das heißt, me<strong>in</strong> Nagual wirkte auf dich e<strong>in</strong>.«»Wie war das möglich, <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong>?«»Du wirst es nicht glauben, aber das weiß niemand. Ich weißnur, daß ich de<strong>in</strong>e ungeteilte Aufmerksamkeit wollte, unddann f<strong>in</strong>g me<strong>in</strong> Nagual an, auf dich e<strong>in</strong>zuwirken. Und diesweiß ich auch nur. weil ich se<strong>in</strong>e Wirkung sehen kann, aber ichweiß nicht, wie es wirkt.«Er schwieg e<strong>in</strong>e Weile. Ich wollte noch weiter auf das Themae<strong>in</strong>gehen. Ich versuchte, e<strong>in</strong>e Frage zu stellen: er gebot mirSchweigen.»Man kann sagen, daß das Nagual für die Kreativität verantwortlichist«, sagte er schließlich und sah mich durchdr<strong>in</strong>gendan. »Das Nagual ist <strong>der</strong> e<strong>in</strong>zige Teil <strong>in</strong> uns, <strong>der</strong> etwas schaffenkann.«Er schwieg und sah mich an. Ich hatte den E<strong>in</strong>druck, daß er miche<strong>in</strong>deutig auf e<strong>in</strong> Gebiet führte, über das ich mir schon früherAufklärung von ihm gewünscht hätte. Er sagte, daß dasTonalnichts, schaffe, son<strong>der</strong>n nur beobachte und beurteile. Ichfragte ihn, wie er sich die Tatsache erkläre, daß wir großartigeStrukturen und Apparate konstruieren können. »Das ist ke<strong>in</strong>eKreativität«, sagte er. »Das ist nur Formung. Wir können mitunseren Händen alles formen, alle<strong>in</strong> o<strong>der</strong> <strong>in</strong>157


Verb<strong>in</strong>dung mit den Händen an<strong>der</strong>er Tonais. E<strong>in</strong>e Gruppe vonTonais kann alles mögliche formen, großartige Strukturen, wiedu sagtest.«»Aber was ist dann Kreativität, <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong>?« Er starrte mich anund bl<strong>in</strong>zelte. Er lachte leise, hob die rechte Hand über denKopf und bog das Handgelenk ruckartig nach unten, als ob ere<strong>in</strong>e Türkl<strong>in</strong>ke nie<strong>der</strong>drückte. »Dies ist Kreativität«, sagte erund brachte se<strong>in</strong>e hohle Hand auf die Höhe me<strong>in</strong>er Augen.Ich brauchte unheimlich lange, um me<strong>in</strong>e Augen auf se<strong>in</strong>eHand e<strong>in</strong>zustellen. Ich hatte das Gefühl, als halte e<strong>in</strong>e durchsichtigeFolie me<strong>in</strong>en ganzen Körper <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er starren Haltungfest und als müsse ich diese durchbrechen, um me<strong>in</strong>en Blickauf se<strong>in</strong>e Hand richten zu können.Ich kämpfte, bis mir <strong>der</strong> Schweiß <strong>in</strong> die Augen rann. Schließlichhörte o<strong>der</strong> spürte ich e<strong>in</strong>en Knall, und me<strong>in</strong>e Augen und me<strong>in</strong>Kopf waren frei.Auf se<strong>in</strong>er rechten Handfläche hockte das seltsamste Nagetier,das ich je gesehen hatte. Es sah aus wie e<strong>in</strong> Eichhörnchenmit buschigem Schweif. <strong>Der</strong> Schweif glich jedoch eher deme<strong>in</strong>es Stachelschwe<strong>in</strong>s. Er hatte starre Stacheln. »Faß es an!«sagte <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> leise.Automatisch gehorchte ich und streichelte mit dem F<strong>in</strong>ger denzarten Rücken des Tierchens. <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> hielt mir se<strong>in</strong>e Handnoch näher vor die Augen, und dann sah ich etwas, dasnervöse Zuckungen bei mir auslöste. Das Eichhörnchen truge<strong>in</strong>e Brille und hatte große, breite Zähne. »Es sieht aus wie e<strong>in</strong>Japaner«, sagte ich und f<strong>in</strong>g hysterisch an zu lachen.Dann f<strong>in</strong>g das Nagetier <strong>in</strong> <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong>s Hand an zu wachsen.Und während <strong>in</strong> me<strong>in</strong>en Augen immer noch Lachtränen standen,wurde das Nagetier so riesig, daß es aus me<strong>in</strong>em Blickverschwand. Es wuchs buchstäblich über me<strong>in</strong>en Gesichtskreish<strong>in</strong>aus. Dies geschah so rasch, daß es mich mitten <strong>in</strong> e<strong>in</strong>emLachkrampf überraschte. Als ich wie<strong>der</strong> h<strong>in</strong>schaute, vielmehrals ich mir die Augen wischte, um schärfer zu sehen, erblickteich vor mir <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong>. Er saß auf <strong>der</strong> Bank, und ich stand vorihm, obwohl ich mich nicht entsann, aufgestanden zu se<strong>in</strong>.E<strong>in</strong>en Augenblick wurde me<strong>in</strong>e Nervosität unkontrollierbar.<strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> stand ruhig auf, zwang mich nie<strong>der</strong>zusitzen. stützteme<strong>in</strong> K<strong>in</strong>n <strong>in</strong> se<strong>in</strong>e Armbeuge und schlug mir mit den Knöchelnse<strong>in</strong>er rechten Hand oben auf die Schädeldecke. DieWirkung war wie e<strong>in</strong> elektrischer Schlag. Sie beruhigte michaugenblicklich.Es gab so vieles, was ich fragen wollte. Aber me<strong>in</strong>e Wortekonnten sich nicht durch das Gewirr me<strong>in</strong>er Gedanken h<strong>in</strong>durchkämpfen.Dann wurde mir scharf bewußt. daß ich dieKontrolle über me<strong>in</strong>e Stimmbän<strong>der</strong> verloren hatte. Ich wolltemich aber nicht anstrengen, um zu sprechen, und so lehnte ichmich e<strong>in</strong>fach auf <strong>der</strong> Bank zurück. <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> sagte e<strong>in</strong>dr<strong>in</strong>glich,ich müsse mich zusammenreißen und aufhören, michgehenzulassen. Mir war e<strong>in</strong> wenig schw<strong>in</strong>dlig. Nachdrücklichempfahl er mir. an me<strong>in</strong>en Notizen weiterzuschreiben, undreichte mir Block und Bleistift, die er vom Boden unter <strong>der</strong>Bank aufgehoben hatte.Ich machte e<strong>in</strong>e ungeheure Anstrengung, um etwas zu sagen.und wie<strong>der</strong> hatte ich das e<strong>in</strong>deutige Gefühl, daß e<strong>in</strong>e Foliemich e<strong>in</strong>hüllte. So keuchte und stöhnte ich e<strong>in</strong>e Weile, während<strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> sich vor Lachen krümmte, bis ich wie<strong>der</strong> e<strong>in</strong>enKnall hörte. Ich f<strong>in</strong>g sofort an zu schreiben. <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> sprach,als gebe er mir e<strong>in</strong> Diktat.»E<strong>in</strong>e <strong>der</strong> Taten e<strong>in</strong>es Kriegers ist. nie etwas auf sich e<strong>in</strong>wirkenzu lassen. So könnte e<strong>in</strong> Krieger den Teufel leibhaftig vorsich sehen, aber er würde sich nichts anmerken lassen. DieSelbstbeherrschung e<strong>in</strong>es Kriegers muß makellos se<strong>in</strong>.« Erwartete, bis ich mit dem Aufschreiben fertig war. und dannfragte er mich lachend: »Hast du alles?« Ich schlug vor. wirsollten <strong>in</strong> e<strong>in</strong> Restaurant gehen und zu Abend essen. Ich warwie ausgehungert. Er sagte aber, wir müßten bleiben, bis das»korrekte Tonal« ersche<strong>in</strong>en würde. Mit ernster Stimme setzteer h<strong>in</strong>zu, daß wir. wenn das »korrekte Tonal« nichterschiene, auf dieser Bank sitzenbleiben müßten, bis es ihmgefiel zu ersche<strong>in</strong>en. »Was ist e<strong>in</strong> korrektes Tonal?« fragteich. »E<strong>in</strong> Tonal, das e<strong>in</strong>fach <strong>in</strong> Ordnung ist. ausgeglichenund harmonisch. Heute wirst du e<strong>in</strong>es f<strong>in</strong>den, o<strong>der</strong> vielmehr,de<strong>in</strong>e <strong>Kraft</strong> wird es zu uns führen.«158 159


»Aber wie werde ich es von an<strong>der</strong>en Tonais unterscheiden?«»Mach dir darum ke<strong>in</strong>e Sorgen! Ich werde es dir zeigen.« »Wieist es denn beschaffen, <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong>?« »Schwer zu sagen. Es hängtvon dir ab. Dies ist de<strong>in</strong>e Schau, daher wirst du dieBed<strong>in</strong>gungen selbst bestimmen.« »Wie?«»Das weiß ich nicht. De<strong>in</strong>e <strong>Kraft</strong>, de<strong>in</strong> Nagual wird es tun.Jedes Tonal hat, grob gesagt, zwei Seiten. Die e<strong>in</strong>e ist <strong>der</strong>äußere Teil, <strong>der</strong> Saum, die Oberfläche <strong>der</strong> Insel. Dies ist <strong>der</strong> mitHandeln und Tun verbundene Teil, die grobe Seite. <strong>Der</strong> an<strong>der</strong>eTeil ist Entscheidung und Urteil, es ist das <strong>in</strong>nere Tonal undfe<strong>in</strong>er, zarter und komplexer. Das korrekte Tonal ist e<strong>in</strong> Tonal,bei dem die beiden Ebenen sich <strong>in</strong> vollkommener Harmonieund Balance bef<strong>in</strong>den.« <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> war still. Es war schonziemlich dunkel, und ich hatte Mühe mitzuschreiben. Erempfahl mir, mich zu strecken und zu entspannen. Dies sei,me<strong>in</strong>te er, e<strong>in</strong> recht anstrengen<strong>der</strong>, aber fruchtbarer Taggewesen, und er sei sicher, daß das »korrekte Tonal« sich noche<strong>in</strong>stellen werde. Dutzende Menschen g<strong>in</strong>gen vorbei. Wirsaßen zehn o<strong>der</strong> fünfzehn M<strong>in</strong>uten <strong>in</strong> entspanntem Schweigen.Plötzlich stand <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> unvermittelt auf.»Me<strong>in</strong>e Güte, du hast es geschafft! Schau nur, wer da kommt!E<strong>in</strong> Mädchen!«Mit e<strong>in</strong>er Kopfbewegung deutete er auf e<strong>in</strong>e junge Frau, dieden Park durchquerte und sich unserer Bank näherte. <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong>sagte, diese junge Frau sei das »korrekte Tonal«, und falls siestehenbliebe, um an e<strong>in</strong>en von uns das Wort zu richten, dannsei dies e<strong>in</strong> außerordentliches Omen, und wir müßten tun, wasimmer sie verlangen werde. Ich konnte das Gesicht <strong>der</strong> jungenFrau nur undeutlich erkennen, obgleich das Tageslicht noch hellgenug war. Sie näherte sich bis auf e<strong>in</strong> paar Meter, g<strong>in</strong>g abervorbei, ohne uns anzusehen. <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> befahl mir flüsternd,aufzustehen und mit ihr zu sprechen.Ich lief h<strong>in</strong>ter ihr her und fragte sie nach dem Weg. Nun sahich sie aus nächster Nähe. Sie war jung, vielleicht MitteZwanzig, von mittlerer Statur, sehr attraktiv und gepflegt. IhreAugen waren klar und friedlich. Sie lächelte mich an,während ich sprach. Sie hatte irgend etwas Gew<strong>in</strong>nendes ansich. Ich mochte sie ebenso gern wie vorh<strong>in</strong> die drei Indianer.Ich kehrte zu unserer Bank zurück und setzte mich. »Ist sie e<strong>in</strong>K rieger?« fragte ich.»Nicht ganz«, sagte <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong>. »De<strong>in</strong>e <strong>Kraft</strong> ist noch nichtausgeprägt genug, um e<strong>in</strong>en Krieger herbeizuholen. Aber sieist e<strong>in</strong> ganz richtiges Tonal. E<strong>in</strong>es, das zu e<strong>in</strong>em korrektenTonal werden könnte. Aus diesem Holz s<strong>in</strong>d Krieger geschnitzt.«Se<strong>in</strong>e W orte machten mich neugierig. Ich fragte ihn, ob dennauch Frauen Krieger se<strong>in</strong> könnten. Er schaute mich an -offensichtlich verwun<strong>der</strong>t über m e<strong>in</strong>e Frage.»Selbstverständlich können sie das«, sagte er, »und sie s<strong>in</strong>dsogar besser ausgestattet für den W eg des W issens als M änner.M änner an<strong>der</strong>erseits s<strong>in</strong>d etwas ausdauern<strong>der</strong>. Trotzdemmöchte ich me<strong>in</strong>en, daß die Frauen, alles <strong>in</strong> allem , e<strong>in</strong>enleichten Vorsprung haben.«Ich erklärte, ich sei verblüfft, denn wir hätten im Zusammenhangmit se<strong>in</strong>em W issen nie über Frauen gesprochen. »Du biste<strong>in</strong> M ann«, sagte er. »daher gebrauche ich das M askul<strong>in</strong>um.wenn ich m it dir spreche. D as ist alles. Im übrigen s<strong>in</strong>d sichbeide gleich.«Ich wollte ih n noch weiter ausfragen, aber er m achte e<strong>in</strong>eGeste, die das Thema abschloß. Ich blickte auf. <strong>Der</strong> Himmelwar fast schwarz. D ie W olkenbänke wirkten bedrohlich dunkel.Dennoch gab es e<strong>in</strong> paar Stellen, wo das Gewölk leichtorange gefärbt war.»Das Ende des Tages ist de<strong>in</strong>e beste Zeit«, sagte <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong>.»Das Ersche<strong>in</strong>en dieser jungen Frau genau am Rande desTages ist e<strong>in</strong> gutes Omen. W ir sprachen über das Tonal,deshalb gilt das Omen de<strong>in</strong>em Tonal.« »W as besagt das Omen,<strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> 9 «»Es besagt, daß du nur noch sehr wenig Zeit hast, um de<strong>in</strong>eVorbereitungen zu treffen. A lle Vorbereitungen, die du etwagetroffen hast, müssen zuverlässige Vorbereitungen se<strong>in</strong>, denndu hast ke<strong>in</strong>e Zeit, an<strong>der</strong>e zu treffen. De<strong>in</strong>e Vorbereitungenmüssen sich jetzt bewähren, sonst s<strong>in</strong>d es überhaupt ke<strong>in</strong>eVorbereitungen. Ich empfehle dir. daß du. wenn du nach <strong>Haus</strong>ekom m st, de<strong>in</strong>e160 161


Verteidigungsl<strong>in</strong>ien überprüfst und dich versicherst, daß siehalten. Du wirst sie brauchen.« »Was steht mir denn bevor. <strong>Don</strong><strong>Juan</strong>?« »Vor Jahren suchtest du nach <strong>der</strong> <strong>Kraft</strong>. Du hast dieMühen des Lernens getreulich auf dich genommen, ohneSträuben und ohne Eile. Jetzt stehst du am Ende des Tages.«»Was bedeutet das?«»Für e<strong>in</strong> korrektes Tonal ist alles, was sich auf <strong>der</strong> Insel desTonal f<strong>in</strong>det, e<strong>in</strong>e Herausfor<strong>der</strong>ung. An<strong>der</strong>s gesagt, für e<strong>in</strong>enKrieger ist alles <strong>in</strong> dieser Welt e<strong>in</strong>e Herausfor<strong>der</strong>ung. Diegrößte Herausfor<strong>der</strong>ung von allen ist natürlich se<strong>in</strong> Ansuchenum <strong>Kraft</strong>. Aber <strong>Kraft</strong> kommt von Nagual, und wenn e<strong>in</strong>Krieger am Rande des Tages steht, dann bedeutet dies, daß dieStunde des Nagual näherrückt - des Kriegers Stunde <strong>der</strong> <strong>Kraft</strong>.«»Ich verstehe immer noch nicht die Bedeutung von alledem.<strong>Don</strong> <strong>Juan</strong>. Bedeutet es. daß ich bald sterben werde 9 « »Wenn dudich töricht anstellst, dann ja«, erwi<strong>der</strong>te er scharf. »Abergel<strong>in</strong><strong>der</strong> ausgedrückt, bedeutet es, daß dir wohl die Hosenschlottern werden. Du hast e<strong>in</strong>st um <strong>Kraft</strong> angesucht, unddieses Ansuchen ist nicht rückgängig zu machen. Ich will nichtsagen, daß de<strong>in</strong> Schicksal sich erfüllen wird, denn es gibt ke<strong>in</strong>Schicksal. Das e<strong>in</strong>zige, was man also sagen kann, ist, daß de<strong>in</strong>e<strong>Kraft</strong> sich erfüllen wird. Das Omen war e<strong>in</strong>deutig. Diese jungeFrau kam zu dir am Rande des Tages. Du hast nur noch wenigZeit, und schon gar ke<strong>in</strong>e Zeit für Dummheiten. E<strong>in</strong>wun<strong>der</strong>barer Zustand. Ich möchte sagen, das Beste <strong>in</strong> unskommt immer dann heraus, wenn wir mit dem Rücken zurWand stehen, wenn wir das Schwert über uns hängen fühlen.Ich selbst wünsche es mir nicht an<strong>der</strong>s.«Das Tonal schrumpfen lassenAm Mittwoch verließ ich gegen neun Uhr fünfundvierzig dasHotel. Ich g<strong>in</strong>g langsam und gönnte mir fünfzehn M<strong>in</strong>uten, umdie Stelle zu erreichen, wo <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> und ich uns treffenwollten. Er hatte e<strong>in</strong>e Kreuzung am Paseo de la Reformabestimmt, fünf o<strong>der</strong> sechs Straßen entfernt, vor dem Stadtbüroe<strong>in</strong>er Fluggesellschaft.Ich hatte soeben mit e<strong>in</strong>em Freund zusammen gefrühstückt. Erhatte mich begleiten wollen, aber ich ließ durchblicken, daß iche<strong>in</strong> Mädchen treffen wolle. Absichtlich g<strong>in</strong>g ich auf <strong>der</strong> an<strong>der</strong>enStraßenseite als <strong>der</strong>, an <strong>der</strong> das Büro <strong>der</strong> Fluggesellschaft lag.Mich plagte <strong>der</strong> Verdacht, daß me<strong>in</strong> Freund, <strong>der</strong> immer schongewünscht hatte, ich solle ihn mit <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> bekannt machen,wußte, daß ich mit diesem verabredet war. und mir vielleichtfolgte. Ich fürchtete, ich brauchte mich nur umzudrehen, umihn h<strong>in</strong>ter mir zu sehen. Ich sah <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> an e<strong>in</strong>emZeitungskiosk auf <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Straßenseite stehen. Ich schicktemich an, die Straße zu überqueren, mußte aber auf demMittelstreifen warten, bis ich sicheren Fußes den breitenBoulevard überqueren konnte. Ich drehte mich unauffällig um,um zu sehen, ob me<strong>in</strong> Freund mir folgte. Er stand an <strong>der</strong>Straßenecke h<strong>in</strong>ter mir. Er gr<strong>in</strong>ste blöde und w<strong>in</strong>kte mir zu. alswolle er mir zu verstehen geben, daß er sich nicht hattebeherrschen können. Ich schoß über die Straße, ohne ihm Zeitzu lassen, mich e<strong>in</strong>zuholen. <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> schien me<strong>in</strong>e mißlicheLage zu erkennen. Als ich ihn erreichte, warf er e<strong>in</strong>enverstohlenen Blick über me<strong>in</strong>e Schulter.»Er kommt«, sagte er. »Laß uns lieber <strong>in</strong> die Seitenstraßee<strong>in</strong>biegen!«Er wies auf e<strong>in</strong>e Straße, die den Paseo de la Reforma an <strong>der</strong>Stelle, wo wir standen, im spitzen W<strong>in</strong>kel kreuzte. Raschorientierte ich mich. Ich war nie zuvor <strong>in</strong> dieser Straße gewesen,aber vor zwei Tagen war ich <strong>in</strong> dem Büro <strong>der</strong> Fluggesellschaftgewesen. Se<strong>in</strong>e eigenartige Lage war mir vertraut.Das Büro lag nämlich im spitzen W<strong>in</strong>kel zwischen den beiden163


Straßen. Auf jede <strong>der</strong> beiden Straßen führte e<strong>in</strong>e Tür, und <strong>der</strong>Abstand zwischen den zwei Türen betrug etwa vier bis fünfM eter. Von Tür zu Tür führte e<strong>in</strong>e Passage durch das Büro,und man konnte ohne weiteres von e<strong>in</strong>er Straße zur an<strong>der</strong>enwechseln. Auf e<strong>in</strong>er Seite dieses Durchgangs standen Schreibtische,und auf <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en e<strong>in</strong>e große, runde Schaltertheke,h<strong>in</strong>ter <strong>der</strong> Hostessen und Kassierer standen. Damals, als ichhier gewesen war, hatten sich viele Leute <strong>in</strong> den Raum gedrängt.Ich wollte schneller ausschreiten, vielleicht sogar rennen, aberD on <strong>Juan</strong> behielt se<strong>in</strong> gem ächliches Tem po bei. Als wir die Türdes Büros - auf <strong>der</strong> Querstraße - passierten, wußte ich, ohnemich umdrehen zu müssen, daß me<strong>in</strong> Freund ebenfalls denBoulevard überquert hatte und sich anschickte, <strong>in</strong> die Straßee<strong>in</strong>zubiegen, <strong>in</strong> <strong>der</strong> wir g<strong>in</strong>gen. Ich sah <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> an. da ichhoffte, er wisse e<strong>in</strong>e Lösung. Er hob die Schultern. Ich warärgerlich, und mir selbst fiel nichts e<strong>in</strong>, außer vielleicht,me<strong>in</strong>en Freund <strong>in</strong> die Fresse zu hauen. Genau <strong>in</strong> diesemAugenblick mußte ich wohl geseufzt o<strong>der</strong> tief ausgeatmethaben, denn das nächste, was ich spürte, war e<strong>in</strong>e plötzlicheAtem not, bed<strong>in</strong>gt durch e<strong>in</strong>en gewaltigen Stoß, den D on <strong>Juan</strong> m irversetzt hatte und <strong>der</strong> mich durch die Tür des Luftfahrtbüroswirbelte. Von diesem ungeheuren Stoß getrieben, segelte ichbuchstäblich <strong>in</strong> den Raum. <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> hatte mich so unvorbereiteterwischt, daß me<strong>in</strong> Körper ke<strong>in</strong>erlei W i<strong>der</strong>stand geboten hatte;m e<strong>in</strong> Schrecken verm ischte sich m it dem tatsächlichen Schockse<strong>in</strong>es Rem plers. Autom atisch hob ich die Arm e vors G esicht,um mich zu schützen. <strong>Der</strong> Schubs, den <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> mir gegebenhatte, war so heftig gewesen, daß mir die Spucke aus demM und spritzte und ich e<strong>in</strong>en leichten Schw<strong>in</strong>del verspürte, alsich <strong>in</strong> die Halle stolperte. Ich verlor fast das Gleichgewicht undm ußte m ich gewaltig anstrengen, um nicht zu stürzen. Ichdrehte mich e<strong>in</strong> paarmal um me<strong>in</strong>e eigene Achse. <strong>Der</strong> Schwungme<strong>in</strong>er Drehung ließ die Szene verschwommen ersche<strong>in</strong>en. W iedurch e<strong>in</strong>en Schleier nahm ich die M enge <strong>der</strong> Kunden wahr, dieihren Geschäften nachg<strong>in</strong>gen. Ich war sehr verlegen. Ichwußte, daß alle mich anstarrten, wie ich so durch die Halletaumelte. Die Vorstellung, daß ich mich öffentlich blamierte,war mir mehr alsunangenehm. E<strong>in</strong>e Reihe von Überlegungen schoß mir durchden Kopf. Ich war ganz sicher, daß ich auf die Nase fallenwürde. O<strong>der</strong> ich würde mit e<strong>in</strong>em Kunden zusammenstoßen,vielleicht e<strong>in</strong>er alten Dame, die sich durch den Zusammenpralle<strong>in</strong>e Verletzung zuziehen würde. O<strong>der</strong>, noch schlimmer, dieGlastür am an<strong>der</strong>en Ende mochte geschlossen se<strong>in</strong>, und ichwürde dagegen fallen.Ganz betäubt erreichte ich die Tür, die auf den Paseo de laReforma führte. Sie war offen - und ich stand draußen. Me<strong>in</strong>ee<strong>in</strong>zige Sorge war jetzt, ganz ruhig zu bleiben, mich nachrechts zu wenden und auf dem Boulevard stadte<strong>in</strong>wärts zuschlen<strong>der</strong>n, als sei nichts geschehen. Ich war sicher, daß <strong>Don</strong><strong>Juan</strong> mich e<strong>in</strong>holen würde und daß me<strong>in</strong> Freund vielleicht auf<strong>der</strong> Querstraße weitergegangen war.Ich öffnete die Augen, o<strong>der</strong> genauer gesagt, ich konzentrierteme<strong>in</strong>en Blick auf den Schauplatz vor mir. Ich war längere Zeitbenommen, bevor mir ganz klar wurde, was los war. Ichbefand mich nicht auf dem Paseo de la Reforma, auf dem ichhätte se<strong>in</strong> sollen, son<strong>der</strong>n auf dem Lagunilla-Markt, mehr alszwei Kilometer entfernt.Was ich <strong>in</strong> dem Augenblick empfand, als mir dies klar wurde,war e<strong>in</strong> so heftiges Erstaunen, daß ich nur noch verdutzt vormich h<strong>in</strong>starren konnte.Ich schaute <strong>in</strong> die Runde, um mich zu orientieren. Ich stelltefest, daß ich tatsächlich ganz nahe <strong>der</strong> Stelle stand, wo ich anme<strong>in</strong>em ersten Tag <strong>in</strong> Mexico City <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> getroffen hatte.Vielleicht war es sogar genau dieselbe Stelle. Die Marktstände,an denen alte Münzen verkauft wurden, waren nur drei Meterentfernt. Ich mußte mich gewaltig anstrengen, um me<strong>in</strong>eFassung zu bewahren. Was ich hier erlebte, mußte doch e<strong>in</strong>eHalluz<strong>in</strong>ation se<strong>in</strong>! Es gab ke<strong>in</strong>e an<strong>der</strong>e Möglichkeit. Raschdrehte ich mich um und wollte wie<strong>der</strong> durch die Tür <strong>in</strong> dasFlugbüro zurück, aber h<strong>in</strong>ter mir war nur e<strong>in</strong>e Reihe vonStänden, an denen antiquarische Bücher und Zeitschriftenverkauft wurden. <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> stand rechts neben mir. Se<strong>in</strong>Gesicht zeigte e<strong>in</strong> breites Gr<strong>in</strong>sen.Ich spürte e<strong>in</strong>en Druck im Kopf, e<strong>in</strong> Kitzeln, als ob Kohlensäuredurch me<strong>in</strong>e Nase sprudelte. Ich war sprachlos. Ichwollte etwas sagen, aber es gelang mir nicht.164 165


G anz deutlich hörte ich D on <strong>Juan</strong> sagen, ich solle nichtversuchen, zu sprechen o<strong>der</strong> zu denken, aber dennoch wollteich etwas sagen, irgend etwas. E<strong>in</strong>e furchtbare Nervosität zogmir die Brust zusammen. Ich spürte Tränen über me<strong>in</strong>e W angenrollen. Diesmal schüttelte <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> mich nicht, wie er es zu tunpflegte, wenn ich von unkontrollierbarer Angst besessen war.Statt dessen streichelte er mir freundlich den K opf. »A ber. aber,kle<strong>in</strong>er <strong>Carlos</strong>«, sagte er. »M ach dir nicht <strong>in</strong> die Hose!«E<strong>in</strong>en Augenblick hielt er me<strong>in</strong> Gesicht zwischen se<strong>in</strong>enHänden.»Versuche nicht, zu sprechen!« sagte er. Er ließ me<strong>in</strong>en Kopflos und deutete auf das Geschehen um uns her.»Dies ist nicht zum Reden da«, sagte er. »Nur zum Beobachten.Beobachte! Beobachte alles!«Ich we<strong>in</strong>te wirklich. D och me<strong>in</strong>e Reaktion auf den U mstand,daß ich we<strong>in</strong>te, war sehr m erkwürdig. Ic h we<strong>in</strong>te, ohne m iretwas daraus zu machen. In diesem M oment war es mir egal,ob ich mich blamierte o<strong>der</strong> nicht.Ich sah m ich um . G enau vor m ir stand e<strong>in</strong> M ann <strong>in</strong> m ittlerenJahren, <strong>der</strong> e<strong>in</strong> rosafarbenes, kurzärmeliges Hemd und dunkelgraueHosen trug. Ansche<strong>in</strong>end e<strong>in</strong> Amerikaner. E<strong>in</strong>erundliche Frau, offenbar se<strong>in</strong>e G att<strong>in</strong>, h ie lt se<strong>in</strong>en Arm . D erM ann bef<strong>in</strong>gerte e<strong>in</strong> paar M ünzen, während e<strong>in</strong> dreizehn-o<strong>der</strong>vierzehnjähriger Junge, vermutlich <strong>der</strong> Sohn des B esitzers, ihnnicht aus den Augen ließ. <strong>Der</strong> Junge beobachtete jedeBewegung, die <strong>der</strong> ältere M ann machte. Schließlich legte <strong>der</strong>M ann die M ünzen auf den Tisch zurück, und sofort entspanntesich <strong>der</strong> Junge. »Beobachte alles!« verlangte <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> wie<strong>der</strong>.Hier gab es nichts Ungewöhnliches zu beobachten. Nach allenRichtungen g<strong>in</strong>gen Leute vorbei. Ich drehte mich um. E <strong>in</strong>M ann, offensichtlich <strong>der</strong> B esitzer des Zeitungskiosks, starrtemich unverwandt an. Er bl<strong>in</strong>zelte ständig, als sei er im Begriffe<strong>in</strong>zuschlafen. Er schien müde o<strong>der</strong> krank zu se<strong>in</strong> und machtee<strong>in</strong>en heruntergekommenen E<strong>in</strong>druck.Ich me<strong>in</strong>te, hier gebe es nichts zu beobachten, zum<strong>in</strong>destnichts wirklich Bedeutsames. Ich starrte auf den Schauplatz.166LEs war mir unmöglich, mich aufmerksam auf irgend etwas zukonzentrieren. <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> umkreiste mich. Er benahm sich, alswolle er mich irgendwie abschätzen. Er schüttelte den Kopfund schürzte die Lippen.»Komm schon!« befahl er und ergriff sanft me<strong>in</strong>en Arm.»Zeit, daß wir weitergehen!«Kaum setzten wir uns <strong>in</strong> Bewegung, da bemerkte ich, daß me<strong>in</strong>Körper sehr leicht war. Tatsächlich, mir war, als fühlten me<strong>in</strong>eFußsohlen sich schwammig an. Sie vermittelten e<strong>in</strong> seltsamesgummiartiges, fe<strong>der</strong>ndes Gefühl. <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> wußte ansche<strong>in</strong>end,was <strong>in</strong> mir vorg<strong>in</strong>g. Er hielt mich fest, als wolle er mich nichtentkommen lassen; er zog mich herab, als ob er fürchtete, ichkönnte wie e<strong>in</strong> Luftballon <strong>in</strong> die Lüfte entweichen.Das Gehen tat mir wohl. Me<strong>in</strong>e Nervosität wich e<strong>in</strong>er angenehmenLeichtigkeit.Wie<strong>der</strong> bestand <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> darauf, ich solle alles beobachten.Ich sagte ihm, daß es hier f ü r mich nichts zu beobachten gebe,daß es mir egal sei, was die Leute auf dem Markt taten, unddaß ich ungern e<strong>in</strong>en Narren aus mir machen wollte, <strong>in</strong>dem ichgehorsam irgendwelche schwachs<strong>in</strong>nige Geschäftigkeit vonLeuten beobachtete, die alte Münzen und Bücher kauften.während das Eigentliche mir durch die F<strong>in</strong>ger glitt. »Was istdas Eigentliche?« fragte er.Ich blieb stehen und sagte ihm heftig me<strong>in</strong>e Me<strong>in</strong>ung: DasWichtigste sei doch wohl das. was er mit mir angestellt hatte,um mich glauben zu machen, ich hätte die Entfernung zwischendem Luftfahrtbüro und dem Markt <strong>in</strong> Sekunden zurückgelegt.In diesem Augenblick f<strong>in</strong>g ich an zu zittern und glaubte, michübergeben zu müssen. <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> hieß mich me<strong>in</strong>e Händegegen den Leib pressen.Er deutete mit <strong>der</strong> Hand im Kreise und sagte abermals <strong>in</strong>energischem Ton, das e<strong>in</strong>zig Wichtige sei jene profane Geschäftigkeitum uns her.Ich war verärgert. Ich hatte deutlich das körperliche Gefühl.mich im Kreis zu drehen. Ich holte tief Luft. »Was hast du mirgetan, <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong>?« fragte ich mit gezwungener Gleichgültigkeit.167


Darüber könne er mir je<strong>der</strong>zeit Auskunft geben, beteuerte er,aber das, was jetzt und hier um uns her geschehe, werde sichnie mehr wie<strong>der</strong>holen. Das focht mich nicht an. Gewiß würdedie Geschäftigkeit, die ich hier erlebte, sich nicht <strong>in</strong> all ihrerVielfalt und allen E<strong>in</strong>zelheiten wie<strong>der</strong>holen. Me<strong>in</strong> E<strong>in</strong>wandwar aber, daß ich ganz ähnliche Aktivitäten je<strong>der</strong>zeit undüberall beobachten konnte. H<strong>in</strong>gegen waren die Konsequenzen<strong>der</strong> Tatsache, daß ich, <strong>in</strong> welcher Form auch immer, über dieseweite Entfernung h<strong>in</strong>weg versetzt worden war. vonunermeßlicher Bedeutung.Als ich diese Überzeugung geäußert hatte, ließ <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong>se<strong>in</strong> en Kopf zittern, als ob das Gehörte ihm regelrecht wehtäte.Wir g<strong>in</strong>gen e<strong>in</strong>e Weile schweigend weiter. Me<strong>in</strong> Körper fieberte.Ich stellte f e s t, daß m e<strong>in</strong>e Handflächen und Fußsohlenglühend heiß waren. Die gleiche ungewöhnliche Hitze schienauch me<strong>in</strong>e Nasenflügel und Augenli<strong>der</strong> zu erfüllen. »W as hastdu gemacht, <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong>?« beschwor ich ihn. Er antwortetenicht, son<strong>der</strong>n klopfte mir auf die Brust und lachte. WirM enschen, m e<strong>in</strong>te er, seien sehr schwache Geschöpfe, die sichdurch ihr Sichgehenlassen noch mehr schwächten. M it ernsterStimme for<strong>der</strong>te er mich auf, mich nicht gehenzulassen und<strong>in</strong> dem Gefühl zu schwelgen, ich würde gleich sterben,son<strong>der</strong>n me<strong>in</strong>e Grenzen zu überw<strong>in</strong>den und ganz e<strong>in</strong>fachm e<strong>in</strong>e Aufm erksam keit auf die W elt um mich her zu richten.Ganz langsam g<strong>in</strong>gen wir weiter. Me<strong>in</strong>e Beklemmung nahmÜberhand. Ich konnte auf nichts mehr achten. <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> bliebstehen und schien zu überlegen, ob er etwas sagen wollte. Eröffnete den Mund, aber dann überlegte er es sich ansche<strong>in</strong>endan<strong>der</strong>s, und wir g<strong>in</strong>gen weiter.»Es ist nichts an<strong>der</strong>es passiert, als daß du hergekommen bist«,sagte er unverm ittelt, <strong>in</strong>dem er sich um drehte und mich anstarrte.»Aber wie ist das passiert?«Dies wisse er nicht, sagte er. Er wisse lediglich, daß ich denPlatz selbst ausgewählt hätte.Je länger wir sprachen, desto hoffnungsloser drehten wir unsim Kreis. Ich wollte von ih m wissen, wie es dazu gekom m ensei, und er beharrte darauf, daß die W ahl des Platzes dase<strong>in</strong>zige sei. worüber wir diskutieren könnten, und da aber ichnicht wußte, warum ich i h n gewählt hatte, gab es eigentlichnichts zu besprechen. Ohne ärgerlich zu werden, kritisierte erme<strong>in</strong>e zwanghafte Besessenheit, alles mit Vernunft zu ergründen,als überflüssiges Sichgehenlassen. Er me<strong>in</strong>te, daß esdoch e<strong>in</strong>facher und effektiver sei, nur zu handeln, ohne nachErklärungen zu suchen, und daß ich me<strong>in</strong>e Erfahrung nurverzettelte, <strong>in</strong>dem ich darüber sprach und nachdachte. Nache<strong>in</strong>er W eile me<strong>in</strong>te er, wir müßten diesen Ort verlassen, dennich hätte ihn verdorben, und er würde jetzt immer gefährlicherfür mich.W ir verließen den M arkt und g<strong>in</strong>gen zum La-Alameda-Park.Ich war erschöpft. Ich ließ mich auf e<strong>in</strong>e Bank fallen. Erst jetztfiel mir e<strong>in</strong>, auf die Uhr zu sehen. Es war zehn Uhr zwanzig,vorm ittags. Ich m ußte m ich sehr zusam m ennehm en, um m ich zukonzentrieren. Ich er<strong>in</strong>nerte mich nicht mehr, um welche Zeitgenau ich <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> getroffen hatte. Ich schätzte, es mochtegegen zehn Uhr gewesen se<strong>in</strong>. Und wir hatten kaum länger alszehn M <strong>in</strong>uten gebraucht, um vom M arkt bis zum Park zugehen; mith<strong>in</strong> blieben nur zehn M <strong>in</strong>uten übrig. Ich berichtete<strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> von me<strong>in</strong>en Berechnungen. Er lächelte. Ich war mirsicher, daß er h<strong>in</strong>ter diesem Lächeln se<strong>in</strong>e Ger<strong>in</strong>gschätzung f ü rmich verbarg, und doch verriet nichts <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Gesicht e<strong>in</strong>solches Gefühl.»Du glaubst wohl, ich b<strong>in</strong> e<strong>in</strong> hoffnungsloser Trottel, nichtwahr, <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong>?«»Ach was!« rief er und sprang auf die Füße. Se<strong>in</strong>e Reaktionkam so unerwartet, daß ich gleichzeitig aufsprang.»Sag mir genau, was du über me<strong>in</strong>e Gefühle d enkst!« for<strong>der</strong>te ermit Nachdruck.Ich glaubte, se<strong>in</strong>e Gefühle zu kennen. Es war, als ob ich sieselbst empfände. Aber als ich zu sagen versuchte, was ichempfand, merkte ich, daß ich nicht darüber sprechen konnte.Das Sprechen erfor<strong>der</strong>te e<strong>in</strong>e ungeheure Anstrengung. <strong>Don</strong><strong>Juan</strong> sagte, ich hätte noch nicht genügend <strong>Kraft</strong>, um ihn zu»sehen«. Aber ich könne sicherlich genug »sehen«, um168 169


selbst e<strong>in</strong>e passende Erklärung für das Geschehen zu f<strong>in</strong>den.»Sei nicht schüchtern!« sagte er. »Sag mir genau, was dusiehst*.«Plötzlich kam mir e<strong>in</strong> seltsamer Gedanke <strong>in</strong> den S<strong>in</strong>n, ganzähnlich jenen Gedanken, die ich <strong>in</strong> <strong>der</strong> Regel kurz vor demE<strong>in</strong>schlafen habe. Es war mehr als e<strong>in</strong> Gedanke. Es war e<strong>in</strong>vollkommenes Bild - das wäre e<strong>in</strong>e bessere Beschreibung. Ichsah e<strong>in</strong> Gemälde, das verschiedene Personen zeigte. Die e<strong>in</strong>eunmittelbar mir gegenüber war e<strong>in</strong> Mann, <strong>der</strong> an e<strong>in</strong>emoffenen Fenster saß. Die Fläche vor dem Fensterrahmen warverschwommen, doch <strong>der</strong> Rahmen selbst und <strong>der</strong> Mann warenglasklar zu erkennen. Er schaute mich an; se<strong>in</strong> Kopf war leichtnach l<strong>in</strong>ks geneigt, so daß er mich buchstäblich schief anschaute.Ich sah, wie se<strong>in</strong>e Augen sich bewegten, um mich imBlick zu behalten. Er stützte sich mit dem rechten Ellbogen aufdie Fensterbank. Se<strong>in</strong>e Hand war zur Faust geballt, se<strong>in</strong>eMuskeln waren angespannt.L<strong>in</strong>ks von dem Mann war auf dem Gemälde e<strong>in</strong>e an<strong>der</strong>e Figurzu sehen. Es war e<strong>in</strong> fliegen<strong>der</strong> Löwe. Das heißt, Kopf undMähne waren die e<strong>in</strong>es Löwen, aber <strong>der</strong> untere Teil se<strong>in</strong>esRumpfes war <strong>der</strong> e<strong>in</strong>es lockigen weißen Pudels. Ich wollte ihnmir genauer ansehen, als <strong>der</strong> Mann mit den Lippen schnalzteund Kopf und Oberkörper aus dem Fenster reckte. Dann kamse<strong>in</strong> ganzer Körper zum Vorsche<strong>in</strong>, als ob er von jemandemgeschoben würde. E<strong>in</strong>en Moment h<strong>in</strong>g er <strong>in</strong> <strong>der</strong> Luft undklammerte sich mit den F<strong>in</strong>gerspitzen an den Fensterrahmen,wobei er wie e<strong>in</strong> Pendel h<strong>in</strong> und her schwang. Dann ließ er los.Ich empfand am eigenen Leib das Gefühl des Fallens. Es warke<strong>in</strong> regelrechter Sturz, son<strong>der</strong>n eher e<strong>in</strong> weiches H<strong>in</strong>abgleitenund dann e<strong>in</strong> fe<strong>der</strong>ndes Schweben. <strong>Der</strong> Mann war schwerelos.Er blieb e<strong>in</strong>en Augenblick <strong>in</strong> <strong>der</strong> Schwebe, und dannverschwand er. als ob ihn e<strong>in</strong>e unwi<strong>der</strong>stehliche <strong>Kraft</strong> durche<strong>in</strong>en Spalt im Gemälde aufgesaugt hätte. Im nächsten Momentwar er wie<strong>der</strong> am Fenster und sah mich schief an. Se<strong>in</strong> rechterUnterarm ruhte auf <strong>der</strong> Fensterbank, doch diesmal w<strong>in</strong>kte dieHand mir Lebewohl. <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> beanstandete, me<strong>in</strong> »Sehen« seizu kompliziert.»Du kannst es besser«, sagte er. »Du willst, daß ich direrkläre, was geschehen ist. Nun, ich will, daß du dich dazu desSehens bedienst. Du hast gesehen, aber du hast Quatschgesehen. Solche Informationen s<strong>in</strong>d für e<strong>in</strong>en Krieger unbrauchbar.Es würde zu lange dauern, um herauszuf<strong>in</strong>den, waseigentlich was ist. Das Sehen muß unmittelbar se<strong>in</strong>, denn e<strong>in</strong>Krieger kann se<strong>in</strong>e Zeit nicht damit vertrödeln, zu enträtseln,was er selbst sieht. Sehen ist Sehen, weil es durch all diesenUns<strong>in</strong>n h<strong>in</strong>durchgeht.«Ich fragte ihn, ob er me<strong>in</strong>te, daß me<strong>in</strong>e Vision lediglich e<strong>in</strong>eHalluz<strong>in</strong>ation und nicht wirklich »Sehen« gewesen sei. Er warüberzeugt, daß es sich wohl um »Sehen« gehandelt habe, undzwar wegen <strong>der</strong> komplizierten E<strong>in</strong>zelheiten, aber er bezeichnetees als unzulänglich für diesen Anlaß. »Glaubst du, daßme<strong>in</strong>e Visionen irgend etwas erklären?« fragte ich.»Gewiß tun sie das. Aber ich an de<strong>in</strong>er Stelle würde nichtversuchen, sie zu enträtseln. Am Anfang ist das Sehen sehrverwirrend, man kann sich leicht dar<strong>in</strong> verlieren. In dem Maßaber, wie <strong>der</strong> Krieger se<strong>in</strong> Leben festigt, wird se<strong>in</strong> Sehen das.was es se<strong>in</strong> sollte, e<strong>in</strong> unmittelbares Wissen.« Während <strong>Don</strong><strong>Juan</strong> sprach, hatte ich e<strong>in</strong>e jener merkwürdigenGefühlsentgleisungen, und ich empfand ganz deutlich, daß ichim Begriff stand, etwas zu entschleiern - etwas, das ich bereitswußte und das mir dauernd entglitt, <strong>in</strong>dem es sich <strong>in</strong> etwasganz Verschwommenes verwandelte. Mir wurde bewußt, daßich <strong>in</strong> e<strong>in</strong>en Kampf verstrickt war. Je mehr ich versuchte, diesesflüchtige Wissen zu def<strong>in</strong>ieren o<strong>der</strong> zu erhaschen, desto tieferversank es.»Dieses Sehen war zu ... zu visionär«, sagte <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong>. <strong>Der</strong>Klang se<strong>in</strong>er Stimme erschreckte mich. »E<strong>in</strong> Krieger stellt e<strong>in</strong>eFrage, und durch se<strong>in</strong> Sehen erhält er e<strong>in</strong>e Antwort, aber dieAntwort ist klar und e<strong>in</strong>fach, sie ist nie <strong>der</strong>art ausgeschmückt,daß lockige weiße Pudel durch die Lüfte fliegen.«Wir lachten über dieses Bild. Und ich sagte ihm halb imScherz, daß er es mit mir zu genau nehme, daß jemand, <strong>der</strong> soviel durchgemacht hätte wie ich heute morgen, wohl e<strong>in</strong> wenigNachsicht verdiene.170 171


»Du machst es dir zu leicht«, sagte er. »Du läßt dich wie<strong>der</strong>mal gehen. Du gründest die Welt auf die Vorstellung, daß allesde<strong>in</strong>e Kräfte überfor<strong>der</strong>t. Du lebst nicht wie e<strong>in</strong> Krieger.«Ich sagte ihm, daß das, was er die Lebensart des Kriegersnannte, so viele Aspekte habe, daß es unmöglich sei, ihnenallen gerecht zu werden, und daß die Bedeutung des Ganzenmir nur klar würde, wenn ich weitere Gelegenheiten fände, sieanzuwenden.»Als Faustregel für den Krieger gilt«, sagte er, »daß er se<strong>in</strong>eEntscheidungen so sorgfältig treffen muß, daß nichts, was sichaus ihnen ergeben mag, ihn überraschen, und erst recht nichtse<strong>in</strong>e <strong>Kraft</strong> erschöpfen kann.«E<strong>in</strong> Krieger se<strong>in</strong> heißt, bescheiden und wachsam zu se<strong>in</strong>. Heutehättest du die Szene beobachten sollen, die sich vor de<strong>in</strong>enAugen abspielte, nicht aber darüber nachgrübeln, wie all diesmöglich sei. Du hast de<strong>in</strong>e Aufmerksamkeit auf das falscheZiel gerichtet. Wollte ich nachsichtig mit dir se<strong>in</strong>, dann könnteich leicht sagen, daß du, da dir dies zum erstenmal wi<strong>der</strong>fuhr,nicht vorbereitet warst. Aber dies ist nicht zulässig, denn duwarst als Krieger hergekommen, bereit zu sterben. Was dirheute wi<strong>der</strong>fuhr, hätte dich daher nicht mit schlotterndenHosen antreffen dürfen.«Ich gab zu, daß ich die Neigung hätte, mich <strong>in</strong> Angst undVerwirrung gehenzulassen.»Es sollte als Faustregel für dich gelten, daß du. immer wenndu zu mir kommst, bereit se<strong>in</strong> solltest zu sterben«, sagte er.»Wenn du herkommst, bereit zu sterben, dann dürfte eske<strong>in</strong>erlei Fallstricke o<strong>der</strong> unwillkommene Überraschungeno<strong>der</strong> unnötige Taten geben. Alles sollte sich zwanglos zusammenfügen,weil du nichts erwartest.«»Das ist leicht gesagt, <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong>. Aber ich b<strong>in</strong> <strong>der</strong> Empfänger.Ich b<strong>in</strong> es doch, <strong>der</strong> mit alldem leben muß.« »Nicht, daß du mitalldem leben müßtest. Du bist all dies. Nur. du erträgst es imAugenblick noch nicht. De<strong>in</strong>e Entscheidung, dich dieser bösenWelt <strong>der</strong> Zauberei anzuschließen, hätte alle mitgeschlepptenGefühle ausbrennen und dir den Mumm geben sollen, all diesals de<strong>in</strong>e Welt zu beanspruchen.« Ich war verlegen und traurig.<strong>Don</strong> <strong>Juan</strong>s Taten, ganz egal, wiegut ich darauf vorbereitet war, belasteten mich so sehr, daßm ir jedesm al, wenn ich m it ih m <strong>in</strong> Kontakt kam , nichtsan<strong>der</strong>es übrigblieb, als mich wie e<strong>in</strong> halbirrer Nörgler zubenehmen und zu fühlen. E<strong>in</strong>e Woge des Zorns stürmte aufmich e<strong>in</strong>, und ich weigerte mich, weiter mitzuschreiben. Indiesem Augenblick war mir danach, me<strong>in</strong>e Notizen zu zerreißenund alles auf den Müll zu schmeißen. Ich hätte es auch getan,wäre da nicht <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> gewesen, <strong>der</strong> mir lachend <strong>in</strong> den Armfiel, um mich zurückzuhalten. Spöttisch m e<strong>in</strong>te er, m e<strong>in</strong>»Tonal« sei wie<strong>der</strong> im Begriff, mir e<strong>in</strong>en schlechten Streichzu spielen. Er empfahl mir. zum Brunnen zu gehen undme<strong>in</strong>en Nacken und me<strong>in</strong>e Ohren mit Wasser zu benetzen. DasWasser beruhigte mich. Lange schwiegen wir.»Schreib, schreib!« drängte <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> mich <strong>in</strong> freundlichemTon.»Man könnte sagen, de<strong>in</strong> Notizbuch ist <strong>der</strong> e<strong>in</strong>zige Zauber,den du hast. Es zu zerreißen hieße nur, dich de<strong>in</strong>em Tod zuöffnen. Es wäre nur wie<strong>der</strong> e<strong>in</strong>e von de<strong>in</strong>en Flausen, bestenfallse<strong>in</strong>e pompöse Laune, aber ke<strong>in</strong>e Än<strong>der</strong>ung. E<strong>in</strong> Kriegerverläßt nie die Insel des Tonal. Er benutzt sie.« M it e<strong>in</strong>erraschen Handbewegung deutete er r<strong>in</strong>gsumher und berührtedann me<strong>in</strong> Notizbuch.»Dies ist de<strong>in</strong>e W elt. Du kannst nicht auf sie verzichten. Es ists<strong>in</strong>nlos, sich über sich selbst zu ärgern und enttäuscht von sich zuse<strong>in</strong>. All dies beweist nur, daß das Tonal des M enschen <strong>in</strong>e<strong>in</strong>em <strong>in</strong>neren Kampf steht. E<strong>in</strong> Kampf im Tonal selbst iste<strong>in</strong>es <strong>der</strong> s<strong>in</strong>nlosesten Gefechte, die ich mir vorstellen kann.Das gefestigte Leben e<strong>in</strong>es Kriegers ist dazu bestim m t, diesesGefecht zu verän<strong>der</strong>n. Von Anfang an habe ich dich gelehrt,überflüssige <strong>Kraft</strong>vergeudung zu vermeiden. Jetzt herrschtnicht mehr Krieg <strong>in</strong> de<strong>in</strong>em Innern, jedenfalls nicht mehr so,wie es war, denn die Lebensart des Kriegers ist Harmonie -erstens die Harmonie zwischen Handlungen und Entscheidungen,sodann die Harmonie zwischen Tonal und Nagual. Seit ich dichkenne, habe ich stets sowohl zu de<strong>in</strong>em Tonal wie zu de<strong>in</strong>emNagual gesprochen. So muß die Unterweisung stattf<strong>in</strong>den.Am Anfang muß man zum Tonal sprechen. Aber das Tonal172 173


muß die Herrschaft abtreten. M an muß ihm jedoch Gelegenheitgeben, dies mit Freuden zu tun. De<strong>in</strong> Tonal zum Beispiel hate<strong>in</strong>ige Kontrollen be<strong>in</strong>ahe kampflos aufgegeben, weil ihm klarwurde, daß, wäre es so geblieben, wie es war, die Ganzheitde<strong>in</strong>es Selbst jetzt tot wäre. M it an<strong>der</strong>en W orten, das Tonalwird veranlaßt, unnötige D<strong>in</strong>ge wie W ichtigtuerei undSichgehenlassen aufzugeben, die es nur zum Stumpfs<strong>in</strong>n verdammen.Die Schwierigkeit ist nur, daß das Tonal sich andiese D <strong>in</strong>ge klam m ert, während es doch froh se<strong>in</strong> sollte, diesenQuatsch loszuwerden. Die Aufgabe besteht also dar<strong>in</strong>, dasTonal zu überzeugen, daß es frei und beweglich se<strong>in</strong> soll. Dasist's, was e<strong>in</strong> Zauberer vor allem an<strong>der</strong>en braucht - e<strong>in</strong> starkes,freies Tonal. Je stärker es wird, desto weniger klammert es sichan se<strong>in</strong> Tun und desto leichter ist's, es schrumpfen zu lassen.Heute morgen geschah also nichts an<strong>der</strong>es, als daß ich dieM öglichkeit sah, de<strong>in</strong> Tonal schrumpfen zu lassen. Für e<strong>in</strong>enM oment warst du unachtsam, gehetzt, gedankenlos, und ichnutzte den Augenblick, um dir e<strong>in</strong>en Schubs zu geben.Das Tonal schrum pft bei bestimmten G elegenheiten, beson<strong>der</strong>swenn es <strong>in</strong> Verlegenheit gerät. Ja wirklich, e<strong>in</strong>es <strong>der</strong>Merkmale des Tonal ist se<strong>in</strong>e Scheu. Auf se<strong>in</strong>e Scheu selbstkom m t es eigentlich nicht an. Aber es gibt gewisse G elegenheiten,da das Tonal überrascht ist, und dann läßt se<strong>in</strong>e Scheu esunvermeidlich schrumpfen.Heute morgen ergriff ich me<strong>in</strong> Quentchen Chance. Ich sah dieoffene Tür jenes Flugbüros und gab dir e<strong>in</strong>en Schubs. E <strong>in</strong>Schubs - das ist also die richtige Technik, um das Tonalschrumpfen zu lassen. M an muß es genau im richtigen M o-ment schubsen, und dazu muß man natürlich sehen können.Sobald <strong>der</strong> M ann geschubst wird und se<strong>in</strong> Tonal geschrumpftist, wird se<strong>in</strong> Nagual, falls es bereits <strong>in</strong> Bewegung ist - undganz gleich wie ger<strong>in</strong>g diese Bewegung se<strong>in</strong> mag - die Führungübernehm en und außerordentliche Taten vollbr<strong>in</strong>gen. H eutemorgen übernahm de<strong>in</strong> Nagual die Führung, und du bist aufdiesem M arkt gelandet.«Er schwieg e<strong>in</strong>ige Zeit. Er schien auf me<strong>in</strong>e Fragen zu warten.W ir sahen e<strong>in</strong>an<strong>der</strong> an. »Ich weiß wirklich nicht, wie esgeschieht«, sagte er, als habe174er me<strong>in</strong>e Gedanken gelesen. »Ich weiß nur, daß das Nagualunvorstellbare D<strong>in</strong>ge tun kann.Heute morgen habe ich dich aufgefor<strong>der</strong>t zu beobachten. DieseSzene vor de<strong>in</strong>en Augen, was immer sie se<strong>in</strong> mochte, war vonunsagbarem Wert für dich. Aber statt me<strong>in</strong>em Rat zu folgen,hast du dich <strong>in</strong> Selbstmitleid und Verwirrung gehenlassen undnicht beobachtet.E<strong>in</strong>e Zeitlang warst du ganz Nagual und konntest nicht sprechen.Dies war die Zeit, um zu beobachten. Dann übernahmde<strong>in</strong> Tonal wie<strong>der</strong> nach und nach die Führung, und statt dich <strong>in</strong>e<strong>in</strong>en tödlichen Kampf zwischen de<strong>in</strong>em Tonal und de<strong>in</strong>emNagual stürzen zu lassen, führte ich dich hierher.« »Was hattees denn mit dieser Szene auf sich. <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong>? Was war daran sowichtig?«»Ich weiß nicht. Ich war's ja nicht, dem es wi<strong>der</strong>fuhr.« »Wasme<strong>in</strong>st du damit?« »Es war de<strong>in</strong> Erlebnis, nicht me<strong>in</strong>es.« »Aberdu warst doch bei mir, nicht wahr?« »Ne<strong>in</strong>! Das war ich nicht.Du warst alle<strong>in</strong>. Ich habe dir immerwie<strong>der</strong> gesagt, du solltest alles beobachten, denn diese Szenewar nur für dich bestimmt.«»Aber du warst doch neben mir. <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong>?«»Ne<strong>in</strong>, das war ich nicht. Aber es hat ke<strong>in</strong>en Zweck, darüberzu reden. Was ich auch sagen mag, es ergibt ke<strong>in</strong>en S<strong>in</strong>n, denn<strong>in</strong> diesem Augenblick waren wir <strong>in</strong> <strong>der</strong> Zeit des Nagual. DieD<strong>in</strong>ge des Nagual können nur mit dem Körper, nicht mit <strong>der</strong>Vernunft erfahren werden.«»Aber wenn du nicht bei mir warst. <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong>, wer o<strong>der</strong> waswar die Person, die ich als du erlebte?«»Das war ich. und doch war ich nicht da.«»Wo warst du denn?«»Ich war bei dir. aber nicht da. Sagen wir, ich war <strong>in</strong> de<strong>in</strong>erNähe, aber nicht genau an <strong>der</strong> Stelle, wo de<strong>in</strong> Nagual dichergriff.«»Du me<strong>in</strong>st, du wußtest nicht, daß wir auf dem Marktwaren 1 '«»Ne<strong>in</strong>, ich wußte es nicht. Ich b<strong>in</strong> e<strong>in</strong>fach h<strong>in</strong>terhergelaufen.um dich nicht zu verlieren.«»Das ist wirklich furchtbar. <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong>.«»Wir waren <strong>in</strong> <strong>der</strong> Zeit des Nagual, und daran ist nichts175


Furchtbares. Wir s<strong>in</strong>d noch zu viel mehr befähigt. Dies liegt <strong>in</strong>unserer Natur als leuchtende Wesen. Doch wir haben dieNeigung, beharrlich auf unserer monotonen, ermüdenden, aberbequemen Insel zu verweilen. Das Tonal ist <strong>der</strong> Bösewicht,und <strong>der</strong> sollte es nicht se<strong>in</strong>.«Ich schil<strong>der</strong>te ihm das wenige, dessen ich mich er<strong>in</strong>nerte. Erwollte wissen, ob ich irgend etwas am Himmel wahrgenommenhätte, etwa das Licht, die Wolken, die Sonne, o<strong>der</strong> ob ich irgendwelche Geräusche gehört hätte. O<strong>der</strong> ob mir ungewöhnlicheMenschen o<strong>der</strong> Vorgänge aufgefallen seien. Er wollte wissen,ob irgendwelche Ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong>setzungen stattgefunden hätten.Ob irgendwelche Leute geschrien hätten, und wenn ja, was siesagten.Ke<strong>in</strong>e se<strong>in</strong>er Fragen konnte ich beantworten. Die nackteWahrheit war, daß ich den ganzen Vorgang sche<strong>in</strong>bar unbesehenakzeptiert und wie selbstverständlich angenommen hatte, daßich e<strong>in</strong>e beträchtliche Entfernung <strong>in</strong> e<strong>in</strong> o<strong>der</strong> zwei Sekunden»im Flug« zurückgelegt hatte und daß ich. dank <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong>sWissen, was dies auch immer se<strong>in</strong> mochte, <strong>in</strong> all me<strong>in</strong>ermateriellen Körperlichkeit auf dem Marktplatz gelandet war.Me<strong>in</strong>e Reaktion entsprach ganz und gar e<strong>in</strong>er solchen Interpretation.Was ich wissen wollte, waren die Verfahrensweisen,das Geheimnis <strong>der</strong> E<strong>in</strong>geweihten, die »Kunstregeln«. Daherkümmerte ich mich nicht darum, die - wie ich glaubte -alltäglichen Vorgänge e<strong>in</strong>es profanen Schauspiels zu beobachten.»Me<strong>in</strong>st du. daß die Leute mich auf dem Markt stehen sahen?«fragte ich.<strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> antwortete nicht. Er lachte und boxte mich sanft <strong>in</strong>die Rippen.Ich versuchte mich zu er<strong>in</strong>nern, ob ich tatsächlich physischenKontakt mit irgendwelchen Leuten gehabt hatte. Me<strong>in</strong> Gedächtnisließ mich im Stich.»Was sahen die Leute im Luftfahrtbüro, als ich here<strong>in</strong>gestolpertkam?« fragte ich.»Sie sahen vermutlich e<strong>in</strong>en Mann von e<strong>in</strong>er Tür zur an<strong>der</strong>entorkeln.«»Aber sahen sie. wie ich mich <strong>in</strong> Luft auflöste und verschwand?«176»Dafür ist das Nagual zuständig. Ich weiß es nicht. Ich kanndir nur sagen, daß wir bewegliche, leuchtende Wesen s<strong>in</strong>d, dieaus Fasern bestehen. Die Übere<strong>in</strong>kunft, daß wir feste Objekteseien, ist die Tat des Tonal. Wenn das Nagual die Führungübernimmt, s<strong>in</strong>d ungewöhnliche D<strong>in</strong>ge möglich. Aber ungewöhnlichs<strong>in</strong>d sie nur für das Tonal.Für das Nagual ist es e<strong>in</strong>e Kle<strong>in</strong>igkeit, sich so fortzubewegen,wie du es heute morgen getan hast. Beson<strong>der</strong>s für de<strong>in</strong> Nagual,das bereits die schwierigsten Tricks beherrscht. Tatsächlich hates dich heute <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e ganz unheimliche Situation gestürzt.Spürst du, was es ist?«E<strong>in</strong>e Million Fragen und Empf<strong>in</strong>dungen bestürmten michgleichzeitig. Es war, als ob e<strong>in</strong> W<strong>in</strong>dstoß me<strong>in</strong>en äußerenFirnis <strong>der</strong> Gelassenheit weggefegt hätte. Ich zitterte. Me<strong>in</strong>Körper spürte, daß er am Rand e<strong>in</strong>es Abgrunds stand. Ichkämpfte um e<strong>in</strong> mysteriöses, aber konkretes Wissen. Es war,als sollte mir jeden Augenblick etwas offenbart werden, unddoch zog irgende<strong>in</strong> hartnäckiger Teil me<strong>in</strong>er selbst dauernde<strong>in</strong>en Schleier davor. Dieser Kampf betäubte mich immermehr, bis ich me<strong>in</strong>en Körper nicht mehr spürte. Ich hatte denE<strong>in</strong>druck, sehen zu können, wie me<strong>in</strong> Gesicht immer hagererwurde, bis es das Gesicht e<strong>in</strong>er verdorrten Leiche mit gelblicher,straff über den Schädel gespannter Haut war. Als nächstesspürte ich e<strong>in</strong>en Schock. <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> stand neben mir und hielte<strong>in</strong>en leeren Wassereimer <strong>in</strong> <strong>der</strong> Hand. Ich war tropfnaß. Ichhustete und wischte mir das Wasser aus dem Gesicht, undwie<strong>der</strong> lief mir e<strong>in</strong> Schau<strong>der</strong> über den Rücken. Ich sprangauf. <strong>Don</strong> J ua n hatte mi r Wasser <strong>in</strong> den Kragen gegossen.Nicht weit entfernt stand e<strong>in</strong>e Gruppe K<strong>in</strong><strong>der</strong>, die lachend zumir herüber schauten. <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> lächelte mir zu. Er hieltme<strong>in</strong>en Notizblock <strong>in</strong> <strong>der</strong> Hand und me<strong>in</strong>te, wir sollten lieber<strong>in</strong>s Hotel gehen, damit ich die Kleidung wechseln könne. Erführte mich aus dem Park. Wir standen e<strong>in</strong>e Weile auf demTrottoir, bis e<strong>in</strong> Taxi vorbeikam.E<strong>in</strong> paar Stunden später, nachdem wir zu Mittag gegessen unduns ausgeruht hatten, saßen <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> und ich wie<strong>der</strong> auf se<strong>in</strong>erLiebl<strong>in</strong>gsbank im Park neben <strong>der</strong> Kirche. Auf Um-177


wegen kamen wir wie<strong>der</strong> auf das Thema me<strong>in</strong>er eigenartigenReaktion zu sprechen. Er g<strong>in</strong>g sehr behutsam vor. Ansche<strong>in</strong>endwollte er mich nicht direkt darauf ansprechen. »Man weiß, daßsolche D<strong>in</strong>ge geschehen«, sagte er. »Das Nagual, sobald esgelernt hat aufzutauchen, kann dem Tonal großen Schadenzufügen, <strong>in</strong>dem es ganz unkontrolliert auftaucht. Doch de<strong>in</strong> Fallist e<strong>in</strong> beson<strong>der</strong>er. Du neigst dazu, dich <strong>in</strong> so übertriebenemMaß gehenzulassen, daß du sterben und dir gar nichts darausmachen könntest, o<strong>der</strong> noch schlimmer, nicht e<strong>in</strong>mal bemerkenwürdest, daß du stirbst.« Me<strong>in</strong>e Reaktion hatte e<strong>in</strong>gesetzt,sagte ich ihm, als er mich fragte, ob ich fühlte, was me<strong>in</strong>»Nagual« getan hatte; da glaubte ich genau zu wissen, worauf eranspielte, aber als ich zu beschreiben versuchte, was es war,stellte ich fest, daß ich nicht klar denken konnte. Ich erlebtee<strong>in</strong>en gewissen Leichts<strong>in</strong>n, ja Gleichgültigkeit, als sei mirwirklich alles egal. Dann wuchs diese Empf<strong>in</strong>dung sich zu e<strong>in</strong>erhypnotischen Konzentration aus. Es war, als ob me<strong>in</strong> ganzesSe<strong>in</strong> langsam ausgesaugt würde. Was me<strong>in</strong>e Aufmerksamkeitanzog und fesselte, war das deutliche Gefühl, daß mir gleiche<strong>in</strong> ungeheuerliches Geheimnis offenbart werden sollte, und ichwollte diese Offenbarung durch nichts stören lassen.»Was dir offenbart werden sollte, war de<strong>in</strong> Tod«, sagte <strong>Don</strong><strong>Juan</strong>. »Dies ist die Gefahr beim Sichgehenlassen. Beson<strong>der</strong>sbei dir, da du von Natur aus so exaltiert bist. De<strong>in</strong> Tonal KI sobegabt zum Sichgehenlassen. daß es die Ganzheit de<strong>in</strong>esSelbst bedroht. Dies ist e<strong>in</strong> furchtbarer Zustand.« »Was kannich tun?«»De<strong>in</strong> Tonal muß mit Gründen überzeugt werden, de<strong>in</strong> Nagualmit Taten, bis e<strong>in</strong>es das an<strong>der</strong>e stützt. Das Tonal herrscht, wieich dir sagte, und doch ist es sehr verletzlich. Das Nagualh<strong>in</strong>gegen geht nie aus sich heraus o<strong>der</strong> fast nie; aber wenn esdas tut, dann jagt es dem Tonal e<strong>in</strong>en Schrecken e<strong>in</strong>. Heutemorgen geriet de<strong>in</strong> Tonal <strong>in</strong> Panik und f<strong>in</strong>g von selbst an zuschrumpfen, und dann übernahm de<strong>in</strong> Nagual die Führung.Ich mußte mir von e<strong>in</strong>em <strong>der</strong> Fotografen im Park e<strong>in</strong>enWassereimer borgen, um de<strong>in</strong> Nagual wie e<strong>in</strong>en Hund aufse<strong>in</strong>en Platz zurückzuscheuchen. Das Tonal muß um jedenPreis geschützt werden. Man muß ihm das Zepter entreißen,aber es muß als behüteter Hüter bleiben. Jegliche Bedrohungdes Tonal führt stets zu se<strong>in</strong>em Tod. Und wenn das Tonalstirbt, dann stirbt <strong>der</strong> ganze Mensch. Wegen <strong>der</strong> ihm eigenenSchwäche kann das Tonal leicht vernichtet werden, und daherist es die ausgleichende Kunst des Kriegers, das Nagualauftauchen zu lassen, damit es das Tonal stützt. Ich sage, es iste<strong>in</strong>e Kunst, denn die Zauberer wissen, daß das Nagual nurauftauchen kann, wenn das Tonal verstärkt wird. Siehst du, wasich me<strong>in</strong>e? Diese Verstärkung nennt man persönliche <strong>Kraft</strong>.«<strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> stand auf, reckte die Arme und krümmte den Rücken.Ich machte Anstalten ebenfalls aufzustehen, aber er drücktemich sanft auf die Bank zurück. »Du mußt bis zur Dämmerungauf dieser Bank bleiben«, sagte er. »Ich muß gleich gehen.Genaro erwartet mich <strong>in</strong> den Bergen. Komm also <strong>in</strong> dreiTagen zu se<strong>in</strong>em <strong>Haus</strong>, dort werden wir uns treffen!«»Was werden wir bei <strong>Don</strong> Genaro tun?« fragte ich. »Das hängtdavon ab. ob du genug <strong>Kraft</strong> hast«, sagte er. »Vielleicht zeigtGenaro dir das Nagual.« Da war noch etwas, das ich hier undjetzt äußern mußte. Ich mußte wissen, ob se<strong>in</strong> Anzug nur e<strong>in</strong>schockierendes Requisit eigens für mich war o<strong>der</strong> ob erwirklich zu se<strong>in</strong>em Leben gehörte. Nie hatte e<strong>in</strong>e se<strong>in</strong>erHandlungen mir so zu schaffen gemacht wie se<strong>in</strong> Ersche<strong>in</strong>en<strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Anzug. Nicht <strong>der</strong> Umstand als solcher brachte michso durche<strong>in</strong>an<strong>der</strong>, son<strong>der</strong>n die Tatsache, daß <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> elegantwar. Se<strong>in</strong>e Be<strong>in</strong>e hatten e<strong>in</strong>e jugendliche Elastizität. Es war.als ob die Schuhe, die er trug, se<strong>in</strong>en Körperschwerpunktverlagert hätten; se<strong>in</strong>e Schritte waren länger und fester alsgewöhnlich. »Trägst du immer e<strong>in</strong>en Anzug?« fragte ich. »Ja«,antwortete er mit gew<strong>in</strong>nendem Lächeln. »Ich habe noch mehrerevon <strong>der</strong> Sorte, aber ich wollte heute ke<strong>in</strong>en an<strong>der</strong>en anziehen,weil dich das nur noch mehr erschreckt hätte.« Ich wußte nicht,was ich davon halten sollte. Mir war. als sei ich am Endeme<strong>in</strong>es Weges angelangt. Wenn <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> e<strong>in</strong>en Anzug tragenund dar<strong>in</strong> elegant se<strong>in</strong> konnte, dann war alles möglich.178 179


Er schien sich über me<strong>in</strong>e Verwirrung zu belustigen undlachte.»Ich b<strong>in</strong> Aktionär«, sagte er geheimnisvoll, aber wie selbstverständlich,und g<strong>in</strong>g davon.Am nächsten M orgen, <strong>Don</strong>nerstag, bat ich e<strong>in</strong>en Freund, mitmir von dem Luftfahrtbüro, wo <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> mich durch die Türgestoßen hatte, bis zum Lagunilla-M arkt zu gehen. W ir nahmenden direktesten W eg. W ir brauchten dazu fünfunddreißigM <strong>in</strong>uten. Dort angelangt, versuchte ich mich zu orientieren.Es gelang mir nicht. Ich betrat e<strong>in</strong> Konfektionsgeschäft gleichan <strong>der</strong> Ecke <strong>der</strong> breiten Allee, auf <strong>der</strong> wir standen.»Entschuldigen Sie bitte«, sagte ich zu e<strong>in</strong>er jungen Frau, diebedächtig e<strong>in</strong>en Hut mit <strong>der</strong> Klei<strong>der</strong>bürste abstaubte. »W os<strong>in</strong>d die Stände mit den alten M ünzen und antiquarischenBüchern?«»Haben wir nicht«, sagte sie mürrisch.»Aber ich habe sie doch gesehen, gestern, irgendwo aufdiesem M arktplatz.«»Quatschen Sie nicht rum!« sagte sie und verschwand h<strong>in</strong>ter<strong>der</strong> Ladentheke.Ich rannte ihr nach und beschwor sie, mir zu sagen, wo dieStände seien. Sie musterte mich von oben bis unten. »Gesternkonnten Sie sie gar nicht gesehen haben«, sagte sie. »DieseStände werden nur am Sonntag aufgebaut, gleich hier an <strong>der</strong>M auer. Den Rest <strong>der</strong> W oche gibt es ke<strong>in</strong>e.« »Nur amSonntag?« wie<strong>der</strong>holte ich mechanisch. »Ja. Nur am Sonntag.So ist es. Den Rest <strong>der</strong> W oche würden sie den Verkehr stören.«Sie deutete auf den Boulevard, auf dem die Autos sichstauten.In <strong>der</strong> Zeit des NagualIch rannte den Abhang vor <strong>Don</strong> Genaros <strong>Haus</strong> h<strong>in</strong>auf und sah<strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> und <strong>Don</strong> Genaro auf <strong>der</strong> gerodeten Fläche vor <strong>der</strong><strong>Haus</strong>tür sitzen. Sie lächelten mir zu. In ihrem Lächeln lag soviel Herzlichkeit und Unschuld, daß me<strong>in</strong> Körper sofort alarmiert war. Autom atisch fiel ich <strong>in</strong> e <strong>in</strong> e langsam ere G angartzurück. Ich begrüßte sie.»W ie geht's dir?« fragte <strong>Don</strong> Genaro mich mit so gekünstelterStimme, daß wir alle lachen mußten.»Er ist <strong>in</strong> bester Form «, warf D on <strong>Juan</strong> e<strong>in</strong>. bevor ich antwortenkonnte.»Das sehe ich«, erwi<strong>der</strong>te <strong>Don</strong> Genaro. »Schau nur, diesesDoppelk<strong>in</strong>n! Und schau, diese Speckpolster auf den Wangen!«<strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> hielt sich den Bauch vor Lachen. »De<strong>in</strong> Gesicht istfeist«, fuhr <strong>Don</strong> Genaro fort. »W as hast du die ganze Zeit übergemacht? Gefressen?« <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> erklärte ihm scherzhaft, me<strong>in</strong>eLebensweise verlange von m ir, viel zu essen. Im freundlichstenTon hänselten sie mich wegen me<strong>in</strong>er Lebensweise, und dannfor<strong>der</strong>te <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> mich auf, zwischen ihnen Platz zunehmen. Die Sonne war bereits h<strong>in</strong>ter e<strong>in</strong>er hohen Bergketteim W esten untergegangen.»W o ist d e <strong>in</strong> fam oses N otizbuch?« fragte D on G enaro m ich.und als ich es aus <strong>der</strong> Tasche zog, schrie er »Jippiie!« u n d rißes mir aus <strong>der</strong> Hand.Ansche<strong>in</strong>end hatte er mich aufmerksam beobachtet und kannteme<strong>in</strong>e Angewohnheiten <strong>in</strong>- und auswendig. Er hielt dasN otizbuch m it beiden H änden und sp ielte nervös dam itherum, als ob er nichts Rechtes damit anzufangen wüßte.Zweim al sah es so aus. a ls wollte er es wegwerfen, aberansche<strong>in</strong>end vermochte er sich zu beherrschen. Dann legte er esauf die Knie und tat so. als schreibe er fieberhaft, wie esm e<strong>in</strong>e Art war.<strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> lachte, bis er husten mußte. »W as hast du damalsgemacht, nachdem ich dich verlassen181


hatte?« fragte <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong>, nachdem die beiden sich wie<strong>der</strong>beruhigt hatten.»Am <strong>Don</strong>nerstag g<strong>in</strong>g ich auf den Markt«, sagte ich. »Waswolltest du dort? Den Weg ausmessen?« erwi<strong>der</strong>te er. <strong>Don</strong>Genaro ließ sich rückwärts fallen und imitierte mit den Lippenjenes trockene Geräusch, wie wenn man mit dem Kopf auf denBoden bumst. Er sah mich schief an und zw<strong>in</strong>kerte. »Ich mußtees tun«, sagte ich. »Und ich habe festgestellt, daß es dortwerktags ke<strong>in</strong>e Stände mit alten Münzen und Büchern gibt.«Die beiden lachten. Dann me<strong>in</strong>te <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong>, daß man durchFragenstellen wohl selten etwas Neues erfahre. »Was geschahnun wirklich, <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong>?« fragte ich. »Glaube mir, das zuwissen ist unmöglich«, sagte er knapp. »In diesen D<strong>in</strong>genstehen du und ich auf gleicher Stufe. Me<strong>in</strong> Vorteil vor dir ist imAugenblick nur, daß ich weiß, wie man zum Nagual gelangt,und du es nicht weißt. Aber sobald ich e<strong>in</strong>mal dort b<strong>in</strong>, habeich ke<strong>in</strong>en Vorteil, ke<strong>in</strong>en Wissensvorsprung vor dir.«»B<strong>in</strong> ich wirklich auf dem Markt gelandet. <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong>?« fragteich.»Selbstverständlich. Ich sagte dir doch, das Nagual steht demKrieger zu Gebot. Ist es nicht so. Genaro' 1 « »Richtig!« rief<strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> mit dröhnen<strong>der</strong> Stimme und stand mit e<strong>in</strong>er e<strong>in</strong>zigenBewegung auf. Es war. als habe se<strong>in</strong>e Stimme ihn aus <strong>der</strong>liegenden Stellung <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e aufrechte gerissen.Vor Lachen kugelte <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> sich buchstäblich am Boden.<strong>Don</strong> Genaro machte mit nonchalanter Miene e<strong>in</strong>e komischeVerbeugung und verabschiedete sich.»Genaro wird morgen wie<strong>der</strong>kommen«, sagte <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong>.»Jetzt mußt du <strong>in</strong> völligem Schweigen hier sitzen bleiben.«Wir sprachen ke<strong>in</strong> Wort mehr. Nach stundenlangemSchweigen schlief ich e<strong>in</strong>.Ich schaute auf die Uhr. Es war be<strong>in</strong>ah sechs Uhr früh. <strong>Don</strong><strong>Juan</strong> warf e<strong>in</strong>en prüfenden Blick auf die schweren weißenWolkenberge am westlichen Horizont und me<strong>in</strong>te, heute seie<strong>in</strong> bedeckter Tag. <strong>Don</strong> Genaro schnupperte <strong>in</strong> die Luft undfügte h<strong>in</strong>zu, es werde wohl auch heiß und w<strong>in</strong>dstill se<strong>in</strong>.»W erden wir weit gehen?« fragte ich.»Bis zu den Eukalyptusbäumen dort drüben«, antwortete <strong>Don</strong>Genaro und wies auf e<strong>in</strong> etwa zwei Kilometer entferntesGehölz.Als wird die Bäume erreichten, erkannte ich, daß es ke<strong>in</strong>natürliches W äldchen war. Die Eukalyptusbäume waren vielmehr<strong>in</strong> schnurgeraden Reihen gepflanzt worden, um dieGrenzen zwischen e<strong>in</strong>zelnen Fel<strong>der</strong>n zu markieren, die mitverschiedenen Getreidesorten bepflanzt waren. W ir g<strong>in</strong>gen amRand e<strong>in</strong>es M aisfeldes entlang, unter e<strong>in</strong>er Reihe riesigerBäume - sie waren schlank und gerade und über dreißig M eterhoch, - und gelangten zu e<strong>in</strong>em Stoppelfeld. Ich bemerkte, daßes offenbar erst vor kurzem abgeerntet worden war. Es warennur noch trockene Halme und Blätter von irgendwelchenPflanzen da, die ich nicht kannte. Ich bückte mich, um e<strong>in</strong>Blatt aufzuheben, aber <strong>Don</strong> Genaro h<strong>in</strong><strong>der</strong>te mich daran. M itgroßer <strong>Kraft</strong> hielt er me<strong>in</strong>en Arm fest. Ich fuhr zurück, unddann stellte ich fest, daß er me<strong>in</strong>en Arm nur ganz leicht mitdem F<strong>in</strong>ger berührt hatte. Ke<strong>in</strong> Zweifel, er wußte, was ergetan und was ich dabei empfunden hatte. Rasch zog erse<strong>in</strong>en F<strong>in</strong>ger von me<strong>in</strong>em Arm zurück, und dann berührte erih n wie<strong>der</strong> leicht. Dies wie<strong>der</strong>holte er noch e<strong>in</strong>mal und lachtewie e<strong>in</strong> fröhliches K<strong>in</strong>d, als ich zusammenzuckte. Dann wandteer mir se<strong>in</strong> Profil z u . Se<strong>in</strong>e Adlernase verlieh ih m dasAussehen e<strong>in</strong>es Vogels, e<strong>in</strong>es V ogels m it m erkwürdigen langen,w eißen Zähnen. M it leiser Stim m e befahl D on <strong>Juan</strong> mir, n ic h tsanzufassen. Ich fragte ihn, ob er wisse, welche Feldfrucht hierangebaut worden sei. Er schien es mir schon sagen zu wollen,aber <strong>Don</strong> Genaro m ischte sich e<strong>in</strong> und me<strong>in</strong>te, dies sei e<strong>in</strong>Feld von Würmern.<strong>Don</strong> Genaro sah mich fest an, ohne e<strong>in</strong> Lächeln zu riskieren.Ich hielt <strong>Don</strong> Genaros s<strong>in</strong>nlose Antwort für e<strong>in</strong>en W itz. Ichwartete auf e<strong>in</strong> Stichwort, um loszulachen, aber sie schautenmich bloß unverwandt an.»E<strong>in</strong> Feld voller prächtiger W ürmer«, sagte <strong>Don</strong> Genaro. »Ja,was hier angepflanzt wurde, das waren die köstlichsten W ürm er,die du je gesehen hast.« Er drehte sich zu <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> um. Siewarfen sich e<strong>in</strong>en Blick zu.182 183


»Ist es nicht so?« fragte er.»Völlig richtig!« sagte <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong>, und zu mir gewandt, fügte erleise h<strong>in</strong>zu: »Genaro führt heute Regie. Nur er kann sagen, waslos ist. tu also genau, was er sagt!« Die Vorstellung, daß <strong>Don</strong>Genaro die Führung hatte, erfüllte mich mit Schrecken. Ichwandte mich an <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong>, um ihm dies zu sagen. Aber nochbevor ich e<strong>in</strong> Wort sagen konnte, stieß <strong>Don</strong> Genaro e<strong>in</strong>enunheimlichen Schrei aus. e<strong>in</strong>en so lauten und furchterregendenSchrei, daß me<strong>in</strong> Genick sich versteifte und mir die Haare zuBerge standen, als ob <strong>der</strong> W<strong>in</strong>d sie zauste. E<strong>in</strong>e Sekunde langverfiel ich <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e komplette Bewußtse<strong>in</strong>sspaltung, und ichwäre wie angewurzelt stehengeblieben, wäre nicht <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong>dagewesen. <strong>der</strong> mit unglaublicher Schnelligkeit undSelbstbeherrschung me<strong>in</strong>en Körper umdrehte, so daß me<strong>in</strong>eAugen e<strong>in</strong>e unglaubliche Leistung erblicken konnten. <strong>Don</strong>Genaro stand waagerecht etwa dreißig Meter über dem Boden -auf dem Stamm e<strong>in</strong>es etwa fünfzig Meter entferntenEukalyptus. Das heißt, er stand mit leicht gespreizten Be<strong>in</strong>en imrechten W<strong>in</strong>kel zum Stamm. Es sah aus, als habe er Steighakenan den Füßen, mit <strong>der</strong>en Hilfe er <strong>der</strong> Schwerkraft trotzte. Erhatte die Arme über <strong>der</strong> Brust verschränkt und wandte mir denRücken zu. Ich blickte starr zu ihm h<strong>in</strong>. Ich wollte nichtbl<strong>in</strong>zeln, denn ich fürchtete, ihn aus dem Blick zu verlieren.Ich überlegte rasch und kam zu dem Schluß, daß ich, falls ich ihnim Auge behielt, vielleicht e<strong>in</strong>en H<strong>in</strong>weis, e<strong>in</strong>e Bewegung, e<strong>in</strong>eGebärde o<strong>der</strong> irgend etwas entdecken könnte, das mir helfenwürde zu verstehen, was hier vorg<strong>in</strong>g.Ich spürte <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong>s Kopf neben me<strong>in</strong>em rechten Ohr undhörte, wie er mir zuflüsterte, daß je<strong>der</strong> Versuch e<strong>in</strong>er Erklärungs<strong>in</strong>nlos und idiotisch sei. Ich hörte ihn wie<strong>der</strong>holt sagen:»Preß de<strong>in</strong>en Bauch runter, runter!«Es handelte sich dabei um e<strong>in</strong>e Technik, die er mich vorJahren gelehrt hatte und die <strong>in</strong> Augenblicken großer Gefahr.Angst o<strong>der</strong> Belastung e<strong>in</strong>zusetzen ist. Sie besteht dar<strong>in</strong>, daßman das Zwerchfell h<strong>in</strong>abdrückt, während man vier rascheAtemzüge durch den Mund tut, gefolgt von viermaligemtiefem E<strong>in</strong>- und Ausatmen durch die Nase. Er hatte mirerklärt, man müsse die raschen Atemzüge wie Schläge <strong>in</strong> die184Körpermitte empf<strong>in</strong>den und dabei die Hände, fest zu Fäustengeballt, gegen den Nabel drücken, was die Körpermitte stärkenund mithelfen würde, die Atemzüge und das tiefe Luftholen zukontrollieren, wobei man bei h<strong>in</strong>untergepreßtem Zwerchfell dieLuft anhalten und bis acht zählen müsse. Das Ausatmen hattezweimal durch die Nase und zweimal durch den Mund zugeschehen, und zwar schnell o<strong>der</strong> langsam, je nach Belieben.Ich gehorchte ganz automatisch. Ich wagte es aber nicht, denBlick von <strong>Don</strong> Genaro abzuwenden. Während ich weiteratmete, entspannte sich me<strong>in</strong> Körper, und ich bemerkte, daß<strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> sich an me<strong>in</strong>en Be<strong>in</strong>en zu schaffen machte. Als ermich vorh<strong>in</strong> umgedreht hatte, war me<strong>in</strong> rechter Fuß ansche<strong>in</strong>endan e<strong>in</strong>em Erdklumpen hängengeblieben, und me<strong>in</strong> Be<strong>in</strong>war <strong>in</strong> unbequemer Haltung abgew<strong>in</strong>kelt. Nachdem er esgerade gestellt hatte, wurde mir klar, daß <strong>der</strong> Schock. <strong>Don</strong>Genaro <strong>in</strong> dieser Haltung am Baumstamm zu sehen, michunempf<strong>in</strong>dlich gegen me<strong>in</strong>e unbequeme Lage gemacht hatte.<strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> flüsterte mir <strong>in</strong>s Ohr. ich solle nicht starr auf <strong>Don</strong>Genaro blicken. Ich hörte ihn sagen: »Bl<strong>in</strong>zle, bl<strong>in</strong>zle!« Ichzögerte e<strong>in</strong>en Moment. Wie<strong>der</strong> befahl <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> es mir. Ichwar davon überzeugt, daß die ganze Angelegenheit irgendwiemit mir als Betrachter <strong>in</strong> Verb<strong>in</strong>dung stand und daß <strong>Don</strong>Genaro, falls ich. <strong>der</strong> e<strong>in</strong>zige Zeuge se<strong>in</strong>er Tat, wegschauensollte, herunterfallen - o<strong>der</strong> die ganze Szene sogarverschw<strong>in</strong>den würde.Nach e<strong>in</strong>er unerträglich langen Pause <strong>der</strong> Reglosigkeit drehtesich <strong>Don</strong> Genaro a u f den Fersen um fünfundvierzig Grad nachrechts und f<strong>in</strong>g an, den Baumstamm h<strong>in</strong>aufzugehen. Se<strong>in</strong>Körper bebte. Ich sah. wie er e<strong>in</strong> Schrittchen nach dem an<strong>der</strong>enmachte, bis er acht zurückgelegt hatte. Er wich sogar e<strong>in</strong>em Astaus. Dann, immer noch mit über <strong>der</strong> Brust verschränktenArmen, setzt er sich mit dem Rücken zu mir auf den Stamm.Se<strong>in</strong>e Füße baumelten <strong>in</strong> <strong>der</strong> Luft, als ob er auf e<strong>in</strong>em Stuhlsäße, als ob die Schwerkraft ke<strong>in</strong>e Wirkung auf ihn hätte.Dann rutschte er irgendwie auf dem Gesäß abwärts. Er erreichtee<strong>in</strong>en Ast. <strong>der</strong> parallel zu se<strong>in</strong>em Körper herausragte, undlehnte sich e<strong>in</strong> paar Sekunden mit dem l<strong>in</strong>ken Arm und demKopf dagegen. Dies tat er offenbar mehr wegen <strong>der</strong>185


dramatischen Wirkung, als um sich zu stützen. Dann rutschteer auf dem Gesäß weiter. Zentimeter für Zentimeter vomStamm auf den Ast. bis er se<strong>in</strong>e Stellung gewechselt hatte undnun dort saß. wie man wohl normalerweise auf e<strong>in</strong>em Astsitzen würde.<strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> kicherte. Ich hatte e<strong>in</strong>en scheußlichen Geschmackim Mund. Ich wollte mich nach <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> umdrehen, <strong>der</strong> zume<strong>in</strong>er Rechten knapp h<strong>in</strong>ter mir stand, aber ich wagte nicht,e<strong>in</strong>e von <strong>Don</strong> Genaros Taten zu versäumen. E<strong>in</strong>e Weile ließ erdie Füße baumeln, dann schlug er sie übere<strong>in</strong>an<strong>der</strong> und wipptee<strong>in</strong> wenig, schließlich glitt er wie<strong>der</strong> auf den Stamm h<strong>in</strong>auf.<strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> nahm behutsam me<strong>in</strong>en Kopf <strong>in</strong> beide Hände undbog me<strong>in</strong>en Hals nach l<strong>in</strong>ks, bis me<strong>in</strong> Gesichtsw<strong>in</strong>kel parallelstatt senkrecht zu dem Baum verlief. Wenn ich <strong>Don</strong> Genaroaus dieser Perspektive sah, schien er nicht mehr <strong>der</strong> Schwerkraftzu trotzen. Er saß e<strong>in</strong>fach auf e<strong>in</strong>em Baumstamm. Dannstellte ich fest, daß, wenn ich starr geradeaus blickte und nichtbl<strong>in</strong>zelte, <strong>der</strong> H<strong>in</strong>tergrund verschwamm und <strong>Don</strong> GenarosKörper sich um so klarer abzeichnete; se<strong>in</strong>e Gestalt trat <strong>in</strong> denVor<strong>der</strong>grund, als ob nichts an<strong>der</strong>es existierte. Nun glitt <strong>Don</strong>Genaro rasch auf den Ast zurück. Er hockte mit baumelndenFüßen wie auf e<strong>in</strong>em Trapez. Wenn ich ihn aus dieserverzerrten Perspektive sah. dann erschienen beide Stellungenmöglich, beson<strong>der</strong>s das Sitzen auf dem Baumstamm. <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong>beugte nun me<strong>in</strong>en Kopf nach rechts, bis er auf me<strong>in</strong>erSchulter ruhte. <strong>Don</strong> Genaros Haltung auf dem Ast erschienmir völlig normal, aber als er wie<strong>der</strong> auf den Stamm rutschte,konnte ich me<strong>in</strong>e Wahrnehmung nicht entsprechend anpassenund sah ihn. als säße er verkehrt herum, mit dem Kopf nachunten.<strong>Don</strong> Genaro bewegte sich etliche Male vor und zurück, undjedesmal, wenn <strong>Don</strong> Genaro sich bewegte, bog <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong>me<strong>in</strong>en Kopf nach <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Seite. Die Folge dieser beidenVerschiebungen war. daß ich me<strong>in</strong>e normale Perspektive völligverlor, und ohne diese waren <strong>Don</strong> Genaros Taten wenigererschreckend.Nun blieb <strong>Don</strong> Genaro längere Zeit auf dem Ast sitzen. <strong>Don</strong><strong>Juan</strong> richtete me<strong>in</strong>en Kopf gerade und flüsterte mir zu. <strong>Don</strong>186Genaro sei im Begriff herunterzukommen. Ich hörte, wie ere<strong>in</strong>dr<strong>in</strong>glich flüsterte: »Nach unten pressen, nach unten!« Ichwar mitten im schnellen Ausatmen, als <strong>Don</strong> Genaros Körpersich unter e<strong>in</strong>er Art Spannung zu versteifen schien. Er leuchteteauf. dann erschlaffte er. schwang rückwärts und h<strong>in</strong>g e<strong>in</strong>enAugenblick mit den Kniekehlen am Ast. Se<strong>in</strong>e Be<strong>in</strong>e schienenaber so kraftlos zu se<strong>in</strong>, daß er sie nicht abgebeugt haltenkonnte, und er fiel herab.In <strong>der</strong> Sekunde, als se<strong>in</strong> Sturz begann, hatte auch ich dasGefühl, durch den leeren Raum zu stürzen. Me<strong>in</strong> ganzerKörper empfand e<strong>in</strong>en quälenden, gleichzeitig aber sehr angenehmenSchmerz, e<strong>in</strong>en Schmerz von solcher Heftigkeit undDauer, daß me<strong>in</strong>e Be<strong>in</strong>e nicht mehr me<strong>in</strong> Gewicht zu tragenvermochten und ich auf die weiche Erde fiel. Ich konnte kaumdie Arme bewegen, um me<strong>in</strong>en Sturz abzufangen. Ich atmete soheftig, daß e<strong>in</strong> wenig Sand <strong>in</strong> me<strong>in</strong>e Nase geriet und e<strong>in</strong>Jucken verursachte. Ich versuchte aufzustehen: me<strong>in</strong>e Muskelnschienen alle <strong>Kraft</strong> verloren zu haben. <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> und <strong>Don</strong>Genaro kamen und beugten sich über mich. Ich hörte ihreStimmen, als ob sie <strong>in</strong> e<strong>in</strong>iger Entfernung von mir wären, unddoch spürte ich. wie sie mich hochzogen. Ansche<strong>in</strong>end hoben siemich auf. wobei je<strong>der</strong> mich an e<strong>in</strong>em Arm und e<strong>in</strong>em Be<strong>in</strong>packte, und trugen mich e<strong>in</strong> Stück weit. Ich war mir <strong>der</strong>unbequemen Haltung me<strong>in</strong>es Kopfes bewußt, <strong>der</strong> schlaffherabbaumelte. Me<strong>in</strong>e Augen waren offen. Ich sah die Erde undGrasbüschel unter mir weggleiten. Schließlich spürte iche<strong>in</strong>en kalten Schauer. Wasser drang mir <strong>in</strong> Mund und Nase,und ich mußte husten. Me<strong>in</strong>e Arme und Be<strong>in</strong>e strampeltenwie wild. Ich versuchte zu schwimmen, aber das Wasser warnicht tief genug, und schließlich stand ich aufrecht <strong>in</strong> demseichten Bach, <strong>in</strong> den sie mich e<strong>in</strong>getaucht hatten. <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong>und <strong>Don</strong> Genaro wollten sich kaputtlachen. <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong>krempelte se<strong>in</strong>e Hosen auf und kam zu mir heran: er spähtemir <strong>in</strong> die Augen, dann me<strong>in</strong>te er. ich sei noch nicht wie<strong>der</strong>ganz und heil, und stieß mich <strong>in</strong>s Wasser zurück. Me<strong>in</strong> Körperbot ke<strong>in</strong>erlei Wi<strong>der</strong>stand. Ich wollte nicht noch e<strong>in</strong>male<strong>in</strong>getunkt werden, aber es war mir unmöglich, me<strong>in</strong>en Willenauf me<strong>in</strong>e Muskeln zu übertragen, und so stolperte ich rückl<strong>in</strong>gs.Diesmal empfand ich die Kälte noch stärker. Rasch187


sprang ich auf und hastete versehentlich auf das gegenüberliegendeUfer. <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> und <strong>Don</strong> Genaro schrien und pfiffen undwarfen Ste<strong>in</strong>e <strong>in</strong>s Gebüsch h<strong>in</strong>ter mir, als versuchten sie. e<strong>in</strong>enausgebrochenen Ochsen zu dirigieren. Ich watete durch denBach zurück und setzte mich neben sie auf e<strong>in</strong>en Ste<strong>in</strong>. <strong>Don</strong>Genaro reichte mir me<strong>in</strong>e Klei<strong>der</strong>, und erst jetzt fiel mir auf,daß ich nackt war, obwohl ich mich nicht daran er<strong>in</strong>nerte, wanno<strong>der</strong> wie sie mich ausgezogen hatten. <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> wandte sich an<strong>Don</strong> Genaro und sagte mit dröhnen<strong>der</strong> Stimme: »UmHimmelswillen, geb' e<strong>in</strong>er dem Mann doch e<strong>in</strong> Handtuch!« Ichbrauchte e<strong>in</strong> paar Sekunden, um die Absurdität <strong>in</strong> dieserSituation zu erkennen.Ich fühlte mich sehr wohl. Ich war sogar so glücklich, daß ichnicht e<strong>in</strong>mal sprechen wollte. Ich war mir aber sicher, daß sie.falls ich me<strong>in</strong>e Euphorie zeigte, mich wie<strong>der</strong> <strong>in</strong>s Wassertunken würden.<strong>Don</strong> Genaro beobachtete mich. Se<strong>in</strong>e Augen funkelten wie diee<strong>in</strong>es wilden Tieres. Se<strong>in</strong> Blick drang durch mich h<strong>in</strong>durch. »Gutfür dich!« sagte <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> plötzlich zu mir. »Jetzt bist dubeherrscht, aber drüben bei den Eukalyptusbäumen hast dudich gehenlassen wie e<strong>in</strong> Hanswurst.«Schon wollte ich hysterisch loslachen. <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong>s Worte kamenmir so wahns<strong>in</strong>nig komisch vor. daß ich mich gewaltiganstrengen mußte, um mich zu zügeln. Und dann erteilte mirirgend etwas <strong>in</strong> mir blitzartig e<strong>in</strong>en Befehl. E<strong>in</strong> unkontrollierbaresJucken <strong>in</strong> <strong>der</strong> Körpermitte veranlaßte mich, me<strong>in</strong>eKlei<strong>der</strong> abzuwerfen und wie<strong>der</strong> <strong>in</strong>s Wasser zu spr<strong>in</strong>gen. Ichblieb etwa fünf M<strong>in</strong>uten im Bach. Die Kälte machte michwie<strong>der</strong> nüchtern. Als ich ans Ufer stieg, war ich wie<strong>der</strong> ichselbst.»Gut gemacht!« sagte <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> und klopfte mir die Schulter.Sie führten mich zu den Eukalyptusbäumen zurück. Im Gehenerklärte <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong>, me<strong>in</strong> »Tonal« sei <strong>in</strong> gefährlichem Maßverletzlich gewesen, und offensichtlich habe die Wi<strong>der</strong>s<strong>in</strong>nigkeitvon <strong>Don</strong> Genaros Taten es überfor<strong>der</strong>t. Er sagte, sie hättenbereits beschlossen gehabt, es ke<strong>in</strong>en neuen Belastungenauszusetzen und zu <strong>Don</strong> Genaro nach <strong>Haus</strong>e zu gehen, aber dieTatsache, daß ich selbst erkannt hätte, ich müsse noch e<strong>in</strong>mal imBach untertauchen, habe nun alles geän<strong>der</strong>t. Ersagte jedoch nicht, was sie im S<strong>in</strong>n hatten. Wir standen mittenauf dem Feld, an <strong>der</strong> gleichen Stelle, wo wir zuvor gewesenwaren. <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> stand rechts von mir, <strong>Don</strong> Genaro l<strong>in</strong>ks.Beide standen mit angespannten Muskeln da, <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Zustandäußerster Wachsamkeit. Diese Anspannung hielten sie etwazehn M<strong>in</strong>uten durch. Me<strong>in</strong> Blick wechselte vom e<strong>in</strong>en zuman<strong>der</strong>en. Ich hoffte, <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> werde mir e<strong>in</strong> Stichwort geben,was ich tun sollte. Ich hatte recht. Irgendwann entspannte erse<strong>in</strong>en Körper und stieß mit dem Fuß e<strong>in</strong> paar festeErdklumpen fort. Ohne mich anzusehen, sagte er: »Wir solltenlieber gehen.« Unwillkürlich überlegte ich, <strong>Don</strong> Genaro habewohl die Absicht gehabt, mir noch e<strong>in</strong>e weitere Demonstrationdes »Nagual« zu erteilen, dann aber wohl beschlossen, es dochnicht zu tun. Ich war erleichtert. Ich wartete noch e<strong>in</strong>enAugenblick auf e<strong>in</strong>e letzte Bestätigung. Auch <strong>Don</strong> Genaroentspannte sich, und dann taten beide e<strong>in</strong>en Schritt nach vorn.Jetzt wußte ich, daß wir es h<strong>in</strong>ter uns hatten. Aber genau <strong>in</strong>dem Augenblick, da ich mich ebenfalls entspannte, stieß <strong>Don</strong>Genaro wie<strong>der</strong> se<strong>in</strong>en unglaublichen Schrei aus.Ich f<strong>in</strong>g wie wild an zu atmen. Ich schaute mich um. <strong>Don</strong>Genaro war verschwunden. <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> stand vor mir. Erkrümmte sich vor Lachen. Er kam e<strong>in</strong>en Schritt näher. »Tut mirleid«, flüsterte er. »Es geht nicht an<strong>der</strong>s.« Ich wollte ihn nach<strong>Don</strong> Genaros Verbleib fragen, aber ich wußte, daß ich sterbenwürde, wenn ich nicht weiter atmete und me<strong>in</strong> Zwerchfell nachunten preßte. <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> wies mit dem K<strong>in</strong>n auf e<strong>in</strong>e Stelleh<strong>in</strong>ter mir. Ohne me<strong>in</strong>e Füße zu bewegen, wollte ich michnach l<strong>in</strong>ks umdrehen. Aber noch bevor ich sehen konnte, waser mir zeigen wollte, sprang <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> herbei und h<strong>in</strong><strong>der</strong>te michdaran. Durch se<strong>in</strong>en gewaltigen Satz und den Schwung, mitdem er mich packte, verlor ich das Gleichgewicht. ImRückwärtsfallen hatte ich das Gefühl, daß ich mich <strong>in</strong> me<strong>in</strong>emSchrecken an <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> festklammerte und ihn folglich mit mirzu Boden riß. Aber als ich aufschaute, mußte ich e<strong>in</strong>en völligenWi<strong>der</strong>spruch zwischen me<strong>in</strong>en taktilen und visuellenS<strong>in</strong>nese<strong>in</strong>drücken feststellen. Ich sah <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> über mir stehenund lachen, während me<strong>in</strong> Körper unzweifelhaft das Gewichtund den Druck e<strong>in</strong>es ande-188 189


en. auf mir liegenden Körpers spürte, <strong>der</strong> mich geradezu aufden Boden preßte.<strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> reichte mir die Hand und half mir auf. M e<strong>in</strong>ekörperliche Empf<strong>in</strong>dung war, daß er zwei Leiber emporzog. Erlächelte wissend und flüsterte mir zu, man dürfe sich nie nachl<strong>in</strong>ks umdrehen, wenn man das »Nagual« sehen wolle. Das»Nagual« sei tödlich, und es sei nicht notwendig, die Risikennoch größer zu machen, als sie ohneh<strong>in</strong> schon seien. Danndrehte er mich behutsam um und lenkte me<strong>in</strong>en Blick aufe<strong>in</strong>en riesigen Eukalyptus. Er war wohl <strong>der</strong> älteste Baum hier <strong>in</strong><strong>der</strong> Gegend. Se<strong>in</strong> Stamm war fast zweimal so dick wie die alleran<strong>der</strong>en. M it den Augen wies er zum W ipfel des Baumesh<strong>in</strong>auf. <strong>Don</strong> Genaro hockte auf e<strong>in</strong>em Ast! Er schaute zu mirherab. Ich sah se<strong>in</strong>e Augen wie zwei riesige, das Lichtreflektierende Spiegel. Ich wollte nicht h<strong>in</strong>sehen, aber D on<strong>Juan</strong> bestand darauf, ich dürfe den Blick nicht abwenden.E<strong>in</strong>dr<strong>in</strong>glich flüsternd, befahl er mir. mit den Augen zubl<strong>in</strong>zeln und nicht <strong>der</strong> Angst nachzugeben o<strong>der</strong> michgehenzulassen.Ich bemerkte, daß <strong>Don</strong> Genaros Augen, wenn ich regelmäßigbl<strong>in</strong>zelte, nicht so furchterregend waren. Nur wenn ich starrh<strong>in</strong>schaute, wurde das Leuchten se<strong>in</strong>er Augen entsetzlich.Lange blieb er auf dem Ast hocken. Dann - ohne e<strong>in</strong>eKörperbewegung - sprang er herab und landete <strong>in</strong> <strong>der</strong> gleichenhockenden Stellung e<strong>in</strong> paar Meter von me<strong>in</strong>em Standortentfernt. Ich konnte den ganzen Ablauf se<strong>in</strong>es Sprungsverfolgen, und ich wußte, daß ich mehr gesehen hatte, alsme<strong>in</strong>e Augen aufnehmen konnten. <strong>Don</strong> Genaro war nichteigentlich gesprungen. Irgend etwas hatte ihn sozusagen vonh<strong>in</strong>ten geschoben und ih n e<strong>in</strong>e Parabel durch die Luft beschreibenlassen. <strong>Der</strong> A st, auf dem er gesessen hatte, war andie dreißig M eter hoch, und <strong>der</strong> Baum war ungefähr fünfzigM eter von m ir entfernt; folglich mußte se<strong>in</strong> K örper e <strong>in</strong> egekrümmte Kurve beschreiben, um dort zu landen, wo er estat. Aber die <strong>Kraft</strong>, die es brauchte, um e<strong>in</strong>e solche Entfernungzu überw<strong>in</strong>den, war nicht das Produkt von <strong>Don</strong> GenarosM uskeln; se<strong>in</strong> Körper wurde vom Ast auf den Boden »geblasen«.W ährend se<strong>in</strong> Körper diese Parabel beschrieb, konnteich e<strong>in</strong>en Augenblick se<strong>in</strong>e Schuhsohlen und se<strong>in</strong> Gesäß sehen.Dann vollführte er e<strong>in</strong>e weiche Landung, wiewohl se<strong>in</strong>Gewicht Erdklumpen zerbröselte und Staub aufwirbelte. H<strong>in</strong>termir hörte ich <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> lachen. <strong>Don</strong> Genaro stand auf, als se<strong>in</strong>ichts geschehen, und zupfte mich am Ärmel, um mir zubedeuten, daß wir aufbrechen sollten.Niemand sprach e<strong>in</strong> Wort auf dem Weg zu <strong>Don</strong> Genaros <strong>Haus</strong>.Ich war klar und gefaßt. Etliche Male blieb <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> stehenund starrte mir prüfend <strong>in</strong> die Augen. Er schien zufrieden.Sobald wir daheim waren, g<strong>in</strong>g <strong>Don</strong> Genaro h<strong>in</strong>ter das <strong>Haus</strong>.Es war immer noch früh am Morgen. <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> setzte sichneben <strong>der</strong> Tür auf den Boden und wies mir mit <strong>der</strong> Hand e<strong>in</strong>enPlatz. Ich war erschöpft. Ich legte mich h<strong>in</strong> und schlief wie e<strong>in</strong>Ste<strong>in</strong>.Ich erwachte davon, daß <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> mich schüttelte. Ich wolltenachsehen, wie spät es war. Me<strong>in</strong>e Uhr war weg. <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> zogsie aus se<strong>in</strong>er Hemdtasche und reichte sie mir. Es war gegene<strong>in</strong> Uhr mittags. Ich schaute auf, und unsere Blicke begegnetensich.»Ne<strong>in</strong>! Es gibt ke<strong>in</strong>e Erklärung«, sagte er und wandte sich ab.»Das Nagual ist nur dazu da, erlebt zu werden.« Ich g<strong>in</strong>g umdas <strong>Haus</strong> herum und suchte <strong>Don</strong> Genaro; er war nicht da. Dannkehrte ich zum Vorplatz zurück. <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> hatte mir etwas zuessen zubereitet. Nachdem ich gegessen hatte, f<strong>in</strong>g er an zusprechen.»Wenn man es mit dem Magnat zu tun hat, soll man es niedirekt anschauen«, sagte er. »Heute morgen hast du es angestarrt,und deshalb verließen dich die Kräfte. Die e<strong>in</strong>zigmögliche Art, das Nagual anzusehen, ist, so zu tun, als ob esetwas ganz Alltägliches sei. Und man muß bl<strong>in</strong>zeln, um dieFixierung zu lösen. Unsere Augen s<strong>in</strong>d die Augen des Tonalo<strong>der</strong> genauer gesagt, unsere Augen s<strong>in</strong>d durch das Tonalgeschult, daher erhebt das Tonal Anspruch auf sie. E<strong>in</strong>e <strong>der</strong>Ursachen für de<strong>in</strong>e Verwirrung und de<strong>in</strong>en Verdruß ist, daßde<strong>in</strong> Tonal de<strong>in</strong>e Augen nicht loslassen will. An dem Tag, daes dies tut, wird de<strong>in</strong> Nagual e<strong>in</strong>e große Schlacht gewonnenhaben. Du bist o<strong>der</strong> besser: wir alle s<strong>in</strong>d zwanghaft besessenvon <strong>der</strong> Idee, die Welt nach den Gesetzen des Tonal zuarrangieren. Jedesmal. wenn wir dem Nagual gegenüberste-190 191


hen, strengen wir uns daher ungeheuer an. unsere Augen starrund unnachgiebig zu machen. Ich muß den Teil de<strong>in</strong>es Tonalansprechen, <strong>der</strong> dieses Dilemma versteht, und du mußt dichbemühen, de<strong>in</strong>e Augen frei zu machen. Es kommt darauf an,das Tonal davon zu überzeugen, daß es noch an<strong>der</strong>e Weltengeben kann, die sich vor den gleichen Fenstern abspielen. Dieshat das Nagual dir heute morgen gezeigt. Also befrei de<strong>in</strong>eAugen! Laß sie echte Fenster se<strong>in</strong>! Die Augen können Fensterse<strong>in</strong>, durch die man <strong>in</strong> den Stumpfs<strong>in</strong>n glotzt o<strong>der</strong> <strong>in</strong> dieseUnendlichkeit späht.«<strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> wies mit e<strong>in</strong>er kreisförmigen Bewegung des l<strong>in</strong>kenArmes auf die Umgebung. In se<strong>in</strong>en Augen war e<strong>in</strong> Glitzern,und se<strong>in</strong> Lächeln war furchterregend und entwaffnend zugleich.»Wie kann ich das?« fragte ich.»Ich sage dir, das ist ganz e<strong>in</strong>fach. Vielleicht sage ich. es seie<strong>in</strong>fach, weil ich es schon so lange praktiziere. Du brauchstnichts an<strong>der</strong>es tun, als de<strong>in</strong>en Vorsatz wie e<strong>in</strong>en Grenzschlagbaume<strong>in</strong>zusetzen. Immer wenn du <strong>in</strong> <strong>der</strong> Welt des Tonal/bist,dann sollst du e<strong>in</strong> makelloses Tonal se<strong>in</strong>. Ke<strong>in</strong>e Zeit fürirrationalen Quatsch! Aber immer, wenn du <strong>in</strong> <strong>der</strong> Welt desNagual bist, dann sollst du ebenso makellos se<strong>in</strong>. Ke<strong>in</strong>e Zeitf ü r rationalen Quatsch! Für den Krieger ist se<strong>in</strong> Vorsatz wiee<strong>in</strong> Schlagbaum zwischen beiden. Er schließt sich vollständigh<strong>in</strong>ter ihm, wenn er das e<strong>in</strong>e o<strong>der</strong> das an<strong>der</strong>e Reich betritt.Und noch etwas sollte man tun. sobald man dem Nagualgegenübertritt, nämlich von Zeit zu Zeit die Blickrichtungwechseln, um den Bann des Nagual zu brechen. E<strong>in</strong>e Verän<strong>der</strong>ung<strong>der</strong> Augenstellung mil<strong>der</strong>t stets den Ansturm auf dasTonal. Heute morgen stellte ich fest, daß du extrem verletzlichwarst, und ich verän<strong>der</strong>te de<strong>in</strong>e Kopfhaltung. Wenn du wie<strong>der</strong>e<strong>in</strong>mal <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er solchen Lage bist, dann solltest du selbst de<strong>in</strong>eKopfhaltung wechseln können. Dieser Wechsel sollte aber nurals Hilfsmittel dienen, nicht als e<strong>in</strong>e weitere Möglichkeit, sichzu verbarrikadieren, um die Ordnung des Tonal zu wahren. Ichwette, du würdest versuchen, diese Technik e<strong>in</strong>zusetzen, umdah<strong>in</strong>ter die Rationalität de<strong>in</strong>es Tonal zu verstecken, und dichdadurch im Glauben wiegen, du bewahrtest es vor <strong>der</strong>Vernichtung. De<strong>in</strong> Denkfehler ist, daß niemand die Vernich-tung <strong>der</strong> Rationalität des Tonal wünscht o<strong>der</strong> anstrebt. DieseSorge ist unbegründet.Ansonsten kann ich dir nichts sagen, außer daß du jedeBewegung, die Genaro macht, verfolgen mußt, ohne dich zuverausgaben. Du kannst dich jetzt auf die Probe stellen, obde<strong>in</strong> Tonal m it U nwesentlichem vollgestopft ist o<strong>der</strong> nicht.W enn es zu viele unnötige D<strong>in</strong>ge auf de<strong>in</strong>er Insel gibt, dannwirst du die Begegnung mit dem Nagual nicht aushallen.«»W as könnte mir passieren?«»Du könntest sterben. Niemand kann e<strong>in</strong>e vorsätzliche Begegnungmit dem Nagual ohne langes Tra<strong>in</strong><strong>in</strong>g überleben. Esbraucht Jahre, um das Tonal auf e<strong>in</strong>e solche Begegnungvorzubereiten. W enn e<strong>in</strong> normaler M ensch dem Nagual vonAngesicht zu Angesicht entgegenträte, dann wäre <strong>der</strong> Schock sostark, daß er sterben könnte. Das Tra<strong>in</strong><strong>in</strong>g e<strong>in</strong>es Kriegersverfolgt also nicht das Ziel, ihn das Zaubern o<strong>der</strong> Hexen zulehren, son<strong>der</strong>n se<strong>in</strong> Tonal vorzubereiten, damit es nichtstirbt. E<strong>in</strong> sehr schwieriges Unterfangen! <strong>Der</strong> Krieger mußlernen, unfehlbar und vollkommen leer zu se<strong>in</strong>, bevor er auch nurdaran denken kann, dem Nagual zu begegnen. In e<strong>in</strong>em Fall zumBeispiel mußt du aufhören zu kalkulieren. W as du heute morgengemacht hast, war absurd. Du nennst es Erklären. Ich nenne ese<strong>in</strong> steriles, stumpfs<strong>in</strong>niges Beharren des Tonal, alles unterKontrolle zu behalten. Immer wenn ihm dies nicht gel<strong>in</strong>gt, gibtes e<strong>in</strong>en Augenblick <strong>der</strong> Verwirrung, und dann öffnet das Tonalsich dem Tod. W as für e <strong>in</strong> B löds<strong>in</strong>n! Es würde sich lie b e rumbr<strong>in</strong>gen, als die Herrschaft abzutreten. Und doch können wirnur wenig tun, um diesen Zustand zu än<strong>der</strong>n.«»W ie hast du ihn denn bei dir geän<strong>der</strong>t. <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong>?« »Man mußdie Insel des Tonal leerfegen und leerhalten, das ist das e<strong>in</strong>zige,was dem K rieger übrigbleibt. E<strong>in</strong>e leere Insel bietet ke<strong>in</strong>enW i<strong>der</strong>stand. Und es ist. als ob es dort nichts gäbe.«Er g<strong>in</strong>g h<strong>in</strong>ters <strong>Haus</strong> und setzte sich auf e<strong>in</strong>en großen, flachenSte<strong>in</strong>. Von dort konnte man <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e tiefe Schlucht h<strong>in</strong>absehen.W ortlos for<strong>der</strong>te er mich auf, mich neben ihn zu setzen. »Kannstdu mir sagen. <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong>, was wir heute sonst noch tun werden?«fragte ich.192 193


»Wir werden gar nichts tun. Das heißt, du und ich werden nurZuschauer se<strong>in</strong>. De<strong>in</strong> Wohltäter ist Genaro.« Ich glaubte, ichhätte ihn im Eifer des Mitschreibens mißverstanden. In denAnfangsphasen me<strong>in</strong>er Lehrzeit hatte <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> selbst denBegriff »Wohltäter« e<strong>in</strong>geführt. Ich hatte stets den E<strong>in</strong>druckgehabt, er selbst sei me<strong>in</strong> Wohltäter. <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> hatte aufgehörtzu sprechen und starrte mich an. Rasch rekapitulierte ich dasGesagte und kam zu dem Schluß. er habe wohl geme<strong>in</strong>t, daß<strong>Don</strong> Genaro bei dieser Gelegenheit wohl so etwas wie <strong>der</strong>Hauptdarsteller sei. <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> lachte, als ob er me<strong>in</strong>e Gedankengelesen hätte. »Genaro ist de<strong>in</strong> Wohltäter«, wie<strong>der</strong>holte er.»Aber das bist doch du, o<strong>der</strong> nicht?» fragte ich mit überschnappen<strong>der</strong>Stimme.»Ich b<strong>in</strong> nur <strong>der</strong>jenige, <strong>der</strong> dir geholfen hat. die Insel desTonal leerzufegen«, sagte er. »Genaro hat zwei Lehrl<strong>in</strong>ge.Pablito und Nestor. Ihnen hilft er, die Insel leerzufegen. Aberich b<strong>in</strong> es, <strong>der</strong> ihnen das Nagual zeigen wird. Ich werde ihrWohltäter se<strong>in</strong>. Genaro ist bloß ihr Lehrer. Bei diesen D<strong>in</strong>genkann man nur entwe<strong>der</strong> sprechen o<strong>der</strong> handeln. Man kannnicht beides mit e<strong>in</strong> und <strong>der</strong>selben Person machen. Entwe<strong>der</strong>man befaßt sich mit <strong>der</strong> Insel des Tonal o<strong>der</strong> man befaßt sichmit dem Nagual. In de<strong>in</strong>em Fall war es me<strong>in</strong>e Aufgabe, de<strong>in</strong>Tonal zu bearbeiten.«Während <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> sprach, hatte ich e<strong>in</strong>en so heftigen Angstanfall,daß ich mich fast übergeben mußte. Ich hatte denE<strong>in</strong>druck, er wolle mich mit <strong>Don</strong> Genaro alle<strong>in</strong> lassen, unddas war für mich e<strong>in</strong>e schreckliche Aussicht. <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> lachtenur, als ich me<strong>in</strong>e Befürchtungen äußerte. »Genauso ist es mitPablito«, sagte er. »Kaum sieht er mich nur von weitem, dawird ihm schon schlecht. E<strong>in</strong>es Tages kam er <strong>in</strong>s <strong>Haus</strong>, währendGenaro ausgegangen war. Ich war alle<strong>in</strong> und hatte me<strong>in</strong>enSombrero neben die Tür gehängt. Pablito sah ihn, und se<strong>in</strong>Tonal bekam e<strong>in</strong>en solchen Schreck, daß er sich buchstäblich<strong>in</strong> die Hose schiß.«Ich konnte Pablitos Gefühle gut verstehen und mich <strong>in</strong> ihnh<strong>in</strong>e<strong>in</strong>versetzen. Wenn ich mir die Sache genau überlegte,dann mußte ich zugeben, daß <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> furchterregend war.Aber ich hatte gelernt, mich bei ihm wohl zu fühlen. Ichempfand ihm gegenüber e<strong>in</strong>e Vertrautheit, die aus unsererlangen Bekanntschaft entstanden war.»Ich werde dich nicht mit Genaro alle<strong>in</strong> lassen«, sagte er,immer noch lachend. »Ich b<strong>in</strong> es. <strong>der</strong> für de<strong>in</strong> Tonal verantwortlichist. Ohne de<strong>in</strong> Tonal wärst du tot.« »Hat je<strong>der</strong>Lehrl<strong>in</strong>g e<strong>in</strong>en Lehrer und e<strong>in</strong>en Wohltäter?« fragte ich, nurum me<strong>in</strong>en <strong>in</strong>neren Aufruhr zu besänftigen. »Ne<strong>in</strong>, nicht je<strong>der</strong>.Aber e<strong>in</strong>ige.«»Warum haben manche sowohl e<strong>in</strong>en Lehrer als auch e<strong>in</strong>enWohltäter?«»Wenn e<strong>in</strong> normaler Mensch bereit ist, dann gibt die <strong>Kraft</strong> ihme<strong>in</strong>en Lehrer, und er wird e<strong>in</strong> Lehrl<strong>in</strong>g. Wenn <strong>der</strong> Lehrl<strong>in</strong>gbereit ist, gibt die <strong>Kraft</strong> ihm e<strong>in</strong>en Wohltäter, und er wird e<strong>in</strong>Zauberer.«»Was macht den Mann bereit, so daß die <strong>Kraft</strong> ihm e<strong>in</strong>enLehrer geben kann?«»Das weiß niemand. Wir s<strong>in</strong>d nur Menschen. E<strong>in</strong>ige von unss<strong>in</strong>d Menschen, die gelernt haben zu sehen und das Nagual zunutzen, aber nichts von alledem, was wir vielleicht im Laufunseres Lebens gelernt haben, kann uns die Absichten <strong>der</strong> <strong>Kraft</strong>enträtseln. Daher f<strong>in</strong>det nicht je<strong>der</strong> Lehrl<strong>in</strong>g e<strong>in</strong>en Wohltäter.Nur die <strong>Kraft</strong> entscheidet dies.« Ich fragte ihn, ob er selbste<strong>in</strong>en Lehrer und e<strong>in</strong>en Wohltäter gehabt hatte, und zumerstenmal seit dreizehn Jahren erzählte er bereitwillig von ihnen.Er sagte, sowohl se<strong>in</strong> Lehrer als auch se<strong>in</strong> Wohltäter seien ausZentralmexiko gewesen. E<strong>in</strong>e solche Information wäre mir stetssehr wertvoll f ü r me<strong>in</strong>e anthropologische Forschungsarbeiterschienen, aber jetzt, da er sie mir mitteilte, war es mirirgendwie gleichgültig. <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> warf mir e<strong>in</strong>en Blick zu. und ichme<strong>in</strong>te, es geschehe aus Besorgnis. Dann wechselte er abruptdas Thema und for<strong>der</strong>te mich auf, ihm <strong>in</strong> allen E<strong>in</strong>zelheiten zuschil<strong>der</strong>n, was ich am Vormittag erlebt hatte.»E<strong>in</strong> plötzlicher Schreck läßt das Tonal stets schrumpfen«,lautete se<strong>in</strong> Kommentar zu me<strong>in</strong>em Bericht, wie ich michgefühlt hatte, als Genaro schrie. »Dabei besteht aber dasProblem, das Tonal nicht so weit schrumpfen zu lassen, daß esverschw<strong>in</strong>det. Es ist e<strong>in</strong>e ernste Sache für den Krieger, genauzu wissen, wann er se<strong>in</strong> Tonal schrumpfen lassen darf und194 195


wann er dem E<strong>in</strong>halt gebieten muß. Dies ist e<strong>in</strong>e große Kunst.E<strong>in</strong> Krieger muß kämpfen wie <strong>der</strong> Teufel, um se<strong>in</strong> Tonalschrumpfen zu lassen, und doch muß <strong>der</strong> Krieger <strong>in</strong> demMoment, da das Tonal schrumpft, diesen ganzen Kampf umkehren,um das Schrumpfen sofort zu bremsen.« »Aber kehrt erdamit nicht zum Ausgangspunkt zurück?« fragte ich.»Ne<strong>in</strong>. Sobald das Tonal geschrumpft ist, schließt <strong>der</strong> Kriegervon <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Seite die Pforte. Solange se<strong>in</strong> Tonal nichtbedroht ist und se<strong>in</strong>e Augen nur auf die Welt des Tonale<strong>in</strong>gestimmt s<strong>in</strong>d, bef<strong>in</strong>det <strong>der</strong> Krieger sich auf <strong>der</strong> sicherenSeite des Gatters. Er ist auf vertrautem Gelände und kennt alleRegeln. Aber sobald se<strong>in</strong> Tonal schrumpft, steht er auf <strong>der</strong>stürmischen Seite, und diese Öffnung muß sofort festgeschlossen werden, sonst würde er augenblicklich h<strong>in</strong>weggefegt.Und dies ist nicht bloß e<strong>in</strong>e bildliche Redeweise. Jenseits <strong>der</strong>Pforte, die die Augen des Tonal bilden, tobt <strong>der</strong> Sturm. Ichme<strong>in</strong>e e<strong>in</strong>en wirklichen Sturm, ke<strong>in</strong>e Metapher. E<strong>in</strong> W<strong>in</strong>d, <strong>der</strong>jemandes Leben ausblasen kann. Wirklich, das ist <strong>der</strong> W<strong>in</strong>d,<strong>der</strong> alle Lebewesen auf dieser Welt umherweht. Vor Jahrene<strong>in</strong>mal habe ich dich mit diesem W<strong>in</strong>d bekannt gemacht. Aberdu hast es damals als Witz aufgefaßt.« Er spielte auf e<strong>in</strong>eGelegenheit an, als er mich <strong>in</strong>s Gebirge mitgenommen hatte undmir gewisse Eigenschaften des W<strong>in</strong>des erklärte. Ich hatte esjedoch nie als Witz aufgefaßt. »Es kommt nicht darauf an, obdu es ernst genommen hast o<strong>der</strong> nicht«, sagte er, nachdem ersich me<strong>in</strong>en Protest angehört hatte. »Als Regel gilt, daß das7"o«a/sich, immer wenn es bedroht ist, um jeden Preisverteidigen muß. Daher ist es eigentlich bedeutungslos, wie dasTonal reagiert, um se<strong>in</strong>e Verteidigung zu bewerkstelligen. Dase<strong>in</strong>zig Wichtige ist, daß das Tonal e<strong>in</strong>es Kriegers mit an<strong>der</strong>enAlternativen bekannt gemacht werden muß. Worauf es e<strong>in</strong>emLehrer <strong>in</strong> diesem Fall ankommt, das ist das absolute Gewichtdieser Möglichkeiten. Denn das Gewicht dieser neuenMöglichkeiten ist es, das hilft, das Tonal schrumpfen zu lassen.Aus demselben Grund ist es ebendieses Gewicht, das e<strong>in</strong>emhilft, das Tonal daran zu h<strong>in</strong><strong>der</strong>n, zu schrumpfen, bis esverschw<strong>in</strong>det. Er for<strong>der</strong>te mich auf, mit me<strong>in</strong>em Bericht über dieEreignisse196des Vormittags fortzufahren, dann aber unterbrach er mich, alsich zu <strong>der</strong> Stelle kam, wo <strong>Don</strong> Genaro zwischen demBaumstamm und dem Ast h<strong>in</strong>- und hergerutscht war. »DasNagual kann außerordentliche D<strong>in</strong>ge vollbr<strong>in</strong>gen«, sagte er.»D<strong>in</strong>ge, die nicht möglich ersche<strong>in</strong>en, D<strong>in</strong>ge, die für das Tonalunvorstellbar s<strong>in</strong>d. Aber das Außerordentliche daran ist, daß<strong>der</strong>jenige, <strong>der</strong> diese D<strong>in</strong>ge tut, niemals wissen kann, wie siegeschehen. Mit an<strong>der</strong>en Worten, Genaro weiß nicht, wie er esmacht, er weiß nur, daß er es macht. Das Geheimnis e<strong>in</strong>esZauberers ist, daß er weiß, wie er zum Nagual gelangen kann,aber sobald er dort ist, kann er, genau wie du, bloß raten, waseigentlich geschieht.« »Aber wie fühlt man sich, während mansolche D<strong>in</strong>ge tut?« »Man fühlt sich ebenso, wie wenn manirgend etwas tut.« »Me<strong>in</strong>st du, <strong>Don</strong> Genaro fühlt sich wiee<strong>in</strong>er, <strong>der</strong> e<strong>in</strong>en Baumstamm h<strong>in</strong>auf läuft?«<strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> sah mich e<strong>in</strong>e Weile an, dann wandte er den Kopf ab.»Ne<strong>in</strong>«, flüsterte er e<strong>in</strong>dr<strong>in</strong>glich. »Nicht auf die Art, wie du esme<strong>in</strong>st.«Er sagte nichts mehr. Ich hielt buchstäblich den Atem an undwartete auf se<strong>in</strong>e Erklärung. Schließlich mußte ich die Fragestellen: »Aber was fühlt er nun?«»Ich kann es nicht sagen, nicht weil es e<strong>in</strong>e persönlicheAngelegenheit wäre, son<strong>der</strong>n weil es unmöglich ist, das zubeschreiben.«»Ach, komm!« bedrängte ich ihn. »Es gibt nichts, was mannicht mit Worten erklären könnte. Ich glaube, sogar wenn esunmöglich ist, etwas direkt zu beschreiben, kann man es dochumschreiben, irgendwie auf den Busch klopfen.«<strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> lachte. Se<strong>in</strong> Lachen war sanft und freundlich. Unddoch enthielt es e<strong>in</strong>en Anflug von Spott und schierer Bosheit.»Ich muß das Thema wechseln«, sagte er. »Begnüge dichdamit, daß das Nagual heute morgen auf dich zielte! WasGenaro auch immer tat, es war e<strong>in</strong>e Mischung zwischen dirund ihm. Se<strong>in</strong> Nagual wurde durch de<strong>in</strong> Tonal gedämpft.«Ich wollte nicht aufgeben und forschte ihn weiter aus. »Wenndu Pablito das Nagual zeigst, was fühlst du dann?«»Das kann ich nicht erklären«, sagte er leise. »Und zwar nicht,197


weil ich nicht will, son<strong>der</strong>n e<strong>in</strong>fach, weil ich nicht kann. Hiermacht me<strong>in</strong> Tonal halt.«Ich wollte nicht weiter <strong>in</strong> ihn dr<strong>in</strong>gen. Wir schwiegen e<strong>in</strong>eWeile, dann sprach er weiter.»Man kann sagen, e<strong>in</strong> Krieger lernt se<strong>in</strong>en Willen abzustimmen,ihn auf e<strong>in</strong> Punktziel zu richten, ihn auf irgend etwaszu konzentrieren, was immer er mag. Es ist, als ob se<strong>in</strong> Wille,<strong>der</strong> aus se<strong>in</strong>er Körpermitte kommt, e<strong>in</strong>e e<strong>in</strong>zige leuchtendeFaser wäre, e<strong>in</strong>e Faser, die er auf jede mögliche Stelle richtenkann. Diese Faser ist <strong>der</strong> Weg zum Nagual. O<strong>der</strong> ich könnteauch sagen, <strong>der</strong> Krieger s<strong>in</strong>kt durch diese e<strong>in</strong>zelne Faser <strong>in</strong> dasNagual e<strong>in</strong>.Sobald er e<strong>in</strong>gesunken ist, ist die Ausdrucksform des Naguale<strong>in</strong>e Frage se<strong>in</strong>es persönlichen Temperaments. Ist <strong>der</strong> Kriegerlustig, dann ist das Nagual auch lustig. Ist <strong>der</strong> Krieger verdrossen,dann ist das Nagual auch verdrossen. Ist <strong>der</strong> Krieger böse, dannist das Nagual auch böse.Genaro br<strong>in</strong>gt mich immer zum Lachen, denn er ist e<strong>in</strong>er <strong>der</strong>fröhlichsten Menschen, die es gibt. Ich weiß nie, was ihm alsnächstes e<strong>in</strong>fallen wird. Für mich ist dies die <strong>in</strong>nerste Essenz<strong>der</strong> Zauberei. Genaro ist e<strong>in</strong> so beweglicher Krieger, daß dieger<strong>in</strong>gste Konzentration se<strong>in</strong>es Willens se<strong>in</strong> Nagual die unglaublichstenD<strong>in</strong>ge tun läßt.«»Hast du selbst beobachtet, was Genaro auf den Bäumen tat?«fragte ich.»Ne<strong>in</strong>, ich wußte nur - denn ich sah —, daß das Nagual <strong>in</strong> denBäumen war. <strong>Der</strong> Rest des Schauspiels galt nur dir alle<strong>in</strong>.«»Willst du damit sagen, <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong>, daß du, wie damals, als dumich angestoßen hast und ich mich auf dem Markt wie<strong>der</strong>fand,nicht bei mir warst?«»So war es wohl irgendwie. Wenn man dem Nagual vonAngesicht zu Angesicht begegnet, muß man stets alle<strong>in</strong> se<strong>in</strong>.Ich war <strong>in</strong> <strong>der</strong> Nähe, nur um de<strong>in</strong> Tonal zu schützen. Das istme<strong>in</strong>e Aufgabe.«Me<strong>in</strong> »Tonal«, sagte <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong>, sei fast <strong>in</strong> Stücke gesprengtworden, als <strong>Don</strong> Genaro vom Baum herabsprang. Wenigeraufgrund irgende<strong>in</strong>er gefährlichen Eigenschaft des »Nagual«.son<strong>der</strong>n weil me<strong>in</strong> »Tonal« sich <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Verwirrung gehenließ.Es sei e<strong>in</strong>es <strong>der</strong> Ziele <strong>der</strong> Ausbildung e<strong>in</strong>es Kriegers.198sagte er, die Verwirrung des »Tonal« zu stoppen, bis <strong>der</strong>Krieger so beweglich sei, daß er alles tun könne, ohne irgendwelcheZugeständnisse zu machen.Als ich schil<strong>der</strong>te, wie <strong>Don</strong> Genaro auf den Baum h<strong>in</strong>auf unddann h<strong>in</strong>ab gesprungen war, sagte <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong>, daß <strong>der</strong> Schreie<strong>in</strong>es Kriegers e<strong>in</strong>es <strong>der</strong> wichtigsten D<strong>in</strong>ge bei <strong>der</strong> Zauberei seiund daß <strong>Don</strong> Genaro sich auf se<strong>in</strong>en Schrei konzentrierenkönne, um ihn als Vehikel zu benützen. »Du hast ganz recht«,sagte er. »Genaro wurde zum Teil von se<strong>in</strong>em Schrei und zumTeil von dem Baum gezogen. Du hast wirklich gesehen. Dieswar e<strong>in</strong> wirkliches Bild des Nagual. Genaros Willekonzentrierte sich auf se<strong>in</strong>en Schrei, und se<strong>in</strong>e persönliche Artbewirkte, daß <strong>der</strong> Baum das Nagual anzog. Die Fäden führten<strong>in</strong> beide Richtungen, von Genaro zum Baum und vom Baum zuGenaro.Was du hättest sehen müssen, als Genaro vom Baum herabsprang,war, daß er sich auf e<strong>in</strong>en Fleck von dir konzentrierteund <strong>der</strong> Baum ihn dann abstieß. Aber es war nur sche<strong>in</strong>bar e<strong>in</strong>Stoß. Im Grunde war es eher e<strong>in</strong> Loslassen auf seilen desBaumes. <strong>Der</strong> Baum ließ das .Nagual los. und das Nagual kehrte<strong>in</strong> die Welt des Tonal zurück, an die Stelle, auf die er sichkonzentriert hatte.Das zweite Mal, als Genaro vom Baum herunterkam, war de<strong>in</strong>Tonal nicht mehr so verwirrt. Du hast dich nicht mehr so sehrgehenlassen, und daher wurdest du nicht so geschwächt wiebeim ersten Mal.«Gegen vier Uhr nachmittags beendete <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> unser Gespräch.»Wir gehen zurück zu den Eukalyptusbäumen«, sagte er. »DasNagual erwartet uns dort.«»Laufen wir nicht Gefahr, daß uns Leute sehen?« fragte ich.»Ne<strong>in</strong>! Das Nagual setzt alles außer <strong>Kraft</strong>«, sagte er.


Das Flüstern des NagualAls wir uns den Eukalyptusbäumen näherten, sah ich <strong>Don</strong>Genaro auf e<strong>in</strong>em Baumstumpf sitzen. Er w<strong>in</strong>kte uns zu undlachte. Dann waren wir bei ihm.In den Bäumen hockte e<strong>in</strong> Schwärm Krähen. Sie krächzten,als ob etwas sie beängstigte. <strong>Don</strong> Genaro sagte, wir müßtenreglos und still sitzenbleiben, bis die Krähen sich beruhigthätten.<strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> lehnte sich mit dem Rücken gegen e<strong>in</strong>en Baum undfor<strong>der</strong>te mich auf, es ihm gleichzutun - an e<strong>in</strong>em Baum, etwazwei M eter zu se<strong>in</strong>er L<strong>in</strong>ken. So standen wir beide <strong>Don</strong>Genaro gegenüber, <strong>der</strong> ungefähr drei bis vier Meter vor unsstand.Mit e<strong>in</strong>em fast unmerklichen Augenw<strong>in</strong>k bedeutete <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong>mir, ich solle me<strong>in</strong>e Füße <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e an<strong>der</strong>e Lage br<strong>in</strong>gen. Erstand mit leicht gespreizten Be<strong>in</strong>en fest am Boden und berührteden Baumstamm nur mit dem oberen Teil se<strong>in</strong>er Schulterblätterund mit dem H<strong>in</strong>terkopf. Se<strong>in</strong>e Arme h<strong>in</strong>gen seitlichherab.So standen wir etwa e<strong>in</strong>e Stunde. Ich gab scharf acht auf diebeiden, beson<strong>der</strong>s auf <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong>. In e<strong>in</strong>em bestimmten Augenblickglitt er langsam am Baum stam m h<strong>in</strong>unter und setztesich, wobei die gleichen Stellen se<strong>in</strong>es Körpers immer nochmit dem Baum <strong>in</strong> Berührung blieben. Se<strong>in</strong>e Knie ragten <strong>in</strong> dieHöhe, und er stützte se<strong>in</strong>e Arme darauf. Me<strong>in</strong>e Be<strong>in</strong>e waren<strong>in</strong>zwischen fast e<strong>in</strong>geschlafen, und <strong>der</strong> Stellungswechsel tatmir sehr gut.Nach und nach hatten die Krähen aufgehört zu krächzen, bism an über dem Feld k e <strong>in</strong> Geräusch m ehr hörte. Die Stilleentnervte mich mehr als das Spektakel <strong>der</strong> Krähen. <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong>sprach mich leise an. Er sagte, die Dämmerung sei me<strong>in</strong>e besteStunde. Er blickte zum Himmel auf. Es mochte nach sechsUhr se<strong>in</strong>. Es war e<strong>in</strong> bewölkter Tag, und ich hatte ke<strong>in</strong>eGelegenheit, den Stand <strong>der</strong> Sonne festzustellen. Aus <strong>der</strong> Fernehörte ich Stimmen von Gänsen und vielleicht Truthähnen.Aber hier auf dem Feld unter den Eukalyptusbäumen200gab es ke<strong>in</strong>en Laut. Lange hatten wir we<strong>der</strong> Vogelgezwitschernoch die Geräusche größerer Insekten gehört. <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> und<strong>Don</strong> Genaro hielten ihren Körper, soviel ich sah, <strong>in</strong>vollkommener Reglosigkeit, abgesehen von e<strong>in</strong>igen Sekunden,da sie ihr Gewicht verlagerten, um sich zu entspannen. NachdemD on <strong>Juan</strong> und ich zu B oden geglitten waren, m achte D onGenaro e<strong>in</strong>e unverhoffte Bewegung. Er zog die Be<strong>in</strong>e an undhockte sich auf den Baumstumpf. Dann drehte er sich umfünfundvierzig Grad, so daß ich se<strong>in</strong> l<strong>in</strong>kes Profil sah. InErwartung e<strong>in</strong>es Stichworts blickte ich zu <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong>. Er hob dasK<strong>in</strong>n. Es war e<strong>in</strong>e Auffor<strong>der</strong>ung, <strong>Don</strong> Genaro anzusehen.Allmählich befiel mich e<strong>in</strong>e ungeheure Erregung. Ich konntemich nicht beherrschen. M e<strong>in</strong>e E<strong>in</strong>geweide gerieten durche<strong>in</strong>an<strong>der</strong>.Ic h konnte genau nachem pf<strong>in</strong>den, was Pablito gefühlthaben mochte, als er <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong>s Sombrero sah. M e<strong>in</strong>e E<strong>in</strong>geweidewaren <strong>in</strong> solchem Aufruhr, daß ich aufstehen und <strong>in</strong>sGebüsch rennen mußte. H<strong>in</strong>ter mir hörte ich ihr brüllendesGelächter.Ich wagte nicht, zu ih n e n zurückzukehren. Lange zögerte ich;ich m achte m i r k la r, daß ich durch m e<strong>in</strong>en plötzlichen Ausbruchden Bann gebrochen haben mußte. Ich brauchte abernicht lange zu grübeln: <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> und <strong>Don</strong> Genaro kamen zum ir herüber. Sie nahm en m ich <strong>in</strong> die M itte, und wir g<strong>in</strong>gen zue<strong>in</strong>em an<strong>der</strong>en Feld. D ort b lie b e n wir genau auf <strong>der</strong> M ittestehen, und ich e r k a n n te , daß wir h ie r schon am V orm ittaggewesen waren.<strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> wandte sich an mich. Er sagte, ich müsse beweglichund still se<strong>in</strong> und solle me<strong>in</strong>en <strong>in</strong>neren Dialog abstellen. Ichhörte aufmerksam zu. <strong>Don</strong> Genaro mußte wohl erkannt haben,daß me<strong>in</strong>e ganze Aufmerksamkeit <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong>s Ermahnungengalt, denn er nutzte den Augenblick, um dasselbe zu tun wie <strong>in</strong><strong>der</strong> Frühe; wie<strong>der</strong> stieß er se<strong>in</strong>en entsetzlichen Schrei aus.Er überraschte mich - aber diesmal nicht ganz unvorbereitet.Be<strong>in</strong>ahe sofort gewann ich durch me<strong>in</strong>e Atemübung me<strong>in</strong>Gleichgewicht wie<strong>der</strong>. Es war e<strong>in</strong> furchtbarer Schock, unddoch hatte er ke<strong>in</strong>e längere W irkung auf mich, und so konnteich <strong>Don</strong> Genaros Bewegungen mit den Augen folgen. Ich sah,wie er auf den untersten Ast e<strong>in</strong>es Baumes201


sprang. Während ich ihn aus e<strong>in</strong>er Entfernung von fünfundzwanzigbis dreißig Metern verfolgte, fielen me<strong>in</strong>e Augen e<strong>in</strong>erungewöhnlichen optischen Täuschung zum Opfer. Es war nichtso, als sei er mit Hilfe <strong>der</strong> Sprungkraft se<strong>in</strong>er Muskeln gehüpft,vielmehr glitt er durch die Luft, teilweise emporegeschnelltdurch se<strong>in</strong>en unheimlichen Schrei, und teilweise vonirgendwelchen undeutlich erkennbaren L<strong>in</strong>ien gezogen, die vondem Baum ausg<strong>in</strong>gen. Es war so, als habe <strong>der</strong> Baum ihn durchdiese L<strong>in</strong>ien angesaugt. <strong>Don</strong> Genaro blieb e<strong>in</strong>e Weile auf demniedrigen Ast hocken. Er wandte mir se<strong>in</strong> l<strong>in</strong>kes Profil zu. Nunvollführte er e<strong>in</strong>e Reihe seltsamer Bewegungen. Se<strong>in</strong> Kopfwackelte, se<strong>in</strong> Körper zitterte. Mehrmals verbarg er den Kopfzwischen den Knien. Je mehr er sich bewegte und aufbäumte,desto schwerer fiel es mir, me<strong>in</strong>en Blick auf se<strong>in</strong>en Körper zukonzentrieren. Er schien sich aufzulösen. Ich bl<strong>in</strong>zelteverzweifelt, und dann wechselte ich die Perspektive, <strong>in</strong>dem ichden Kopf nach rechts und nach l<strong>in</strong>ks bog, wie <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> es michgelehrt hatte. Aus dem l<strong>in</strong>ken Gesichtsw<strong>in</strong>kel sah ich <strong>Don</strong>Genaros Körper, wie ich ihn nie zuvor gesehen hatte. Es war,als habe er e<strong>in</strong>e Verkleidung angelegt. Er trug e<strong>in</strong> Pelzkostüm;das Fell hatte die Färbung e<strong>in</strong>er Siamkatze, von hellemLe<strong>der</strong>braun und mit Flecken von dunklerem Schokoladebraunan den Be<strong>in</strong>en und auf dem Rücken. Das Kostüm hatte e<strong>in</strong>enlangen dicken Schwanz. In diesem Aufzug sah <strong>Don</strong> Genaro auswie e<strong>in</strong> pelziges, langbe<strong>in</strong>iges Krokodil, das auf e<strong>in</strong>em Asthockte. Se<strong>in</strong>en Kopf und se<strong>in</strong>e Gesichtszüge konnte ich nichterkennen. Ich hob den Kopf <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e normale Position. <strong>Der</strong>Anblick von <strong>Don</strong> Genaro <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Maskerade bliebunverän<strong>der</strong>t. <strong>Don</strong> Genaros Arme zitterten. Er stand auf demAst auf. beugte sich irgendwie vor und sprang zu Boden. <strong>Der</strong>Ast war etwa fünf bis sieben Meter hoch. Soweit ich beurteilenkonnte. sah ich den Sprung e<strong>in</strong>es kostümierten Mannes. Ichsah, wie <strong>Don</strong> Genaros Körper be<strong>in</strong>ahe den Boden berührte,aber dann vibrierte <strong>der</strong> dicke Schwanz se<strong>in</strong>es Kostüms, undstatt zu landen, hob er wie<strong>der</strong> ab, wie von e<strong>in</strong>em lautlosenDüsentriebwerk angeschoben. Er flog über die Bäume h<strong>in</strong>weg,und dann schwebte er knapp über dem Boden dah<strong>in</strong>. Dies tat erimmer wie<strong>der</strong>. Manchmal hielt er sich an e<strong>in</strong>em Ast fest o<strong>der</strong>pendelte um e<strong>in</strong>en Baum o<strong>der</strong> schlängelte sich wie e<strong>in</strong> Aaldurch die Zweige. Und dann umschwebte er uns im Kreise o<strong>der</strong>schlug mit den Armen <strong>in</strong> <strong>der</strong> Luft, während se<strong>in</strong> Bauch dieäußersten Wipfel <strong>der</strong> Bäume streifte. <strong>Don</strong> Genaros Kapriolenflößten mir ehrfürchtiges Staunen e<strong>in</strong>. Ich folgte ihm mit denAugen, und zwei o<strong>der</strong> dreimal nahm ich deutlich wahr, daß erirgendwelche leuchtenden L<strong>in</strong>ien wie Seilzüge benutzte, um vonOrt zu Ort zu schweben. Dann überflog er die Baumwipfel imSüden und verschwand. Ich versuchte abzuschätzen, wo erwie<strong>der</strong> auftauchen mochte, aber er kam nicht mehr zumVorsche<strong>in</strong>. Dann bemerkte ich, daß ich auf dem Rücken lag,und doch wußte ich nichts davon, daß sich me<strong>in</strong>e Blickrichtungverän<strong>der</strong>t hatte. Die ganze Zeit hatte ich geme<strong>in</strong>t, <strong>Don</strong> Genaroaus e<strong>in</strong>er aufrechtstehenden Haltung zu beobachten. <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong>half mir, mich aufzusetzen, und dann sah ich <strong>Don</strong> Genaro, <strong>der</strong>uns mit fröhlichem Gesicht entgegenkam. Er lächeltebescheiden und fragte mich, wie se<strong>in</strong> Flug mir gefallen habe. Ichversuchte etwas zu antworten, aber ich war sprachlos.<strong>Don</strong> Genaro wechselte mit <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> e<strong>in</strong>en vielsagenden Blickund nahm wie<strong>der</strong> e<strong>in</strong>e hockende Haltung e<strong>in</strong>. Er beugte sich vorund flüsterte mir etwas <strong>in</strong>s l<strong>in</strong>ke Ohr. Ich hörte ihn sagen:»Warum kommst du nicht und fliegst mit mir?« Dieswie<strong>der</strong>holte er fünf- o<strong>der</strong> sechsmal.<strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> trat neben mich und flüsterte mir <strong>in</strong>s rechte Ohr:»Sag nichts, folge Genaro e<strong>in</strong>fach!«<strong>Don</strong> Genaro hieß mich <strong>in</strong> die Hocke gehen und flüsterte mirwie<strong>der</strong> etwas zu. Ich hörte ihn mit glasklarer Präzision. Erwie<strong>der</strong>holte den Satz etwa zehnmal. Er sagte: »Vertrau demNagual! Das Nagual wird dich tragen.«Dann flüsterte <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> e<strong>in</strong>en an<strong>der</strong>en Satz <strong>in</strong> me<strong>in</strong> rechtesOhr. Er sagte: »Än<strong>der</strong>e de<strong>in</strong> Fühlen!«Ich hörte die beiden gleichzeitig zu mir sprechen, aber ichkonnte auch jeden e<strong>in</strong>zeln hören. Je<strong>der</strong> von <strong>Don</strong> GenarosSätzen handelte ganz allgeme<strong>in</strong> vom Durch-die-Luft-Schweben.Die Sätze, die er dutzendemal wie<strong>der</strong>holte, schienen sich<strong>in</strong> me<strong>in</strong> Gedächtnis e<strong>in</strong>zugraben. <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong>s Worte h<strong>in</strong>gegenhatten etwas mit spezifischen Befehlen zu tun, die er zahllose202 203


Male wie<strong>der</strong>holte. Die Wirkung dieser doppelten E<strong>in</strong>flüsterungwar ganz außerordentlich. Es war, als ob die e<strong>in</strong>zelnen Klängeihrer Worte mich entzweispalteten. Schließlich war <strong>der</strong>Abstand zwischen me<strong>in</strong>en beiden Ohren so weit, daß ichjegliches Gefühl körperlicher E<strong>in</strong>heit verlor. Da gab es zwarirgend etwas, das zweifellos ich war, aber es war nichts Festes.Eher war es wie e<strong>in</strong> leuchten<strong>der</strong> Nebel, e<strong>in</strong>e gelblich-dunkleWolke, die Gefühle hatte.<strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> sagte mir, er werde mich für das Fliegen formen. Nunhatte ich die Empf<strong>in</strong>dung, daß diese Worte wie Zangenwirkten, die me<strong>in</strong>e »Gefühle« bogen und formten. <strong>Don</strong> GenarosWorte waren e<strong>in</strong>e Auffor<strong>der</strong>ung, ihm zu folgen. Ich fühlte, daßich wollte, aber ich konnte nicht. Die Spaltung war so stark, daßich wie gelähmt war. Ich hörte, wie sie die gleichen kurzenSätze endlos wie<strong>der</strong>holten, Sätze wie »Schau. wun<strong>der</strong>barefliegende Gestalt!«, »Spr<strong>in</strong>g, spr<strong>in</strong>g!«, »De<strong>in</strong>e Be<strong>in</strong>e werden dieBaumwipfel streifen«, »Die Eukalyptusbäume s<strong>in</strong>d wie grüneTupfen«, »Die Würmer s<strong>in</strong>d Lichter«. Irgendwann setzte etwas<strong>in</strong> mir aus, vielleicht das Bewußtse<strong>in</strong>. daß auf mich e<strong>in</strong>geredetwurde. Ich spürte, daß Genaro noch immer bei mir war, aberwas me<strong>in</strong>e Wahrnehmung betraf, so konnte ich nur e<strong>in</strong>eungeheure Masse ganz erstaunlicher Lichter erkennen.Manchmal nahm ihr Funkeln ab, und manchmal wurden dieLichter <strong>in</strong>tensiver. Ich erlebte auch e<strong>in</strong>e Art Bewegung. <strong>Der</strong>Effekt war, als ob ich von e<strong>in</strong>em Vakuum angesaugt würde, dasmich nicht zur Ruhe kommen ließ. Immer wenn me<strong>in</strong>eBewegung nachzulassen schien und ich endlich me<strong>in</strong>eAufmerksamkeit auf die Lichter richten konnte, zog dasVakuum mich wie<strong>der</strong> fort. Irgendwann, mitten im H<strong>in</strong>- undHergezogense<strong>in</strong>, erlebte ich die äußerste Konfusion. Die Weltum mich her, wie immer sie beschaffen se<strong>in</strong> mochte, strebte mirentgegen und wich gleichzeitig von mir fort - daher <strong>der</strong>Vakuum-Effekt! Ich konnte zwei getrennte Welten sehen, e<strong>in</strong>e,die sich von mir entfernte, und die an<strong>der</strong>e, die sich mir näherte.Dies nahm ich nicht <strong>in</strong> <strong>der</strong> Weise wahr, wie man eigentlichme<strong>in</strong>en sollte, das heißt, ich gewahrte es nicht als etwas mirbisher Verborgenes. Vielmehr hatte ich zwei Wahrnehmungen,ohne daß e<strong>in</strong> logischer Schluß die Verb<strong>in</strong>dung hergestellt hätte.Danach schwächten sich me<strong>in</strong>e W ahrnehmungen ab. Entwe<strong>der</strong>verloren sie an Präzision, o<strong>der</strong> es waren ihrer zu viele, und ichkonnte sie nicht mehr ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong>halten. <strong>Der</strong> nächste Schubunterscheidbarer W ahrnehmungen war e<strong>in</strong>e Reihe vonGeräuschen, die am Ende e<strong>in</strong>es langen schlauchartigen Gebildesentstanden. <strong>Der</strong> Schlauch war ich selbst, und die Geräuschemachten <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> und <strong>Don</strong> Genaro, die wie<strong>der</strong> <strong>in</strong> me<strong>in</strong>e beidenOhren sprachen. Je länger sie sprachen, desto kürzer wurde <strong>der</strong>Schlauch, bis die Geräusche <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em erkennbaren Bereichlagen, das heißt, die Klänge von <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> und <strong>Don</strong> GenarosW orten erreichten me<strong>in</strong>en normalen W ahrnehmungsbereich.Zuerst waren die Geräusche als Lärm erfahrbar, dann alsgeschriene W örter und schließlich als mir <strong>in</strong>s Ohr geflüsterteWörter.Als nächstes nahm ich D<strong>in</strong>ge <strong>der</strong> vertrauten Umwelt wahr.O ffensichtlich lag ich m it dem G esicht nach unten am B oden.Ich konnte e<strong>in</strong>zelne Erdklumpen, Ste<strong>in</strong>chen, trockene Blätterunterscheiden. Und dann gewahrte ich das Feld mit denEukalyptusbäumen.<strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> und <strong>Don</strong> Genaro standen neben mir. Es war nochimmer hell. Ich spürte, daß ich <strong>in</strong>s W asser gehen mußte, ummich wie<strong>der</strong> zu stärken. Ich lief zum Bach, zog mich aus undblieb lange genug im W asser, um das Gleichgewicht me<strong>in</strong>erW ahrnehmung wie<strong>der</strong>herzustellen.Sobald wir beim <strong>Haus</strong> anlangten, g<strong>in</strong>g <strong>Don</strong> Genaro fort. ImGehen klopfte er mir leicht auf die Schulter. Im Reflex sprangich zur Seite. Ich erwartete, se<strong>in</strong>e Berührung werdeschmerzhaft se<strong>in</strong>; zu me<strong>in</strong>er Verwun<strong>der</strong>ung war es nur e<strong>in</strong>freundliches Schulterklopfen.<strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> und <strong>Don</strong> Genaro lachten wie zwei K<strong>in</strong><strong>der</strong>, denen e<strong>in</strong>Streich gelungen war.»Sei nicht so schreckhaft!« sagte <strong>Don</strong> Genaro. »Das Nagualhat es nicht immer auf dich abgesehen.« Er schmatzte mit denLippen, als m ißbilligte er m e<strong>in</strong>e übertriebene Reaktion, undbreitete m it e<strong>in</strong>er offenherzigen, kam eradschaftlichen G este dieArme aus. Ich umarmte ihn. Sehr freundlich und herzlichklopfte er mir den Rücken. »Du mußt nur <strong>in</strong> gewissenAugenblicken auf das Nagual204 205


achten«, sagte er. »Die übrige Zeit bist du wie alle an<strong>der</strong>enMenschen dieser Welt.« Er schaute <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> an und lächelteihm zu. »Ist es nicht so, <strong>Juan</strong>cho?« fragte er, wobei er das Wort<strong>Juan</strong>cho betonte - e<strong>in</strong>en witzigen Spitznamen für <strong>Juan</strong>. »So ist'sGerancho«, antwortete <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong>, das Wort Geranchoerf<strong>in</strong>dend.Die beiden brachen <strong>in</strong> schallendes Gelächter aus. »Ich mußdich warnen«, sagte <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> zu mir. »Du mußt dich <strong>in</strong>äußerster Wachsamkeit üben, um sicher zu se<strong>in</strong>, wann e<strong>in</strong>Mensch e<strong>in</strong> Nagual ist und wann er e<strong>in</strong>fach nur e<strong>in</strong> Mensch ist.Du könntest sterben, wenn du <strong>in</strong> direkten physischen Kontaktmit dem Nagual kämest.<strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> wandte sich zu <strong>Don</strong> Genaro um und fragte mitstrahlendem Lächeln: »Ist's nicht so, Gerancho?« »Absolut, soist es, <strong>Juan</strong>cho«, erwi<strong>der</strong>te Genaro, und wie<strong>der</strong> lachten diebeiden.Ihre k<strong>in</strong>dliche Ausgelassenheit berührte mich stark. Die Ereignissedes Tages hatten mich erschöpft, und ich war sehrgefühlsselig. E<strong>in</strong>e Welle des Selbstmitleids überflutete mich.Mir kamen die Tränen, während ich mir dauernd wie<strong>der</strong>holte,daß das, was immer sie mit mir angestellt haben mochten, nichtwie<strong>der</strong> rückgängig zu machen und höchstwahrsche<strong>in</strong>lichschädlich für mich sei. <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> schien me<strong>in</strong>e Gedanken zulesen und schüttelte ungläubig den Kopf. Er lachte. Ichstrengte mich an, um me<strong>in</strong>en <strong>in</strong>neren Dialog abzustellen, undme<strong>in</strong> Selbstmitleid verschwand.»Genaro ist sehr herzlich«, bemerkte <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong>, nachdem <strong>Don</strong>Genaro gegangen war. »Es war die Absicht <strong>der</strong> <strong>Kraft</strong>, daß due<strong>in</strong>en freundlichen Wohltäter f<strong>in</strong>den solltest.« Ich wußte nichtszu sagen. Die Vorstellung, daß <strong>Don</strong> Genaro me<strong>in</strong> Wohltäterwar, beunruhigte mich ohne Unterlaß. Ich wollte, daß <strong>Don</strong><strong>Juan</strong> mir mehr darüber sagte. Er schien nicht zum Sprechenaufgelegt. Er schaute zum Himmel h<strong>in</strong>auf, wo sich die dunkleSilhouette e<strong>in</strong>iger Bäume neben dem <strong>Haus</strong> abzeichnete. Ersetzte sich mit dem Rücken gegen e<strong>in</strong>en dicken, gegabeltenPfosten, <strong>der</strong> nicht weit vor <strong>der</strong> Tür e<strong>in</strong>gelassen war, undfor<strong>der</strong>te mich auf, l<strong>in</strong>ks neben ihm Platz zu nehmen.Ich setzte mich neben ihn. Er zog mich am Ärmel näher zusich, bis ich se<strong>in</strong>e Schulter berührte. Er sagte, diese Nachtstundesei gefährlich für mich, beson<strong>der</strong>s bei e<strong>in</strong>er solchenGelegenheit. Mit ganz ruhiger Stimme gab er mir e<strong>in</strong>e Reihevon Anweisungen: Wir dürften uns nicht von <strong>der</strong> Stelle rühren,bis er die Zeit für gekommen halte. Wir müßten immerweitersprechen, gleichmäßig und ohne Unterbrechungen. Ichmüsse atmen und bl<strong>in</strong>zeln, als ob ich das »Nagual« sähe. »Istdas Nagual m <strong>der</strong> Nähe?« fragte ich. »Gewiß«, sagte er undlachte.Ich schmiegte mich buchstäblich an <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong>. Er f<strong>in</strong>g an zusprechen und drängte mich doch tatsächlich, diesmal ausHerzenslust Fragen zu stellen. Er reichte mir sogar me<strong>in</strong>Schreibzeug, als ob ich <strong>in</strong> <strong>der</strong> Dunkelheit hätte schreibenkönnen. Er behauptete, ich müsse unbed<strong>in</strong>gt so gelassen undnormal wie möglich se<strong>in</strong>, und es gebe ke<strong>in</strong> besseres Mittel,me<strong>in</strong> »Tonal« zu stärken, als das Notizenmachen. Er stellte dieganze Sache als sehr bedenklich dar. Er sagte, wenn dasNotizenmachen me<strong>in</strong>e <strong>in</strong>nere Wahl sei, dann müsse ich es auch<strong>in</strong> völliger Dunkelheit tun können. Es lag e<strong>in</strong>e leichte Drohung<strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Stimme, als er sagte, ich könne das Notizenmachen <strong>in</strong>die Aufgabe e<strong>in</strong>es Kriegers verwandeln, und <strong>in</strong> diesem Fallwäre die Dunkelheit ke<strong>in</strong> H<strong>in</strong><strong>der</strong>nis. Irgendwie mochte er michüberzeugt haben, denn es gelang mir, Teile unseres Gesprächsmitzukritzeln. Es drehte sich hauptsächlich um <strong>Don</strong> Genaro alsme<strong>in</strong>en Wohltäter. Ich war neugierig zu erfahren, wann <strong>Don</strong>Genaro me<strong>in</strong> Wohltäter geworden war, und <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> for<strong>der</strong>temich auf, mich an e<strong>in</strong>en angeblich außergewöhnlichen Vorgangzu er<strong>in</strong>nern, <strong>der</strong> sich an jenem Tag ereignet habe, als ich <strong>Don</strong>Genaro traf, und <strong>der</strong> e<strong>in</strong> gutes Omen gewesen sei. Ich konntemich an nichts <strong>der</strong>gleichen er<strong>in</strong>nern. Ich f<strong>in</strong>g an, das damaligeErlebnis nachzuerzählen. Soweit ich mich er<strong>in</strong>nern konnte, war ese<strong>in</strong>e ganz alltägliche, beiläufige Begegnung, die im Frühl<strong>in</strong>g1968 stattgefunden hatte. <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> unterbrach mich. »Wenn dudumm genug bist, dich nicht zu er<strong>in</strong>nern, lassen wir es lieberdabei bewenden. E<strong>in</strong> Krieger folgt stets dem Diktum <strong>der</strong> <strong>Kraft</strong>.Es wird dir wie<strong>der</strong> e<strong>in</strong>fallen, wenn es notwendig se<strong>in</strong> wird.«206 207


<strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> sagte, es sei e<strong>in</strong>e schwierige Sache, e<strong>in</strong>en Wohltäterzu f<strong>in</strong>den. Als Beispiel führte er den Fall se<strong>in</strong>es eigenenLehrl<strong>in</strong>gs Eligio an, <strong>der</strong> viele Jahre bei ihm gewesen war.Eligio, sagte er, habe ke<strong>in</strong>en Wohltäter f<strong>in</strong>den können. Ichfragte ihn, ob Eligio noch e<strong>in</strong>mal e<strong>in</strong>en f<strong>in</strong>den werde; erantwortete, es sei ganz unmöglich, die Launen <strong>der</strong> <strong>Kraft</strong>vorherzusagen. Er er<strong>in</strong>nerte mich daran, wie wir vor Jahrene<strong>in</strong>er Gruppe von jungen Indianern begegnet waren, die durchdie Wüste Nordmexikos streiften. Er sagte, er habe gesehen,daß ke<strong>in</strong>er von ihnen e<strong>in</strong>en Wohltäter hatte und daß dieUmgebung <strong>in</strong>sgesamt und die Stimmung des Augenblicksgerade richtig waren, damit er ihnen behilflich se<strong>in</strong> und ihnendas »Nagual« zeigen konnte. Er sprach von e<strong>in</strong>er Nacht, alse<strong>in</strong>mal vier junge Männer und ich um e<strong>in</strong> Feuer saßen,während <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> etwas tat, das mir als e<strong>in</strong> ungewöhnlichesSchauspiel vorkam und wobei er ansche<strong>in</strong>end jedem von uns <strong>in</strong>e<strong>in</strong>er an<strong>der</strong>en Verkleidung erschienen war. »Diese Burschenhatten e<strong>in</strong>e Menge Ahnung«, sagte er. »Du warst das e<strong>in</strong>zigeGreenhorn unter ihnen.« »Was geschah später mit ihnen?«fragte ich. »E<strong>in</strong>ige von ihnen haben e<strong>in</strong>en Wohltäter gefunden.«antwortete er.<strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> sagte, daß es die Pflicht e<strong>in</strong>es Wohltäters sei, se<strong>in</strong>enSchützl<strong>in</strong>g <strong>der</strong> <strong>Kraft</strong> zuzuführen und daß <strong>der</strong> Wohltäter demNovizen se<strong>in</strong>e persönliche Art vermittle, und zwar ebensosehr,wenn nicht noch mehr als <strong>der</strong> Lehrer. Nach e<strong>in</strong>er kurzenGesprächspause hörte ich e<strong>in</strong> eigenartig kratzendes Geräuschh<strong>in</strong>ter dem <strong>Haus</strong>. <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> packte mich an Arm. Fast wollte ich<strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Schreckreaktion aufspr<strong>in</strong>gen. Bevor das Geräuschertönte, war unser Gespräch mir als Selbstverständlichkeitvorgekommen. Aber als dann e<strong>in</strong>e Pause e<strong>in</strong>trat und e<strong>in</strong>enMoment Schweigen herrschte, war das merkwürdige Geräuschhere<strong>in</strong>geplatzt. In diesem Augenblick hatte ich die Gewißheit,daß unsere Unterhaltung e<strong>in</strong> ganz außerordentliches Ereigniswar. Ich hatte das Gefühl, daß <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong>s und me<strong>in</strong>e Worte wiee<strong>in</strong>e Trennwand gewirkt hatten, die nun zerbrach, und daßjenes kratzende Geräusch draußen herumgeschlichen war undauf e<strong>in</strong>e Chance gewartet hatte, um sich here<strong>in</strong>zudrängen.<strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> befahl mir, gesammelt sitzenzubleiben und nicht aufdie Umgebung zu achten. Das kratzende Geräusch er<strong>in</strong>nertemich an das Rascheln e<strong>in</strong>er auf hartem Boden dah<strong>in</strong>kriechendenSchildkrötenschlange. Im selben Augenblick, als mir dieserV ergleich e<strong>in</strong>fiel, hatte ich auch die visuelle V ision e<strong>in</strong>esNagetiers, wie jenes, das <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> mir auf se<strong>in</strong>er hohlenHand gezeigt hatte. M ir war, als ob ich e<strong>in</strong>schliefe und me<strong>in</strong>eGedanken sich <strong>in</strong> Bil<strong>der</strong> o<strong>der</strong> Träume verwandelten. Ichbegann mit me<strong>in</strong>er Atemübung und hielt mir mit geballtenFäusten den Leib. <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> sprach weiter, aber ich hörte nichtzu. M e<strong>in</strong>e Aufm erksam keit galt dem leisen Rascheln desschlangenartigen W esens, das über trockenes Laub zu gleitenschien. Bei dem Gedanken, e<strong>in</strong>e Schlange könnte über michh<strong>in</strong>weg kriechen, befiel mich Panik, und ich hatte e<strong>in</strong>e heftigephysische Reaktion. U nwillkürlich streckte ich m e<strong>in</strong>e Füßeunter <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong>s Be<strong>in</strong>e und atmete und bl<strong>in</strong>zelte wie verrückt.Jetzt hörte ich das Geräusch so nah, daß es nur noch e<strong>in</strong> paarSchritte entfernt zu se<strong>in</strong> schien. M e<strong>in</strong>e Panik stieg. D on <strong>Juan</strong>sagte beruhigend, die e<strong>in</strong>zige M öglichkeit, das »Nagual« abzuwehren,bestehe dar<strong>in</strong>, sich nicht bee<strong>in</strong>drucken zu lassen. Erbefahl mir, me<strong>in</strong>e Be<strong>in</strong>e auszustrecken und nicht auf dasGeräusch zu achten. Nachdrücklich verlangte er, ich solleschreiben o<strong>der</strong> Fragen stellen und mich anstrengen, um nichtzu unterliegen.Nach e<strong>in</strong>em heftigen <strong>in</strong>neren Kampf fragte ich ihn, ob etwa<strong>Don</strong> Genaro das Geräusch machte. Er sagte, es sei das »Nagual«und ich dürfe die beiden nicht verwechseln. Genaro sei <strong>der</strong>Name des »Tonal«. Dann sagte er noch etwas, aber ichverstand ihn nicht. Irgend etwas umkreiste das <strong>Haus</strong>, und ichkonnte mich nicht auf das Gespräch konzentrieren. Er befahlmir, e<strong>in</strong>e äußerste Anstrengung zu unternehmen. Irgendwannstellte ich fest, daß ich dum m es Zeug über m e<strong>in</strong>e eigeneW ertlosigkeit plapperte. Dann hatte ich e<strong>in</strong>en Angstanfall, <strong>der</strong><strong>in</strong> e<strong>in</strong>en Zustand großer Klarheit umschlug. Nun sagte <strong>Don</strong><strong>Juan</strong> mir, ich dürfe ruhig <strong>in</strong> die Nacht horchen. Aber es warke<strong>in</strong> Geräusch mehr zu hören.»Das Nagual ist weg«, sagte <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong>, stand auf und g<strong>in</strong>g <strong>in</strong>s<strong>Haus</strong>. Er zündete <strong>Don</strong> Genaros Petroleumlampe an undbereitete208 209


uns etwas zu essen. W ir aßen schweigend. Ich fragte ihn, obdas »Nagual« zurückkommen werde.»Ne<strong>in</strong>«, sagte er mit ernstem Gesicht. »Es hat dich nur auf dieProbe gestellt. U m diese N achstunde, kurz nach <strong>der</strong> D äm m e-rung, solltest du dich im mer mit irgend etwas beschäftigen.Egal, womit. Es ist nur e<strong>in</strong>e kurze Spanne, vielleicht e<strong>in</strong>eStunde, aber <strong>in</strong> de<strong>in</strong>em Fall e<strong>in</strong>e tödliche Stunde. Heute abendversuchte das Nagual, dich zum Straucheln zu br<strong>in</strong>gen, aber duwarst stark genug, um se<strong>in</strong>en Angriff abzuwehren. E<strong>in</strong>mal bistdu ihm unterlegen, und ich mußte de<strong>in</strong>en Körper mit W asserbegießen, aber diesmal hast du es gut gemacht.«Ich bemerkte, das W ort »Angriff« gebe dem Ganzen e<strong>in</strong>enAnklang von Gefahr.»Anklang von Gefahr? - Komische Ausdrucksweise!« sagte er.»Ich will dir ke<strong>in</strong>e Angst e<strong>in</strong>jagen. D ie Taten des Nagual s<strong>in</strong>dtödlich. Das habe ich dir bereits gesagt. Und auch Genaro willdir ke<strong>in</strong>en Schaden zufügen. Im Gegenteil, se<strong>in</strong>e Sorge umdich ist makellos, aber wenn du nicht genug <strong>Kraft</strong> hast, um dieAttacke des Nagual zu parieren, dann bist du tot, mit o<strong>der</strong> ohneme<strong>in</strong>e Hilfe o<strong>der</strong> Genaros Fürsorge.« Nachdem wir gegessenhatten, setzte <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> sich neben mich und schaute mir überdie Schulter auf me<strong>in</strong>e Aufzeichnungen. Ich sagte mir, ich werdewahrsche<strong>in</strong>lich Jahre brauchen, um mir über allesklarzuwerden, was mir heute wi<strong>der</strong>fahren war. Ich wußte, daßich von W ahrnehmungen überflutet worden war, die ich niehoffen durfte zu verstehen.»W enn du nichts verstehst, dann bist du groß <strong>in</strong> Form«, sagteer. »Nur wenn du verstehst, bist du <strong>in</strong> <strong>der</strong> Patsche. Dies giltnatürlich nur vom Standpunkt des Zauberers. Vom Standpunktdes normalen M enschen aus betrachtet, gehst du unter, wenndu etwas nicht verstehst. In de<strong>in</strong>em Fall, m öchte ich m e<strong>in</strong>en,würde <strong>der</strong> normale Mensch sagen, daß du bewußtse<strong>in</strong>sgespaltenbist o<strong>der</strong> daß de<strong>in</strong> Bewußtse<strong>in</strong> sich zu spaltenbeg<strong>in</strong>nt.«Ich lachte über se<strong>in</strong>e W ortwahl. Ich wußte, daß er es mir mitdiesem Begriff <strong>der</strong> Bewußtse<strong>in</strong>sspaltung heimzahlte. Ich hatteihn vor e<strong>in</strong>iger Zeit im Zusammenhang mit me<strong>in</strong>en Befürchtungengebraucht. Ich versicherte ihm, daß ich diesmal zudem, was ich durchgemacht hatte, ke<strong>in</strong>e Fragen stellen würde.»Ich habe nie etwas gegen das Sprechen gehabt«, sagte er.»W ir können über das Nagual sprechen, soviel du willst,solange du nicht versuchst, es zu erklären. W enn du dichrichtig er<strong>in</strong>nerst, so sagte ich dir. daß das Nagual nur dazu daist, um erlebt zu werden. W ir können also ohne weiteresdarüber sprechen, was wir erleben und wie wir es erleben. Dumöchtest aber e<strong>in</strong>e Erklärung darüber hören, wie denn all diesmöglich sei, und das ist e<strong>in</strong> Und<strong>in</strong>g. Du möchtest das Nagualdurch das Tonal erklären. D as ist töricht, beson<strong>der</strong>s <strong>in</strong> de<strong>in</strong>emFall, denn du kannst dich nicht mehr auf de<strong>in</strong>e Unwissenheitberufen. Du weißt sehr gut, daß wir nur deshalb vernünftigreden, weil wir dabei gewisse Grenzen e<strong>in</strong>halten, und dieseGrenzen gelten nicht für das Nagual.«Ich versuchte, diesen Punkt zu klären. Es war ja nicht e<strong>in</strong>fachso, daß ich alles unter rationalen Gesichtspunkten erklärenwollte, son<strong>der</strong>n m e<strong>in</strong> V erlangen nach Erklärung rührte vonme<strong>in</strong>em Bedürfnis her, bei all den furchtbaren Attacken chaotischerReize und W ahrnehmungen, die mir zuteil gewordenwaren, e<strong>in</strong>e <strong>in</strong>nere Ordnung zu bewahren. <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> me<strong>in</strong>te, ichverteidigte e<strong>in</strong>en Standpunkt, an den ich selbst nicht glaubte.»Du weißt verdammt gut, daß du dich gehenläßt«, sagte er.»Innere Ordnung bewahren heißt, e<strong>in</strong> perfektes Tonal zu se<strong>in</strong>,aber e<strong>in</strong> perfektes Tonal se<strong>in</strong> bedeutet, alles zu wissen, wasauf <strong>der</strong> Insel des Tonal stattf<strong>in</strong>det. Aber das weißt du nicht.De<strong>in</strong> Argument von <strong>der</strong> Aufrechterhaltung <strong>der</strong> <strong>in</strong>neren Ordnungist also unwahr. Du führst es nur an, um recht zubehalten.«Darauf wußte ich nichts zu sagen. <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> beruhigte miche<strong>in</strong> wenig, <strong>in</strong>dem er sagte, es bedürfe e<strong>in</strong>es gewaltigenKampfes, um die Insel des Tonal leerzufegen. Dann for<strong>der</strong>te ermich auf, ihm alles zu erzählen, was ich bei me<strong>in</strong>er zweitenSitzung mit dem Nagual wahrgenommen hätte. Nachdem ichgeendet hatte, m e<strong>in</strong>te er, was ich als pelziges K rokodil wahrgenommenhätte, sei e<strong>in</strong>e kle<strong>in</strong>e Probe von <strong>Don</strong> GenarosHumor.210 211


»Wie schade, daß du so schwerfällig bist«, sagte er. »Duklammerst dich immer an de<strong>in</strong>e Verwirrung, und dadurchentgeht dir Genaros wirkliche Kunst.« »Wußtest du etwas vonse<strong>in</strong>em Kostüm, <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong>?« »Ne<strong>in</strong>! Das Schauspiel war nurfür dich.« »Was hast du gesehen?«»Heute sah ich nichts an<strong>der</strong>es als die Bewegung des Nagual,wie es durch die Bäume schwebte und uns umkreiste. Je<strong>der</strong>, <strong>der</strong>sieht, kann das erkennen.« »Aber wie ist es mit jemandem, <strong>der</strong>nicht sieht?« »Er würde nichts erkennen, vielleicht nur Bäume,durch die <strong>der</strong> W<strong>in</strong>d fährt. Wir <strong>in</strong>terpretieren jede unbekannteAusdrucksform des Nagual als etwas Bekanntes. In diesem Fallkönnte man das Nagual als W<strong>in</strong>dstoß <strong>in</strong>terpretieren, <strong>der</strong> dieBlätter schüttelt, o<strong>der</strong> sogar als seltsames Licht, vielleicht alse<strong>in</strong>en ungewöhnlich großen Leuchtkäfer. Drängt man jemanden,<strong>der</strong> nicht sieht, zu e<strong>in</strong>er Antwort, dann sagt er vielleicht, daß eretwas zu sehen glaubte, sich aber nicht recht er<strong>in</strong>nern kann,was es war. Das ist nur zu natürlich. <strong>Der</strong> Mann würde ganzvernünftig reden. Immerh<strong>in</strong>, se<strong>in</strong>e Augen hätten ja nichtsUngewöhnliches entdeckt. Da sie die Augen des Tonal s<strong>in</strong>d,müssen sie sich auf die Welt des Tonal beschränken, und <strong>in</strong>dieser Welt gibt es nichts umwerfend Neues, jedenfalls nichts,was nicht für die Augen erkennbar und für das Tonal erklärbarwäre.«Ich befragte ihn nach den ungeahnten Wahrnehmungen, die ihrGeflüster <strong>in</strong> me<strong>in</strong>e Ohren bewirkt hatte. »Das war das Beste an<strong>der</strong> ganzen Sache«, sagte er. »Auf den Rest könnte manverzichten, aber dies war die Krönung des Tages. Die Regelverlangt, daß <strong>der</strong> Wohltäter und <strong>der</strong> Lehrer diesen letztenE<strong>in</strong>griff vornehmen. Die allerschwierigste Tat! <strong>Der</strong> Lehrer wie<strong>der</strong> Wohltäter müssen makellose Krieger se<strong>in</strong>, um dasUnterfangen, e<strong>in</strong>en Mann zu spalten, auch nur zu versuchen.Du weißt nichts davon, denn dies ist dir noch nicht zugänglich,aber wie<strong>der</strong>um ist die <strong>Kraft</strong> nachsichtig mit dir gewesen.Genaro ist <strong>der</strong> makelloseste Krieger, den es gibt.« »Warum istdas Spalten e<strong>in</strong>es Menschen e<strong>in</strong>e große Tat?« »Weil esgefährlich ist. Du hättest sterben können wie e<strong>in</strong>e Fliege. O<strong>der</strong>,noch schlimmer, vielleicht wäre es uns nichtgelungen, dich wie<strong>der</strong> zusammenzusetzen, und du wärst aufdieser Gefühlsebene geblieben.«»W ar es notwendig, das mit mir zu machen, <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong>?« »Esgibt e<strong>in</strong>en gewissen Zeitpunkt, wo das Nagual dem Lehrl<strong>in</strong>g <strong>in</strong>sOhr flüstern und ihn spalten muß.« »W as bedeutet das, <strong>Don</strong><strong>Juan</strong>?«»Um e<strong>in</strong> normales Tonal zu se<strong>in</strong>, muß <strong>der</strong> M ensch e<strong>in</strong>e E<strong>in</strong>heitse<strong>in</strong>. Se<strong>in</strong> ganzes Se<strong>in</strong> m uß <strong>der</strong> Insel des Tonal angehören.Ohne diese E<strong>in</strong>heit würde <strong>der</strong> M ann verrückt. E<strong>in</strong> Zaubererh<strong>in</strong>gegen muß diese E<strong>in</strong>heit aufbrechen, aber ohne se<strong>in</strong> eigenesSe<strong>in</strong> <strong>in</strong> Gefahr zu br<strong>in</strong>gen. Das Ziel e<strong>in</strong>es Zauberers ist es, zuüberdauern. Das heißt, er nimmt ke<strong>in</strong>e unnötigen Risiken aufsich. Daher verbr<strong>in</strong>gt er Jahre damit, se<strong>in</strong>e Insel leerzufegen,bis e<strong>in</strong> Augenblick kommt, da er sich, bildlich gesprochen,davonstehlen könnte. Das Entzweispalten e<strong>in</strong>es M enschen istdie Pforte für e<strong>in</strong>e solche Flucht. Die Spaltung, dasGefährlichste, was du je überstanden hast, war bei dir glatt unde<strong>in</strong>fach. Das Nagual hat dich meisterhaft geführt. Glaube mir,nur e<strong>in</strong> makelloser Krieger vermag das zu tun. Ich habe michsehr für dich gefreut.« <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> legte mir die Hand auf dieSchulter, und ich spürte e<strong>in</strong> ungeheures Bedürfnis zu we<strong>in</strong>en.»Nähere ich mich dem Punkt, da wir uns nicht mehr sehenwerden?« fragte ich. Er lachte und schüttelte den K opf.»Du läßt dich gehen wie e<strong>in</strong> Hanswurst«, sagte er. »Immerh<strong>in</strong>,das tun wir alle. W ir tun's bloß <strong>in</strong> verschiedenen Formen.M anchmal lasse auch ich mich gehen. Bei mir ist es dasGefühl, daß ich dich verhätschele und schwach mache. Ichweiß, daß G enaro bei Pablito dasselbe G efühl hat. Er hätscheltihn wie e<strong>in</strong> K<strong>in</strong>d. Aber so hat es die <strong>Kraft</strong> nun e<strong>in</strong>male<strong>in</strong>gerichtet. G enaro gibt Pablito alles, was er zu geben hat,und man darf nicht wünschen, daß er etwas an<strong>der</strong>es täte. M andarf e<strong>in</strong>en K rieger nicht dafür kritisieren, daß er se<strong>in</strong> m akellosBestes tut.«Er schwieg e<strong>in</strong>e W eile. Ich war zu nervös, um ruhig sitzen zubleiben.»W as, m e<strong>in</strong>st du, geschah m it m ir, als ich m e<strong>in</strong>te, ich würdevon e<strong>in</strong>em Vakuum aufgesaugt?« fragte ich.212 213


»Du schwebtest«, sagte er wie selbstverständlich.»Durch die Luft?«»Ne<strong>in</strong>! Für das Nagual gibt es nicht Land o<strong>der</strong> Luft o<strong>der</strong>Wasser. Das kannst du nun selbst bestätigen. Zweimal warst du<strong>in</strong> dieser Vorhölle, und du warst erst an <strong>der</strong> Pforte des Nagual.Du hast mir gesagt, alles, was dir wi<strong>der</strong>fuhr, sei ungeahnt neugewesen. Also schwebt o<strong>der</strong> fliegt das Nagual o<strong>der</strong> was es auchtun mag - <strong>in</strong> <strong>der</strong> Zeit des Nagual, und diese hat nichts mit <strong>der</strong>Zeit des Tonal zu tun. Zwischen den beiden gibt es ke<strong>in</strong>eÜbere<strong>in</strong>stimmung.«Während <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> sprach, lief e<strong>in</strong> Zittern durch me<strong>in</strong>enKörper. Me<strong>in</strong> K<strong>in</strong>n fiel nach unten, und me<strong>in</strong> Mund öffnetesich unwillkürlich. Me<strong>in</strong>e Ohren taten sich auf, und ich hörtee<strong>in</strong> kaum wahrnehmbares Flirren o<strong>der</strong> Vibrieren. Als ich <strong>Don</strong><strong>Juan</strong> me<strong>in</strong>e Empf<strong>in</strong>dungen schil<strong>der</strong>te, merkte ich, daß es. wennich sprach, so klang, als spräche jemand an<strong>der</strong>s. Es war e<strong>in</strong>ehöchst eigenartige Sensation, die dar<strong>in</strong> gipfelte, daß ich hörte,was ich sagen wollte, noch bevor ich es gesagt hatte. Me<strong>in</strong>l<strong>in</strong>kes Ohr war e<strong>in</strong>e Quelle außerordentlicher S<strong>in</strong>neswahrnehmungen.Ich hatte das Gefühl, als ob es besser undexakter hörte als me<strong>in</strong> rechtes Ohr. Es steckte irgend etwas <strong>in</strong>ihm, was zuvor nicht dagewesen war. Wenn ich <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong>, <strong>der</strong>rechts von mir saß, das Gesicht zuwandte, dann wurde mirbewußt, daß ich rund um dieses Ohr e<strong>in</strong>en Bereich ganz klarerakustischer Wahrnehmung hatte. Es war e<strong>in</strong> physikalischerRaum, e<strong>in</strong> Bereich, <strong>in</strong>nerhalb dessen ich alles mit unglaublicherKlangschärfe hörte. Indem ich den Kopf drehte, konnteich die Umgebung mit dem Ohr abtasten. »Das hat das Flüsterndes Nagual bei dir bewirkt«, sagte <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong>, als ich ihm me<strong>in</strong>eS<strong>in</strong>neswahrnehmung schil<strong>der</strong>te. »Dieses Phänomen wird vonnun an manchmal kommen, und dann wie<strong>der</strong> verschw<strong>in</strong>den.Fürchte dich nicht davor o<strong>der</strong> vor irgendwelchenungewöhnlichen Empf<strong>in</strong>dungen, die du von nun an habenmagst. Aber vor allem, laß dich nicht gehen und beschäftigedich nicht zwanghaft mit diesen Sensationen. Ich weiß, es wirddir gel<strong>in</strong>gen. <strong>Der</strong> Zeitpunkt de<strong>in</strong>er Spaltung war richtig. Die<strong>Kraft</strong> hat das alles e<strong>in</strong>gerichtet. Jetzt hängt alles von dir ab.Wenn du stark genug bist, wirst du den Schock, gespalten zuse<strong>in</strong>, ertragen. Aber wenn du ihn nicht bestehen214kannst, dann wirst du zugrunde gehen. Du wirst verwelken,abmagern, blaß, gedankenleer, reizbar, still werden.« »Hättestdu mir vor Jahren gesagt«, me<strong>in</strong>te ich, »was du und <strong>Don</strong>Genaro vorhabt, dann hätte ich genug . . .« Er hob die Handund ließ mich nicht ausreden. »Das ist e<strong>in</strong> s<strong>in</strong>nloser Spruch«,sagte er. »Du hast mir vor Jahren e<strong>in</strong>mal gesagt, daß du schonlängst e<strong>in</strong> Zauberer wärst, wenn da nicht de<strong>in</strong> Starrs<strong>in</strong>n undde<strong>in</strong>e Vorliebe für rationale Erklärungen wären. Aber e<strong>in</strong>Zauberer zu se<strong>in</strong> bedeutet <strong>in</strong> de<strong>in</strong>em Fall, daß du de<strong>in</strong>enStarrs<strong>in</strong>n und de<strong>in</strong>e Sucht nach rationalen Erklärungen, die dirim Wege stehen, überw<strong>in</strong>dest. An<strong>der</strong>erseits s<strong>in</strong>d diese Fehlergerade de<strong>in</strong> Weg zur <strong>Kraft</strong>. Du kannst nicht behaupten, daß die<strong>Kraft</strong> dir zufließen würde, wenn de<strong>in</strong> Leben an<strong>der</strong>s wäre.Genaro und ich müssen ebenso handeln wie du - <strong>in</strong>nerhalbgewisser Grenzen. Diese Grenzen zieht die <strong>Kraft</strong>, und e<strong>in</strong>Krieger ist gewissermaßen e<strong>in</strong> Gefangener <strong>der</strong> <strong>Kraft</strong>, e<strong>in</strong>Gefangener, dem e<strong>in</strong>e Freiheit bleibt: die Freiheit, entwe<strong>der</strong>wie e<strong>in</strong> makelloser Krieger zu handeln o<strong>der</strong> wie e<strong>in</strong> Esel zuhandeln. Letzten Endes ist <strong>der</strong> Krieger vielleicht ke<strong>in</strong> Gefangener,son<strong>der</strong>n e<strong>in</strong> Sklave <strong>der</strong> <strong>Kraft</strong>, denn diese Freiheit ist fürihn ke<strong>in</strong>e Freiheit mehr. Genaro kann nicht an<strong>der</strong>s handeln alsmakellos. Handelte er wie e<strong>in</strong> Esel, dann würde es ihnauszehren und se<strong>in</strong>en Tod herbeiführen. Du fürchtest dichdeshalb vor Genaro, weil er das Mittel <strong>der</strong> Furcht benutzenmuß, um de<strong>in</strong> Tonal schrumpfen zu lassen. De<strong>in</strong> Körper weißdas, wiewohl de<strong>in</strong>e Vernunft vielleicht nicht, und daher willde<strong>in</strong> Körper davonrennen, jedesmal wenn Genaro ersche<strong>in</strong>t.«Ich warf e<strong>in</strong>, daß ich gern wissen würde, ob <strong>Don</strong> Genaro michabsichtlich zu erschrecken versucht habe. Das »Nagual«, sagteer, mache seltsame D<strong>in</strong>ge - D<strong>in</strong>ge, die nicht vorhersehbarseien. Als Beispiel führte er an, was am Vormittag zwischenuns geschehen war, als er mich daran h<strong>in</strong><strong>der</strong>te, über die l<strong>in</strong>keSchulter nach dem auf dem Baum sitzenden <strong>Don</strong> Genaro zuschauen. Er wisse wohl, sagte er, was se<strong>in</strong> »Nagual« getanhatte, obwohl er dies unmöglich im voraus habe wissen können.Er erklärte den Vorfall folgen<strong>der</strong>maßen: Me<strong>in</strong>e plötzlicheBewegung nach l<strong>in</strong>ks sei e<strong>in</strong> Schritt h<strong>in</strong> zu me<strong>in</strong>em Tod215


gewesen, den me<strong>in</strong> »Tonal« absichtlich als selbstmör<strong>der</strong>ischenSprung versuchte. Diese Bewegung habe se<strong>in</strong> »Nagual« auf denPlan gerufen, und die Folge sei gewesen, daß e<strong>in</strong> Teil von ihmauf mich gefallen sei. Unwillkürlich äußerte ich me<strong>in</strong>eBestürzung. »De<strong>in</strong>e Vernunft sagt dir schon wie<strong>der</strong>, daß duunsterblich bist«, sagte er.»Was me<strong>in</strong>st du damit, <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong>?«»E<strong>in</strong> unsterbliches Wesen hat alle Zeit auf Erden für Zweifelund Verwirrung und Angst. E<strong>in</strong> Krieger h<strong>in</strong>gegen kann sichnicht an die nach <strong>der</strong> Ordnung des Tonal getroffenen S<strong>in</strong>ngebungenklammern, denn er weiß gewiß, daß <strong>der</strong> Ganzheitse<strong>in</strong>es Selbst nur kurze Zeit auf Erden beschieden ist.« Icherhob e<strong>in</strong>en ernsthaften E<strong>in</strong>wand. Me<strong>in</strong>e Zweifel und Ängsteund me<strong>in</strong>e Verwirrung fanden nämlich nicht auf bewußterEbene statt, und wie sehr ich auch versuchte, sie zukontrollieren - jedesmal wenn ich es mit <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> und <strong>Don</strong>Genaro zu tun hatte, kam ich mir hilflos vor. »E<strong>in</strong> Krieger darfnicht hilflos se<strong>in</strong>«, sagte er, »o<strong>der</strong> verwirrt o<strong>der</strong> ängstlich -unter ke<strong>in</strong>en Umständen. E<strong>in</strong> Krieger hat nur Zeit für se<strong>in</strong>eMakellosigkeit. Alles an<strong>der</strong>e zehrt se<strong>in</strong>e <strong>Kraft</strong> auf. MakellosesTun lädt sie wie<strong>der</strong> auf.« »Damit s<strong>in</strong>d wir wie<strong>der</strong> bei <strong>der</strong> altenFrage, <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong>. Was ist Makellosigkeit?«»Ja, da s<strong>in</strong>d wir wie<strong>der</strong> bei de<strong>in</strong>er alten Frage, und folglichs<strong>in</strong>d wir wie<strong>der</strong> bei me<strong>in</strong>er alten Antwort: Makellos handelnheißt, de<strong>in</strong> Bestes zu tun, ganz egal, was du tust.« »Aber, <strong>Don</strong><strong>Juan</strong>, mir geht es doch darum, daß ich stets den E<strong>in</strong>druck habe,ich täte me<strong>in</strong> Bestes, und offensichtlich tue ich es doch nicht.«»Es ist nicht so kompliziert, wie du es darstellst. <strong>Der</strong> Schlüssel zuall diesen Fragen nach <strong>der</strong> Makellosigkeit ist das Gefühl, Zeitzu haben o<strong>der</strong> ke<strong>in</strong>e Zeit zu haben. Als Faustregel mag gelten:Wenn du dich wie e<strong>in</strong> unsterbliches Wesen fühlst, das alle Zeitauf Erden hat und dementsprechend handelt, dann bist du nichtmakellos. In solchen Momenten solltest du dich umdrehen, <strong>in</strong>die Runde schauen, und dann wirst du erkennen, daß de<strong>in</strong>Gefühl, Zeit zu haben, töricht ist. Auf dieser Erde gibt es ke<strong>in</strong>eÜberlebenden!«Die Flügel <strong>der</strong> Wahrnehmung<strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> und ich verbrachten den ganzen Tag <strong>in</strong> den Bergen.Wir waren <strong>in</strong> <strong>der</strong> Dämmerung aufgebrochen. Er führte michzu vier Orten <strong>der</strong> <strong>Kraft</strong>, und an jedem e<strong>in</strong>zelnen gab er mirspezifische Instruktionen, wie ich <strong>der</strong> Erfüllung e<strong>in</strong>er beson<strong>der</strong>enAufgabe näherkommen könne, die er mir vor Jahren alse<strong>in</strong>e das ganze Leben währende Situation dargestellt hatte.Am Spätnachm ittag kehrten wir zurück. Nach dem Essenverließ <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> <strong>Don</strong> Genaros <strong>Haus</strong>. Er me<strong>in</strong>te, ich solle aufPablito warten, <strong>der</strong> Petroleum für die Lam pe br<strong>in</strong>gen wollte,und mich mit ihm unterhalten.Ich war ganz vertieft <strong>in</strong> die Ausarbeitung me<strong>in</strong>er Notizen undhörte Pablito erst, als er neben m ir stand. Pablito erklärte, erhabe den »Gang <strong>der</strong> <strong>Kraft</strong>« angewandt, und deshalb hätte ichihn unmöglich hören können, solange ich nicht »sehen« könne.Ich hatte Pablito im m er sehr gern gehabt. Bisher hatte ichaber wenig Gelegenheit gehabt, m it ihm a lle <strong>in</strong> zu se<strong>in</strong>, wenngleichwir gute Freunde waren. Pablito hatte m ich im m er alse<strong>in</strong> liebenswürdiger Mensch für sich e<strong>in</strong>genommen. Er hießnatürlich Pablo, aber die Koseform Pablito paßte besser zuihm . Er war zartgliedrig, aber drahtig. W ie <strong>Don</strong> Genaro war erschlank, aber überraschend muskulös und stark. Er warvielleicht Ende Zwanzig, aber er wirkte wie achtzehn. Er warvon dunkler Hautfarbe und mittlerer Statur. Se<strong>in</strong>e Augenblickten klar und strahlend, und wie <strong>Don</strong> Genaro hatte er stetse<strong>in</strong> gew<strong>in</strong>nendes Lächeln, mit e<strong>in</strong>em Anflug von boshaftemW itz.Ich fragte ihn nach se<strong>in</strong>em Freund Nestor, <strong>Don</strong> Genarosan<strong>der</strong>em Lehrl<strong>in</strong>g. In <strong>der</strong> letzten Zeit hatte ich sie im m erbeisammen gesehen, und sie hatten auf mich stets den E<strong>in</strong>druckgemacht, als hätten sie e<strong>in</strong> ausgezeichnetes Verhältniszue<strong>in</strong>an<strong>der</strong>; doch <strong>in</strong> ihrem Äußeren wie <strong>in</strong> ihrem Charakterwaren sie Gegensätze. W ährend Pablito leutselig und offenwar, war Nestor verschlossen und <strong>in</strong> sich gekehrt. Auch war ergrößer, schwerfälliger, dunkler und wesentlich älter.217


Pablito erzählte, daß Nestor endlich ganz <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Arbeit mit<strong>Don</strong> Genaro aufgehe und daß er, seit <strong>der</strong> Zeit, als ich ihn zumletztenmal gesehen hatte, überhaupt e<strong>in</strong> völlig an<strong>der</strong>er Menschgeworden sei. Er wollte aber nicht weiter auf Nestors Arbeito<strong>der</strong> se<strong>in</strong>en Persönlichkeitswandel e<strong>in</strong>gehen und wechselteunvermittelt das Thema.»Ich höre, das Nagual hat dich am Kragen«, sagte er. Ich warüberrascht, daß er dies wußte, und fragte ihn, wie er esherausgefunden habe. »Genaro erzählt mir alles«, sagte er.Mir fiel auf, daß er von <strong>Don</strong> Genaro nicht mit <strong>der</strong> gleichenFörmlichkeit sprach wie ich. Er nannte ihn e<strong>in</strong>fach vertraulichGenaro. Er sagte, <strong>Don</strong> Genaro sei ihm wie e<strong>in</strong> Bru<strong>der</strong>, und sieverkehrten unbefangen mite<strong>in</strong>an<strong>der</strong>, ganz wie <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Familie.Er bekannte offen, daß er <strong>Don</strong> Genaro herzlich liebhatte. Ichwar tief gerührt von se<strong>in</strong>er e<strong>in</strong>fachen und offenen Art.Während ich mit ihm sprach, erkannte ich, wie sehr <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong>und ich uns im Temperament glichen; unsere Beziehung warförmlich und korrekt im Vergleich zu <strong>Don</strong> Genaros undPablitos Verhalten zue<strong>in</strong>an<strong>der</strong>.Ich fragte Pablito, warum er sich vor <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> fürchte. Se<strong>in</strong>eAugen flackerten. Es war, als ob <strong>der</strong> bloße Gedanke an <strong>Don</strong><strong>Juan</strong> ihn zusammenschrecken ließe. Er antwortete nicht. Ermusterte mich auf e<strong>in</strong>e irgendwie seltsame Art. »Hast du dennke<strong>in</strong>e Angst vor ihm?« fragte er. Ich erzählte ihm, daß ich vor<strong>Don</strong> Genaro Angst hätte, und er lachte, als habe er dies nun amallerwenigsten erwartet. <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> und <strong>Don</strong> Genaro, sagte er,das sei wie <strong>der</strong> Unterschied zwischen Tag und Nacht. <strong>Don</strong>Genaro sei <strong>der</strong> Tag. <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> sei die Nacht, und <strong>in</strong>sofern sei er<strong>der</strong> furchterregendste Mensch auf Erden. Von <strong>der</strong> Schil<strong>der</strong>ungse<strong>in</strong>er Furcht vor <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> kam Pablito dann auf se<strong>in</strong>e eigeneSituation als Lehrl<strong>in</strong>g zu sprechen.»Ich b<strong>in</strong> <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em ganz elenden Zustand«, sagte er. »Könntestdu sehen, wie es <strong>in</strong> mir aussieht, dann wäre dir klar, daß ich füre<strong>in</strong>en normalen Menschen zuviel weiß, und doch, wenn dumich mit dem Nagual sähest, dann wäre dir klar, daß ich nichtgenug weiß.« Er wechselte rasch das Thema und f<strong>in</strong>g an, sichüber me<strong>in</strong>Mitschreiben lustig zu machen. <strong>Don</strong> Genaro, sagte er, habestundenlang Heiterkeitsstürme hervorgerufen, <strong>in</strong>dem er michimitierte. Auch me<strong>in</strong>te er, daß <strong>Don</strong> Genaro mich - trotz me<strong>in</strong>erTicks und Schrullen - sehr gern habe und daß er sich freue,mich als »protegido« zu haben.Diesen Ausdruck hörte ich zum erstenmal. Er entsprach e<strong>in</strong>eman<strong>der</strong>en Begriff, den <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> zu Beg<strong>in</strong>n unserer Verb<strong>in</strong>dunge<strong>in</strong>geführt hatte. Er hatte mir gesagt, ich sei se<strong>in</strong> »escogido«,se<strong>in</strong> Erwählter. Das Wort »protegido« heißt soviel wieSchützl<strong>in</strong>g.Ich befragte Pablito nach se<strong>in</strong>en Begegnungen mit dem »Nagual«,und er erzählte mir die Geschichte, wie er zum erstenmalmit ihm zusammengetroffen war. E<strong>in</strong>mal, sagte er, hatte <strong>Don</strong><strong>Juan</strong> ihm e<strong>in</strong>en Korb geschenkt, den er für e<strong>in</strong>e Freundschaftsgabeangesehen hatte. Er hatte ihn an e<strong>in</strong>en Hakenüber se<strong>in</strong>er Zimmertür gehängt, und da er im Augenblick ke<strong>in</strong>eVerwendung dafür wußte, vergaß er ihn für den Rest desTages. Er war <strong>der</strong> Me<strong>in</strong>ung gewesen, <strong>der</strong> Korb sei e<strong>in</strong>Geschenk <strong>der</strong> <strong>Kraft</strong> und müsse deshalb e<strong>in</strong>en ganz beson<strong>der</strong>enZweck f<strong>in</strong>den.Am frühen Abend - wie Pablito sagte, war dies auch se<strong>in</strong>elebensgefährliche Stunde - g<strong>in</strong>g er dann <strong>in</strong> se<strong>in</strong> Zimmer, umse<strong>in</strong>e Jacke zu holen. Er war alle<strong>in</strong> im <strong>Haus</strong>, und wollte ebenaufbrechen, e<strong>in</strong>en Freund zu besuchen. Im Zimmer war esdunkel. Er griff nach <strong>der</strong> Jacke, und als er die Hand nach <strong>der</strong>Türkl<strong>in</strong>ke ausstreckte, fiel <strong>der</strong> Korb herab und rollte ihm vordie Füße. Pablito lachte über se<strong>in</strong>en Schrecken, sobald er sah,daß bloß <strong>der</strong> Korb von se<strong>in</strong>em Haken gefallen war. Er bücktesich, um ihn aufzuheben, und nun erlebte er den Schock se<strong>in</strong>esLebens. <strong>Der</strong> Korb sprang vor ihm davon und f<strong>in</strong>g an zuwackeln und zu knarren, als ob jemand ihn drückte und preßte.Aus <strong>der</strong> Küche, erzählte Pablito, fiel genügend Licht here<strong>in</strong>,daß man alles im Zimmer klar erkennen konnte. E<strong>in</strong>e Weilestarrte er den Korb an, obwohl er irgendwie wußte, daß dasfalsch war. Nun begann <strong>der</strong> Korb sich unter tiefen, ächzendenund mühsamen Atemzügen zu verformen. Pablito behauptete,daß er tatsächlich den Korb atmen gesehen und gehört habeund daß er lebendig gewesen sei und ihn im Zimmerherumgehetzt habe, wobei er ihm den Ausgang ver-218 219


sperrt habe. Dann blähte <strong>der</strong> Korb sich auf, alle Bambusstrebenlockerten sich, und er verwandelte sich <strong>in</strong> e<strong>in</strong>en riesigen Ball,<strong>der</strong> Pablito wie e<strong>in</strong>e Steppenhexe vor die Füße kollerte. Dieserfiel auf den Rücken, und <strong>der</strong> Ball rollte se<strong>in</strong>e Be<strong>in</strong>e herauf.Pablito war <strong>in</strong>zwischen, wie er sagte, völlig von S<strong>in</strong>nen undschrie hysterisch. <strong>Der</strong> Ball hielt ihn gefangen und wälzte sichweiter über se<strong>in</strong>e Be<strong>in</strong>e herauf, wobei er das Gefühl hatte,überall von Nadeln durchbohrt zu werden. Er versuchte ihnfortzustoßen, und nun bemerkte er, daß <strong>der</strong> Ball <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong>sGesicht war, dessen Mund offenstand, bereit, ihn zuverschl<strong>in</strong>gen. An diesem Punkt konnte er se<strong>in</strong>e Panik nichtmehr meistern und wurde ohnmächtig.Pablito berichtete ganz ungefangen und frei über e<strong>in</strong>e Reihevon furchterweckenden Zusammenkünften, die Mitglie<strong>der</strong>se<strong>in</strong>er Familie mit dem »Nagual« gehabt hätten. So unterhieltenwir uns stundenlang. Er schien im gleichen Dilemma zustecken wie ich, schien sich aber entschieden geschickter imBezugssystem <strong>der</strong> Zauberer zurechtzuf<strong>in</strong>den. Irgendwann aberstand er plötzlich auf und me<strong>in</strong>te, er habe das Gefühl, <strong>Don</strong><strong>Juan</strong> werde jeden Augenblick auftauchen, und er wolle ihmhier nicht begegnen. In größter Eile machte er sich davon. Eswar, als habe ihn irgend etwas aus dem Zimmer gezogen. Ichhatte noch nicht e<strong>in</strong>mal Aufwie<strong>der</strong>sehn gesagt - weg war erschon!Kurz darauf kamen <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> und <strong>Don</strong> Genaro nach <strong>Haus</strong>e.Sie lachten.»Pablito raste die Straße entlang wie die arme Seele vor demLeibhaftigen«, sagte <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong>. »Ich frage mich, warum bloß?«»Ich glaube, er bekam es mit <strong>der</strong> Angst, als er sah, wie Carlitossich die F<strong>in</strong>ger wundschreibt«, sagte <strong>Don</strong> Genaro und äffteme<strong>in</strong>e Schreibbewegungen nach. Er trat neben mich.»Heh! Ich habe e<strong>in</strong>e Idee«, sagte er be<strong>in</strong>ah flüsternd. »Da duso gern schreibst, warum lernst du nicht, mit dem F<strong>in</strong>ger stattmit e<strong>in</strong>em Bleistift zu schreiben. Das wäre doch e<strong>in</strong> D<strong>in</strong>g!«<strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> und <strong>Don</strong> Genaro setzten sich neben mich undlachten sich kaputt, während sie über die Möglichkeit speku-lierten, mit dem F<strong>in</strong>ger zu schreiben. <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> machte plötzlichmit ernster Stimme e<strong>in</strong>e seltsame Bemerkung: »Ke<strong>in</strong> Zweifel,daß er mit dem F<strong>in</strong>ger schreiben könnte, aber würde er es auchlesen können?«<strong>Don</strong> Genaro lachte los und me<strong>in</strong>te dann: »Ich b<strong>in</strong> überzeugt, erkann alles lesen.« Und dann erzählte er e<strong>in</strong>e sehr merkwürdigeGeschichte über e<strong>in</strong>en Bauerntölpel, <strong>der</strong> <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Zeit despolitischen Umsturzes <strong>in</strong> hohe Ämter aufgerückt war. <strong>Der</strong> Held<strong>der</strong> Geschichte, sagte <strong>Don</strong> Genaro, war M<strong>in</strong>ister o<strong>der</strong>Gouverneur o<strong>der</strong> sogar Präsident - man konnte ja nie wissen,was die Leute <strong>in</strong> ihrer Tollheit anstellten. Aufgrund dieserhohen Ehren kam er zu <strong>der</strong> Überzeugung, daß er e<strong>in</strong> bedeuten<strong>der</strong>Mensch sei, und er lernte, e<strong>in</strong>e wichtige Rolle zu spielen.<strong>Don</strong> Genaro machte e<strong>in</strong>e Pause und schaute mich mit <strong>der</strong>Miene e<strong>in</strong>es se<strong>in</strong>e Rolle überziehenden Schmierenkomödiantenan. Er bl<strong>in</strong>zelte und hob und senkte die Augenbrauen. <strong>Der</strong> Held<strong>der</strong> Geschichte, sagte er, war bei öffentlichen Auftritten sehrgeschickt und konnte mühelos aus dem Stegreif e<strong>in</strong>e Redehalten, doch se<strong>in</strong>e amtliche Stellung erfor<strong>der</strong>te, daß er se<strong>in</strong>eReden vom Blatt ablas, und <strong>der</strong> Mann war Analphabet. Er ließsich also etwas e<strong>in</strong>fallen, um alle here<strong>in</strong>zulegen. Er besorgtesich e<strong>in</strong> beschriebenes Blatt Papier, und immer wenn er e<strong>in</strong>eRede halten mußte, fuchtelte er damit herum. Und die an<strong>der</strong>enBauerntölpel waren von se<strong>in</strong>er Überlegenheit und se<strong>in</strong>enan<strong>der</strong>en guten Eigenschaften überzeugt. Doch e<strong>in</strong>es Tages kame<strong>in</strong> des Lesens kundiger Frem<strong>der</strong> und merkte, daß unser Helddas Blatt verkehrt herum hielt, während er vorgab, se<strong>in</strong>e Redeabzulesen. Er lachte ihn aus und posaunte den Schw<strong>in</strong>del lautheraus.Wie<strong>der</strong> machte <strong>Don</strong> Genaro e<strong>in</strong>e kurze Pause und sah mich an,kniff die Augen zusammen und fragte: »Glaubst du, daß unserHeld nun ertappt war? Ke<strong>in</strong>e Spur! Er schaute ruhig <strong>in</strong> dieRunde und sagte: >Verkehrt herum? Ist's nicht egal, wie ichdas Papier halte? Hauptsache ich kann es lesen !< Und diean<strong>der</strong>en Bauerntölpel gaben ihm recht.« <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> und <strong>Don</strong>Genaro explodierten vor Lachen. <strong>Don</strong> Genaro klopfte mirfreundlich den Rücken, ganz so, als ob ich <strong>der</strong> Held <strong>der</strong>Geschichte gewesen wäre. Ich war verlegen und220 221


lachte nervös. Ich argwöhnte irgende<strong>in</strong>e versteckte Bedeutung,aber ich getraute mich nicht, zu fragen. <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> rückte näheran mich heran. Er beugte sich vor und flüsterte mir <strong>in</strong>s rechteOhr: »F<strong>in</strong>dest du das nicht spaßig?« Auch <strong>Don</strong> Genaro beugtesich zu mir herüber und flüsterte mir <strong>in</strong>s l<strong>in</strong>ke Ohr: »W as hater gesagt?« Ich reagierte ganz automatisch auf beide Fragenund antwortete m it e<strong>in</strong>er unfreiwilligen Synthese:»Ja. Ich fand, er fragte, 's ist spaßig«, sagte ich. Offenkundigwar ihnen die W irkung ihres M anövers bewußt; sie lachten, bisihnen die Tränen über die W angen liefen. <strong>Don</strong> Genaro war, wieimmer, ausgelassener als <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong>: er fiel um und wälzte sich,e<strong>in</strong> paar M eter von mir entfernt, auf dem Rücken. Dann lag erauf dem Bauch, streckte Arme und Be<strong>in</strong>e aus und wirbelteüber den Boden, als ob er auf Rollen läge. So kreiselte erumher, bis er <strong>in</strong> me<strong>in</strong>e Nähe kam und se<strong>in</strong> Fuß den me<strong>in</strong>enstreifte. Dann setzte er sich auf und gr<strong>in</strong>ste töricht.<strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> hielt sich den Leib. Ansche<strong>in</strong>end hatte er Bauchwehvor Lachen.Nach e<strong>in</strong>er W eile beugten beide sich wie<strong>der</strong> vor und flüstertenmir unablässig <strong>in</strong> die Ohren. Ich versuchte mir die Reihenfolgeihrer Sprüche zu merken, aber nach e<strong>in</strong>er vergeblichenAnstrengung gab ich es auf. Es waren zu viele. Sie flüstertenmir <strong>in</strong> die Ohren, bis ich wie<strong>der</strong> das Gefühl hatte,zwiegespalten zu se<strong>in</strong>. W ie am Tag zuvor verwandelte ich michwie<strong>der</strong> <strong>in</strong> e<strong>in</strong>en Nebel, e<strong>in</strong> gelbliches Leuchten, das alles ganzunmittelbar em pfand. D as heißt, ich »wußte« alles. was vorg<strong>in</strong>g.Dabei spielten ke<strong>in</strong>e Gedanken mit; es gab nur Gewißheiten.Und als ich mit e<strong>in</strong>em weichen, schwammigen, elastischenGefühl <strong>in</strong> Kontakt geriet, das sich außerhalb von mir befandund doch e<strong>in</strong> Teil von mir war, »wußte« ich, daß es e<strong>in</strong> Baumwar. Ich fühlte an se<strong>in</strong>em Duft, daß es e<strong>in</strong> Baum se<strong>in</strong> mußte.Es roch nicht wie e<strong>in</strong> bestimmter Baum, an den ich micher<strong>in</strong>nert hätte, und doch »wußte« irgend etwas <strong>in</strong> mir, daßdieser beson<strong>der</strong>e Duft das »W esen« von Baum war. Ich hattenicht e<strong>in</strong>fach das G efühl, daß ich »wußte«, auch kontrollierteich we<strong>der</strong> me<strong>in</strong> W issen mit <strong>der</strong> Vernunft, noch kümmerte ichmich viel um äußere M erkmale. Ich wußte222e<strong>in</strong>fach, daß da irgend etwas <strong>in</strong> Kontakt mit mir war, michüberall umgab, e<strong>in</strong> freundlicher, warmer, zw<strong>in</strong>gen<strong>der</strong> Geruch,<strong>der</strong> von etwas ausg<strong>in</strong>g, das we<strong>der</strong> fest noch flüssig, son<strong>der</strong>n e<strong>in</strong>undef<strong>in</strong>ierbares an<strong>der</strong>es Etwas war. von dem ich »wußte«, daßes e<strong>in</strong> Baum war. Indem ich <strong>in</strong> dieser Form darum »wußte«,me<strong>in</strong>te ich, se<strong>in</strong> Wesen zu erfassen. Ich fühlte mich nicht vonihm abgestoßen. Vielmehr lud er mich e<strong>in</strong>, mit ihm zuverschmelzen. Ich sank <strong>in</strong> ihn e<strong>in</strong>, o<strong>der</strong> er sank <strong>in</strong> mich e<strong>in</strong>.Zwischen uns bestand e<strong>in</strong>e Verb<strong>in</strong>dung, die we<strong>der</strong> beson<strong>der</strong>serquicklich noch unangenehm war.Die nächste Empf<strong>in</strong>dung, an die ich mich klar er<strong>in</strong>nern konnte,war e<strong>in</strong> überwältigendes Gefühl des Staunens und Frohlockens.Alles an mir vibrierte. Es war, als ob Stromstöße durch michh<strong>in</strong>durch g<strong>in</strong>gen. Sie waren nicht schmerzhaft. Sie warenangenehm, aber auf so unbestimmte Weise, daß es mirunmöglich war, sie genauer zu def<strong>in</strong>ieren. Ich wußte jedoch,daß ich mit dem Boden <strong>in</strong> Kontakt war, wie dieser auch immerbeschaffen se<strong>in</strong> mochte. E<strong>in</strong> Teil von mir erkannte mit prägnanterKlarheit, daß es <strong>der</strong> Boden war. Aber <strong>in</strong> dem Augenblick,als ich versuchte, die Unendlichkeit <strong>der</strong> unmittelbarenWahrnehmungen, die ich hatte, kritisch zu durchdr<strong>in</strong>gen, verlorich alle Fähigkeit, me<strong>in</strong>e Wahrnehmungen zu unterscheiden.Dann war ich auf e<strong>in</strong>mal wie<strong>der</strong> ich selbst. Ich dachte. Es ware<strong>in</strong> so unvermittelter Übergang, daß ich glaubte, aufgewachtzu se<strong>in</strong>. Und doch war da irgend etwas an me<strong>in</strong>en Empf<strong>in</strong>dungen,das nicht ganz ich selbst war. Noch bevor ich dieAugen aufschlug, wußte ich, daß eigentlich etwas fehlte. Ichwar immer noch <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Traum o<strong>der</strong> <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Vision befangen.Me<strong>in</strong>e Denkprozesse aber waren nicht nur unbee<strong>in</strong>trächtigt,son<strong>der</strong>n ungewöhnlich klar. Rasch orientierte ich mich. Ichzweifelte nicht daran, daß <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> und <strong>Don</strong> Genaro me<strong>in</strong>entraumartigen Zustand zu e<strong>in</strong>em bestimmten Zweck ausgelösthatten. Ich glaubte schon zu verstehen, welch e<strong>in</strong> Zweck damitverbunden war, als etwas mir Fremdes mich zwang, me<strong>in</strong>eAufmerksamkeit auf me<strong>in</strong>e Umgebung zu richten. Ich brauchtelange, bis ich wußte, wo ich war. Tatsächlich, ich lag auf demBauch, und zwar auf e<strong>in</strong>em ganz son<strong>der</strong>baren Fußboden. Alsich ihn näher untersuchte, konnte ich mir e<strong>in</strong>223


Gefühl <strong>der</strong> Ehrfurcht und des Staunens nicht versagen. Ichbegriff nicht, woraus er gemacht war. Unregelmäßige Plattenvon irgende<strong>in</strong>er unbekannten Substanz waren höchst kunstvollund doch e<strong>in</strong>fach zusammengesetzt. Sie waren zwar zusammengefügt,aber nicht am Boden o<strong>der</strong> ane<strong>in</strong>an<strong>der</strong> befestigt.Sie waren elastisch und gaben nach, wenn ich versuchte,sie mit dem F<strong>in</strong>ger ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong>zuschieben, aber sobald ichlosließ, schnellten sie wie<strong>der</strong> <strong>in</strong> ihre Ausgangslage zurück. Ichversuchte aufzustehen, unterlag aber <strong>der</strong> befremdlichstenStörung me<strong>in</strong>er S<strong>in</strong>ne. Ich hatte ke<strong>in</strong>erlei Kontrolle überm e<strong>in</strong>en K örper; tatsächlich schien me<strong>in</strong> K örper nicht e<strong>in</strong>mal zumir zu gehören. Er war schlaff, und ich hatte zu ke<strong>in</strong>emse<strong>in</strong>er Teile e<strong>in</strong>e Verb<strong>in</strong>dung, und als ich aufzustehen versuchte,konnte ich die Arme nicht bewegen und plumpstehilflos auf den B auch, wobei ich zur Seite rollte. D er Schwungdes Sturzes ließ mich be<strong>in</strong>ahe e<strong>in</strong>e komplette Drehung vollführenund wie<strong>der</strong> auf dem Bauch landen. Aber me<strong>in</strong>e ausgestrecktenArme und Be<strong>in</strong>e bremsten die Drehung, und ichkam auf dem Rücken zu liegen. In dieser Position fiel me<strong>in</strong>Blick auf zwei seltsam geformte Be<strong>in</strong>e und die formlosestenFüße, die ich je gesehen hatte. Das war me<strong>in</strong> Körper! Ich waransche<strong>in</strong>end <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e D ecke e<strong>in</strong>gehüllt. M ir kam <strong>der</strong> G edanke <strong>in</strong>den S<strong>in</strong>n, daß ich mich vielleicht selbst <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Szene alsKrüppel o<strong>der</strong> Invalide erlebte. Ich versuchte, mich aufzurichtenund me<strong>in</strong>e Be<strong>in</strong>e anzuschauen, aber me<strong>in</strong> Körper ruckte nurmatt. Ich schaute direkt <strong>in</strong> e<strong>in</strong>en gelben Himmel, e<strong>in</strong>en tiefen,strahlend zitronengelben H immel. Er wies Rillen o<strong>der</strong>Vertiefungen von dunklerem Gelb auf, und e<strong>in</strong>e Unzahl vonAusbuchtungen, die wie W assertropfen herabh<strong>in</strong>gen. Die Gesamtwirkungdieses unglaublichen Himmels war atemberaubend.Ich konnte nicht feststellen, ob jene AusbuchtungenW olken waren. Als ich me<strong>in</strong>en Kopf h<strong>in</strong>- und herdrehte,entdeckte ich auch Schatten und Flecken <strong>in</strong> an<strong>der</strong>en Gelbtönen.Dann zog etwas an<strong>der</strong>es me<strong>in</strong>e Aufmerksamkeit an; e<strong>in</strong>eSonne, genau am Zenit des gelben Himmels, direkt überme<strong>in</strong>em Kopf, e<strong>in</strong>e milde Sonne - nach <strong>der</strong> Tatsache zuurteilen, daß ich sie anstarren konnte -, die e<strong>in</strong> sanftes,gleichförm iges, weißliches Licht ausstrahlte.Noch bevor ich Zeit fand, über all diese unirdischen Bil<strong>der</strong>nachzudenken, wurde ich heftig geschüttelt. Me<strong>in</strong> Kopf ruckteund schaukelte h<strong>in</strong> und her. Ich wurde hochgehoben. Ich hörtee<strong>in</strong>e schrille Stimme und Kichern - und ich war mit demerstaunlichsten Anblick konfrontiert: e<strong>in</strong>er gigantischen barfüßigenFrau. Ihr Gesicht war rund und riesig. Ihr Haar war zue<strong>in</strong>em Pagenkopf geschnitten. Ihre Arme und Be<strong>in</strong>e warenmonströs. Sie hob mich auf und legte mich über ihre Schulter,als wäre ich e<strong>in</strong>e Puppe. Me<strong>in</strong> Körper h<strong>in</strong>g schlaff herab. Ichschaute ihren kräftigen Rücken h<strong>in</strong>ab. Um die Schultern undam Rückgrat entlang hatte sie e<strong>in</strong>en fe<strong>in</strong>en Flaum, Als ich überihre Schulter h<strong>in</strong>ab schaute, sah ich wie<strong>der</strong> den wun<strong>der</strong>vollenBoden. Ich hörte, wie er unter ihrem gewaltigen Gewichtelastisch nachgab, und ich sah die Fußabdrücke, die sie auf ihmh<strong>in</strong>terließ.Vor e<strong>in</strong>em Gebilde, e<strong>in</strong>er Art Bauwerk, legte sie mich auf denBauch. Erst jetzt bemerkte ich, daß mit me<strong>in</strong>er Tiefenwahrnehmungetwas nicht stimmte. Ich konnte die Größe desGebäudes nicht abschätzen. E<strong>in</strong>en Moment schien es lächerlichkle<strong>in</strong> zu se<strong>in</strong>, aber dann wie<strong>der</strong>, nachdem ich ansche<strong>in</strong>endme<strong>in</strong>en Blick angepaßt hatte, mußte ich mich über se<strong>in</strong>emonumentalen Ausmaße wun<strong>der</strong>n.Das gigantische Mädchen setzte sich neben mich und ließ denFußboden knarren. Ich berührte ihr riesiges Knie. Sie roch nachBonbons o<strong>der</strong> Erdbeeren. Sie sprach mit mir, und ich verstandalles, was sie sagte. Sie zeigte auf das Bauwerk und sagte mir,hier wohne ich.Als ich den Schock, mich hier zu bef<strong>in</strong>den, allmählich überwundenhatte, schien sich auch me<strong>in</strong>e Beobachtungsfähigkeitwie<strong>der</strong> zu bessern. Jetzt bemerkte ich, daß das Bauwerk viergroßartige, aber funktionslose Säulen hatte. Sie hatten nichts zutragen; sie befanden sich auf dem Dach des Gebäudes. IhreForm war die Schlichtheit selbst; es waren lange, zierlicheGebilde, die sich <strong>in</strong> jenem furchterregenden, unglaublich gelbenHimmel zu verlieren schienen. Diese nutzlosen Säulenerschienen mir als die re<strong>in</strong>e Schönheit. Ich hatte e<strong>in</strong>en Anfallvon ästhetischem Überschwang.Die Säulen schienen aus e<strong>in</strong>em Stück gemacht - wie, daskonnte ich mir nicht vorstellen. Die beiden vor<strong>der</strong>en Säulen224 225


waren durch e<strong>in</strong>en dünnen Balken mite<strong>in</strong>an<strong>der</strong> verbunden -e<strong>in</strong>eriesige lange Latte, die vielleicht als Gelän<strong>der</strong> o<strong>der</strong> alsBalustrade diente.Das gigantische Mädchen schob mich auf dem Rücken <strong>in</strong> dasBauwerk h<strong>in</strong>e<strong>in</strong>. Die Decke war schwarz und niedrig, und siewar von symmetrisch angeordneten Löchern übersät, die dengelblichen Glanz des Himmels here<strong>in</strong>sche<strong>in</strong>en ließen und dieerstaunlichsten Muster bildeten. Ich war wirklich ergriffen von<strong>der</strong> Schlichtheit und Schönheit dieses Bildes: diese Fleckengelben Himmels, die durch die exakt verteilten Löcher <strong>in</strong> <strong>der</strong>Decke here<strong>in</strong>strahlten, und die Schattenmuster, die sie aufdiesem wun<strong>der</strong>vollen, geheimnisvollen Boden erzeugten! Dasganze Gebilde war quadratisch, und abgesehen von se<strong>in</strong>erprägnanten Schönheit, war es für mich unbegreiflich. Me<strong>in</strong>eBeglückung war so heftig, daß ich we<strong>in</strong>en - o<strong>der</strong> für immerhierbleiben wollte. Aber irgende<strong>in</strong>e <strong>Kraft</strong> o<strong>der</strong> Spannung o<strong>der</strong>sonst etwas Undef<strong>in</strong>ierbares zog an me<strong>in</strong>en Be<strong>in</strong>en. Plötzlichbefand ich mich außerhalb des Bauwerks, immer noch auf demRücken liegend. Das gigantische Mädchen war da, aber bei ihrwar noch e<strong>in</strong> an<strong>der</strong>es Wesen, e<strong>in</strong>e Frau, die so groß war, daß siebis <strong>in</strong> den Himmel reichte und die Sonne verdunkelte.Verglichen mit ihr war das gigantische Mädchen nur e<strong>in</strong>eZwerg<strong>in</strong>. Die große Frau war böse. Sie packte das Bauwerk ane<strong>in</strong>er se<strong>in</strong>er Säulen, hob es auf, drehte es um und stellte es aufden Boden. Es war - e<strong>in</strong> Schemel! Diese Erkenntnis wirkte wiee<strong>in</strong> Katalysator auf mich; sie löste e<strong>in</strong>ige überraschendeErkenntnisse aus. Ich durchlief e<strong>in</strong>e Reihe von Bil<strong>der</strong>n, diezwar nicht zusammenh<strong>in</strong>gen, aber als Sequenz aufgefaßt werdenkonnten. Schlag auf Schlag erkannte ich, daß <strong>der</strong> wun<strong>der</strong>volle,unbegreifliche Boden e<strong>in</strong>e Strohmatte war; <strong>der</strong> gelbe Himmelwar die Stuckdecke e<strong>in</strong>es Zimmers; die Sonne war e<strong>in</strong>eGlühbirne; das Bauwerk, das e<strong>in</strong>en solchenBegeisterungstaumel bei mir ausgelöst hatte. war e<strong>in</strong> Stuhl, dene<strong>in</strong> K<strong>in</strong>d auf den Kopf gestellt hatte, um Häuschen zu spielen.Noch e<strong>in</strong>mal hatte ich e<strong>in</strong>e zusammenhängende Vision e<strong>in</strong>ermysteriösen architektonischen Struktur von gewaltigen Proportionen.Sie stand alle<strong>in</strong> im Raum. Sie sah be<strong>in</strong>ahe aus wiedie spitze Muschel e<strong>in</strong>er Schnecke mit aufgerichtetemSchwanz. Die Wände bestanden aus konkaven und konvexenPlatten aus irgende<strong>in</strong>em seltsamen purpurnen Material; jedePlatte hatte Rillen, die wohl eher e<strong>in</strong>em funktionalen alsornamentalen Zweck dienten.Ich untersuchte das Gebilde genau und <strong>in</strong> allen E<strong>in</strong>zelheitenund stellte fest, daß es, genau wie das Bauwerk vorh<strong>in</strong>,durchaus unbegreiflich war. Ich erwartete, daß me<strong>in</strong>e Wahrnehmungsich anpassen und das »wahre« Wesen des Gebildessich enthüllen würde. Aber nichts <strong>der</strong>gleichen geschah. Dannhatte ich e<strong>in</strong>e bunte Reihe von fremdartigen, komplizierten»Erkenntnissen« o<strong>der</strong> »Feststellungen« zu dem Gebilde undse<strong>in</strong>er Funktion, die aber ke<strong>in</strong>en S<strong>in</strong>n ergaben, weil ich sie nicht<strong>in</strong> e<strong>in</strong>en Bezugsrahmen e<strong>in</strong>ordnen konnte. Plötzlich erlangte ichwie<strong>der</strong> me<strong>in</strong> normales Bewußtse<strong>in</strong>. <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> und <strong>Don</strong> Genarostanden neben mir. Ich war müde. Ich suchte nach me<strong>in</strong>er Uhr;sie war weg. <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> und <strong>Don</strong> Genaro lachten unbeschwert.<strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> me<strong>in</strong>te, ich solle mich nicht um die Uhrzeit kümmernund mich lieber darauf konzentrieren, gewisse Ermahnungen zubefolgen, die <strong>Don</strong> Genaro mir gegeben hatte.Ich wandte mich an <strong>Don</strong> Genaro, aber <strong>der</strong> machte nur e<strong>in</strong>enWitz. Er sagte, die wichtigste Ermahnung sei, daß ich lernenmüsse, mit dem F<strong>in</strong>ger zu schreiben, um Bleistifte zu sparenund um angeben zu können.E<strong>in</strong>e Weile hänselten sie mich noch wegen me<strong>in</strong>en Aufzeichnungen,und dann schlief ich e<strong>in</strong>.<strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> und <strong>Don</strong> Genaro hörten sich den ausführlichenBericht me<strong>in</strong>er Erlebnisse an, den ich ihnen am nächstenMorgen, auf <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong>s Auffor<strong>der</strong>ung h<strong>in</strong> gab.»Genaro me<strong>in</strong>t, daß du für diesmal genug hast«, sagte <strong>Don</strong><strong>Juan</strong>, nachdem ich geendet hatte.<strong>Don</strong> Genaro nickte zustimmend.»Welche Bedeutung hatte das, was ich gestern abend erlebthabe?« fragte ich.»Du hast e<strong>in</strong>en Blick auf den Kern <strong>der</strong> Zauberei geworfen«,sagte <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong>. »Gestern abend durftest du die Ganzheitde<strong>in</strong>es Selbst erspähen. Aber im Augenblick ist dies für dichnatürlich e<strong>in</strong>e s<strong>in</strong>nlose Feststellung. Das Erreichen <strong>der</strong> Ganz-226 227


heit des Selbst ist offenbar nicht e<strong>in</strong>e Frage des Wunsches nachE<strong>in</strong>sicht o<strong>der</strong> <strong>der</strong> Bereitschaft zu lernen. Genaro glaubt, daßde<strong>in</strong> Körper Zeit braucht, um das Flüstern des Nagual <strong>in</strong> diche<strong>in</strong>s<strong>in</strong>ken zu lassen.« Wie<strong>der</strong> nickte <strong>Don</strong> Genaro.»Viel Zeit«, sagte er und wackelte mit dem Kopf. »Vielleichtzwanzig o<strong>der</strong> dreißig Jahre.«Ich wußte nicht, was ich davon halten sollte. Ich schaute <strong>Don</strong><strong>Juan</strong> an und erwartete e<strong>in</strong> Stichwort. Beide zogen e<strong>in</strong> ernstesGesicht.»Habe ich wirklich noch zwanzig o<strong>der</strong> dreißig Jahre Zeit?«fragte ich.»Natürlich nicht!« schrie <strong>Don</strong> Genaro, und beide brachen <strong>in</strong>schallendes Gelächter aus.<strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> sagte, ich solle wie<strong>der</strong>kommen, sobald me<strong>in</strong>e <strong>in</strong>nereStimme es mir befehlen werde, und <strong>in</strong> <strong>der</strong> Zwischenzeit solleich versuchen, mich auf all die Empfehlungen zu bes<strong>in</strong>nen, diesie mir gegeben hatten, während ich gespalten war. »Wie sollich das anstellen?« fragte ich. »Indem du de<strong>in</strong>en <strong>in</strong>neren Dialogabstellst und irgend etwas <strong>in</strong> dir herausfließen und sichausdehnen läßt«, sagte <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong>. »Dieses Etwas ist de<strong>in</strong>eWahrnehmung, aber versuche nicht. herauszuf<strong>in</strong>den, was ichdamit me<strong>in</strong>e! Laß dich e<strong>in</strong>fach vom Flüstern des Nagualleiten!«Dann sagte er, ich hätte am Abend zuvor zwei grundverschiedeneArten von Visionen gehabt. Die e<strong>in</strong>e sei unerklärlich, diean<strong>der</strong>e vollkommen klar, und die Reihenfolge, <strong>in</strong> <strong>der</strong> sieaufgetreten seien, deute auf e<strong>in</strong>e Bed<strong>in</strong>gung h<strong>in</strong>, die uns allenwesenseigen sei.»Die e<strong>in</strong>e Vision war das Nagual, die an<strong>der</strong>e das Tonal«, fügte<strong>Don</strong> Genaro h<strong>in</strong>zu.Ich bat ihn um weitere Aufklärung. Er sah mich an und klopftemich auf den Rücken. <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> sprang e<strong>in</strong> und me<strong>in</strong>te, dieersten beiden Visionen seien das »Nagual« gewesen, und <strong>Don</strong>Genaro habe e<strong>in</strong>en Baum und den Fußboden zurVerdeutlichung gewählt. Die an<strong>der</strong>en beiden seien Visionen des»Tonal« gewesen, die er selbst ausgewählt habe; e<strong>in</strong>e davon seime<strong>in</strong>e Wahrnehmung als K<strong>in</strong>d. »Sie erschien dir als e<strong>in</strong>efremde Welt, weil de<strong>in</strong>e Wahrneh-mung damals noch nicht darauf abgerichtet war, sich <strong>der</strong>gewünschten Form e<strong>in</strong>zufügen«, sagte er.»War dies wirklich die Art, wie ich die Welt sah?« fragteich.»Gewiß!« sagte er. »Das war de<strong>in</strong>e Er<strong>in</strong>nerung.«Ich fragte <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong>, ob jener ästhetische Überschwang, <strong>der</strong>mich erfaßt hatte, ebenfalls Teil me<strong>in</strong>er Er<strong>in</strong>nerung gewesensei.»Wir erleben solche Visionen mit unseren heutigen Augen«,sagte er. »Du hast diese Szene gesehen, wie du sie heute sehenwürdest. Doch es war nur e<strong>in</strong>e Wahrnehmungsübung. DieseSzene entstammte e<strong>in</strong>er Zeit, als die Welt für dich zu demwurde, was sie heute ist, aus e<strong>in</strong>er Zeit, als e<strong>in</strong> Schemel zue<strong>in</strong>em Schemel wurde.«Auf die an<strong>der</strong>e Szene wollte er nicht näher e<strong>in</strong>gehen.»Das war ke<strong>in</strong>e Er<strong>in</strong>nerung aus me<strong>in</strong>er K<strong>in</strong>dheit«, sagteich.»Ganz richtig!« sagte er. »Es war etwas an<strong>der</strong>es.« »War esetwas, was ich <strong>in</strong> Zukunft sehen werde?« fragte ich. »Es gibt ke<strong>in</strong>eZukunft!« rief er scharf. »Die Zukunft - das ist nur e<strong>in</strong>e bildlicheRedeweise. Für e<strong>in</strong>en Zauberer gibt es nur das Hier und Jetzt.«Ansonsten gebe es im Grunde nichts darüber zu sagen, me<strong>in</strong>te er,denn <strong>der</strong> Zweck dieser Übung sei gewesen, die Flügel me<strong>in</strong>erWahrnehmung zu entfalten, und obwohl ich nicht mit Hilfedieser Flügel geflogen sei, hätte ich doch vier Punkte berührt,die aus dem Blickw<strong>in</strong>kel me<strong>in</strong>er alltäglichen Wahrnehmungfür mich unerreichbar gewesen seien. Ich f<strong>in</strong>g an, me<strong>in</strong>e Sachenzu packen, um bald aufzubrechen. <strong>Don</strong> Genaro half mir, me<strong>in</strong>Notizbuch verstauen. Er legte es zuunterst <strong>in</strong> me<strong>in</strong>e Tasche.»Da wird's es warm und gemütlich haben«, sagte er augenzw<strong>in</strong>kernd.»Du kannst beruhigt se<strong>in</strong>, es wird sich ke<strong>in</strong>enSchnupfen holen.«Dann aber schien <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> es sich mit me<strong>in</strong>er Abreise an<strong>der</strong>szu überlegen und f<strong>in</strong>g an über me<strong>in</strong> Erlebnis zu sprechen. Ganzautomatisch versuchte ich, <strong>Don</strong> Genaro me<strong>in</strong>e Aktentasche aus<strong>der</strong> Hand zu reißen, aber er ließ sie fallen, bevor ich sie berührthatte. <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> wandte mir, während er sprach,228 229


den Rücken zu. Ich schnappte mir die Tasche und suchtehastig nach me<strong>in</strong>em Notizbuch. <strong>Don</strong> Genaro hatte es wirklichso gut verstaut, daß ich es kaum zu fassen kriegte; schließlichzog ich es hervor und f<strong>in</strong>g an mitzuschreiben. <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> und<strong>Don</strong> Genaro starrten mich an.»Du bist miserabel <strong>in</strong> Form«, sagte <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> lachend. »Duklammerst dich an de<strong>in</strong> Notizbuch wie e<strong>in</strong> Säufer an dieFlasche.«»Wie e<strong>in</strong>e liebende Mutter an ihr K<strong>in</strong>d«, japste <strong>Don</strong> Genaro.»W ie e<strong>in</strong> Priester an das Kruzifix«, steuerte <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> bei.»Wie e<strong>in</strong>e Frau an ihr Höschen«, schrie <strong>Don</strong> Genaro. Und sofiel ihnen e<strong>in</strong> Vergleich um den an<strong>der</strong>en e<strong>in</strong>, während sie michunter schallendem Gelächter zu me<strong>in</strong>em Auto geleiteten.3.TeilDie Erklärung <strong>der</strong> Zauberer


Drei Zeugen des NagualNach <strong>Haus</strong>e zurückgekehrt, stand ich wie<strong>der</strong> e<strong>in</strong>mal vor <strong>der</strong>Aufgabe, me<strong>in</strong>e Feldnotizen zu ordnen. Je öfter ich die Ereignisserekapitulierte, desto e<strong>in</strong>dr<strong>in</strong>glicher wurde das, was <strong>Don</strong><strong>Juan</strong> und <strong>Don</strong> Genaro mich hatten erleben lassen. Ich stellteaber fest, daß me<strong>in</strong>e übliche Reaktion, nämlich mich <strong>in</strong> Bestürzungund Furcht über das, was ich durchgemacht hatte,monatelang gehenzulassen, diesmal nicht so heftig war wie <strong>in</strong><strong>der</strong> Vergangenheit. Verschiedene Male versuchte ich vorsätzlich,wie ich es früher getan hatte, mich <strong>in</strong> Spekulationen undsogar <strong>in</strong> Selbstmitleid zu ergehen; aber irgend etwas fehltediesmal. Ich hatte auch vorgehabt, mir e<strong>in</strong>e Reihe von Fragenaufzuschreiben, die ich <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong>, <strong>Don</strong> Genaro o<strong>der</strong> sogarPablito vorlegen wollte. Das Projekt scheiterte aber, nochbevor ich damit begonnen hatte. Irgend etwas <strong>in</strong> mir selbsth<strong>in</strong><strong>der</strong>te mich daran, mich auf Fragen und Grübeleien e<strong>in</strong>zulassen.Ich hatte nicht gerade den Plan, <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> und <strong>Don</strong> Genarowie<strong>der</strong> aufzusuchen, aber an<strong>der</strong>erseits schreckte ich auch nichtvor dieser Möglichkeit zurück. E<strong>in</strong>es Tages aber, ohne daß iches mir lange überlegt hätte, spürte ich e<strong>in</strong>fach, daß es Zeit war,sie wie<strong>der</strong> zu besuchen.Immer wenn ich mich <strong>in</strong> früheren Jahren bereit machte, nachMexiko zu fahren, hatte ich das Gefühl gehabt, daß es tausen<strong>der</strong>leiwichtige, dr<strong>in</strong>gende Fragen gab, die ich <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> stellenwollte; diesmal belastete mich nichts <strong>der</strong>gleichen. Es war, alsob die Überarbeitung me<strong>in</strong>er Notizen die Vergangenheit fürmich abgeschlossen und mich für das Hier und Jetzt <strong>der</strong> Weltvon <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> und <strong>Don</strong> Genaro vorbereitet hätte. Ich brauchtenur e<strong>in</strong> paar Stunden zu warten, bis <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> mich auf demMarktplatz e<strong>in</strong>er kle<strong>in</strong>en Stadt <strong>in</strong> den Bergen Zentralmexikos»fand«. Er begrüßte mich sehr herzlich und rückte dann mite<strong>in</strong>em Vorschlag heraus. Bevor wir zu <strong>Don</strong> Genaro fahrenwürden, wolle er, me<strong>in</strong>te er, gern <strong>Don</strong> Genaros Lehrl<strong>in</strong>gen,Pablito und Nestor, e<strong>in</strong>en Besuch abstatten. Als ich vomHighway abbog, ermahnte er mich, beson<strong>der</strong>s233


sorgfältig auf irgendwelche ungewöhnlichen Ersche<strong>in</strong>ungenam Straßenrand o<strong>der</strong> auf <strong>der</strong> Straße selbst zu achten. Ich batihn um genauere Anweisungen.»Das geht nicht«, sagte er. »Das Nagual braucht ke<strong>in</strong>e genauenAnweisungen.«Ich reagierte ganz automatisch und verlangsamte die Fahrt. Erlachte laut und bedeutete mir mit e<strong>in</strong>er Handbewegung, ichsolle weiterfahren.Als wir uns <strong>der</strong> Stadt näherten, wo Pablito und Nestor wohnten,sagte <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong>, ich solle anhalten. Mit e<strong>in</strong>er fast unmerklichenKopfbewegung wies er mich auf e<strong>in</strong>e Gruppe mäßig hoherFelsen am l<strong>in</strong>ken Straßenrand h<strong>in</strong>. »Dort ist das Nagual«,flüsterte er.Es war niemand zu sehen. Ich hatte erwartet. <strong>Don</strong> Genaro zuerblicken. Ich schaute noch e<strong>in</strong>mal zu den Felsblöcken h<strong>in</strong>überund suchte dann die Umgebung ab. Auch dort war niemand. Ichstrengte me<strong>in</strong>e Augen an, um irgend etwas zu entdecken, e<strong>in</strong>kle<strong>in</strong>es Tier, e<strong>in</strong> Insekt, e<strong>in</strong>en Schatten o<strong>der</strong> e<strong>in</strong>e son<strong>der</strong>bareGeste<strong>in</strong>sformation - irgend etwas Ungewöhnliches. Nach e<strong>in</strong>erWeile gab ich es auf und drehte mich zu <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> um. Ohne dieAndeutung e<strong>in</strong>es Lächelns hielt er me<strong>in</strong>em fragenden Blickstand und stieß dann mit dem Handrücken me<strong>in</strong>en Arm an, umme<strong>in</strong>e Aufmerksamkeit wie<strong>der</strong> auf die Felsblöcke zu lenken.Ich starrte zu ihnen h<strong>in</strong>über, dann stieg <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> aus demWagen und for<strong>der</strong>te mich auf, ihm zu folgen und sie genauerzu untersuchen. Langsam stiegen wir etwa sechzig Meter weite<strong>in</strong>en sanft geneigten Abhang zum Fuß <strong>der</strong> Felsen h<strong>in</strong>an. Dortblieb <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> stehen und flüsterte mir <strong>in</strong>s rechte Ohr. daß das»Nagual« mich genau an dieser Stelle erwarte. Ich sagte ihm. daßich. wie sehr ich mich auch anstrengte, lediglich die Felsen,e<strong>in</strong> paar Grasbüschel und Kakteen entdecken könne. Erbeteuerte aber, das »Nagual« sei da und warte auf mich. Erbefahl mir, mich h<strong>in</strong>zusetzen, me<strong>in</strong>en <strong>in</strong>neren Dialog abzustellenund den Blick, ohne mich zu konzentrieren, auf die Spitzen <strong>der</strong>Felsblöcke zu richten. Er setzte sich neben mich, brachte se<strong>in</strong>enMund an me<strong>in</strong> rechtes Ohr und flüsterte mir zu, daß das»Nagual« mich gesehen habe, daß es da sei, auch wenn ich esnicht entdeckte, und daß ich wohl nur die Schwie-rigkeit hätte, me<strong>in</strong>en <strong>in</strong>neren Dialog nicht abstellen zu können.Jedes W ort, das er sagte, nahm ich <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Zustand <strong>in</strong>nerenSchweigens auf. Ich verstand alles, und doch war ich unfähig zuantworten; es hätte mich unglaubliche M ühe gekostet, zusprechen und zu denken. M e<strong>in</strong>e Reaktionen auf se<strong>in</strong>e W ortewaren nicht eigentlich G edanken, son<strong>der</strong>n ganze G e-fühlse<strong>in</strong>heiten, die aber alle S<strong>in</strong>nbedeutung besaßen, die ich <strong>in</strong><strong>der</strong> Regel mit dem Denken <strong>in</strong> Verb<strong>in</strong>dung br<strong>in</strong>ge. Er flüsterte,es sei sehr schwer, aus eigener <strong>Kraft</strong> den W eg zum »Nagual«zu beschreiten, und ich hätte großes Glück gehabt, durch denNachtfalter und se<strong>in</strong> Lied e<strong>in</strong>en Anstoß erhalten zu haben.Indem ich die Er<strong>in</strong>nerung an den »Ruf des Nachtfalters«festhielt, sagte er, könne ich diesen zu Hilfe rufen.Entwe<strong>der</strong> hatten se<strong>in</strong>e W orte e<strong>in</strong>e unwi<strong>der</strong>stehliche Suggestivkraft,o<strong>der</strong> vielleicht hatte ich mir auch das W ahrnehmungsphänomen,das er als »Ruf des Nachtfalters« bezeichnete,vergegenwärtigt, jedenfalls hatte er mir kaum se<strong>in</strong>e Anweisungzugeflüstert, als auch schon jenes eigenartige, pochendeGeräusch hörbar wurde. Se<strong>in</strong>e Klangfülle gab mir das Gefühl,als befände ich mich <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Flüstergewölbe. W ie dasGeräusch lauter wurde und näherrückte, bemerkte ich auch - <strong>in</strong>e<strong>in</strong>em irgendwie traumähnlichen Zustand-, daß dort oben aufden Felsen sich etwas bewegte. <strong>Don</strong> Genaro hockte auf e<strong>in</strong>em<strong>der</strong> Blöcke. Se<strong>in</strong>e Füße baumelten herab; und mit denAbsätzen hämmerte er gegen den Fels und erzeugte e<strong>in</strong>rhythmisches Geräusch, das mit dem »Ruf des Nachtfalters«synchron zu se<strong>in</strong> schien. Er lächelte und w<strong>in</strong>kte mir zu. Ichversuchte rational zu denken. Ich verspürte den W unsch,herauszuf<strong>in</strong>den, wie er dorth<strong>in</strong> gelangt war und wieso ich ihnnun auf e<strong>in</strong>mal sah, aber es wollte m ir nicht gel<strong>in</strong>gen, m e<strong>in</strong>enVerstand <strong>in</strong> Gang zu setzen. Unter diesen Umständen blieb mirnichts an<strong>der</strong>es übrig, als ihn anzuschauen, wie er lächelnd dasaßund mit <strong>der</strong> Hand w<strong>in</strong>kte. Nach e<strong>in</strong>er W eile schien er sichanzuschicken, den runden Felsblock herabzugleiten. Ich sah,wie er die Be<strong>in</strong>e anspannte und die Füße <strong>in</strong> die richtige Stellungbrachte, um auf dem harten Boden zu landen, wie er se<strong>in</strong>enRücken bog, bis er be<strong>in</strong>ah die Oberfläche des Ste<strong>in</strong>s berührte,um Schwung für234 235


das Herabgleiten zu bekommen. Aber plötzlich verharrte se<strong>in</strong>Körper auf halbem Weg. Ich hatte den E<strong>in</strong>druck, daß erirgendwo festh<strong>in</strong>g. Er strampelte e<strong>in</strong> paarmal mit den Be<strong>in</strong>en,als wollte er schwimmen. Ansche<strong>in</strong>end versuchte er, sich vonirgend etwas loszumachen, das ihn am Hosenboden festhielt.Wie wild rieb er sich mit beiden Händen das H<strong>in</strong>terteil.Tatsächlich, es wirkte auf mich, als ob er sich von e<strong>in</strong>emschmerzhaften Griff zu befreien suchte. Ich wollte ihm zuHilfe eilen, aber <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> hielt mich am Arm zurück. Ichhörte, wie er - be<strong>in</strong>ahe keuchend vor Lachen - zu mir sagte:»Beobachte ihn! Beobachte ihn!«<strong>Don</strong> Genaro strampelte, bog den Rumpf durch und wand sichvon e<strong>in</strong>er Seite zur an<strong>der</strong>en, als wenn er e<strong>in</strong>en Nagel herausreißenwollte. Dann hörte ich e<strong>in</strong>en lauten Knall, und erschwebte - o<strong>der</strong> vielmehr: wurde geschleu<strong>der</strong>t - dorth<strong>in</strong>, wo<strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> und ich standen. Er landete etwa zwei Meter vor mirauf den Füßen. Er rieb sich den H<strong>in</strong>tern und tanzte mitschmerzverzerrtem Gesicht auf und ab, wobei er wüste Flücheausstieß.»<strong>Der</strong> Ste<strong>in</strong> wollte mich nicht loslassen und packte mich amArsch«, sagte er mit e<strong>in</strong>fältiger Stimme. Ich wurde vonunvergleichlicher Freude ergriffen. Ich lachte laut heraus. Ichstellte fest, daß me<strong>in</strong>e Ausgelassenheit me<strong>in</strong>er geistigenKlarheit die Waage hielt. In diesem Augenblick hatte e<strong>in</strong>umfassen<strong>der</strong> Zustand gesteigerter Bewußtheit von mir Besitzergriffen. Alles um mich her war kristallklar. Vorh<strong>in</strong> war ich,wegen me<strong>in</strong>es <strong>in</strong>neren Schweigens, schläfrig undgeistesabwesend gewesen. Aber dann hatte irgend etwas, dasmit <strong>Don</strong> Genaros plötzlichem Ersche<strong>in</strong>en zusammenh<strong>in</strong>g, beimir e<strong>in</strong>e große Klarheit ausgelöst.<strong>Don</strong> Genaro rieb sich immer noch den H<strong>in</strong>tern und hüpfte aufund ab; dann sprang er auf me<strong>in</strong> Auto zu, öffnete die Tür undkroch auf den Rücksitz.Automatisch drehte ich mich um und wollte etwas zu <strong>Don</strong><strong>Juan</strong> sagen. Er war nirgends zu sehen. Ich rief laut se<strong>in</strong>enNamen. <strong>Don</strong> Genaro sprang aus dem Auto, wobei er ebenfallsmit schriller, sich überschlagen<strong>der</strong> Stimme nach <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong>schrie. Erst jetzt, während ich ihm zuschaute, erkannte ich. daßer me<strong>in</strong> Verhalten nachäffte. Mich hatte nämlich, als ich236feststellte, daß ich m it <strong>Don</strong> Genaro alle<strong>in</strong> war, e<strong>in</strong>e solcheAngst gepackt, daß ich ganz unbewußt drei- o<strong>der</strong> viermal umden Wagen herumgelaufen war und nach <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> geschrienhatte.<strong>Don</strong> Genaro sagte, wir m üßten Pablito und Nestor abholen,<strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> werde schon irgendwo unterwegs auf uns warten.Nachdem ich me<strong>in</strong>e anfängliche Furcht überwunden hatte,sagte ich ihm, daß ich mich freute, ihn zu sehen. Er hänseltemich wegen me<strong>in</strong>er übertriebenen Reaktion. <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong>,me<strong>in</strong>te er, sei für mich nicht so etwas wie e<strong>in</strong> Vater, son<strong>der</strong>neher e<strong>in</strong>e Mutter. Er gab e<strong>in</strong> paar unerhört komische Sprücheund Wortspiele über »Mütter« zum besten. Vor Lachen bemerkte ich nicht e<strong>in</strong>m al, daß wir Pablitos <strong>Haus</strong> erreicht hatten.<strong>Don</strong> Genaro hieß mich anhalten und stieg aus. Pablito stand<strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Haus</strong>tür. Er kam gelaufen, stieg e<strong>in</strong> und setzte sichneben mich auf den Beifahrersitz. »Auf, jetzt zu Nestor.« sagteer, als ob er <strong>in</strong> Eile sei. Ich drehte mich nach <strong>Don</strong> Genaro um.Er war nicht mehr da.Pablito bat m ich m it beschwören<strong>der</strong> Stim m e, m ich zu beeilen.Wir fuhren an Nestors <strong>Haus</strong> vor. Auch er wartete schon vor<strong>der</strong> Tür. Wir stiegen aus. Ich hatte das Gefühl, als wüßten diebeiden, was vor sich g<strong>in</strong>g.»Woh<strong>in</strong> fahren wir?« fragte ich.»Hat Genaro es dir nicht gesagt?« fragte Pablito mich mitungläubiger Stimme.Ich versicherte ihm, we<strong>der</strong> <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> noch <strong>Don</strong> Genaro hätte<strong>der</strong>gleichen erwähnt.»W ir gehen zu e<strong>in</strong>em Ort <strong>der</strong> <strong>Kraft</strong>«, sagte Pablito.»W as werden wir dort tu n ?«Wie aus e<strong>in</strong>em Mund sagten die beiden, sie wüßten es nicht.Nestor fügte h<strong>in</strong>zu, <strong>Don</strong> Genaro habe ihm aufgetragen, michan diesen Ort zu führen.»W arst du denn nicht bei Genaro?« fragte Pablito.Ich erzählte ihm, daß ich mit <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> zusammengewesen sei,daß wir unterwegs <strong>Don</strong> Genaro getroffen hätten und daß <strong>Don</strong><strong>Juan</strong> m ich m it ihm alle<strong>in</strong> gelassen hätte.»Woh<strong>in</strong> ist <strong>Don</strong> Genaro verschwunden?« fragte ich Pablito. DochPablito wußte gar nicht, wovon ich sprach. Er hatte <strong>Don</strong> G enaronicht <strong>in</strong> m e<strong>in</strong>em Auto gesehen.237


»Er ist mit mir zu dir gefahren«, sagte ich. »Ich glaube gar, duhattest das Nagual im Auto«, sagte Nestor erschrocken.Er wollte sich nicht auf die Rückbank setzen und drängte sichneben Pablito auf den Beifahrersitz.Auf <strong>der</strong> Fahrt herrschte Schweigen, nur von Nestors knappenRichtungsangaben unterbrochen.Ich wollte über die Ereignisse des Vormittags nachdenken,aber irgendwie wußte ich, daß je<strong>der</strong> Versuch, sie zu erklären,e<strong>in</strong> fruchtloses Sichgehenlassen me<strong>in</strong>erseits gewesen wäre. Ichversuchte Nestor und Pablito <strong>in</strong> e<strong>in</strong> Gespräch zu verwickeln;sie sagten, sie seien zu nervös, solange sie im Auto säßen, undwollten nicht sprechen. Ich freute mich über ihre ehrlicheAntwort und ließ sie <strong>in</strong> Ruhe.Nachdem wir über e<strong>in</strong>e Stunde gefahren waren, parkten wirden Wagen auf e<strong>in</strong>er Nebenstraße und kletterten e<strong>in</strong>en steilenBerghang h<strong>in</strong>auf. Schweigend wan<strong>der</strong>ten wir noch etwa e<strong>in</strong>eStunde unter Nestors Führung, und dann machten wir am Fuße<strong>in</strong>er gewaltigen Felsklippe halt, die sich als be<strong>in</strong>ahe senkrechteWand etwa siebzig Meter hoch erhob. Mit halb geschlossenenAugen suchte Nestor den Boden ab, um e<strong>in</strong>engeeigneten Platz zum Sitzen zu f<strong>in</strong>den. Ich war mir pe<strong>in</strong>lichbewußt, wie unbeholfen er sich dabei bewegte. Pablito, <strong>der</strong>neben mir stand, schien mehrmals im Begriff zu se<strong>in</strong>, e<strong>in</strong>zuschreitenund ihn zu korrigieren, doch er beherrschte sich undnahm e<strong>in</strong>e lockere Haltung an. Dann entschied Nestor sichnach kurzem Zögern für e<strong>in</strong>e Stelle. Pablito seufzte erleichtert.Ich wußte, daß <strong>der</strong> Platz, den Nestor gewählt hatte, <strong>der</strong> richtigewar, aber ich hatte ke<strong>in</strong>e Ahnung, wieso ich das wußte. Alsobeschäftigte ich mich mit dem Sche<strong>in</strong>problem, mirvorzustellen, welche Stelle ich gewählt hätte, falls ich dieFührung gehabt hätte. Doch ich konnte mir nicht e<strong>in</strong>malansatzweise ausmalen, wie ich dabei vorgegangen wäre. Pablitoerkannte offenbar, was mich beschäftigte. »Das darf mannicht«, flüsterte er mir zu. Ich lachte verlegen, als habe er michbei etwas Unerlaubtem ertappt. Lachend erzählte Pablito, daß<strong>Don</strong> Genaro mit den beiden oft <strong>in</strong> den Bergen umhergewan<strong>der</strong>tsei und jedem von ihnen von Zeit zu Zeit die Führungüberlassen habe, damit sie238L,lernten, daß es unmöglich sei, sich vorzustellen, für welchenPlatz man selbst sich entscheiden würde. »Man kann das deshalbnicht, sagt Genaro, weil es nur richtige o<strong>der</strong> falscheEntscheidungen gibt«, sagte er. »Wenn du e<strong>in</strong>e falscheEntscheidung triffst, dann weiß de<strong>in</strong> Körper das, und auch <strong>der</strong>Körper jedes an<strong>der</strong>en weiß es. Aber wenn du e<strong>in</strong>e richtigeEntscheidung triffst, weiß <strong>der</strong> Körper es ebenfalls, und erentspannt sich und vergißt auf <strong>der</strong> Stelle, daß überhaupt e<strong>in</strong>eEntscheidung getroffen worden ist. Du lädst de<strong>in</strong>en Körperwie<strong>der</strong> auf - wie e<strong>in</strong> Gewehr, weißt du - für die nächsteEntscheidung. Wenn du de<strong>in</strong>en Körper noch e<strong>in</strong>mal benutzenwillst, um die gleiche Entscheidung zu treffen, dann funktionierter nicht.«Nestor schaute mich an; ansche<strong>in</strong>end kam es ihm merkwürdigvor, daß ich mitschrieb. Jetzt nickte er zustimmend, als wolle erPablito beipflichten, und dann lächelte er zum erstenmal, seitich ihn kannte. Zwei von se<strong>in</strong>en oberen Zähnen warenverwachsen. Pablito erklärte, daß Nestor ke<strong>in</strong>eswegs bösartigo<strong>der</strong> abweisend sei, son<strong>der</strong>n sich wegen se<strong>in</strong>er Zähne geniereund daß dies <strong>der</strong> Grund sei, warum er nie lächele. Nestorlachte und hielt sich die Hand vor den Mund. Ich sagte ihm,ich könne ihn zu e<strong>in</strong>em guten Zahnarzt schicken, <strong>der</strong> se<strong>in</strong>eZähne richten werde. Sie hielten den Vorschlag für e<strong>in</strong>en Witzund lachten wie zwei K<strong>in</strong><strong>der</strong>.»Genaro sagt, er muß se<strong>in</strong>e Scheu alle<strong>in</strong> überw<strong>in</strong>den«, sagtePablito. »Außerdem, sagt Genaro, soll er froh darüber se<strong>in</strong>. Diemeisten Leute können nur normal beißen, aber Nestor kann mitse<strong>in</strong>en starken krummen Zähnen e<strong>in</strong>en Knochen <strong>der</strong> Länge nachspalten, und er kann dir e<strong>in</strong> Loch durch den F<strong>in</strong>ger beißen,wie mit e<strong>in</strong>em Nagel.«Nestor öffnete den Mund und zeigte mir se<strong>in</strong> Gebiß. <strong>Der</strong>Schneidezahn und <strong>der</strong> Eckzahn oben waren e<strong>in</strong>wärts gewachsen.Er klapperte mit den Zähnen, und dann schnappte und knurrteer wie e<strong>in</strong> Hund. Zwei- o<strong>der</strong> dreimal tat er so, als wolle er michanfallen und beißen. Pablito lachte. Nie zuvor hatte ich Nestorso unbeschwert erlebt. Die wenigen Male, die ich mit ihmzusammengewesen war, hatte er auf mich wie e<strong>in</strong> Mann <strong>in</strong>mittleren Jahren gewirkt. Wie er nun vor mir saß und mitse<strong>in</strong>en schiefen Zähnen lächelte, staunte239


ich über se<strong>in</strong>e Jugendlichkeit. Er sah aus wie e<strong>in</strong> junger M annvon Anfang Zwanzig.W ie<strong>der</strong> hatte Pablito m e<strong>in</strong>e G edanken genau erraten. »Er legtse<strong>in</strong>e W ichtigtuerei ab«, sagte er. »Deshalb ist er jetzt jünger.«Nestor nickte zustimmend und ließ, ohne e<strong>in</strong> W ort zu sagen,e<strong>in</strong>en lauten Furz fahren. Ich war entsetzt und ließ me<strong>in</strong>enB leistift fallen.Pablito und N estor kugelten sich vor Lachen. Nachdem siesich beruhigt hatten, rückte Nestor zu mir heran und zeigte mire<strong>in</strong>en selbstgebauten Apparat, <strong>der</strong> e<strong>in</strong> komisches Geräuschmachte, wenn man ihn mit <strong>der</strong> Hand zusammendrückte. Genaro,sagte er, habe ihm gezeigt, wie man so etwas mache. DieVorrichtung hatte e<strong>in</strong>en w<strong>in</strong>zigen Blasebalg, und als Zungediente e<strong>in</strong> B latt o<strong>der</strong> G ras, das m an <strong>in</strong> e<strong>in</strong>en Schlitz zwischenden zwei Holzleisten steckte, die als Lippen dienten. Das D<strong>in</strong>gmachte, wie Nestor mir erklärte, verschiedene Geräusche, jenachdem, was für e<strong>in</strong> Blatt man als Zunge verwendete. Erwollte, daß ich es ausprobierte, und zeigte m ir, wie man dieLippen zusammenpressen mußte, um e<strong>in</strong> bestimmtes Geräuschhervorzubr<strong>in</strong>gen, und wie man sie ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong>ziehen mußte,um e<strong>in</strong> an<strong>der</strong>es zu produzieren. »W ozu ist das gut?« fragte ich.Die beiden wechselten e<strong>in</strong>en Blick.»D as ist se<strong>in</strong> G eist-Fänger, du Esel«, fuhr Pablito m ich an.Se<strong>in</strong> Ton war grob, aber se<strong>in</strong> Lächeln freundlich. Die beidenwaren e<strong>in</strong>e eigenartig entnervende M ischung aus <strong>Don</strong> Genaround <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong>.Nun kam mir e<strong>in</strong> furchtbarer Verdacht. Spielten <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> und<strong>Don</strong> Genaro mir etwa e<strong>in</strong>en Streich? E<strong>in</strong>en Augenblick langpackte mich die nackte Angst. Aber dann rastete irgend etwas<strong>in</strong> me<strong>in</strong>em Innern e<strong>in</strong>, und sofort wurde ich wie<strong>der</strong> ruhig. Ichwußte ja , daß Pablito und N estor ih r V erhalten am V orbildvon <strong>Don</strong> Genaro und <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> ausrichteten. Ich selbst hatteschon festgestellt, daß ich m ich immer mehr wie die beidenbenahm.Pablito sagte, daß es e<strong>in</strong> G lück für N estor sei, e<strong>in</strong>en G eist-Fänger zu haben, und daß er selbst ke<strong>in</strong>en besitze.»W as sollen wir hier tu n ? « fragte ich Pablito. N estorantwortete, als ob ich die Frage an ihn gerichtet hätte.»Genaro hat mir gesagt, wir müssen hier warten, und solangewir warten, sollen wir lachen und uns vergnügen«, sagte er.»W ie lange, glaubst du. müssen wir noch warten?« fragte ich.Er antwortete nicht, son<strong>der</strong>n schüttelte den Kopf und schautePablito an, als wolle er die Frage an ihn weitergeben. »Ke<strong>in</strong>eAhnung«, sagte Pablito.Dann verwickelten wir uns <strong>in</strong> e<strong>in</strong> lebhaftes Gespräch überPablitos Schwestern. N estor zog ihn wegen se<strong>in</strong>er ältestenSchwester auf und m e<strong>in</strong>te, sie habe e <strong>in</strong> e n so bösen B lick, daßsie m it den Augen Läuse knacken könnte. Er sagte, Pablitohabe Angst vor ihr, denn sie sei so stark, daß sie ihm e<strong>in</strong>mal <strong>in</strong>e<strong>in</strong>em W utanfall e<strong>in</strong> Büschel Haare ausgerissen habe, als obes Hühnerfe<strong>der</strong>n wären.Pablito gab zu. daß se<strong>in</strong>e älteste Schwester wohl e<strong>in</strong> B iestgewesen sei, aber dann habe das »Nagual« ihr den Kopfzurechtgesetzt. Nachdem er mir die Geschichte erzählt hatte,wie sie wie<strong>der</strong> zur Vernunft gebracht worden war, erkannteich, daß Pablito und N estor niem als D on <strong>Juan</strong> beim N am ennannten, son<strong>der</strong>n ihn als das »Nagual« bezeichneten. Ansche<strong>in</strong>endh a tte D on <strong>Juan</strong> <strong>in</strong> Pablitos Leben e<strong>in</strong>gegriffen undalle se<strong>in</strong>e Schwestern dazu gebracht, e<strong>in</strong> harmonischeres Familienleben zu führen. Nachdem das »Nagual« sie sich vorgeknöpfthabe, sagte Pablito, seien sie wie H eilige geworden.Nestor wollte wissen, was ich mit me<strong>in</strong>en Aufzeichnungenv o r h ä tte . Ic h e r k lä r te den beiden m e<strong>in</strong>e Arbeit. Ich hatte dasseltsame Gefühl, daß sie sich wirklich für me<strong>in</strong>e Ausführungen<strong>in</strong>teressierten, und schließlich hielt ich ihnen e<strong>in</strong>en gelehrte nVortrag über Anthropologie und Philosophie. Ich kam mirkom isch vor u n d wollte aufhören, aber irgendwie war ich so <strong>in</strong>Fahrt gekommen, daß ich mich nicht kurz fassen konnte. Ichhatte den beunruhigenden E<strong>in</strong>druck, daß die beiden - wie aufVerabredung - mich zu dieser weitschweifigen Erklärungnötigten. Sie hielten die Augen starr auf mich gerichtet.Ansche<strong>in</strong>end wurde ihnen nicht langweilig dabei. Ich wargerade m itten im D ozieren, als ich wie von weitem240 241


242den »Ruf des Nachtfalters« hörte. M e<strong>in</strong> Körper erstarrte, undich beendete m e<strong>in</strong>en Satz nicht m ehr. »Das Nagual ist da«,sagte ich mechanisch. N estor und Pablito wechselten e<strong>in</strong>enBlick, aus dem mir die nackte Angst zu sprechen schien, undsprangen neben mich, so daß sie mich flankierten. Ihre M ün<strong>der</strong>standen offen. Sie sahen aus wie verängstigte K<strong>in</strong><strong>der</strong>.Dann hatte ich e<strong>in</strong>e unbegreifliche S<strong>in</strong>neswahrnehmung. M e<strong>in</strong>l<strong>in</strong>kes Ohr f<strong>in</strong>g an sich zu bewegen. Irgendwie wackelte esganz von selbst. Es drehte me<strong>in</strong>en Kopf buchstäblich umneunzig Grad, bis ich - wie mir schien - nach Osten schaute.M e<strong>in</strong> Kopf neigte sich leicht nach rechts. In dieser Haltungkonnte ich das volle, pochende Geräusch des »Nachtfalter-Rufs« deutlich hören. Es klang wie von weit her, aus nordöstlicherRichtung. Sobald ich e<strong>in</strong>mal die Richtung festgestellthatte, nahm me<strong>in</strong> Ohr e<strong>in</strong>e unglaubliche Fülle von Geräuschenauf. Ich konnte aber nicht erkennen, ob es Er<strong>in</strong>nerungen anGeräusche waren, die ich zuvor e<strong>in</strong>mal gehört hatte, o<strong>der</strong>tatsächlich G eräusche, die im Augenblick entstanden. D ieStelle, wo wir uns befanden, lag am zerklüfteten W esthange<strong>in</strong>er Gebirgskette. Nach Nordosten gab es W äl<strong>der</strong> und mitGebirgssträuchern bestandene Flecken. M e<strong>in</strong> Ohr f<strong>in</strong>g e<strong>in</strong>Geräusch auf, das aus dieser Richtung kam und sich anhörte,als ob e<strong>in</strong>e schwere M asse über das Geste<strong>in</strong> stapfte. Nestorund Pablito reagierten entwe<strong>der</strong> auf me<strong>in</strong> V erhalten, o<strong>der</strong> auchsie hörten dieselben Geräusche. Ich hätte sie gern gefragt, aberich wagte nicht zu sprechen; vielleicht gelang es mir auch nurnicht, me<strong>in</strong> konzentriertes Lauschen zu unterbrechen.Als das Geräusch lauter wurde und näherkam, schmiegtenN estor und Pablito sich von beiden Seiten an m ich. N estorschien am stärksten bee<strong>in</strong>druckt; se<strong>in</strong> Körper zitterte unkontrolliert.Irgendwann f<strong>in</strong>g m e<strong>in</strong> l<strong>in</strong>ker Arm an zu zappeln. Erhob sich ohne me<strong>in</strong> Zutun, bis er fast auf gleicher Höhe mitme<strong>in</strong>em Gesicht war, und zeigte auf e<strong>in</strong>e mit Sträuchernbestandene Stelle. Ich hörte e<strong>in</strong> vibrierendes Klirren o<strong>der</strong>Dröhnen. Es war e<strong>in</strong> mir vertrautes Geräusch; vor Jahren hatteich es e<strong>in</strong>mal unter dem E<strong>in</strong>fluß e<strong>in</strong>er psychotropen Pflanzevernommen. Nun entdeckte ich zwischen den Sträueherne<strong>in</strong>e riesige schwarze Gestalt. Es war, als ob die Sträucherselbst allmählich immer dunkler würden, bis sie e<strong>in</strong>edrohende Schwärze annahmen. Die Gestalt hatte ke<strong>in</strong>e klarenUmrisse, aber sie bewegte sich. Sie schien zu atmen. Ich hörtee<strong>in</strong>en durch M ark und Be<strong>in</strong> gehenden Schrei - die vere<strong>in</strong>tenAngstschreie von Pablito und N estor; und dann flogen dieSträucher - o<strong>der</strong> die schwarze G estalt, <strong>in</strong> die sie sich verwandelthatten - auf uns zu.Ich konnte me<strong>in</strong>e Fassung nicht mehr bewahren. Irgendwiebrach etwas <strong>in</strong> mir zusammen. Die Gestalt schwebte erst überuns, und dann verschlang sie uns. Das Licht um uns herverdüsterte sich. Es war, als sei die Sonne untergegangen.O<strong>der</strong> als ob plötzlich die Dämmerung here<strong>in</strong>gebrochen wäre.Ich spürte die K öpfe von N estor und Pablito unter m e<strong>in</strong>enAchseln; <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em unbewußten Schutzreflex breitete ich dieArme über sie — und dann stürzte ich schl<strong>in</strong>gernd nachh<strong>in</strong>ten.Offenbar schlug ich aber nicht auf dem Felsboden auf, dennim nächsten Augenblick fand ich mich aufrechtstehend wie<strong>der</strong>,flankiert von Pablito und N estor. D ie beiden, obwohl größerals ich, schienen geschrumpft zu se<strong>in</strong>; <strong>in</strong>dem sie die Be<strong>in</strong>eund den Rücken krümmten, waren sie tatsächlich kle<strong>in</strong>er als ichund paßten unter me<strong>in</strong>e Arme. Vor uns standen <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> und<strong>Don</strong> Genaro. <strong>Don</strong> Genaros Augen glitzerten wieKatzenaugen <strong>in</strong> <strong>der</strong> Nacht. <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong>s Augen zeigtendenselben Glanz. So hatte ich <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> noch nie gesehen. Erwar w irklich furchterregend. Noch mehr als <strong>Don</strong> Genaro! Ererschien jünger und stärker als sonst. W ie ich die beidenanschaute, hatte ich das entsetzliche Gefühl, daß sie nichtM enschen wie ich waren.Pablito und N estor wim m erten leise vor sich h<strong>in</strong>. D ann sagte<strong>Don</strong> Genaro, wir gäben e<strong>in</strong> B ild <strong>der</strong> Dreifaltigkeit ab. Ich sei<strong>der</strong> V ater, Pablito sei <strong>der</strong> Sohn und N estor <strong>der</strong> H eilige G eist.D on <strong>Juan</strong> und D on G enaro lachten dröhnend. Pablito undNestor lächelten verlegen.<strong>Don</strong> Genaro me<strong>in</strong>te, wir müßten uns vone<strong>in</strong>an<strong>der</strong> trennen,denn Umarmungen seien nur zwischen M ann und Frau o<strong>der</strong>zwischen dem Bauern und se<strong>in</strong>em Esel statthaft. Jetzt erkannteich, daß ich immer noch an <strong>der</strong> gleichen Stelle243


stand und daß ich nicht, wie ich geglaubt hatte, nach rückwärtsgestürzt war. Tatsächlich standen auch Nestor und Pablito an<strong>der</strong> gleichen Stelle wie vorh<strong>in</strong>.<strong>Don</strong> Genaro gab Pablito und Nestor mit dem Kopf e<strong>in</strong> Zeichen.<strong>Don</strong> Genaro bedeutete mir, ihnen zu folgen. Nestorübernahm die Führung und wies mir, dann auch Pablito, e<strong>in</strong>enPlatz an. Wir setzten uns <strong>in</strong> gera<strong>der</strong> L<strong>in</strong>ie, etwa fünfzig Metervon <strong>der</strong> Stelle entfernt, wo <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> und <strong>Don</strong> Genaro reglosam Fuß <strong>der</strong> Klippe standen. Wie ich sie so anstarrte, gerietenme<strong>in</strong>e Augen unwillkürlich außer Kontrolle. Ich wußte genau,daß ich schielte, denn ich sah vier Gestalten. Dann schob sichdas Bild <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong>s <strong>in</strong> me<strong>in</strong>em l<strong>in</strong>ken Auge über das Bild <strong>Don</strong>Genaros <strong>in</strong> me<strong>in</strong>em rechten Auge; das Ergebnis dieser Fusionwar, daß ich e<strong>in</strong> schillerndes Wesen zwischen <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> und<strong>Don</strong> Genaro stehen sah. Es war ke<strong>in</strong> Mensch, jedenfalls an<strong>der</strong>s,als ich normalerweise Menschen sehe. Eher war es e<strong>in</strong> weißerFeuerball; es war von e<strong>in</strong>er Art Lichtfasern umgeben. Ichschüttelte den Kopf; das Doppelbild löste sich auf, und dochblieb <strong>der</strong> Anblick von <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> und <strong>Don</strong> Genaro alsleuchtende Wesen bestehen. Ich sah zwei seltsame längliche,leuchtende Objekte. Sie sahen aus wie weiße schillerndeFußbälle mit langen Fasern - Fasern, die e<strong>in</strong> eigenes Lichtausstrahlten.Die beiden leuchtenden Wesen erbebten. Ich sah sogar, wieihre Fasern zitterten, und dann schwirrten sie davon. Siewurden von e<strong>in</strong>em langen Faden emporgezogen, e<strong>in</strong>em Sp<strong>in</strong>nweben,das von <strong>der</strong> Spitze <strong>der</strong> Klippe herabzuschießen schien.Me<strong>in</strong> E<strong>in</strong>druck war, daß e<strong>in</strong> langer Lichtblitz o<strong>der</strong> e<strong>in</strong> leuchten<strong>der</strong>Faden vom Felsen herabgeschossen war und sie aufgehobenhatte. Diesen Ablauf nahm ich nicht nur mit den Augen,son<strong>der</strong>n auch mit dem Körper wahr. Ich konnte mir sogar diegewaltigen Ungereimtheiten me<strong>in</strong>er Wahrnehmungklarmachen, vermochte aber ke<strong>in</strong>e Spekulation darüberanzustellen, wie ich es normalerweise getan hätte. So wußteich, daß ich geradezu zum Fuß <strong>der</strong> Klippe h<strong>in</strong>über schaute, unddoch sah ich <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> und <strong>Don</strong> Genaro oben auf dem Gipfel,ganz so, als hätte ich den Blick um fünfundvierzig Gradgehoben. Ich wollte schon me<strong>in</strong>er Angst nachgeben, vielleichtme<strong>in</strong> Gesicht <strong>in</strong> den Händen vergraben244und we<strong>in</strong>en o<strong>der</strong> irgend etwas an<strong>der</strong>es tun, was me<strong>in</strong>en normalenReaktionen entsprochen hätte. Aber ich war wie blokkiert.Me<strong>in</strong> Wollen spielte sich nicht <strong>in</strong> <strong>der</strong> Form von »Denken«ab, so wie ich zu denken gewohnt war, daher konnte esauch ke<strong>in</strong>e emotionalen Reaktionen auslösen, wie sie zu habenich gewohnt war.<strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> und <strong>Don</strong> Genaro stürzten herab. Daß sie das taten,schloß ich aus dem unangenehmen Fallgefühl, das ich <strong>in</strong> <strong>der</strong>Magengrube verspürte.<strong>Don</strong> Genaro blieb an <strong>der</strong> Stelle, wo er gelandet war, aber <strong>Don</strong><strong>Juan</strong> kam zu uns und setzte sich h<strong>in</strong>ter mich, zu me<strong>in</strong>erRechten. Nestor kauerte am Boden, die Be<strong>in</strong>e gegen den Leibangezogen; se<strong>in</strong> K<strong>in</strong>n ruhte auf se<strong>in</strong>en Handflächen, und dieUnterarme hatte er auf die Schenkel gestützt. Pablito saß mitleicht vorgebeugtem Rumpf da und drückte die Hände gegense<strong>in</strong>en Bauch. Erst jetzt bemerkte ich, daß ich die Unterarmeüber dem Nabel gekreuzt hatte und me<strong>in</strong>e F<strong>in</strong>ge sich seitlich <strong>in</strong>die Haut krallten. Me<strong>in</strong> Griff war so fest, daß mir die Seitenschmerzten.<strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> sprach <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em abgehackten Murmeln, wobei er sichan uns alle wandte.»Ihr müßt euren Blick auf das Nagual fixieren«, sagte er. »AlleGedanken und Wörter müssen weggefegt se<strong>in</strong>.« Dieswie<strong>der</strong>holte er fünf- o<strong>der</strong> sechsmal. Se<strong>in</strong>e Stimme war mirfremd und unbekannt; sie mutete mich buchstäblich wie dieSchuppen e<strong>in</strong>er Schlangenhaut an. Dieser Vergleich war ehere<strong>in</strong> Gefühl, ke<strong>in</strong> bewußter Gedanke. Jedes se<strong>in</strong>er Worteblätterte ab wie Schuppen. Sie hatten e<strong>in</strong>en so unheimlichenRhythmus; sie waren gedämpft, abgehackt, wie leises Husten,e<strong>in</strong> Befehl <strong>in</strong> Form e<strong>in</strong>es rhythmischen Murmelns. <strong>Don</strong> Genarostand reglos. Wie ich ihn anstarrte, konnte ich me<strong>in</strong>e Augennicht parallel halten und f<strong>in</strong>g unwillkürlich an zu schielen. Indiesem Zustand bemerkte ich abermals e<strong>in</strong> seltsames Leuchtenan <strong>Don</strong> Genaros Körper. Me<strong>in</strong>e Augen schlossen sichallmählich o<strong>der</strong> f<strong>in</strong>gen an zu tränen. <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> kam mir zuHilfe. Ich hörte, wie er mir befahl, nicht die Augen zu schließen.Ich spürte e<strong>in</strong>en leichten Schlag auf den Kopf. Ansche<strong>in</strong>endhatte er e<strong>in</strong> Ste<strong>in</strong>chen nach mir geworfen. Ich sah dasSte<strong>in</strong>chen neben mir über die Felsen spr<strong>in</strong>gen. Er245


mußte wohl auch Nestor und Pablito getroffen haben; ich hörtedas leise Geräusch von weiteren Ste<strong>in</strong>chen, die über die Felsenkollerten.<strong>Don</strong> Genaro nahm e<strong>in</strong>e merkwürdige Tanzhaltung e<strong>in</strong>. Se<strong>in</strong>eKnie waren gebeugt, die Arme seitlich ausgestreckt, die F<strong>in</strong>gergespreizt. Er schien im Begriff, herumzuwirbeln. Tatsächlichmachte er e<strong>in</strong>e halbe Drehung, und dann zog es ihn nach oben.Ich hatte die deutliche Wahrnehmung, daß er wie vom Seile<strong>in</strong>es riesigen Krans emporgezogen wurde, das se<strong>in</strong>en Körperdirekt zur Spitze <strong>der</strong> Klippe zog. Diese me<strong>in</strong>e Wahrnehmungse<strong>in</strong>er Aufwärtsbewegung war e<strong>in</strong>e ganz komische Mischungaus visuellen und körperlichen E<strong>in</strong>drücken. Halb sah und halbfühlte ich se<strong>in</strong>en Flug zur Klippe h<strong>in</strong>auf. Da war etwas, es saho<strong>der</strong> fühlte sich an wie e<strong>in</strong> Seil o<strong>der</strong> e<strong>in</strong> kaum erkennbarerLichtfaden, <strong>der</strong> ihn emporzog. Ich sah se<strong>in</strong> Hochfliegen nicht<strong>in</strong> dem S<strong>in</strong>ne, wie ich den Flug e<strong>in</strong>es Vogels mit den Augenverfolgt hätte. Se<strong>in</strong>e Bewegung hatte ke<strong>in</strong>en l<strong>in</strong>earen Ablauf.Ich brauchte nicht den Kopf zu heben, um ihn im Auge zubehalten. Ich sah, wie das Seil ihn zog, dann spürte ich se<strong>in</strong>eBewegung <strong>in</strong> me<strong>in</strong>em Körper o<strong>der</strong> mit me<strong>in</strong>em Körper, und imnächsten Augenblick stand er oben auf <strong>der</strong> Klippe, -zig Meterüber mir. Nach e<strong>in</strong> paar M<strong>in</strong>uten schwebte er herab. Ich spürtese<strong>in</strong>en Sturz und stöhnte unwillkürlich.Dies wie<strong>der</strong>holte <strong>Don</strong> Genaro noch dreimal. Jedesmal warme<strong>in</strong>e Wahrnehmung deutlicher. Bei se<strong>in</strong>em letzten Sprungnach oben konnte ich tatsächlich etliche Fäden erkennen, dievon se<strong>in</strong>er Körpermitte ausg<strong>in</strong>gen, und aufgrund <strong>der</strong> Richtung,<strong>in</strong> die diese Fäden sich bewegten, konnte ich vorausahnen,wann er nach oben o<strong>der</strong> nach unten spr<strong>in</strong>gen würde. Wenn ersich anschickte h<strong>in</strong>aufzuspr<strong>in</strong>gen, bogen die Fäden sich nachoben; das Gegenteil geschah, wenn er h<strong>in</strong>abspr<strong>in</strong>gen wollte; dieFäden zeigten im Bogen nach unten. Nach se<strong>in</strong>em viertenSprung kam <strong>Don</strong> Genaro zu uns und setzte sich h<strong>in</strong>ter Pablitound Nestor. Dann trat <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> vor und stellte sich dorth<strong>in</strong>, wo<strong>Don</strong> Genaro gestanden hatte. Dort stand er e<strong>in</strong>e Weilebewegungslos. <strong>Don</strong> Genaro gab Pablito und Nestor e<strong>in</strong> paarkurze Anweisungen. Ich verstand nicht, was er sagte. Ichspähte schnell zu ihnen h<strong>in</strong>über undsah, daß beide e<strong>in</strong>en Ste<strong>in</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> Hand hielten, den sie sichgegen den Nabel preßten. Ich überlegte, ob auch ich dies tunsollte, aber da sagte er mir, daß diese Vorsichtsmaßnahme zwarnicht für mich gelte, daß ich aber trotzdem e<strong>in</strong>en Ste<strong>in</strong> <strong>in</strong>Reichweite halten solle f ü r den Fall, daß mir übel würde. <strong>Don</strong>Genaro hob den Kopf, um mir zu sagen, ich solle <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong>anschauen, und dann sagte er etwas Unverständliches; erwie<strong>der</strong>holte es, und obgleich ich se<strong>in</strong>e Worte nicht verstand,wußte ich, daß es mehr o<strong>der</strong> m<strong>in</strong><strong>der</strong> die gleiche Formel war.die <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> vorh<strong>in</strong> gesagt hatte. Mit den Wörtern hatte dieseigentlich nichts zu tun; vielmehr schloß ich es aus demRhythmus, dem abgehackten Tonfall, dem Be<strong>in</strong>ahe-Husten. Inwelcher Sprache <strong>Don</strong> Genaro auch reden mochte, ich warüberzeugt, daß sie besser als das Spanische zu dem Stakkatodieses eigenartigen Rhythmus paßte.<strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> tat anfangs genau dasselbe, was <strong>Don</strong> Genaro vorh<strong>in</strong>getan hatte, aber dann, statt h<strong>in</strong>aufzuspr<strong>in</strong>gen, wirbelte erherum wie e<strong>in</strong> Turner am Reck. Halb bewußt erwartete ich, erwürde wie<strong>der</strong> auf den Füßen landen. Das tat er aber nicht. Se<strong>in</strong>Körper wirbelte immer weiter, e<strong>in</strong> paar Meter über demBoden. Zuerst kreiselte er ganz schnell, dann immer langsamer.Soviel ich sehen konnte, h<strong>in</strong>g <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong>s Körper, genauwie vorh<strong>in</strong> <strong>Don</strong> Genaro, an irgendwelchen Lichtfäden. Jetztkreiselte er ganz langsam, als wollte er uns Gelegenheit geben,ihn ganz deutlich zu sehen. Dann schwebte er nach oben; erstieg immer höher, bis er den Grat <strong>der</strong> Klippe erreicht hatte.<strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> schwebte tatsächlich, als ob er ke<strong>in</strong> Gewicht hätte.Se<strong>in</strong>e Drehungen waren sehr langsam und er<strong>in</strong>nerten an dieBil<strong>der</strong> von Astronauten, die sich im Weltraum schwerelos umihre eigene Achse drehen.Vom H<strong>in</strong>schauen schw<strong>in</strong>delte mir. Es war ganz so, als habeme<strong>in</strong>e e<strong>in</strong>setzende Übelkeit ihn angespornt, und er wirbeltejetzt immer schneller. Er entfernte sich von <strong>der</strong> Klippe, undals er nun immer schneller wurde, wurde mir vollends übel.Ich packte den Ste<strong>in</strong> und drückte ihn mir gegen den Bauch. Ichpreßte, so fest ich konnte. Die Berührung half mir e<strong>in</strong> wenig.<strong>Der</strong> Griff nach dem Ste<strong>in</strong> und das Anpressen hatten mir e<strong>in</strong>ekurze Unterbrechung verschafft. Obwohl ich die Augen nichtvon <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> abgewandt hatte, war me<strong>in</strong>e246 247


Konzentration doch zusammengebrochen. Bevor ich nach demSte<strong>in</strong> griff, hatte ich den E<strong>in</strong>druck gehabt, daß das Tempo, mitdem se<strong>in</strong> schweben<strong>der</strong> Körper sich <strong>in</strong>zwischen drehte, se<strong>in</strong>eGestalt verwischte; er sah aus wie e<strong>in</strong> rotieren<strong>der</strong> Diskus unddann wie e<strong>in</strong> wirbelndes Licht. Nachdem ich den Ste<strong>in</strong> gegenme<strong>in</strong>en Leib gepreßt hatte, nahm se<strong>in</strong>e Geschw<strong>in</strong>digkeit ab; ersah aus wie e<strong>in</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> Luft schweben<strong>der</strong> Hut, wie e<strong>in</strong> auf- undabtrudeln<strong>der</strong> Papierdrachen. Die Drachenbewegungen warennoch pe<strong>in</strong>igen<strong>der</strong>. Mir wurde unsäglich übel. Ich hörte dasKlatschen von Vogelschw<strong>in</strong>gen und nach e<strong>in</strong>er Weile <strong>der</strong>Ungewißheit wußte ich, daß <strong>der</strong> Vorgang zu Ende war.Mir war so schlecht, und ich war so erschöpft, daß ich michzum Schlafen h<strong>in</strong>legte. Wahrsche<strong>in</strong>lich war ich e<strong>in</strong>e Weilee<strong>in</strong>genickt. Ich öffnete die Augen, als jemand me<strong>in</strong>en Armschüttelte. Es war Pablito. Er sprach mit gehetzter Stimmeund sagte, ich dürfe nicht e<strong>in</strong>schlafen, denn wenn ich es täte,würden wir alle sterben. Er bestand darauf, wir müßten sofortvon hier weg. selbst wenn wir uns auf allen vieren fortschleppenmüßten. Auch er schien körperlich erschöpft zu se<strong>in</strong>. Eigentlichhatte ich geglaubt, daß wir hier die Nacht verbr<strong>in</strong>gen würden.Die Aussicht, <strong>in</strong> <strong>der</strong> Dunkelheit bis zum Auto zu laufen,schreckte mich sehr. Ich versuchte Pablito umzustimmen, doch<strong>der</strong> benahm sich immer panischer. Nestor war es so übel, daßihm alles gleich war. Pablito setzte sich <strong>in</strong> völligerVerzweiflung auf den Boden. Ich strengte mich an, me<strong>in</strong>eGedanken zu ordnen. Inzwischen war es ziemlich dunkel,obwohl es noch hell genug war, um die Felsen um uns her zuerkennen. Die Stille war köstlich und wohltuend. Ich genoßden Augenblick sehr, aber plötzlich fuhr me<strong>in</strong> Körper hoch; ichhörte <strong>in</strong> <strong>der</strong> Ferne das Geräusch von knackenden Zweigen.Automatisch fuhr ich zu Pablito herum. Er schien zu wissen,was mit mir los war. Wir packten Nestor unter den Achselnund zerrten ihn buchstäblich hoch. Wir rannten und schlepptenihn mit. Er war ansche<strong>in</strong>end <strong>der</strong> e<strong>in</strong>zige, <strong>der</strong> den Weg wußte.Von Zeit zu Zeit gab er uns knappe Anweisungen.Ich kümmerte mich nicht viel darum, was wir taten. Me<strong>in</strong>eganze Aufmerksamkeit galt me<strong>in</strong>em l<strong>in</strong>ken Ohr, das e<strong>in</strong> von248me<strong>in</strong>em übrigen Körper unabhängiges Leben zu führen schien.Irgende<strong>in</strong> Gefühl <strong>in</strong> me<strong>in</strong>em Innern zwang mich, immer wie<strong>der</strong>stehenzubleiben und mit me<strong>in</strong>em Ohr die Umgebungabzusuchen. Ich wußte, daß irgend etwas uns folgte. Es ware<strong>in</strong>e schwere Masse; im Voranschreiten zermalmte eskle<strong>in</strong>ere Ste<strong>in</strong>e.Nestor gewann halbwegs die Fassung wie<strong>der</strong> und konnte alle<strong>in</strong>gehen, wobei er sich h<strong>in</strong> und wie<strong>der</strong> an Pablitos Arm festhielt.Wir erreichten e<strong>in</strong> kle<strong>in</strong>es Gehölz. Plötzlich hörte ich e<strong>in</strong>extrem lautes Krachen. Es klang wie das Schnalzen e<strong>in</strong>ergigantischen Peitsche, die auf die Wipfel <strong>der</strong> Bäume nie<strong>der</strong>sauste.Ich spürte so etwas wie die Wellen e<strong>in</strong>es Bebens überuns.Pablito und Nestor schrien und stolperten <strong>in</strong> höchster Eiledavon. Ich wollte sie aufhalten. Ich war nicht sicher, ob ich <strong>in</strong><strong>der</strong> Dunkelheit würde laufen können. Aber <strong>in</strong> diesem Momenthörte und spürte ich mehrere schwere Atemzüge gleich h<strong>in</strong>termir. Me<strong>in</strong>e Angst war grenzenlos. Alle drei rannten wir, biswir das Auto erreichten. Nestor führte uns e<strong>in</strong>en mirunbekannten Weg. Ich glaubte, ich sollte sie bei sich zu <strong>Haus</strong>eabsetzen und mir dann <strong>in</strong> <strong>der</strong> Stadt e<strong>in</strong> Hotel suchen. Umke<strong>in</strong>en Preis <strong>der</strong> Welt wollte ich zu <strong>Don</strong> Genaros <strong>Haus</strong> fahren.Aber we<strong>der</strong> Nestor noch Pablito und ich trauten uns aus demAuto. Schließlich kamen wir zu Pablitos <strong>Haus</strong>. Er schickteNestor nach Bier und Cola, während se<strong>in</strong>e Mutter und se<strong>in</strong>eSchwestern uns etwas zu essen machten. Nestor fragte imScherz, ob Pablito ihm nicht se<strong>in</strong>e älteste Schwester als Schutzmitgeben wolle, falls er von Hunden o<strong>der</strong> Trunkenboldenangefallen würde. Pablito lachte und erzählte mir, daß Nestorihm als Schützl<strong>in</strong>g anvertraut sei.»Wer hat ihn dir anvertraut?« fragte ich. »Die <strong>Kraft</strong>natürlich!« antwortete er. »E<strong>in</strong>stmals war Nestor älter als ich,aber dann machte Genaro irgend etwas mit ihm, und jetzt ist erviel jünger. Das hast du doch gesehen, nicht wahr?«»Was hat Genaro mit ihm gemacht?« fragte ich. »Weißt du, erhat wie<strong>der</strong> e<strong>in</strong> K<strong>in</strong>d aus ihm gemacht. Er nahm249


sich zu wichtig und war zu verkrampft. Er wäre gestorben,falls er nicht jünger gemacht worden wäre.« Pablito hatteetwas sehr Offenes und Gew<strong>in</strong>nendes an sich. Die E<strong>in</strong>fachheitse<strong>in</strong>er Erklärung bee<strong>in</strong>druckte mich. Nestor war wirklichjünger. Er sah nicht nur jünger aus, son<strong>der</strong>n er gab sich auchwie e<strong>in</strong> unschuldiges K<strong>in</strong>d. Ich wußte zweifelsfrei, daß er sichwirklich so fühlte.»Ich paß auf ihn auf«, fuhr Pablito fort. »Genaro sagt, es iste<strong>in</strong>e Ehre, auf e<strong>in</strong>en Krieger aufzupassen. Nestor ist e<strong>in</strong> guterKrieger.«Se<strong>in</strong>e Augen leuchteten wie die von <strong>Don</strong> Genaro. Er schlugmir kräftig auf den Rücken und lachte. »Wünsch ihm Glück,Carlitos!« sagte er. »Wünsch ihm Glück!«Ich war sehr müde. E<strong>in</strong>e merkwürdige, glückliche Traurigkeitüberflutete mich. Ich sagte ihm, ich käme aus e<strong>in</strong>er Stadt, wodie Leute e<strong>in</strong>an<strong>der</strong> selten e<strong>in</strong>mal Glück wünschen. »Ich weiß«,sagte er. »Mir g<strong>in</strong>g es genauso. Aber jetzt b<strong>in</strong> ich e<strong>in</strong> Krieger,und ich kann's mir leisten, ihm Glück zu wünschen.«Die Strategie e<strong>in</strong>es Zauberers<strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> war <strong>in</strong> <strong>Don</strong> Genaros <strong>Haus</strong>, als ich dort spät amV orm ittag e<strong>in</strong>traf. Ich begrüßte ihn.»Heh, was war mit dir passiert? Genaro und ich haben denganzen Abend auf dich gewartet«, sagte er. Ich wußte, daß erSpaß machte. Ich war unbeschwert und glücklich. Ich hattemich systematisch geweigert, über all das nachzugrübeln, wasich am V ortag erlebt hatte. Jetzt aber war m e<strong>in</strong>e N eugierunbezähmbar, und ich bestürmte ihn mit Fragen.»Ach, das war e<strong>in</strong>e e<strong>in</strong>fache Demonstration all <strong>der</strong> D<strong>in</strong>ge, die duwissen solltest, bevor du die Erklärung <strong>der</strong> Zauberervernimmst«, sagte er. »W ie du dich gestern verhalten hast, dashat Genaro überzeugt, daß du genug persönliche <strong>Kraft</strong> gespeicherthast, um zur Hauptsache zu kommen. Ansche<strong>in</strong>end hastdu se<strong>in</strong>e Empfehlungen befolgt. Gestern hast du die Flügelde<strong>in</strong>er W ahrnehmung noch nicht ausgebreitet. Du warst steif,aber du hast doch das ganze Kommen und Gehen des Nagualwahrgenommen. M it an<strong>der</strong>en W orten, du hast gesehen. Nochetwas hast du bewiesen, was im Augenblick noch wichtiger istals das Sehen, und das war die Tatsache, daß du jetzt de<strong>in</strong>eunerschütterliche Aufmerksamkeit auf das Nagual richtenkannst. Und dies ist es, was über den Ausgang <strong>der</strong> letztenFrage, <strong>der</strong> Erklärung <strong>der</strong> Zauberer, entscheiden wird. Pablitound du, ih r werdet sie gleichzeitig erhalten. V on e<strong>in</strong>em so gutenK rieger begleitet zu werden, das ist e <strong>in</strong> G eschenk <strong>der</strong> <strong>Kraft</strong>.«M ehr wollte er ansche<strong>in</strong>end vorläufig nicht sagen. N ach e <strong>in</strong> igerZeit fragte ich ihn nach D on G enaro. »Er ist da«, sagte er. »Erist <strong>in</strong>s Gebüsch gegangen, um die Berge erbeben zu lassen.«In diesem M oment hörte ich <strong>in</strong> <strong>der</strong> Ferne e<strong>in</strong> Rumpeln, wiegedämpften <strong>Don</strong>ner. <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> sah mich an und lachte.Er hieß mich Platz nehmen und fragte, ob ich gegessen hätte.D as hatte ich, also drückte er m ir m e<strong>in</strong> N otizbuch <strong>in</strong> die H and251


und führte mich zu Genaros Liebl<strong>in</strong>gsplatz, e<strong>in</strong>em großen Ste<strong>in</strong>an <strong>der</strong> Westseite des <strong>Haus</strong>es, von wo aus man e<strong>in</strong>e tiefeSchlucht überblicken konnte.»Jetzt aber brauche ich de<strong>in</strong>e ganze Aufmerksamkeit«, sagte<strong>Don</strong> <strong>Juan</strong>. »Aufmerksamkeit <strong>in</strong> dem S<strong>in</strong>n, wie die KriegerAufmerksamkeit verstehen: e<strong>in</strong>e echte <strong>in</strong>nere Pause, um dieErklärung <strong>der</strong> Zauberer voll <strong>in</strong> dich e<strong>in</strong>dr<strong>in</strong>gen zu lassen. Wirs<strong>in</strong>d jetzt am Ende de<strong>in</strong>er Aufgabe angelangt. Du hast allenotwendigen Instruktionen erhalten, und jetzt mußt du <strong>in</strong>nehalten,zurückblicken und de<strong>in</strong>e Schritte überdenken. DieZauberer sagen, dies ist das e<strong>in</strong>zige Mittel, um die eigenenSiege zu festigen. Es wäre mir entschieden lieber gewesen, dirall dies an de<strong>in</strong>em eigenen Platz <strong>der</strong> <strong>Kraft</strong> zu sagen, aberGenaro ist de<strong>in</strong> Wohltäter, und se<strong>in</strong> Platz kann <strong>in</strong> diesem Fallnoch wohltätiger für dich se<strong>in</strong>.«Was er me<strong>in</strong>en »Platz <strong>der</strong> <strong>Kraft</strong>« nannte, war e<strong>in</strong> Berggipfel <strong>in</strong><strong>der</strong> Wüste Nordmexikos, den er mir vor Jahren e<strong>in</strong>mal gezeigtund mir »geschenkt« hatte.»Soll ich dir nur zuhören, ohne mitzuschreiben?« fragte ich.»Das ist wirklich e<strong>in</strong>e knifflige Frage«, sagte er. »E<strong>in</strong>erseitsbrauche ich de<strong>in</strong>e ganze Aufmerksamkeit, und an<strong>der</strong>erseitsmußt du ruhig und selbstsicher se<strong>in</strong>. Schreiben ist für dich dase<strong>in</strong>zige Mittel, um unbefangen zu bleiben, daher mußt dudiesmal all de<strong>in</strong>e persönliche <strong>Kraft</strong> aufbr<strong>in</strong>gen und dieseunmögliche Aufgabe vollbr<strong>in</strong>gen, du selbst zu se<strong>in</strong>, ohne duselbst zu se<strong>in</strong>.«Lachend schlug er sich auf die Schenkel. »Ich sagte dir jaschon, daß ich für de<strong>in</strong> Tonal verantwortlich b<strong>in</strong> und daßGenaro für de<strong>in</strong> Nagual verantwortlich ist«, fuhr er fort. »Eswar me<strong>in</strong>e Pflicht, dir bei allem zu helfen, was de<strong>in</strong> Tonalbetrifft, und alles was ich mit dir getan o<strong>der</strong> dir angetan habe,geschah, um diese e<strong>in</strong>e Aufgabe zu erfüllen, die Aufgabe, de<strong>in</strong>eInsel des Tonal leerzufegen und neu zu ordnen. Das war me<strong>in</strong>Job als de<strong>in</strong> Lehrer. Genaros Aufgabe als de<strong>in</strong> Wohltäter ist es,dir unleugbare Demonstrationen des Nagual zu erteilen und dirzu zeigen, wie man zu ihm gelangt.« »Was me<strong>in</strong>st du mitLeerfegen und Neuordnen des Tonal?« fragte ich. »Ich me<strong>in</strong>edie totale Verän<strong>der</strong>ung, von <strong>der</strong> ich dir erzähle,252seit dem ersten Tag, als wir uns begegneten«, sagte er. »UnzähligeMale habe ich dir gesagt, daß e<strong>in</strong>e ganz grundlegendeÄn<strong>der</strong>ung notwendig ist, wenn du den Weg des Wissensbestehen willst. Diese Verän<strong>der</strong>ung ist ke<strong>in</strong>e Än<strong>der</strong>ung <strong>der</strong>Stimmung, <strong>der</strong> E<strong>in</strong>stellung o<strong>der</strong> des Äußeren. Diese Än<strong>der</strong>ungerfor<strong>der</strong>t die Transformation <strong>der</strong> Insel des Tonal. DieseAufgabe hast du erfüllt.«»Glaubst du, ich habe mich geän<strong>der</strong>t?« fragte ich. Erzögerte, dann lachte er auf.»Du bist so verrückt wie eh und je«, sagte er. »Und doch bistdu nicht mehr <strong>der</strong>selbe. Siehst du, was ich me<strong>in</strong>e?« Er machtesich über me<strong>in</strong> Mitschreiben lustig und me<strong>in</strong>te, wie schade essei, daß <strong>Don</strong> Genaro nicht da sei, <strong>der</strong> über die Absurdität, daßich mich anschickte, die Erklärung <strong>der</strong> Zauberernie<strong>der</strong>zuschreiben, viel zu lachen haben würde. »Jetzt, andiesem Punkt, sagt <strong>der</strong> Lehrer normalerweise zu se<strong>in</strong>emSchüler, daß sie e<strong>in</strong>en letzten Scheideweg erreicht haben«, fuhrer fort. »<strong>Der</strong>lei ist aber irreführend. Me<strong>in</strong>er Me<strong>in</strong>ung nach gibtes ke<strong>in</strong>en letzten Scheideweg, überhaupt ke<strong>in</strong>en letzten Schritt,woh<strong>in</strong> auch immer. Und da es ke<strong>in</strong>en solchen letzten Schrittgibt, sollte es eigentlich auch ke<strong>in</strong> Geheimnis um irgende<strong>in</strong>enTeil unseres Geschicks als leuchtende Wesen geben. Diepersönliche <strong>Kraft</strong> entscheidet, wer von e<strong>in</strong>er Offenbarungprofitieren kann und wer nicht. Me<strong>in</strong>e Erfahrungen mit me<strong>in</strong>enMitmenschen haben mir gezeigt, daß nur sehr, sehr wenigebereit s<strong>in</strong>d zuzuhören, und von denen, die zuhören, s<strong>in</strong>d nochweniger bereit, <strong>in</strong> ihrem Handeln zu befolgen, was sie gehörthaben. Und von denjenigen, die bereit s<strong>in</strong>d, entsprechend zuhandeln, haben noch weniger genügend persönliche <strong>Kraft</strong>, umvon ihren Handlungen zu profitieren. Das Geheimnis um dieErklärung <strong>der</strong> Zauberer reduziert sich mith<strong>in</strong> auf e<strong>in</strong>e Rout<strong>in</strong>e -e<strong>in</strong>e Rout<strong>in</strong>e, die vielleicht ebenso hohl und leer ist wie allean<strong>der</strong>en auch. Jedenfalls weißt du jetzt um das Tonal und dasNagual, sie s<strong>in</strong>d <strong>der</strong> Kern <strong>der</strong> Erklärung <strong>der</strong> Zauberer. Dieseszu wissen, ersche<strong>in</strong>t ganz harmlos. Wir sitzen hier, sprechenganz harmlos darüber, als sei es nur e<strong>in</strong> alltäglichesGesprächsthema. Du schreibst ruhig vor dich h<strong>in</strong>, wie du esJahre getan hast. Die Szene um uns her ist e<strong>in</strong> Bild desFriedens. Es ist Nachmittag,253


e<strong>in</strong> herrlicher Tag, die Berge um uns her sche<strong>in</strong>en e<strong>in</strong>enschützenden Kokon zu bilden. Man braucht nicht e<strong>in</strong> Zaubererzu se<strong>in</strong>, um zu erkennen, daß dieser Platz, <strong>der</strong> von Genaros<strong>Kraft</strong> und Makellosigkeit kündet, <strong>der</strong> angemessene H<strong>in</strong>tergrundist, um die Pforte zu öffnen, denn das ist's, was ich heutetun werde: dir die Pforte öffnen. Aber bevor wir den nächstenSchritt tun, ist e<strong>in</strong>e faire Warnung angebracht. <strong>Der</strong> Lehrer istgehalten, se<strong>in</strong>en Schüler <strong>in</strong> allem Ernst zu warnen, daß dieHarmlosigkeit und <strong>der</strong> Friede dieses Augenblicks Täuschungs<strong>in</strong>d, daß sich vor ihm e<strong>in</strong> bodenloser Abgrund auftut und daß,sobald die Pforte sich öffnet, ke<strong>in</strong>e Möglichkeit mehr besteht,sie zu schließen.« Er machte e<strong>in</strong>e Pause.Ich fühlte mich unbeschwert und glücklich. Von hier, von <strong>Don</strong>Genaros Platz <strong>der</strong> <strong>in</strong>neren Wahl aus, hatte ich e<strong>in</strong>e atemberaubendeAussicht. <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> hatte recht; <strong>der</strong> ganze Tag unddie Szenerie waren mehr als schön. Ich wollte se<strong>in</strong>e Ermahnungenund Warnungen bedenken, aber irgendwie vereiteltedie Ruhe um mich her jeden Versuch <strong>in</strong> dieser Richtung, undich gab mich <strong>der</strong> Hoffnung h<strong>in</strong>, daß er vielleicht nur vonmetaphorischen Gefahren sprach. Plötzlich sprach <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong>weiter.»Die Jahre <strong>der</strong> harten Schulung s<strong>in</strong>d nur e<strong>in</strong>e Vorbereitung aufdie vernichtende Begegnung des Kriegers mit . . .« Wie<strong>der</strong>hielt er <strong>in</strong>ne, sah mich mit zusammengekniffenen Augen anund lachte leise.». . . mit dem, was da draußen liegt, jenseits dieses Punktes«,sagte er.Ich bat ihn, se<strong>in</strong>e dunklen Andeutungen zu erklären. »DieErklärung <strong>der</strong> Zauberer, die sich gar nicht wie e<strong>in</strong>e Erklärunganhört, ist tödlich«, sagte er. »Sie ersche<strong>in</strong>t harmlos und nett,aber sobald <strong>der</strong> Krieger sich ihr öffnet, führt sie e<strong>in</strong>en Schlaggegen ihn, den niemand parieren kann.« Er brach <strong>in</strong> lautesLachen aus.»Sei also auf das Schlimmste gefaßt, aber werde nicht unruhigo<strong>der</strong> panisch!« fuhr er fort. »Du hast ke<strong>in</strong>e Zeit, und doch bistdu von Ewigkeit umgeben. Welch e<strong>in</strong> Paradox für de<strong>in</strong>eVernunft.« <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> stand auf. Er wischte den Staub aus e<strong>in</strong>erglatten,schüsselartigen Mulde und setzte sich dort bequem mit demRücken gegen den Fels, das Gesicht nach Nordwesten gewandt.Er deutete auf e<strong>in</strong>e an<strong>der</strong>e Stelle, wo auch ich bequem sitzenkonnte. So saß ich l<strong>in</strong>ks neben ihm und schaute ebenfalls nachNordwesten. <strong>Der</strong> Fels war warm und vermittelte mir e<strong>in</strong> Gefühl<strong>der</strong> Gelassenheit, <strong>der</strong> Geborgenheit. Es war e<strong>in</strong> mil<strong>der</strong> Tag;e<strong>in</strong>e sanfte Brise l<strong>in</strong><strong>der</strong>te sehr angenehm die Hitze <strong>der</strong>Nachmittagssonne. Ich nahm den Hut ab. aber <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong>bestand darauf, ich solle ihn aufbehalten. »Du schaust jetzt <strong>in</strong>die Richtung de<strong>in</strong>es eigenen Orts <strong>der</strong> <strong>Kraft</strong>«, sagte er. »Das iste<strong>in</strong>e Stütze, die dich vielleicht schützen wird. Heute brauchstdu alle Stützen, die du mobilisieren kannst. De<strong>in</strong> Hut istvielleicht auch e<strong>in</strong>e.« »Warum warnst du mich denn, <strong>Don</strong><strong>Juan</strong>' 1 Was soll denn eigentlich passieren?« fragte ich.»Was hier und heute passieren wird, hängt davon ab, ob dugenug persönliche <strong>Kraft</strong> hast o<strong>der</strong> nicht, de<strong>in</strong>e unerschütterlicheAufmerksamkeit auf die Flügel de<strong>in</strong>er Wahrnehmung zukonzentrieren«, sagte er.Se<strong>in</strong>e Augen funkelten. Er schien erregter, als ich ihn je zuvorgesehen hatte. Ich fand, daß <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Stimme etwas Beson<strong>der</strong>eslag, vielleicht e<strong>in</strong>e ungewohnte Nervosität. Dieser Anlaß, sagteer. verlange von ihm. daß er hier, genau auf dem Platz <strong>der</strong><strong>in</strong>neren Wahl me<strong>in</strong>es Wohltäters, mir jeden Schrittrekapituliere, den er <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Bemühen getan habe, mir beimLeerfegen und Neuordnen me<strong>in</strong>er Insel des »Tonal« zu helfen.Diese Zusammenfassung war äußerst gründlich, und er brauchtedafür etwa fünf Stunden. In brillanter, klarer Form legte ermir bündig Rechenschaft über alles ab, was er mit mir seitdem Tag, als wir uns begegneten, getan hatte. Es war, als seie<strong>in</strong> Damm gebrochen. Se<strong>in</strong>e Enthüllungen überraschten michgänzlich unvorbereitet. Ich hatte mich an die Rolle desaggressiven Fragers gewöhnt; als daher <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> - <strong>der</strong> stets dieRolle des Zögernden gespielt hatte - mir e<strong>in</strong>e so akademischeDarstellung <strong>der</strong> wesentlichen Punkte se<strong>in</strong>er Lehren gab, da wardies ebenso erstaunlich für mich wie die Tatsache, daß er <strong>in</strong>Mexico City e<strong>in</strong>en Anzug getragen hatte. Se<strong>in</strong>eSprachbeherrschung, se<strong>in</strong>e dramatische Po<strong>in</strong>tierung, se<strong>in</strong>eWortwahl waren so außerordentlich gekonnt, daß ich254 255


mir dies rational nicht erklären konnte. Er sagte, daß <strong>der</strong> Lehreran diesem Punkt ausschließlich zum e<strong>in</strong>zelnen Krieger sprechenmüsse, daß die Art, wie er nun zu mir sprach, und die Klarheitse<strong>in</strong>er Erklärung Bestandteile se<strong>in</strong>es letzten Tricks seien unddaß ich erst ganz am Schluß alles verstehen werde, was er mirentwickelte. Er sprach ohne Unterbrechung, bis er se<strong>in</strong>ezusammenfassende Darstellung beendet hatte. Und ich schrieballes mit, ohne mich irgend bewußt anstrengen zu müssen.»Laß mich dir gleich zu Anfang sagen, daß e<strong>in</strong> Lehrer nieLehrl<strong>in</strong>ge sucht und daß niemand um Unterweisung bittenkann!« sagte er. »Es ist immer e<strong>in</strong> Omen, das e<strong>in</strong>en Lehrl<strong>in</strong>gbezeichnet. E<strong>in</strong> Krieger, <strong>der</strong> womöglich im Begriff steht, e<strong>in</strong>Lehrer zu werden, muß wachsam se<strong>in</strong>, um se<strong>in</strong> QuentchenChance zu fassen. Ich sah dich, bevor wir uns begegneten. Duhattest e<strong>in</strong> gutes Tonal, wie jenes Mädchen, das wir <strong>in</strong> MexicoCity trafen. Nachdem ich dich gesehen hatte, wartete ich, ganzähnlich, wie wir an jenem Abend <strong>in</strong> Mexico City auf dasMädchen gewartet haben. Das Mädchen g<strong>in</strong>g vorbei, ohne unsBeachtung zu schenken. Dich aber führte e<strong>in</strong> Mann zu mir, <strong>der</strong>davonlief, nachdem er dummes Zeug von sich gegeben hatte.Da standest du nun vor mir und redetest ebenfalls Blöds<strong>in</strong>n. Ichwußte, daß ich schnell handeln und dich e<strong>in</strong>fangen mußte. EtwasÄhnliches hättest du selbst tun müssen, falls das Mädchen mitdir gesprochen hätte. Also, ich packte dich mit me<strong>in</strong>emWillen.«<strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> spielte auf die ungewöhnliche Art und Weise an, wieer mich angeschaut hatte, als wir uns zum erstenmalbegegneten. Er hatte den Blick auf mich fixiert, und ich hattee<strong>in</strong> unerklärliches Gefühl <strong>der</strong> Leere o<strong>der</strong> Betäubung empfunden.Ich konnte ke<strong>in</strong>e logische Erklärung für me<strong>in</strong>e Reaktionf<strong>in</strong>den, und ich war stets überzeugt gewesen, daß ich ihn nachdieser ersten Begegnung nur deshalb wie<strong>der</strong> aufsuchte, weildieser Blick mich verfolgte.»Das war das beste Mittel, um dich e<strong>in</strong>zufangen«, sagte er.»Es war e<strong>in</strong> direkter Schlag gegen de<strong>in</strong> Tonal. Ich betäubte es,<strong>in</strong>dem ich me<strong>in</strong>en Willen darauf konzentrierte.« »Wie hast dudas gemacht?« fragte ich. »<strong>Der</strong> Blick des Kriegers richtet sichauf das rechte Auge desan<strong>der</strong>en«, sagte er. »Und zwar stoppt er dessen <strong>in</strong>neren Dialog.Dann übernimmt das Nagual die Führung. Daher dieGefährlichkeit dieses Manövers! Sobald das Nagual vorherrscht,und sei es nur für e<strong>in</strong>en Moment, erlebt <strong>der</strong> Körper e<strong>in</strong> ganzunbeschreibliches Gefühl. Ich weiß, daß du endlose Stundendamit zugebracht hast, herauszuf<strong>in</strong>den, was du empfunden hast,und daß du bis heute nicht dah<strong>in</strong>tergekommen bist. Immerh<strong>in</strong>,ich habe erreicht, was ich wollte. Ich habe dich e<strong>in</strong>gefangen.«Ich sagte ihm, ich könne mich immer noch gut daran er<strong>in</strong>nern,wie er mich angestarrt hatte.»<strong>Der</strong> Blick <strong>in</strong>s rechte Auge ist ke<strong>in</strong> Anstarren«, sagte er.»Eher ist es e<strong>in</strong> kräftiges Zupacken, das durch das Auge desan<strong>der</strong>en h<strong>in</strong>durch geschieht. Mit an<strong>der</strong>en Worten, man packtetwas, das h<strong>in</strong>ter dem Auge ist. Man hat wirklich die körperlicheEmpf<strong>in</strong>dung, daß man etwas mit dem Willen festhält.« Erkratzte sich am Kopf und schob sich den Hut <strong>in</strong>s Gesicht. »Dasist natürlich nur e<strong>in</strong>e bildliche Redeweise«, fuhr er fort. E<strong>in</strong>Hilfsmitte, diese komischen körperlichen Empf<strong>in</strong>dungen zuerklären.«Er befahl mir, nicht weiterzuschreiben und ihn anzusehen. Ersagte, er werde jetzt me<strong>in</strong> »Tonal« mit se<strong>in</strong>em »Willen« ganzleicht »anfassen«. Das Gefühl, das ich nun empfand, war e<strong>in</strong>eWie<strong>der</strong>holung dessen, was ich bei unserer ersten Begegnungund bei an<strong>der</strong>en Gelegenheiten gespürt hatte, wenn <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong>mir das Gefühl gegeben hatte, als berührte se<strong>in</strong> Blick michtatsächlich körperlich.»Aber wie machst du es, daß ich das Gefühl habe, als berührtestdu mich, <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong>? Was machst du wirklich?« fragte ich. »Esläßt sich nicht genau beschreiben, was man dabei tut«, sagte er.»Irgend etwas schießt von irgendwo unter dem Magen hervor.Dieses Etwas hat e<strong>in</strong>e Richtung und kann auf alles möglicheausgerichtet werden.«Wie<strong>der</strong> hatte ich irgendwie das Gefühl, als faßte mich e<strong>in</strong>eP<strong>in</strong>zette an e<strong>in</strong>er nicht näher auszumachenden Stelle. »Esfunktioniert nur, wenn <strong>der</strong> Krieger gelernt hat, se<strong>in</strong>en Willengezielt e<strong>in</strong>zusetzen«, erklärte <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong>, nachdem er den Blickabgewandt hatte. »Es ist unmöglich, es zu üben, daher habe ichdir nicht empfohlen o<strong>der</strong> dich gar ermuntert, es257


zu tun. Irgendwann im Leben e<strong>in</strong>es Kriegers passiert es e<strong>in</strong>fach.Niemand weiß, wie es passiert.«Er schwieg e<strong>in</strong>e Weile. Mir wurde ganz unbehaglich zumute.Aber plötzlich sprach <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> weiter. »Das Geheimnis liegtim l<strong>in</strong>ken Auge«, sagte er. »Wenn e<strong>in</strong> Krieger auf dem Wegedes Wissens bewan<strong>der</strong>t ist, kann se<strong>in</strong> l<strong>in</strong>kes Auge alles fassen.Meist hat das l<strong>in</strong>ke Auge e<strong>in</strong>es Kriegers e<strong>in</strong> merkwürdigesAussehen. Manchmal schielt er dauernd o<strong>der</strong> es wird kle<strong>in</strong>erals das an<strong>der</strong>e, o<strong>der</strong> größer, o<strong>der</strong> irgendwie an<strong>der</strong>s.«Er schaute mich an und machte scherzhaft Anstalten, me<strong>in</strong>l<strong>in</strong>kes Auge zu untersuchen. In gespielter Mißbilligung schüttelteer den Kopf und lachte.»Sobald <strong>der</strong> Lehrl<strong>in</strong>g e<strong>in</strong>gefangen ist, beg<strong>in</strong>nt die Unterweisung«,fuhr er fort. »Die erste Handlung des Lehrers bestehtdar<strong>in</strong>, daß er dem Schüler die Vorstellung vermittelt, daß dieWelt, die wir zu sehen glauben, nur e<strong>in</strong>e Ansicht, e<strong>in</strong>e Beschreibung<strong>der</strong> Welt ist. Alle Bemühungen des Lehrers zielendarauf ab, dem Schüler dies zu beweisen. Aber es zu akzeptierensche<strong>in</strong>t uns schwerer zu fallen als alles an<strong>der</strong>e. Selbstgefällig s<strong>in</strong>dwir <strong>in</strong> unserer partiellen Weltansicht befangen, die uns zw<strong>in</strong>gt,so zu fühlen und zu handeln, als wüßten wir alles über die Welt.Vom allerersten Augenblick an bezweckt <strong>der</strong> Lehrer mit allse<strong>in</strong>em Tun, diese Ansicht zu stören. Die Zauberer nennen es>den <strong>in</strong>neren Dialog anhaltenRichtige GehenRichtige Gehen< unserer Aufmerksamkeit. Du hast es,zum<strong>in</strong>dest viele Jahre lang, als e<strong>in</strong>e komische Verhaltensweiseverstanden und aufgefaßt. Erst letzth<strong>in</strong> dämmerte dir, daß esdas wirksamste Mittel ist, de<strong>in</strong>en <strong>in</strong>neren Dialog anzuhalten.«»Wie kann das >Richtige Gehen< den <strong>in</strong>neren Dialog anhalten?«fragte ich. »Diese beson<strong>der</strong>e Art zu gehen überflutet dasTonal«, sagteer. »Es durchströmt es. Siehst du, die Aufmerksamkeit desTonal muß auf se<strong>in</strong>e Schöpfungen gelenkt werden. Eigentlichschafft überhaupt erst diese Aufmerksamkeit die Ordnung <strong>der</strong>Welt. Das Tonal muß also aufmerksam auf die Elementese<strong>in</strong>er Welt achten, um diese zu stützen, und muß vor allemdie Ansicht <strong>der</strong> Welt als <strong>in</strong>nerer Dialog aufrechterhalten.« Das>Richtige Gehern, sagte er, sei e<strong>in</strong>e List. Dabei lenkt <strong>der</strong>Krieger, durch das E<strong>in</strong>krümmen <strong>der</strong> F<strong>in</strong>ger, se<strong>in</strong>e Aufmerksamkeitzuerst auf se<strong>in</strong>e Arme. Und dann, <strong>in</strong>dem er - ohnese<strong>in</strong>en Blick zu zentrieren - auf irgende<strong>in</strong>en Punkt geradeausvor ihm auf e<strong>in</strong>em an se<strong>in</strong>en Fußspitzen beg<strong>in</strong>nenden und überdem Horizont endenden Bogen schaut, überflutet erbuchstäblich se<strong>in</strong> »Tonal« mit Informationen. Das »Tonal«,sagt er, könne dann, ohne unmittelbaren Kontakt mit denElementen se<strong>in</strong>er Beschreibung, nicht mehr mit sich selbstsprechen, und so entstehe das <strong>in</strong>nere Schweigen. Es kommedabei gar nicht auf e<strong>in</strong>e bestimmte Stellung <strong>der</strong> F<strong>in</strong>ger an,erklärte <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong>. Es gehe lediglich darum, durch dasAnspannen <strong>der</strong> F<strong>in</strong>ger <strong>in</strong> verschiedenen ungewohntenHaltungen die Aufmerksamkeit auf die Arme zu lenken; dase<strong>in</strong>zig Wichtige sei, daß die unkonzentriert blickenden Augene<strong>in</strong>e Unmenge Bil<strong>der</strong> von <strong>der</strong> Welt auffangen, ohne sie klar zusehen. In diesem Zustand, fügte er h<strong>in</strong>zu, könnten die AugenDetails aufnehmen, die zu flüchtig für die normale Beobachtungseien.»Zusammen mit dem >Richtigen Gehen


scherzhaften Aufgaben, die er mir stets gestellt hatte, wenn ichbei ihm war. Absurde Pflichten, bei denen ich Feuerholz <strong>in</strong>symmetrischen Mustern anordnete, rund um se<strong>in</strong> <strong>Haus</strong> e<strong>in</strong>eL<strong>in</strong>ie konzentrischer Kreise mit dem F<strong>in</strong>ger <strong>in</strong> den Sandzeichnete, Staub von e<strong>in</strong>er Stelle zur an<strong>der</strong>en fegte usw. Dazugehörten auch Aufgaben, die ich zu <strong>Haus</strong>e erfüllen mußte:e<strong>in</strong>e schwarze Kappe tragen, den l<strong>in</strong>ken Schuh zuerst zub<strong>in</strong>den,den Gürtel von rechts nach l<strong>in</strong>ks schnallen usw. All diesfaßte ich stets nur als Scherzaufgaben auf, denn immer wennich mir so etwas zur regelmäßigen Gewohnheit gemacht hatte,me<strong>in</strong>te <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong>, ich dürfe es ruhig wie<strong>der</strong> vergessen.Als er nun all die Pflichten rekapitulierte, die er mir autgegebenhatte, erkannte ich, daß er, <strong>in</strong>dem er mich zu sos<strong>in</strong>nlosen Rout<strong>in</strong>ehandlungen veranlaßte. mir tatsächlich e<strong>in</strong>enBegriff davon vermittelt hatte, e<strong>in</strong>fach zu handeln, ohne e<strong>in</strong>enNutzen davon zu erwarten.»Doch <strong>der</strong> Schlüssel zur Welt <strong>der</strong> Zauberer ist das Anhaltendes <strong>in</strong>neren Dialogs«, sagte er. »Alle übrigen Maßnahmen s<strong>in</strong>dnur Stützen. Sie bewirken eigentlich nichts an<strong>der</strong>es, als dasAnhalten des <strong>in</strong>neren Dialogs zu beschleunigen.« Um dasAnhalten des <strong>in</strong>neren Dialogs zu beschleunigen, gebe es zweibeson<strong>der</strong>s wichtige Techniken: das Auslöschen <strong>der</strong>persönlichen Geschichte und das »Träumen«. Er er<strong>in</strong>nertedaran, daß er mir zu Beg<strong>in</strong>n me<strong>in</strong>er Lehrzeit verschiedenespezifische Methoden zur Verän<strong>der</strong>ung me<strong>in</strong>er Persönlichkeitempfohlen hatte. Ich hatte sie <strong>in</strong> me<strong>in</strong>en Aufzeichnungenfestgehalten und dann jahrelang vergessen, bis ich ihre Bedeutungerkannte. Diese spezifischen Methoden erschienen mirzuerst als höchst idiosynkratische Maßnahmen, die mich zw<strong>in</strong>gensollten, me<strong>in</strong> Verhalten zu modifizieren. Die Kunst e<strong>in</strong>esLehrers bestehe dar<strong>in</strong>, erklärte er, die Aufmerksamkeit desLehrl<strong>in</strong>gs von den Hauptsachen abzulenken. E<strong>in</strong> schlagendesBeispiel dafür sei die Tatsache, daß ich bis heute nicht erkannthätte, daß er mich tatsächlich durch e<strong>in</strong>en Trick zum Erlernene<strong>in</strong>er <strong>der</strong> wichtigsten Techniken gebracht hatte: zu handeln,ohne Belohnung zu erwarten. Gemäß dieser Regel, sagte er,habe er me<strong>in</strong> Interesse für das »Sehen« geweckt, welches -genaugenommen - e<strong>in</strong> Akt un-mittelbaren Umgangs mit dem »Nagual« sei; e<strong>in</strong> Akt, <strong>der</strong> zware<strong>in</strong> unvermeidliches Resultat <strong>der</strong> Unterweisung, aber alsAufgabe per se unerreichbar sei.»Warum war es denn wichtig, mich so auszutricksen?« fragteich.»Die Zauberer s<strong>in</strong>d überzeugt, daß wir alle Toren s<strong>in</strong>d«, sagte er.»Niemals können wir freiwillig unsere armselige Kontrolleaufgeben, darum müssen wir dazu getrickst werden.« Indem erme<strong>in</strong>e Aufmerksamkeit auf e<strong>in</strong>e Sche<strong>in</strong>aufgabe, nämlich das»Sehen« lernen gelenkt habe, so se<strong>in</strong>e Behauptung, habe erzwei D<strong>in</strong>ge erreicht. Erstens habe er die direkte Begegnung mitdem »Nagual« umschrieben, ohne sie direkt zu erwähnen, undzweitens habe er mich mit e<strong>in</strong>em Trick dazu gebracht, diewesentlichen Punkte se<strong>in</strong>er Lehren als Nebensächlichkeiten zubetrachten. Tatsächlich waren mir das »Auslöschen <strong>der</strong>persönlichen Geschichte« und das »Träumen« nie so wichtigerschienen wie das »Sehen«. Ich hielt sie eher für e<strong>in</strong>en rechtunterhaltsamen Zeitvertreib. Ich me<strong>in</strong>te sogar, daß ich für dieseÜbungen die beste Begabung hätte. »Die beste Begabung . . .«sagte er spöttisch, nachdem er mich angehört hatte. »E<strong>in</strong>Lehrer darf nichts dem Zufall überlassen. Ich sagte dir ja, daßdu recht hattest, als du glaubtest, ausgetrickst zu werden. DasProblem war nur, daß du überzeugt warst, dieses Austricksensei dazu bestimmt, de<strong>in</strong>e Vernunft irrezuführen. Für mich wardas Austricksen nur e<strong>in</strong> Mittel, de<strong>in</strong>e Aufmerksamkeitabzulenken o<strong>der</strong> e<strong>in</strong>zufangen, je nachdem, wie es erfor<strong>der</strong>lichwar.« Er sah mich mit zusammengekniffenen Augen an undvollführte e<strong>in</strong>e rasche kreisförmige Handbewegung. »DasGeheimnis von alledem ist unsere Aufmerksamkeit«, sagte er.»Was me<strong>in</strong>st du damit, <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong>?«»All dies existiert nur aufgrund unserer Aufmerksamkeit.Dieser Ste<strong>in</strong>, auf dem wir hier sitzen, ist e<strong>in</strong> Ste<strong>in</strong>, weil wir gezwungens<strong>in</strong>d, ihm als Ste<strong>in</strong> Aufmerksamkeit zu schenken.«Ich bat ihn, diese Vorstellung genauer zu erklären. Er lachteund drohte mir scherzhaft mit dem F<strong>in</strong>ger. »Dies ist e<strong>in</strong>eZusammenfassung«, sagte er. »Für Fragen ist später nochZeit.«260 261


Nur weil er mich gekö<strong>der</strong>t habe, sagte er, hätte ich angefangen,mich für das Auslöschen <strong>der</strong> persönlichen Geschichte und das»Träumen« zu <strong>in</strong>teressieren. Er sagte, daß die Folgen dieserzwei Techniken ganz verheerend seien, wenn man sieausschließlich übte, und daß se<strong>in</strong>e Sorge folglich die Sorgejedes Lehrers gewesen sei, nämlich den Lehrl<strong>in</strong>g nichts tu n zulassen, was ihn <strong>in</strong> geistige Verwirrung und Depression stürzenkönnte.»Das Auslöschen <strong>der</strong> persönlichen Geschichte und das Träumensollten nur H ilfsm ittel se <strong>in</strong> «, sagte er. »W orauf <strong>der</strong> Lehrl<strong>in</strong>gsich stützen muß, das ist M äßigung und Stärke. Deshalb führt<strong>der</strong> Lehrer ihn <strong>in</strong> die Lebensweise des Kriegers e<strong>in</strong>. Diese ist<strong>der</strong> Leim , <strong>der</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> W elt <strong>der</strong> Zauberer a lle s mite<strong>in</strong>an<strong>der</strong>verb<strong>in</strong>det. Stück um Stück muß <strong>der</strong> Lehrer sie schmieden undentwickeln. Ohne die Standhaftigkeit und Nüchternheit <strong>der</strong>Lebensweise des Kriegers ist es unmöglich, den W eg desW issens zu bestehen.«Das Erlernen <strong>der</strong> Lebensweise des Kriegers, sagte <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong>,sei <strong>der</strong> M oment, da die Aufmerksamkeit des Lehrl<strong>in</strong>gs nichtabgelenkt, son<strong>der</strong>n im Gegenteil e<strong>in</strong>gefangen werden müsse;und er habe me<strong>in</strong>e Aufmerksamkeit e<strong>in</strong>gefangen, <strong>in</strong>dem ermich, jedesmal wenn ich ihn besuchte, aus me<strong>in</strong>en gewohntenLebensum ständen herausgerissen habe. D as M ittel dazu warenunsere Streifzüge durch die W üste und die Berge. DieserKunstgriff, bei dem er den Zusammenhang me<strong>in</strong>eralltäglichen W elt verän<strong>der</strong>te, <strong>in</strong>dem er m ich auf W an<strong>der</strong>ungenund auf die Jagd mitnahm, war e<strong>in</strong> weiteres Element se<strong>in</strong>esSystems, das mir entgangen war. Die Auflösung des Zusammenhangsbedeutete, daß ich den Überblick verlor und me<strong>in</strong>eAufmerksamkeit ausschließlich auf das richten mußte, was<strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> tat.»W as für e<strong>in</strong> Trick! Eh?« sagte er lachend. Ich lachterespektvoll. Ich hatte nie erkannt, daß er sich all dessen sobewußt war.Dann zählte er alle M aßnahmen auf, durch die er me<strong>in</strong>eAufmerksamkeit e<strong>in</strong>gefangen und gelenkt hatte. Am Endese<strong>in</strong>es Berichts fügte er h<strong>in</strong>zu, <strong>der</strong> Lehrer müsse die Persönlichkeitdes Lehrl<strong>in</strong>gs berücksichtigen, und <strong>in</strong> me<strong>in</strong>em Fallhabe er beson<strong>der</strong>s vorsichtig se<strong>in</strong> müssen, denn ich sei e<strong>in</strong>262heftiger Charakter und hätte mich ohne weiteres aus Verzweiflungumbr<strong>in</strong>gen können.»Was für e<strong>in</strong> komischer Kauz du doch bist, <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong>«,witzelte ich, und er brach <strong>in</strong> e<strong>in</strong> unbändiges Lachen aus. Umdem Schüler zu helfen, se<strong>in</strong>e persönliche Geschichteauszulöschen, so erläuterte er, werde dieser <strong>in</strong> drei weiterenTechniken unterwiesen. Diese bezeichnete er wie folgt: dasGefühl eigener Wichtigkeit verlieren, Verantwortung übernehmenund den Tod als Ratgeber benutzen. Ohne die för<strong>der</strong>licheWirkung dieser drei Techniken würde das Auslöschen<strong>der</strong> persönlichen Geschichte den Schüler nämlich unstet undwankelmütig machen und ihn <strong>in</strong> unnötige Zweifel an sichselbst und se<strong>in</strong>en Handlungen stürzen.<strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> fragte mich, was denn me<strong>in</strong>e natürlichste Reaktion <strong>in</strong>Augenblicken <strong>der</strong> Belastung, Frustration und Enttäuschunggewesen sei, bevor ich se<strong>in</strong> Schüler wurde. Se<strong>in</strong>e eigeneReaktion, sagte er, sei heftige Wut gewesen. Die me<strong>in</strong>ige seiSelbstmitleid gewesen, sagte ich ihm.»Obwohl es dir nicht bewußt wurde, mußtest du dir e<strong>in</strong> Be<strong>in</strong>ausreißen, um dieses Gefühl zu etwas für dich Selbstverständlichemzu machen«, sagte er. »Heute er<strong>in</strong>nerst du dich wohlnicht mehr an die gewaltige Anstrengung, die es dich kostete,das Selbstmitleid als Merkmal de<strong>in</strong>er Insel zu begreifen. DasSelbstmitleid begleitete alles, was du tatest. Es stand dir immerzur Seite, bereit, dir Rat zu geben. E<strong>in</strong> noch besserer Ratgeberist für den Krieger <strong>der</strong> Tod, den man ebenfalls dazubr<strong>in</strong>genkann, alles, was man tut, zu begleiten, genau wie dasSelbstmitleid o<strong>der</strong> den Zorn. Ansche<strong>in</strong>end hast du erst nache<strong>in</strong>em unsäglichen Kampf gelernt, dir wirklich leid zu tun.Genauso kannst du aber auch lernen, de<strong>in</strong> drohendes Ende zuspüren, und mith<strong>in</strong> kannst du lernen, mit dem Gedanken zuleben, daß de<strong>in</strong> Tod dir stets zur Seite steht. Als Ratgeber istdas Selbstmitleid nichts im Vergleich mit dem Tod.«Dann g<strong>in</strong>g <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> auf den sche<strong>in</strong>baren Wi<strong>der</strong>spruch imBegriff <strong>der</strong> Verän<strong>der</strong>ung e<strong>in</strong>. E<strong>in</strong>erseits verlange die Welt <strong>der</strong>Zauberer e<strong>in</strong>e tiefgreifende Verän<strong>der</strong>ung, und an<strong>der</strong>erseitsbehaupte die Erklärung <strong>der</strong> Zauberer, daß die Insel des»Tonal« komplett sei und ke<strong>in</strong> e<strong>in</strong>ziges Element aus ihr263


entfernt werden könne. Än<strong>der</strong>ung bedeute also nicht, irgende<strong>in</strong>esdieser Elemente auszutilgen, son<strong>der</strong>n vielmehr, e<strong>in</strong>ean<strong>der</strong>e Verwendung davon zu machen.»Nimm zum Beispiel das Selbstmitleid,« sagte er. »Es istunmöglich, es für immer loszuwerden. Es hat e<strong>in</strong>en bestimmtenPlatz und Charakter <strong>in</strong>nerhalb de<strong>in</strong>er Insel, e<strong>in</strong>e bestimmte,erkennbare Fassade. Immer wenn die Gelegenheit sich bietet,wird daher das Selbstmitleid aktiv. Es hat e<strong>in</strong>e Geschichte.Wenn du also die Fassade des Selbstmitleids än<strong>der</strong>st, dannverän<strong>der</strong>st du damit nur se<strong>in</strong>e Vorrangstellung.« Ich bat ihn,mir die Bedeutung se<strong>in</strong>er Metaphern zu erklären, vor allem dieVorstellung e<strong>in</strong>er Än<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> Fassade. Soviel ich verstand,me<strong>in</strong>te sie wohl das gleichzeitige Spielen mehrerer Rollen.»Man verän<strong>der</strong>t die Fassade, <strong>in</strong>dem man die Verwendung <strong>der</strong>Elemente <strong>der</strong> Insel än<strong>der</strong>t«, antwortete er. »Nehmen wir wie<strong>der</strong>das Selbstmitleid als Beispiel! Es war für dich nützlich, weil dudir entwe<strong>der</strong> wichtig vorkamst und me<strong>in</strong>test, bessereBed<strong>in</strong>gungen und e<strong>in</strong>e bessere Behandlung zu verdienen, o<strong>der</strong>weil du nicht bereit warst, die Verantwortung für Handlungenzu übernehmen, die dich <strong>in</strong> jenen Zustand gebracht hatten, <strong>der</strong>das Selbstmitleid auslöste, o<strong>der</strong> weil du es nicht fertigbrachtest,den Gedanken an de<strong>in</strong>en drohenden Tod de<strong>in</strong>eHandlungen begleiten und dich von ihm beraten zu lassen. DasAuslöschen <strong>der</strong> persönlichen Geschichte und die dreiHilfstechniken s<strong>in</strong>d das Mittel, dessen die Zauberer sich bedienen,um die Fassade <strong>der</strong> Elemente <strong>der</strong> Insel zu än<strong>der</strong>n.Indem du zum Beispiel de<strong>in</strong>e persönliche Geschichte auslöschtest,weigertest du dich, zum Selbstmitleid Zuflucht zunehmen. Damit de<strong>in</strong> Selbstmitleid funktionieren konnte, mußtestdu dich wichtig, unverantwortlich und unsterblich fühlen. Alsdiese Gefühle sich irgendwie än<strong>der</strong>ten, war es dir nicht mehrmöglich, dir leid zu tun.Dasselbe gilt für alle an<strong>der</strong>en Elemente de<strong>in</strong>er Insel, die dugeän<strong>der</strong>t hast. Ohne den E<strong>in</strong>satz dieser vier Techniken wäre esdir nie gelungen, sie zu verän<strong>der</strong>n. Aber das Verän<strong>der</strong>n <strong>der</strong>Fassaden bedeutet nur, daß man e<strong>in</strong>em vorher wichtigenElement e<strong>in</strong>en zweitrangigen Platz zuweist. De<strong>in</strong> Selbstmitleidist immer noch e<strong>in</strong> Merkmal de<strong>in</strong>er Insel. Dort wird esjetzt im H<strong>in</strong>tergrund bleiben, genau wie <strong>der</strong> Gedanke ande<strong>in</strong>en drohenden Tod o<strong>der</strong> de<strong>in</strong>e Bescheidenheit o<strong>der</strong> de<strong>in</strong>eVerantwortung für de<strong>in</strong>e Taten da waren, ohne je genutzt zuwerden.«Nachdem <strong>der</strong> Lehrl<strong>in</strong>g mit allen diesen Techniken bekanntgemacht worden sei, sagte <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong>, komme er an e<strong>in</strong>enScheideweg. Je nach dem Grad se<strong>in</strong>er Sensibilität entscheideer sich dann für e<strong>in</strong>e von zwei Möglichkeiten. Entwe<strong>der</strong> nehmeer die Empfehlungen und Vorschläge se<strong>in</strong>es Lehrersunbesehen an und handele, ohne Belohnung zu erwarten, o<strong>der</strong>er fasse alles als Scherz o<strong>der</strong> als Verirrung auf. In me<strong>in</strong>emFall, sagte ich, habe mich das Wort »Techniken« irregeführt.Ich hatte nämlich stets präzise Anweisungen erwartet, aber erhatte mir nur vage Empfehlungen gegeben; daher konnte ichsie nicht ernst nehmen o<strong>der</strong> gemäß se<strong>in</strong>en Maßgaben handeln.»Das war de<strong>in</strong> Irrtum«, sagte er. »Darum mußte ich auchentscheiden, ob wir <strong>Kraft</strong>-Pflanzen zu Hilfe nehmen sollteno<strong>der</strong> nicht. Ebensogut hättest du nur diese vier Technikenanwenden und de<strong>in</strong>e Insel des Tonal aufräumen und neuordnen können. Sie hätten dich zum Nagual geführt. Aber nichtallen Menschen ist es gegeben, auf e<strong>in</strong>fache Empfehlungen zureagieren. Du, und ich selbst übrigens auch, wir brauchtenetwas an<strong>der</strong>es, um uns wachrütteln zu lassen. Wir brauchtendiese <strong>Kraft</strong>-Pflanzen.«Es hatte bei mir tatsächlich Jahre gedauert, bis ich die Bedeutungdieser ersten Empfehlungen <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong>s erkannte. Dieaußerordentliche Wirkung jener psychotropen Pflanzen hattemir das Vorurteil e<strong>in</strong>gegeben, daß <strong>der</strong>en Gebrauch <strong>der</strong> Schlüsselzur Lehre sei. An dieser Überzeugung hielt ich lange fest, un<strong>der</strong>st <strong>in</strong> den späteren Jahren me<strong>in</strong>er Lehrzeit erkannte ich, daß diebedeutsamen Verän<strong>der</strong>ungen und Ergebnisse <strong>der</strong> Zauberei stetsim Zustand nüchternen Bewußtse<strong>in</strong>s erreicht werden.»Was wäre passiert, falls ich de<strong>in</strong>e Empfehlungen ernst genommenhätte?« fragte ich. »Du wärst zum Nagual gelangt«,antwortete er. »Aber wäre ich auch ohne e<strong>in</strong>en Wohltäterzum Nagual gelangt?«264 265


»Dafür sorgt die <strong>Kraft</strong> entsprechend de<strong>in</strong>er Makellosigkeit«,sagte er. »Hättest du diese vier Techniken ernsthaft geübt, dannhättest du genug persönliche <strong>Kraft</strong> gespeichert, um e<strong>in</strong>enWohltäter zu f<strong>in</strong>den. Du wärst makellos geworden, und die<strong>Kraft</strong> hätte dir alle nötigen Wege eröffnet. Das ist die Regel!«»Warum hast du mir denn nicht mehr Zeit gelassen?« fragteich.»Du hattest soviel Zeit, wie du brauchtest«, sagte er. »Die<strong>Kraft</strong> wies mir den Weg. E<strong>in</strong>es Nachts gab ich dir e<strong>in</strong> Rätselauf. Du solltest de<strong>in</strong>en dir wohltätigen Platz vor me<strong>in</strong>em <strong>Haus</strong>f<strong>in</strong>den. In dieser Nacht hast du dich unter dem Druck <strong>der</strong>Situation hervorragend gehalten, und gegen Morgen bist duüber e<strong>in</strong>em ganz bestimmten Ste<strong>in</strong> e<strong>in</strong>geschlafen, den ichdorth<strong>in</strong> gelegt hatte. Die <strong>Kraft</strong> zeigte mir. daß du unbarmherzigangetrieben werden mußtest, sonst hättest du überhaupt nichtsgetan.«»Haben die <strong>Kraft</strong>-Pflanzen mir geholfen?« fragte ich.»Selbstverständlich«, sagte er. »Sie öffneten dich, <strong>in</strong>dem siede<strong>in</strong>e Ansicht von <strong>der</strong> Welt unterbrachen. In dieser H<strong>in</strong>sichthaben <strong>Kraft</strong>-Pflanzen dieselbe Wirkung auf das Tonal wie das>Richtige Gehen«. Beide überfluten es mit Informationen undgebieten dem <strong>in</strong>neren Dialog E<strong>in</strong>halt. Die Pflanzen eignen sichhervorragend dazu, aber um e<strong>in</strong>en hohen Preis. Sie fügen demKörper unabsehbaren Schaden zu. Das ist ihr Nachteil,beson<strong>der</strong>s beim Teufelskraut« (Datura stramonium; Anm. desÜbers.).»W enn du doch wußtest, daß sie so gefährlich s<strong>in</strong>d, warumhast du mir so viel - so oft - davon gegeben?« fragte ich. Erbeteuerte, die E<strong>in</strong>zelheiten des Verfahrens seien von <strong>der</strong> <strong>Kraft</strong>selbst vorgeschrieben worden. Obwohl die Unterweisung beiallen Lehrl<strong>in</strong>gen dieselbe se<strong>in</strong> müsse, sagte er, sei dieReihenfolge bei jedem verschieden, und außerdem habe erwie<strong>der</strong>holt Anzeichen dafür festgestellt, daß ich viel Zwangbrauchte, um überhaupt etwas ernst zu nehmen. »Bei dir hatteich es m it e<strong>in</strong>em vorw itzigen U nsterblichen zu tun, <strong>der</strong>ke<strong>in</strong>erlei Respekt vor se<strong>in</strong>em Leben o<strong>der</strong> se<strong>in</strong>em Tod h a tte «,sagte er lachend. Ich brachte die Tatsache zur Sprache, daß erdiese Pflanzenstets im Rahmen anthropomorpher Eigenschaften beschriebenund diskutiert hatte. Er hatte immer so von ihnen gesprochen,als hätten die Pflanzen e<strong>in</strong>e eigene Persönlichkeit. Ererwi<strong>der</strong>te, dies sei e<strong>in</strong> vorgeschriebenes Mittel, um die Aufmerksamkeitdes Lehrl<strong>in</strong>gs vom Eigentlichen abzulenken,nämlich dem Anhalten des <strong>in</strong>neren Dialogs. »Wenn sie nurbenutzt werden, um den <strong>in</strong>neren Dialog anzuhalten, <strong>in</strong> welcherBeziehung stehen sie dann zum Verbündeten?« fragte ich.»Das ist schwer zu erklären«, sagte er. »Diese Pflanzen führenden Lehrl<strong>in</strong>g direkt zum Nagual, und <strong>der</strong> Verbündete ist e<strong>in</strong>Aspekt von diesem. Wir funktionieren ausschließlich mit demVernunft-Zentrum, ganz gleich wer wir s<strong>in</strong>d und woher wirkommen. Die Vernunft kann natürlich alles, was <strong>in</strong>nerhalbihrer Weltsicht geschieht, auf die e<strong>in</strong>e o<strong>der</strong> an<strong>der</strong>e Weiseerklären. <strong>Der</strong> Verbündete ist etwas, das außerhalb dieserAnsicht, außerhalb des Bereichs <strong>der</strong> Vernunft steht. Er kannnur mit dem Willens-Zentrum erlebt werden, <strong>in</strong> Augenblicken,wenn unsere normale Ansicht außer <strong>Kraft</strong> gesetzt ist. Daher ister, genaugenommen, das Nagual. Doch die Zauberer lernenmanchmal, den Verbündeten auf sehr problematische Weisewahrzunehmen, und dabei verstricken sie sich zu tief <strong>in</strong> e<strong>in</strong>eneue Weltansicht. Um dich vor diesem Schicksal zu bewahren,habe ich dir daher den Verbündeten nicht so dargestellt, wiees die Zauberer <strong>in</strong> <strong>der</strong> Regel tun. Nach generationenlangemGebrauch <strong>der</strong> <strong>Kraft</strong>pflanzen haben es die Zauberer gelernt, ihreAnsichten so weit zu erklären, wie sie überhaupt erklärbars<strong>in</strong>d. Ich möchte sagen, daß die Zauberer, <strong>in</strong>dem sie ihrenWillen benutzten, ihre Ansichten <strong>der</strong> Welt erweitern konnten.Me<strong>in</strong> Lehrer und me<strong>in</strong> Wohltäter waren die besten Beispieledafür. Sie waren Männer von großer <strong>Kraft</strong>, aber sie warenke<strong>in</strong>e Wissenden. Sie überwanden nie die Fesseln ihrerenormen E<strong>in</strong>sichten, und daher erreichten sie nie die Ganzheitihres Selbst, doch sie wußten darum. Es war nicht so, daß siee<strong>in</strong> zielloses Leben geführt und D<strong>in</strong>ge beansprucht hätten, dieihnen nicht zugänglich waren. Sie wußten, daß <strong>der</strong> Zug für sieabgefahren war und daß ihnen erst bei ihrem Tod das ganzeGeheimnis offenbart werden würde. Die Zauberei hatte ihnendie Tür e<strong>in</strong>en Spaltbreit266 267


geöffnet, aber ihnen nie wirklich ermöglicht, jene unfaßbareGanzheit des Selbst zu erreichen.Ich habe dir genug von <strong>der</strong> Ansicht <strong>der</strong> Zauberer vermittelt,ohne dich durch sie gefangennehmen zu lassen. Ich sagte, nurwenn man zwei Ansichten gegene<strong>in</strong>an<strong>der</strong> ausspielt, kann manzwischen ihnen h<strong>in</strong>- und herpendeln, um zur wirklichen Weltzu gelangen. Ich me<strong>in</strong>te damit, man kann die Ganzheit se<strong>in</strong>esSelbst nur dann erreichen, wenn man vollkommen begreift, daßdie Welt lediglich e<strong>in</strong>e Ansicht ist, ganz gleich, ob dieseAnsicht von e<strong>in</strong>em normalen Menschen o<strong>der</strong> e<strong>in</strong>em Zauberervertreten wird.In diesem Punkt weiche ich von <strong>der</strong> Tradition ab. Nach e<strong>in</strong>emlebenslangen Kampf weiß ich, daß es nicht darauf ankommt,e<strong>in</strong>e neue Beschreibung zu lernen, son<strong>der</strong>n die Ganzheit desSelbst zu erreichen. Man sollte das Nagual erreichen, ohne dasTonal zu schädigen, und vor allem, ohne se<strong>in</strong>en Körper zuverletzen. Als du jene Pflanzen e<strong>in</strong>nahmst, vollführtest dugenau dieselben Schritte wie ich damals. <strong>Der</strong> e<strong>in</strong>zige Unterschiedwar, daß ich, statt dich <strong>in</strong> diese Erfahrung h<strong>in</strong>e<strong>in</strong>zustürzen,dich damit aufhören ließ, als ich den E<strong>in</strong>druck hatte, daß dugenügend Ansichten des Nagual gespeichert hattest. Das istauch <strong>der</strong> Grund, warum ich de<strong>in</strong>e Begegnungen mit den <strong>Kraft</strong>-Pflanzen niemals diskutieren o<strong>der</strong> zulassen wollte, daß duzwanghaft darüber sprachst. Ich hielt es für s<strong>in</strong>nlos, über dasUnaussprechliche zu debattieren. Dies waren echte Exkursionen<strong>in</strong> das Nagual, das Unbekannte.« Ich wandte e<strong>in</strong>, daßme<strong>in</strong> Bedürfnis, über me<strong>in</strong>e Wahrnehmungen unter demE<strong>in</strong>fluß psychotroper Pflanzen zu sprechen, durch me<strong>in</strong>Interesse bed<strong>in</strong>gt gewesen sei, e<strong>in</strong>e eigene Hypothese zuüberprüfen. Ich war nämlich davon überzeugt, daß er mir mitHilfe dieser Pflanzen Er<strong>in</strong>nerungen an unvorstellbareWahrnehmungsweisen vermittelt hatte. Diese Er<strong>in</strong>nerungen,die mir zu <strong>der</strong> Zeit, als ich sie erlebte, wohl als idiosynkratischund weit entfernt von jedem S<strong>in</strong>n erschienen, setzten sichspäter zu S<strong>in</strong>n-E<strong>in</strong>heiten zusammen. Ich wußte, daß <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong>mich jedesmal schlau und listig geleitet hatte und daß jedeZusammenfügung von S<strong>in</strong>n unter se<strong>in</strong>er Führung geschehenwar. »Ich möchte diese Ereignisse nicht überbewerten o<strong>der</strong> sie268erklären«, sagte er trocken. »Das Nachgrübeln über Erklärungenwürde uns genau dah<strong>in</strong> zurückwerfen, wo wir nichtse<strong>in</strong> wollen, das heißt, wir würden wie<strong>der</strong> <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e Ansicht <strong>der</strong>Welt, diesmal allerd<strong>in</strong>gs <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e viel größere, zurückgeworfen.«Nachdem <strong>der</strong> <strong>in</strong>nere Dialog des Lehrl<strong>in</strong>gs durch die Wirkung<strong>der</strong> <strong>Kraft</strong>-Pflanzen angehalten sei, sagte <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong>, entwicklesich für diesen e<strong>in</strong>e auswegslose Situation. <strong>Der</strong> Lehrl<strong>in</strong>g beg<strong>in</strong>nese<strong>in</strong>e ganze Lehrzeit zu bereuen. Wie <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> me<strong>in</strong>te,stelle sich auch beim bereitwilligsten Lehrl<strong>in</strong>g an diesem Punkte<strong>in</strong> gefährliches Nachlassen des Interesses e<strong>in</strong>. »Die <strong>Kraft</strong>-Pflanzen erschüttern das Tonal und bedrohen denZusammenhalt <strong>der</strong> ganzen Insel«, sagte er. »Dies ist <strong>der</strong>Augenblick, wo <strong>der</strong> Lehrl<strong>in</strong>g sich zurückzieht, und er tut gutdaran. Er will sich aus diesem ganzen Chaos retten. Aber diesist auch <strong>der</strong> Augenblick, wo <strong>der</strong> Lehrer se<strong>in</strong>e listigste Fallestellt, und zwar mit Hilfe des würdigen Gegners. Diese Falledient zwei Zwecken. Erstens erlaubt sie dem Lehrer, se<strong>in</strong>enLehrl<strong>in</strong>g zu behalten, und zweitens bietet sie dem Lehrl<strong>in</strong>ge<strong>in</strong>en Bezugspunkt, <strong>der</strong> ihm später nutzen wird. Die Falle iste<strong>in</strong> Kunstgriff, <strong>der</strong> e<strong>in</strong>en würdigen Gegner <strong>in</strong>s Spiel br<strong>in</strong>gt.Ohne die Hilfe e<strong>in</strong>es würdigen Gegners, <strong>der</strong> nicht eigentliche<strong>in</strong> Fe<strong>in</strong>d, son<strong>der</strong>n e<strong>in</strong> sorgsam ausgewählter Gegenspieler ist,gibt es für den Lehrl<strong>in</strong>g ke<strong>in</strong>e Möglichkeit, auf dem Weg desWissens fortzuschreiten. Auch <strong>der</strong> Beste würde an diesemPunkt aufgeben, bliebe die Entscheidung darüber ihm überlassen.Ich gab dir als würdigen Gegner den besten Krieger,den man f<strong>in</strong>den kann, die Catal<strong>in</strong>a.«<strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> sprach von e<strong>in</strong>er Zeit, sie lag Jahre zurück, als ermich <strong>in</strong> e<strong>in</strong>en langwierigen Kampf mit e<strong>in</strong>er <strong>in</strong>dianischenZauber<strong>in</strong> verwickelte.»Ich brachte dich <strong>in</strong> körperlichen Kontakt mit ihr«, fuhr erfort. »Ich wählte e<strong>in</strong>e Frau, weil du zu Frauen Vertrauen hast.Es war für sie sehr schwer, dieses Vertrauen ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong>zunehmen.Nach Jahren gestand sie mir e<strong>in</strong>, daß sie lieberaufgegeben hätte, denn sie mochte dich gern. Aber sie ist e<strong>in</strong>egroße Krieger<strong>in</strong>, und trotz ihrer Gefühle wischte sie dich fastvon dieser Erde. Sie nahm de<strong>in</strong> Tonal so nachhaltig ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong>,daß es niemals wie<strong>der</strong> so wurde wie zuvor. Ja, sie verän-269


<strong>der</strong>te die Gesichtszüge de<strong>in</strong>er Insel so tiefgreifend, daß ihreTaten dich <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e an<strong>der</strong>e Welt versetzten. Man möchteme<strong>in</strong>en, sie selbst hätte de<strong>in</strong>e Wohltäter<strong>in</strong> werden können,wäre es nicht so, daß du nicht dazu geschaffen bist, e<strong>in</strong>Zauberer ihrer Art zu werden. Irgend etwas stimmte nichtzwischen euch beiden. Du konntest ke<strong>in</strong>e Angst vor ihr haben. Ine<strong>in</strong>er Nacht, als sie dich anfiel, verlorst du fast die Hosen, abertrotzdem fühltest du dich zu ihr h<strong>in</strong>gezogen. Für dich war siee<strong>in</strong>e begehrenswerte Frau, ganz gleich, wie sehr du dichfürchtetest. Das wußte sie. Ich habe dich e<strong>in</strong>mal auf e<strong>in</strong>emMarktplatz erlebt, wie du sie anschautest - du warst halb vonS<strong>in</strong>nen vor Angst, und doch versuchtest du, ihr zu schmeicheln.Durch die Taten e<strong>in</strong>es würdigen Gegners kann e<strong>in</strong> Lehrl<strong>in</strong>galso entwe<strong>der</strong> <strong>in</strong> Fetzen zerrissen o<strong>der</strong> radikal verän<strong>der</strong>twerden. Die Handlungen <strong>der</strong> Catal<strong>in</strong>a dir gegenüber - nachdemsie dich nicht umbrachten, und zwar nicht, weil sie sich nichtgenug angestrengt hätte, son<strong>der</strong>n weil du wi<strong>der</strong>standsfähig warst- hatten e<strong>in</strong>e wohltätige Wirkung auf dich und ermöglichten dire<strong>in</strong>e Entscheidung.<strong>Der</strong> Lehrer bedient sich des würdigen Gegners, um denLehrl<strong>in</strong>g zur Entscheidung se<strong>in</strong>es Lebens zu zw<strong>in</strong>gen. <strong>Der</strong>Lehrl<strong>in</strong>g muß sich zwischen <strong>der</strong> Welt des Kriegers und se<strong>in</strong>eralltäglichen Welt entscheiden. Aber es kann ke<strong>in</strong>e Entscheidunggeben, solange <strong>der</strong> Lehrl<strong>in</strong>g nicht die Entscheidung alssolche begreift. Daher muß <strong>der</strong> Lehrer e<strong>in</strong> durchaus geduldigesund verständnisvolles Verhalten zeigen und se<strong>in</strong>en Mann mitsicherer Hand zu dieser Entscheidung h<strong>in</strong>führen, und vor allemmuß er dafür sorgen, daß se<strong>in</strong> Lehrl<strong>in</strong>g die Welt und das Lebene<strong>in</strong>es Kriegers wählt. Ich habe das geschafft, <strong>in</strong>dem ich dich bat,mir zu helfen, die Catal<strong>in</strong>a zu besiegen. Ich sagte dir, daß sievorhabe, mich zu töten, und daß ich de<strong>in</strong>e Hilfe brauchte, umsie loszuwerden. Ich gab dir e<strong>in</strong>e faire Warnung h<strong>in</strong>sichtlich <strong>der</strong>Konsequenzen de<strong>in</strong>er Entscheidung und Zeit genug, um zuwählen, ob du es tun wolltest o<strong>der</strong> nicht.«Ich er<strong>in</strong>nerte mich genau daran, daß <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> mir an diesemTag freie Wahl gegeben hatte. Falls ich ihm nicht helfen wolle,hatte er gesagt, stünde es mir frei, zu gehen und nie wie<strong>der</strong>zu-270kommen. Ich hatte es <strong>in</strong> diesem Augenblick so empfunden,daß ich die Freiheit hatte, me<strong>in</strong>er Wege zu gehen, und ihmgegenüber nicht weiter verpflichtet war. So verließ ich ihn undfuhr mit e<strong>in</strong>er Mischung von traurigen und glücklichenGefühlen fort. Ich war traurig, daß ich <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> verließ, unddoch war ich glücklich, all se<strong>in</strong>e beunruhigendenMachenschaften h<strong>in</strong>ter mir zu lassen. Ich dachte an LosAngeles und an me<strong>in</strong>e Freunde und all die Rout<strong>in</strong>egewohnheitenme<strong>in</strong>es täglichen Lebens, die mich erwarteten,jene kle<strong>in</strong>en Rout<strong>in</strong>en, die mir immer so viel Vergnügengemacht hatten. E<strong>in</strong>e Weile fühlte ich mich sogar euphorisch.Das Unheimliche an <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> und se<strong>in</strong>em Leben lag h<strong>in</strong>termir, und ich war frei.Me<strong>in</strong>e glückliche Stimmung hielt aber nicht lange an. Me<strong>in</strong>Wunsch, die Welt <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong>s zu verlassen, war unhaltbar.Me<strong>in</strong>e Rout<strong>in</strong>en hatten ihre Macht e<strong>in</strong>gebüßt. Ich versuchte anirgend etwas zu denken, was ich <strong>in</strong> Los Angeles tun wollte, aberda gab es nichts. <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> hatte mir e<strong>in</strong>mal gesagt, daß ichmich vor Menschen fürchtete und gelernt hätte, mich zuschützen, <strong>in</strong>dem ich nichts erwartete. Er sagte, das Nichts-Erwartensei e<strong>in</strong>e <strong>der</strong> besten Errungenschaften e<strong>in</strong>es Kriegers. Inme<strong>in</strong>er Dummheit hatte ich jedoch die E<strong>in</strong>stellung, nichts zuerwarten, verallgeme<strong>in</strong>ert und es dah<strong>in</strong> gebracht, nichts mehrzu wollen. Dadurch war me<strong>in</strong> Leben langweilig und leergeworden.Er hatte recht, und während ich auf dem Highway nordwärtsbrauste, überfiel mich schließlich mit voller Wucht e<strong>in</strong>e unverhoffteTraurigkeit. Ich begann die Reichweite me<strong>in</strong>er Entscheidungzu ermessen. Tatsächlich war ich im Begriff, fürme<strong>in</strong> bequemes, langweiliges Leben <strong>in</strong> Los Angeles e<strong>in</strong>emagische Welt <strong>der</strong> dauernden Erneuerung aufzugeben. Icher<strong>in</strong>nerte mich an me<strong>in</strong>e leeren Tage. Beson<strong>der</strong>s an e<strong>in</strong>enSonntag er<strong>in</strong>nerte ich mich. Den ganzen Tag über hatte ichmich unruhig gefühlt und nichts zu tun gehabt. Niemand vonme<strong>in</strong>en Freunden war gekommen, mich zu besuchen. Niemandhatte mich zu e<strong>in</strong>er Party e<strong>in</strong>geladen. Die Leute, die ichbesuchen wollte, waren nicht zu <strong>Haus</strong>e, und was das Schlimmstewar, ich hatte alle Filme, die <strong>in</strong> <strong>der</strong> Stadt liefen, bereitsgesehen. Am Spätnachmittag, <strong>in</strong> letzter Verzweiflung, durch-271


stöberte ich noch e<strong>in</strong>mal den Veranstaltungskalen<strong>der</strong> und fandschließlich e<strong>in</strong>en Film, <strong>der</strong> mich nie gereizt hatte. Er lief <strong>in</strong>e<strong>in</strong>er Stadt, fünfunddreißig Meilen entfernt. Ich fuhr h<strong>in</strong>, undich fand ihn scheußlich, aber das war immer noch besser, alsnichts zu tun zu haben.Unter dem E<strong>in</strong>fluß von <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong>s Welt hatte ich michverän<strong>der</strong>t. E<strong>in</strong>es zum<strong>in</strong>dest stimmte: seit ich ihm begegnetwar. hatte ich nie mehr Zeit gehabt, mich zu langweilen. Dasalle<strong>in</strong> genügte mir; <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> hatte tatsächlich dafür gesorgt,daß ich die Welt des Kriegers wählte. Ich kehrte um und fuhrzurück zu se<strong>in</strong>em <strong>Haus</strong>.»Was wäre geschehen, falls ich mich entschieden hätte, nachLos Angeles zurückzukehren?« fragte ich. »Das wäre ganzunmöglich gewesen«, sagte er. »Diese Wahl gab es nicht. Dubrauchtest lediglich e<strong>in</strong>es zu tun - de<strong>in</strong>em Tonal erlauben, sichbewußt zu werden, daß es bereits gewählt hatte, <strong>in</strong> die Welt <strong>der</strong>Zauberer e<strong>in</strong>zutreten. Das Tonal weiß nicht, daßEntscheidungen dem Bereich des Nagual angehören. Wenn wirglauben, wir würden uns entscheiden, tun wir nichts an<strong>der</strong>es,als anzuerkennen, daß irgend etwas, das sich unseremVerständnis entzieht, den Rahmen unserer sogenanntenEntscheidung bereits abgesteckt hat und wir dies nur nochstillschweigend h<strong>in</strong>nehmen können. Im Leben e<strong>in</strong>es Kriegersgibt es nur e<strong>in</strong>es, nur e<strong>in</strong>e Frage, die wirklich unentschieden ist:Wie weit kann e<strong>in</strong>er auf dem Weg des Wissens und <strong>der</strong> <strong>Kraft</strong>fortschreiten? Dies ist e<strong>in</strong>e offene Frage, und niemand kann ihrErgebnis voraussagen. Ich habe dir e<strong>in</strong>mal gesagt, daß e<strong>in</strong>Krieger nur die Freiheit hat, entwe<strong>der</strong> makellos zu handeln o<strong>der</strong>wie e<strong>in</strong> Narr zu handeln. Makellosigkeit ist wirklich diee<strong>in</strong>zige Tat, die frei ist, und mith<strong>in</strong> das wahre Maß für denGeist e<strong>in</strong>es Kriegers.« <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> sagte, nachdem <strong>der</strong> Lehrl<strong>in</strong>gse<strong>in</strong>e Entscheidung getroffen habe, sich <strong>der</strong> Welt <strong>der</strong> Zaubereranzuschließen, stelle <strong>der</strong> Lehrer ihm e<strong>in</strong>e praktische Aufgabe,er lege ihm e<strong>in</strong>e Pflicht auf. die er <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em alltäglichenLeben erfüllen müsse. Diese Aufgabe, erklärte er, die stets aufdie Persönlichkeit des Lehrl<strong>in</strong>gs abgestimmt se<strong>in</strong> müsse, sei <strong>in</strong><strong>der</strong> Regel irgende<strong>in</strong>e ungewöhnliche Lebenssituation, <strong>in</strong> die <strong>der</strong>Lehr-l<strong>in</strong>g sich versetzen müsse - als Mittel, um se<strong>in</strong>e Ansicht <strong>der</strong>Welt nachhaltig zu bee<strong>in</strong>flussen. Ich selbst hatte diese Aufgabemehr als e<strong>in</strong>en vergnüglichen Scherz denn als ernste Lebenssituationaufgefaßt. Im Lauf <strong>der</strong> Zeit aber dämmerte mir,daß ich sie ernst nehmen mußte.»Nachdem <strong>der</strong> Lehrl<strong>in</strong>g se<strong>in</strong>e Zauber-Aufgabe erhalten hat, ister bereit, für e<strong>in</strong>e an<strong>der</strong>e Form <strong>der</strong> Unterweisung«, fuhr er fort.»Er ist nun e<strong>in</strong> Krieger. In de<strong>in</strong>em Fall, damals, als du nichtmehr Lehrl<strong>in</strong>g warst, lehrte ich dich die drei Techniken, diebeim Träumen helfen: das Unterbrechen <strong>der</strong> Lebensrout<strong>in</strong>en,die Gangart <strong>der</strong> <strong>Kraft</strong> und das Nicht-Tun. Du warst sehrkonsequent, schwer von Begriff als Lehrl<strong>in</strong>g und schwer vonBegriff als Krieger. Pflichteifrig schriebst du alles auf, was ichsagte und was dir wi<strong>der</strong>fuhr, aber du handeltest nicht genauso,wie ich es dir aufgetragen hatte. Darum mußte ich dichtrotzdem mit Hilfe <strong>der</strong> <strong>Kraft</strong>pflanzen erschüttern.« Nunzeichnete <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> Schritt um Schritt nach, wie er me<strong>in</strong>eAufmerksamkeit vom »Träumen« abgelenkt und mich glaubengemacht hatte, das eigentlich wichtige Problem sei e<strong>in</strong>e sehrschwierige Aktivität, die er als Nicht-Tun bezeichnete und dieaus e<strong>in</strong>em Wahrnehmungsspiel bestand, bei dem ich me<strong>in</strong>eAufmerksamkeit auf Merkmale <strong>der</strong> Welt richten mußte, die fürgewöhnlich übersehen werden, so etwa die Schatten <strong>der</strong> D<strong>in</strong>ge.<strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> sagte, es sei se<strong>in</strong>e Strategie gewesen, das Nicht-Tunhervorzuheben, <strong>in</strong>dem er es mit dem striktesten Geheimnisumhüllte.»Wie alles an<strong>der</strong>e auch, ist das Nicht-Tun e<strong>in</strong>e sehr wichtigeTechnik, aber es war nicht das Eigentliche«, sagte er. »Du bistauf die Geheimnistuerei here<strong>in</strong>gefallen. Du - e<strong>in</strong> Schwatzmaul- mußtest e<strong>in</strong> Geheimnis für dich behalten!« Lachend me<strong>in</strong>teer. er könne sich gut vorstellen, welche Qualen es mir bereitethaben mußte, me<strong>in</strong>en Mund zu halten. Das Unterbrechen <strong>der</strong>Rout<strong>in</strong>e, die Gangart <strong>der</strong> <strong>Kraft</strong> und das Nicht-Tun, sagte er,seien Mittel, um neue Wahrnehmungsweisen <strong>der</strong> Welt zulernen, und sie gäben dem Krieger e<strong>in</strong>e Ahnung vonungeahnten Möglichkeiten des Handelns. Durch dieAnwendung dieser drei Techniken, so <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong>s Vorstellung,werde das Wissen um e<strong>in</strong>e separate und pragmatische Weltdes »Träumens« ermöglicht.272 273


»Das Träumen ist e<strong>in</strong> praktisches Hilfsmittel, das die Zaubererersonnen haben«, sagte er. »Sie waren ke<strong>in</strong>e Narren, siewußten, was sie taten, und suchten nach Möglichkeiten, dasNagual zu nutzen, <strong>in</strong>dem sie ihr Tonal tra<strong>in</strong>ierten, sozusagene<strong>in</strong>en Moment loszulassen und dann wie<strong>der</strong> zuzupacken. DieserSatz wird dir kaum verständlich ersche<strong>in</strong>en. Aber das war es,was du die ganze Zeit getan hast: du übtest dich, loszulassen,ohne gleich den Kopf zu verlieren. Das Träumen istnatürlich die Krone <strong>der</strong> Bemühungen <strong>der</strong> Zauberer, diehöchste Möglichkeit, das Nagual zu nutzen.« Er zählte all dieÜbungen des Nichts-Tuns auf, die er mich hatte durchführenlassen, die Rout<strong>in</strong>egewohnheiten me<strong>in</strong>es täglichen Lebens, aufdie er mich h<strong>in</strong>gewiesen hatte, damit ich sie unterbräche, undall die Gelegenheiten, da er mich zwang, mich <strong>in</strong> <strong>der</strong> Gangart<strong>der</strong> <strong>Kraft</strong> zu üben. »Wir kommen jetzt zum Ende me<strong>in</strong>erZusammenfassung«, sagte er. »Und jetzt müssen wir überGenaro sprechen.« <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> sagte, es habe an dem Tag, als ich<strong>Don</strong> Genaro zum ersten Mal traf, e<strong>in</strong> sehr bedeutsamesOmen gegeben. Ich sagte ihm, ich könne mich an nichtsUngewöhnliches ents<strong>in</strong>nen. Er er<strong>in</strong>nerte mich daran, wie wir anjenem Tag auf e<strong>in</strong>er Bank im Park gesessen hatten. Davor habeer erwähnt, sagte er, daß er auf e<strong>in</strong>en Freund warte, den ichnoch nie gesehen hätte, und daß ich dann, als dieser Freundauftauchte, ihn <strong>in</strong>mitten e<strong>in</strong>er großen Menschenmenge ohneZögern erkannt hätte. Das sei das Omen gewesen, das ihnhatte erkennen lassen, daß <strong>Don</strong> Genaro me<strong>in</strong> Wohltäter sei.Jetzt, da er es sagte, er<strong>in</strong>nerte ich mich daran, daß ich,während wir dasaßen und uns unterhielten, mich plötzlichumgedreht und e<strong>in</strong>en kle<strong>in</strong>en, schlanken Mann gesehen hatte,<strong>der</strong> e<strong>in</strong>e ungewöhnliche Vitalität o<strong>der</strong> Grazie o<strong>der</strong> e<strong>in</strong>fach guteLaune ausstrahlte. Er war gerade um die Ecke <strong>in</strong> den Parkgebogen. Scherzhaft aufgelegt, hatte ich zu <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> gesagt,se<strong>in</strong> Freund sei im Anmarsch, und nach se<strong>in</strong>em Aussehen zuurteilen, sei er höchstwahrsche<strong>in</strong>lich e<strong>in</strong> Zauberer. »Vondiesem Tag an hat Genaro stets geraten, was mit dir geschehensollte«, fuhr <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> fort. »Als de<strong>in</strong> Führer zum Nagual gaber dir makellose Demonstrationen, und jedesmal, wenn er alsNagual e<strong>in</strong>e Tat vollbrachte, warst du um e<strong>in</strong>Wissen bereichert, das de<strong>in</strong>e Vernunft herausfor<strong>der</strong>te und ihrentzogen war. Er nahm de<strong>in</strong>e Ansicht <strong>der</strong> Welt ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong>,obwohl du das immer noch nicht weißt. Auch <strong>in</strong> diesem Fallhast du dich genauso verhalten wie im Falle <strong>der</strong> <strong>Kraft</strong>-Pflanzen,die du mehr als notwendig brauchtest. Nur wenige Ansriffedes Nagual sollten genügen, um die Ansicht e<strong>in</strong>es Menschenzu demontieren. Aber sogar heute noch, nach all diesemTrommelfeuer des Nagual, sche<strong>in</strong>t de<strong>in</strong>e Ansicht unverletzlich zuse<strong>in</strong>. Seltsamerweise ist dies de<strong>in</strong>e beste Eigenschaft. Alles <strong>in</strong>allem war es also Genaros Aufgabe, dich <strong>in</strong> das Naguale<strong>in</strong>zuführen. Aber jetzt kommt e<strong>in</strong>e komische Frage: Waswurde da eigentlich <strong>in</strong> das Nagual e<strong>in</strong>geführt?«Augenzw<strong>in</strong>kernd drängte er mich, die Frage zu beantworten.»Me<strong>in</strong>e Vernunft?«»Ne<strong>in</strong>, die Vernunft ist hier belanglos«, antwortete er. »DieVernunft bricht <strong>in</strong> dem Augenblick zusammen, da sie sichaußerhalb ihrer engen, sicheren Grenzen bef<strong>in</strong>det.« »Dann wares wohl me<strong>in</strong> Tonal?« sagte ich. »Ne<strong>in</strong>, das Tonal und dasNagual s<strong>in</strong>d die zwei zusammengehörigen Teile unseresSelbst«, sagte er scharf. »Sie können nicht <strong>in</strong>e<strong>in</strong>an<strong>der</strong>übergeführt werden.« »Me<strong>in</strong>e Wahrnehmung?«, fragte ich.»Du hast es!« schrie er, als sei ich e<strong>in</strong> K<strong>in</strong>d, das die richtigeAntwort getroffen hat. »Jetzt kommen wir zur Erklärung <strong>der</strong>Zauberer. Ich habe dich ja schon gewarnt, daß sie nichtserklären wird, und doch . . .«Er machte e<strong>in</strong>e Pause und sah mich mit strahlenden Augen an.»Dies ist noch e<strong>in</strong>er von den Tricks <strong>der</strong> Zauberer«, sagte er.»Was me<strong>in</strong>st du? Was ist <strong>der</strong> Trick?« fragte ich, leicht beunruhigt.»Die Erklärung <strong>der</strong> Zauberer, natürlich«, erwi<strong>der</strong>te er. »Daswirst du gleich selbst sehen. Aber laß mich fortfahren! DieZauberer behaupten, daß wir <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Blase stecken. In e<strong>in</strong>erBlase, <strong>in</strong> die wir im Augenblick unserer Geburt gestecktwerden. Zuerst ist die Blase offen, aber dann beg<strong>in</strong>nt sie sichzu schließen, bis sie uns ganz e<strong>in</strong>geschlossen hat. Diese Blaseist unsere Wahrnehmung. Unser Leben lang leben wir <strong>in</strong>274 275


dieser Blase. Und was wir an ihren gewölbten Wänden sehen,ist unser eigenes Spiegelbild.«Er senkte den Kopf und sah mich schief an. Er kicherte. »Dukneifst«, sagte er. »Hier solltest du e<strong>in</strong>en E<strong>in</strong>wandmachen.«Ich lachte. Irgendwie hatten se<strong>in</strong>e Warnungen vor <strong>der</strong> Erklärung<strong>der</strong> Zauberer, zusammen mit <strong>der</strong> Erkenntnis des staunenswertenGrades se<strong>in</strong>er Bewußtheit, angefangen, bei mirWirkung zu zeigen.»Welchen E<strong>in</strong>wand sollte ich denn machen?« fragte ich.»Wenn das, was wir an den Wänden sehen, unser eigenesSpiegelbild ist, dann muß das, was gespiegelt wird, das Eigentlichese<strong>in</strong>«, sagte er lächelnd.»Das ist e<strong>in</strong> guter E<strong>in</strong>wand«, sagte ich <strong>in</strong> scherzendem Ton.Diesem Argument konnte me<strong>in</strong>e Vernunft folgen. »Das, wasda reflektiert wird, ist unsere Ansicht <strong>der</strong> Welt«, sagte er.»Diese Ansicht ist zuerst e<strong>in</strong>e Beschreibung, die uns imAugenblick unserer Geburt gegeben wird, bis unsere ganzeAufmerksamkeit von ihr gefangengenommen wird und dieBeschreibung e<strong>in</strong>e Ansicht wird.Die Aufgabe des Lehrers ist nun, diese Ansicht umzuordnen,das leuchtende Wesen auf den Zeitpunkt vorzubereiten, da <strong>der</strong>Wohltäter die Blase von außen her öffnet.« Wie<strong>der</strong> machte ere<strong>in</strong>e effektvolle Pause und beschwerte sich über me<strong>in</strong>emangelnde Aufmerksamkeit, da ich offenbar nicht <strong>in</strong> <strong>der</strong> Lagesei, e<strong>in</strong>e passende Bemerkung zu machen o<strong>der</strong> Fragen zustellen.»Welche Frage hätte ich denn stellen sollen?« fragte ich.»Warum sollte die Blase geöffnet werden?« antwortete er. Erlachte laut auf und klopfte mir den Rücken, als ich sagte: »Dasist e<strong>in</strong>e gute Frage.«»Natürlich! Sie muß dir ja gut vorkommen, denn sie ist ja e<strong>in</strong>evon de<strong>in</strong>en Fragen.«»Die Blase wird geöffnet, um dem leuchtenden Wesen denAnblick se<strong>in</strong>er Ganzheit zu gestatten«, fuhr er fort. »Natürlichist das Ganze, die Bezeichnung als Blase, nur e<strong>in</strong>e bildlicheRedeweise, aber <strong>in</strong> diesem Fall trifft sie buchstäblich zu. Dasschwierige Manöver, e<strong>in</strong> leuchtendes Wesen zur Ganzheit se<strong>in</strong>esSelbst zu führen, verlangt, daß <strong>der</strong> Lehrer von <strong>in</strong>ner-halb <strong>der</strong> B lase und <strong>der</strong> W ohltäter von außerhalb arbeitet. D erLehrer ordnet die Ansicht <strong>der</strong> W elt neu. Diese Ansicht habeich die Insel des Tonal genannt. Ich sagte dir, daß alles, waswir s<strong>in</strong>d, sich auf dieser Insel bef<strong>in</strong>det. Die Erklärung <strong>der</strong>Zauberer sagt nun, daß die Insel des Tonal durch unsereW ahrnehmung entsteht, die geschult ist, sich auf gewisseElemente zu konzentrieren. Jedes dieser Elemente und allezusammen bilden unsere Ansicht <strong>der</strong> W elt. Die Aufgabe e<strong>in</strong>esLehrers, was die W ahrnehmung des Lehrl<strong>in</strong>gs betrifft, bestehtdar<strong>in</strong>, alle Elemente <strong>der</strong> Insel auf <strong>der</strong> e<strong>in</strong>en Hälfte <strong>der</strong> Blase zuversammeln. Du mußt <strong>in</strong>zwischen erkannt haben, daß dasAufräumen und Neuordnen <strong>der</strong> Insel des Tonal nichts an<strong>der</strong>esbedeutet, als ihre Elemente auf die Seite <strong>der</strong> Vernunft umzugruppieren.M e<strong>in</strong>e Aufgabe war es, de<strong>in</strong>e alltägliche Ansichtumzuordnen, nicht sie zu zerstören, son<strong>der</strong>n sie zu zw<strong>in</strong>gen,sich auf <strong>der</strong> Seite <strong>der</strong> Vernunft zu sammeln. Dies hast dubesser geschafft als irgend jemand, den ich kenne.« Erzeichnete e<strong>in</strong>en imag<strong>in</strong>ären Kreis auf den Fels und teilte ihnm ittels e<strong>in</strong>es vertikalen D urchm essers <strong>in</strong> zwei H älften. Er sagte,es sei die Kunst e<strong>in</strong>es Lehrers, se<strong>in</strong>en Schüler zu zw<strong>in</strong>gen, se<strong>in</strong>eAnsicht <strong>der</strong> W elt auf <strong>der</strong> rechten H älfte <strong>der</strong> B lase zugruppieren.»W arum die rechte H älfte?« fragte ich. »D as ist die Seite desTonal«, sagte er. »<strong>Der</strong> Lehrer wendet sich immer an dieseSeite, und <strong>in</strong>dem er se<strong>in</strong>en Lehrl<strong>in</strong>g e<strong>in</strong>erseits m it <strong>der</strong>Lebensweise des Kriegers bekannt macht, zw<strong>in</strong>gt er ihn zurVernunftlosigkeit und Nüchternheit, zu charakterlicher undkörperlicher Stärke. Und <strong>in</strong>dem er ihn an<strong>der</strong>erseits vorunausdenkbare, aber reale Situationen stellt, die <strong>der</strong> Lehrl<strong>in</strong>gsich nicht erklären kann, zw<strong>in</strong>gt er ihn zu erkennen, daß se<strong>in</strong>eVernunft, obwohl sie etwas ganz W un<strong>der</strong>bares ist, nur e<strong>in</strong>enkle<strong>in</strong>en Bereich erfassen kann. Sobald <strong>der</strong> Krieger mit se<strong>in</strong>erUnfähigkeit konfrontiert ist, alles vernünftig zu ergründen, wir<strong>der</strong> jede Anstrengung machen, se<strong>in</strong>e besiegte Vernunft zustützen und zu verteidigen, und zu diesem Zweck wird er alles,was er hat, um sie versammeln. Dafür sorgt <strong>der</strong> Lehrer, <strong>in</strong>demer ihn unnachsichtig bearbeitet, bis se<strong>in</strong>e Ansicht <strong>der</strong> W elt sich<strong>in</strong>sgesamt auf <strong>der</strong> e<strong>in</strong>en Hälfte <strong>der</strong> Blase bef<strong>in</strong>det. Die an<strong>der</strong>e,die freigehaltene H älfte <strong>der</strong>276 277


Blase kann dann von etwas beansprucht werden, das dieZauberer W ille nennen.Dies läßt sich besser erklären, wenn wir sagen, daß die Aufgabedes Lehrers dar<strong>in</strong> besteht, die e<strong>in</strong>e Hälfte <strong>der</strong> Blase re<strong>in</strong>zufegenund alles auf <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Hälfte neu zu ordnen. Die Aufgabedes W ohltäters ist es dann, die Blase auf <strong>der</strong> leergefegten Seitezu öffnen. Sobald das Siegel gebrochen ist, ist <strong>der</strong> K rieger nichtmehr <strong>der</strong> gleiche. Dann steht ihm se<strong>in</strong>e Ganzheit zu Gebot. DieHälfte <strong>der</strong> Blase ist ganz und gar Zentrum <strong>der</strong> Vernunft, dasTonal. Die an<strong>der</strong>e Hälfte ist ganz und gar Zentrum desW illens, das Nagual. Dies ist die Ordnung, die vorherrschensollte. Jede an<strong>der</strong>e Verteilung ist uns<strong>in</strong>nig und schäbig, weilsie gegen unsere Natur verstößt. Sie raubt uns unser magischesErbe und reduziert uns auf e<strong>in</strong> N ichts.« <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> stand auf,reckte Arme und Rücken, und lie f umher, um se<strong>in</strong>e M uskelnzu lockern. Inzwischen war es etwas kühl geworden,. Ich fragteihn, ob wir fertig seien. »W ieso? Die Schau hat noch nichte<strong>in</strong>mal angefangen!« rief er lachend. »Das war erst <strong>der</strong>Anfang!«Er schaute zum Himmel und wies mit e<strong>in</strong>er nachlässigenHandbewegung nach W esten.»Etwa <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Stunde wird das Nagual hier se<strong>in</strong>«, sagte er. Ersetzte sich wie<strong>der</strong>.»E<strong>in</strong>e Frage haben wir bisher ausgelassen«, fuhr er fo rt. »DieZauberer nennen sie das Geheimnis <strong>der</strong> leuchtenden W esen,und dieses ist die Tatsache, daß wir wahrnehmende W esens<strong>in</strong>d. W ir M enschen und alle an<strong>der</strong>en leuchtenden W esen aufErden s<strong>in</strong>d W ahrnehmende. Das ist unsere Blase, die Blase<strong>der</strong> W ahrnehmung. Unser Irrtum ist, daß wir glauben, diee<strong>in</strong>zig anerkennenswerte W ahrnehmung sei das, was durchunsere Vernunft gefiltert ist. D ie Zauberer glauben, daß dieVernunft nur e<strong>in</strong> Zentrum ist und daß man nicht gar so fest mitihr rechnen sollte.Genaro und ich haben dich die Sache mit den acht Punktengelehrt, welche die Ganzheit unserer Blase <strong>der</strong> W ahrnehmungausmachen. Sechs Punkte kennst du bereits. Heute werdenGenaro und ich de<strong>in</strong>e Blase <strong>der</strong> W ahrnehmung noch weiterleerfegen, und danach wirst du die zwei restlichen Punkteerkennen.«Unvermittelt wechselte er das Thema und bat mich, ihm e<strong>in</strong>enausführlichen Bericht über me<strong>in</strong>e Wahrnehmungen am Vortagzu geben, ausgehend von dem Augenblick, da ich <strong>Don</strong> Genaroauf e<strong>in</strong>em Felsen neben <strong>der</strong> Straße hatte sitzen sehen. Er gabke<strong>in</strong>erlei Kommentar von sich und unterbrach mich nicht. Alsich geendet hatte, fügte ich noch e<strong>in</strong>e eigene Beobachtung an.Am an<strong>der</strong>en Morgen hatte ich nämlich mit Nestor und Pablitogesprochen, und sie hatten mir von ihren Wahrnehmungenberichtet, die den me<strong>in</strong>en ganz ähnlich waren. Ich me<strong>in</strong>te nun,daß er selbst mir gesagt habe, das »Nagual« sei e<strong>in</strong>e<strong>in</strong>dividuelle Erfahrung, die nur <strong>der</strong> Beobachter alle<strong>in</strong>erleben könne. Am Vortag waren wir drei Beobachter gewesen,und alle hatten wir mehr o<strong>der</strong> m<strong>in</strong><strong>der</strong> dasselbe erlebt. DieUnterschiede drückten sich nur <strong>in</strong> <strong>der</strong> Art aus, wie je<strong>der</strong> vonuns auf spezifische E<strong>in</strong>zelheiten des ganzen Phänomens reagierteo<strong>der</strong> was er dabei empfand.»Was gestern geschah, war e<strong>in</strong>e Demonstration des Nagual fürdich und für Nestor und Pablito. Ich b<strong>in</strong> ihr Wohltäter. Genaround ich haben zusammen bei euch allen dreien das Zentrum<strong>der</strong> Vernunft ausgeschaltet. Genaro und ich hatten genügend<strong>Kraft</strong>, um euch zur Übere<strong>in</strong>stimmung über das zu br<strong>in</strong>gen, wasihr erlebtet. Vor e<strong>in</strong>igen Jahren waren du und ich e<strong>in</strong>es Nachtsmit e<strong>in</strong>er Gruppe von Lehrl<strong>in</strong>gen zusammen, aber ich alle<strong>in</strong>hatte nicht genug <strong>Kraft</strong>, um euch alle dasselbe erleben zulassen.«Er sagte, daß er aufgrund dessen, was ich ihm über me<strong>in</strong>eWahrnehmungen am Vortag berichtet und was er an mir»gesehen« hatte, zu dem Schluß gekommen sei, daß ich für dieErklärung <strong>der</strong> Zauberer bereit sei. Pablito ebenfalls, setzte erh<strong>in</strong>zu, doch bei Nestor sei er sich nicht sicher. »Für dieErklärung <strong>der</strong> Zauberer bereit se<strong>in</strong>, das ist e<strong>in</strong>e sehr schwierigeErrungenschaft«, sagte er. »Das sollte es nicht se<strong>in</strong>, aber wirlassen uns gehen und gefallen uns <strong>in</strong> unserer lebenslangenAnsicht <strong>der</strong> Welt. In dieser H<strong>in</strong>sicht seid ihr, du. Nestor undPablito, euch ähnlich. Nestor versteckt sich h<strong>in</strong>ter se<strong>in</strong>er Scheuund Schwermut, Pablito h<strong>in</strong>ter se<strong>in</strong>em entwaffnenden Charme.Du versteckst dich h<strong>in</strong>ter de<strong>in</strong>em Vorwitz und h<strong>in</strong>ter Worten.All dies s<strong>in</strong>d Ansichten, die sche<strong>in</strong>bar nicht <strong>in</strong> Frage zu stellens<strong>in</strong>d. Und solange ihr drei darauf278 279


eharrt, euch ihrer zu bedienen, so lange s<strong>in</strong>d eure Blasen <strong>der</strong>Wahrnehmung nicht leergefegt, und die Erklärung <strong>der</strong> Zaubererhat für euch ke<strong>in</strong>en S<strong>in</strong>n.«Witzig aufgelegt, me<strong>in</strong>te ich, diese berühmte Erklärung <strong>der</strong>Zauberer habe mir lange genug zu schaffen gemacht, aber jenäher ich ihr käme, desto ferner ersche<strong>in</strong>e sie mir. »Wäre esnicht e<strong>in</strong> D<strong>in</strong>g, wenn die Erklärung <strong>der</strong> Zauberer sich als e<strong>in</strong>eNiete herausstellte?« fragte er unter lautem Gelächter. Erklopfte mir den Rücken und schien vergnügt wie e<strong>in</strong> K<strong>in</strong>d, dassich über e<strong>in</strong>en gelungenen Streich freut. »Genaro ist e<strong>in</strong>pedantischer Verfechter <strong>der</strong> Regel«, me<strong>in</strong>te er <strong>in</strong> vertraulichemTon. »Es hat nicht viel auf sich mit dieser verflixten Erklärung.Wäre es nach mir gegangen, dann hätte ich sie dir schon vorJahren gegeben. Erwarte dir also nicht zu viel davon!«Er blickte prüfend zum Himmel auf.»Jetzt bist du bereit«, sagte er <strong>in</strong> dramatischem, feierlichemTon. »Es ist Zeit, daß wir gehen. Aber bevor wir diesen Ortverlassen, muß ich dir noch e<strong>in</strong> letztes sagen: Das Mysteriumo<strong>der</strong> das Geheimnis <strong>der</strong> Erklärung <strong>der</strong> Zauberer ist, daß esdabei um das Ausbreiten <strong>der</strong> Flügel <strong>der</strong> Wahrnehmung geht.« Erlegte die Hand auf me<strong>in</strong>en Schreibblock und me<strong>in</strong>te, ich sollejetzt <strong>in</strong>s Gebüsch gehen und me<strong>in</strong>e körperlichen Funktionenverrichten, und danach sollte ich me<strong>in</strong>e Klei<strong>der</strong> ausziehen undsie als Bündel hier, wo wir waren, zurücklassen. Ich schauteihn fragend an, und er erklärte, ich müsse nackt se<strong>in</strong>, aber ichdürfe die Schuhe an und den Hut aufbehalten. Ich wolltewissen, warum ich nackt se<strong>in</strong> müsse. Lachend sagte <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong>,<strong>der</strong> Grund dafür sei eher e<strong>in</strong> persönlicher, und es gehe dabeium me<strong>in</strong>e eigene Bequemlichkeit. Ich selbst hätte ihm gesagt,daß ich es so haben wolle. Diese Erklärung verblüffte mich. Ichglaubte, daß er sich über mich lustig machte o<strong>der</strong>, <strong>in</strong>Übere<strong>in</strong>stimmung mit se<strong>in</strong>en vorangegangenen Eröffnungen,e<strong>in</strong>fach me<strong>in</strong>e Aufmerksamkeit ablenken wollte. Ich wolltewissen, warum er dies tat. Er er<strong>in</strong>nerte mich an e<strong>in</strong> Erlebnis,das ich vor Jahren gehabt hatte, als wir mit <strong>Don</strong> Genaro <strong>in</strong> denBergen Nordmexikos waren. Bei dieser Gelegenheit hatten siemir ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong>gesetzt, daß die »Vernunft« unmöglich alleserklären könne, was<strong>in</strong> <strong>der</strong> Welt geschieht. Um mir e<strong>in</strong>e unabweisbare Demonstrationdessen zu geben, führte <strong>Don</strong> Genaro - als »Nagual« —e<strong>in</strong>en ungeheuren Sprung vor und »dehnte sich aus«, bis er dieSpitzen <strong>der</strong> etwa zwanzig Kilometer entfernten Berge erreichte.Daraufh<strong>in</strong> hatte <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> mir erklärt, daß ich dasWesentliche verpaßt hätte und daß <strong>Don</strong> Genaros Demonstration,was me<strong>in</strong>e »Vernunft« betraf, e<strong>in</strong> Fehlschlag gewesensei; doch im H<strong>in</strong>blick auf me<strong>in</strong>e körperliche Reaktion habe sie jae<strong>in</strong>en wahren Aufruhr ausgelöst.Die Körperreaktion, auf die <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> anspielte, war etwas,woran ich noch immer e<strong>in</strong>e lebhafte Er<strong>in</strong>nerung bewahrte. Ichsah damals <strong>Don</strong> Genaro vor me<strong>in</strong>en Augen verschw<strong>in</strong>den, alshabe e<strong>in</strong> W<strong>in</strong>dstoß ihn fortgeweht. Se<strong>in</strong> Sprung, o<strong>der</strong> was esauch se<strong>in</strong> mochte, hatte e<strong>in</strong>e so tiefe Wirkung auf michausgeübt, daß ich glaubte, se<strong>in</strong>e Bewegung habe mir dieGedärme zerrissen. Mir wi<strong>der</strong>fuhr e<strong>in</strong> Unglück, und ich mußteme<strong>in</strong> Hemd und me<strong>in</strong>e Hose wegwerfen. Me<strong>in</strong>e Verlegenheitund Pe<strong>in</strong>lichkeit waren grenzenlos; ich mußte nackt, nur denHut auf dem Kopf, auf e<strong>in</strong>em verkehrsreichen Highway bis zume<strong>in</strong>em Auto gehen. <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> er<strong>in</strong>nerte mich daran, daß ichihn damals gebeten hatte, nicht zuzulassen, daß ich mir noche<strong>in</strong>mal me<strong>in</strong>e Sachen ru<strong>in</strong>ierte.Nachdem ich mich ausgezogen hatte, g<strong>in</strong>gen wir e<strong>in</strong>ige hun<strong>der</strong>tSchritt zu e<strong>in</strong>em sehr hohen Felsen, <strong>der</strong> die gleiche Schluchtüberragte. Er hieß mich h<strong>in</strong>absehen. Die Wände stürzten fastsenkrecht an die fünfzig Meter h<strong>in</strong>ab. Dann befahl er mir,me<strong>in</strong>en <strong>in</strong>neren Dialog abzustellen und auf die Geräusche umuns her zu lauschen.Nach e<strong>in</strong>er Weile hörte ich das Geräusch e<strong>in</strong>es von Fels zuFels <strong>in</strong> die Schlucht kollernden Kiesels. Jeden e<strong>in</strong>zelnen Aufpralldes Ste<strong>in</strong>chens hörte ich mit unvorstellbarer Klarheit.Dann hörte ich noch e<strong>in</strong>en Ste<strong>in</strong> fallen und dann noch e<strong>in</strong>en.Ich hob den Kopf und brachte me<strong>in</strong> l<strong>in</strong>kes Ohr <strong>in</strong> die Richtung,aus <strong>der</strong> das Geräusch kam. und da sah ich <strong>Don</strong> Genaro auf <strong>der</strong>Spitze des Felsens sitzen, vier bis fünf Meter von unserer Stelleentfernt. Gleichmütig warf er kle<strong>in</strong>e Ste<strong>in</strong>e <strong>in</strong> die Schluchth<strong>in</strong>ab.Als ich ihn entdeckte, schrie und lachte er und me<strong>in</strong>te, er habesich dort versteckt und darauf gewartet, daß ich ihn entdeckte.280 281


E<strong>in</strong>en Augenblick war ich bestürzt. <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> flüsterte mirimmer wie<strong>der</strong> <strong>in</strong>s Ohr, daß me<strong>in</strong>e »Vernunft« zu diesemEreignis nicht e<strong>in</strong>geladen sei und daß ich den bohrendenWunsch, alles unter Kontrolle zu halten, aufgeben solle. Ersagte, das »Nagual« sei e<strong>in</strong>e nur f ü r mich bestimmte Wahrnehmung,und dies sei auch <strong>der</strong> Grund, warum Pablito das»Nagual« <strong>in</strong> me<strong>in</strong>em Auto nicht gesehen habe. Als könne erme<strong>in</strong>e unausgesprochenen Gedanken lesen, fügte er h<strong>in</strong>zu,daß das »Nagual«, obgleich nur alle<strong>in</strong> für mich zu sehen, doch<strong>Don</strong> Genaro selbst sei.<strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> nahm mich am Arm und führte mich mit gespielterBehutsamkeit dorth<strong>in</strong>, wo <strong>Don</strong> Genaro saß. <strong>Don</strong> Genaro standauf und kam näher. Se<strong>in</strong> Körper strahlte e<strong>in</strong>e Wärme aus,die ich förmlich sehen konnte, e<strong>in</strong> Leuchten, das michblendete. Er trat neben mich, und ohne mich zu berühren,brachte er se<strong>in</strong>en Mund ganz nah an me<strong>in</strong> l<strong>in</strong>kes Ohr und f<strong>in</strong>gan zu flüstern. Auch <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> f<strong>in</strong>g an, <strong>in</strong> me<strong>in</strong> an<strong>der</strong>es Ohr zuflüstern. Ihre Stimmen waren synchron. Beide wie<strong>der</strong>holtensie immer die gleichen Sätze. Sie sagten, daß ich mich nichtfürchten solle, daß ich lange, kraftvolle Fasern hätte, die nichtdazu da seien, mich zu schützen, denn es gebe nichts zubeschützen o<strong>der</strong> nichts, vor dem ich beschützt werden müsse;vielmehr seien sie dazu da. me<strong>in</strong>e Wahrnehmung des »Nagual«ganz ähnlich zu steuern, wie me<strong>in</strong>e Augen me<strong>in</strong>e normaleWahrnehmung des »Tonal« steuerten. Sie sagten, daß me<strong>in</strong>eFasern mich überall umgäben, daß ich durch sie alles gleichzeitigwahrnehmen könne und daß e<strong>in</strong>e e<strong>in</strong>zige Faser e<strong>in</strong>enSprung vom Felsen h<strong>in</strong>ab <strong>in</strong> die Schlucht o<strong>der</strong> aus <strong>der</strong> Schluchtwie<strong>der</strong> auf den Felsen h<strong>in</strong>auf ermöglichen würde. Ich hatte allesaufgenommen, was sie mir zuflüsterten. Jedes Wort schiene<strong>in</strong>e e<strong>in</strong>zigartige Bedeutung f ü r mich zu haben; ich konntejede ihrer Äußerungen behalten und mir wie<strong>der</strong> abspielen, alssei ich e<strong>in</strong> Tonbandgerät. Beide drängten mich, auf den Grund<strong>der</strong> Schlucht h<strong>in</strong>abzuspr<strong>in</strong>gen. Sie sagten, ich solle zuerst me<strong>in</strong>eFasern spüren und dann e<strong>in</strong>e davon isolieren, die bis h<strong>in</strong>ab zumGrund <strong>der</strong> Schlucht reiche, und dieser folgen. Während sie ihreKommandos flüsterten, waren ihre Worte bei mir sogar von denentsprechenden Gefühlen begleitet. Ich spürte e<strong>in</strong> Jucken amganzen Leib, beson<strong>der</strong>s e<strong>in</strong>eganz eigenartige Empf<strong>in</strong>dung, die an sich unbestimmbar war,aber dem Gefühl e<strong>in</strong>es »anhaltenden Juckens« gleichkam.Me<strong>in</strong> Körper konnte tatsächlich den Grund <strong>der</strong> Schluchtfühlen, und ich spürte dieses Gefühl als e<strong>in</strong> Jucken an e<strong>in</strong>erunbestimmten Stelle me<strong>in</strong>es Körpers.<strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> und <strong>Don</strong> Genaro redeten weiter auf mich e<strong>in</strong>, ichsolle an diesem Gefühl h<strong>in</strong>abgleiten, aber ich wußte nicht, wie.Dann hörte ich nur noch <strong>Don</strong> Genaros Stimme. Er sagte, erwerde mit mir zusammen spr<strong>in</strong>gen; er packte mich o<strong>der</strong> stießmich o<strong>der</strong> umarmte mich und stürzte sich mit mir <strong>in</strong> denAbgrund. Ich empfand die äußerste physische Pe<strong>in</strong>. Es war, alsob me<strong>in</strong> Magen mir bis zum Hals aufstieß. Es war e<strong>in</strong>e Mischungaus Schmerz und Lust und von solcher Heftigkeit und Dauer,daß ich nur mit aller Lungenkraft schreien und schreienkonnte. Als diese Empf<strong>in</strong>dung nachließ, sah ich e<strong>in</strong>unerklärliches Bündel von Funken und dunklen Massen,Lichtstrahlen und wolkenähnlichen Gebilden. Ich wußte jedochnicht, ob me<strong>in</strong>e Augen offen o<strong>der</strong> geschlossen wareno<strong>der</strong> wo me<strong>in</strong>e Augen waren o<strong>der</strong> wo überhaupt me<strong>in</strong> Körperwar. Dann empfand ich noch e<strong>in</strong>mal die gleiche physischePe<strong>in</strong>, wenn auch nicht so ausgeprägt wie das erste Mal, unddann hatte ich den E<strong>in</strong>druck, als sei ich eben erwacht, und ichfand mich zusammen mit <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> und <strong>Don</strong> Genaro auf demFelsen wie<strong>der</strong>.<strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> sagte, ich hätte wie<strong>der</strong> versagt, denn es sei zweckloszu spr<strong>in</strong>gen, wenn die Wahrnehmung des Sprungs so chaotischsei. Beide wie<strong>der</strong>holten mir zahllose Male <strong>in</strong> me<strong>in</strong>e Ohren, daßdas »Nagual« an sich nutzlos sei, daß es durch das »Tonal«bezähmt werden müsse. Sie sagten, ich müsse bereitwilligspr<strong>in</strong>gen und mir me<strong>in</strong>es Tuns bewußt se<strong>in</strong>. Ich zögerte,weniger weil ich Angst hatte, son<strong>der</strong>n weil ich wi<strong>der</strong>willig war.Ich spürte me<strong>in</strong> <strong>in</strong>neres Schwanken ganz so. als ob me<strong>in</strong>Körper wie e<strong>in</strong> Pendel h<strong>in</strong>- und herschwankte. Dann ergriffmich e<strong>in</strong>e seltsame Stimmung, und ich sprang -<strong>in</strong> allerKörperlichkeit. Während ich diesen Satz tat, versuchte ich zudenken, aber ich konnte nicht. Wie durch e<strong>in</strong>en Nebel sah ichdie Wände <strong>der</strong> engen Schlucht und die hervorspr<strong>in</strong>genden Felsenam Boden des Grabens. Me<strong>in</strong>e Wahrnehmung des Sturzesbildete ke<strong>in</strong>e Reihenfolge, vielmehr hatte ich das282 283


Gefühl, sofort unten am Boden zu se<strong>in</strong>; ich konnte alleEigentümlichkeiten <strong>der</strong> Felsen im engeren Umkreis unterscheiden.Ich bemerkte, daß me<strong>in</strong>e Sicht nicht unl<strong>in</strong>ear undauch nicht stereoskopisch war, son<strong>der</strong>n daß ich alles im Kreiseum mich her sah. und zwar fotografisch flach. Im nächstenAugenblick geriet ich <strong>in</strong> Panik, und irgend etwas zog mich wiee<strong>in</strong> Jo-Jo h<strong>in</strong>auf.<strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> und <strong>Don</strong> Genaro ließen mich immer wie<strong>der</strong> spr<strong>in</strong>gen.Nach jedem Sprung bedrängte <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> mich, ich solleweniger zurückhaltend und unwillig se<strong>in</strong>. Immer wie<strong>der</strong> sagteer, daß das Geheimnis <strong>der</strong> Zauberer bei <strong>der</strong> Nutzung des»Nagual« <strong>in</strong> unserer Wahrnehmung liege, daß das Spr<strong>in</strong>gen nure<strong>in</strong>e Wahrnehmungsübung sei und daß ich erst dann aufhörendürfe, wenn es mir gelungen sei, ganz als »Tonal«wahrzunehmen, was sich am Boden <strong>der</strong> Schlucht befand.Irgendwann hatte ich dann e<strong>in</strong>e unglaubliche Empf<strong>in</strong>dung. Ichwar mir völlig nüchtern bewußt, daß ich an <strong>der</strong> Felskante stand,während <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> und <strong>Don</strong> Genaro mir <strong>in</strong> die Ohrenflüsterten, und dann, im nächsten Augenblick, sah ich denGrund <strong>der</strong> Schlucht. Alles war völlig normal. Es war <strong>in</strong>zwischenfast dunkel, doch es gab immer noch genügend Licht, umalles exakt zu erkennen - wie <strong>in</strong> <strong>der</strong> Welt me<strong>in</strong>es alltäglichenLebens. Ich betrachtete gerade e<strong>in</strong> paar Büsche, als ichplötzlich e<strong>in</strong> Geräusch hörte, e<strong>in</strong>en herabkollernden Felsbrocken.Im gleichen Augenblick sah ich e<strong>in</strong>en ziemlich großenSte<strong>in</strong> über die Wand <strong>der</strong> Schlucht auf mich stürzen. Blitzartigsah ich auch, daß <strong>Don</strong> Genaro ihn geworfen hatte. Ich hattee<strong>in</strong>en Anfall von Panik, und im nächsten Augenblick wurde ichwie<strong>der</strong> an den alten Platz oben auf dem Felsen gehievt. Ichschaute mich um; <strong>Don</strong> Genaro war nicht mehr da. <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> f<strong>in</strong>gan zu lachen und me<strong>in</strong>te, <strong>Don</strong> Genaro sei gegangen, weil erme<strong>in</strong>en Gestank nicht habe ertragen können. Erst jetzt wurdemir pe<strong>in</strong>lich bewußt, daß ich mich tatsächlich besudelt hatte.<strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> hatte recht gehabt, mich me<strong>in</strong>e Klei<strong>der</strong> ausziehen zulassen. Er führte mich zu e<strong>in</strong>em Bach <strong>in</strong> <strong>der</strong> Nähe und wuschmich wie e<strong>in</strong> Pferd <strong>in</strong> <strong>der</strong> Schwemme, wobei er mit me<strong>in</strong>emHut Wasser schöpfte und mich begoß, und ließ sich übermütigüber die Tatsache aus, daß wir immerh<strong>in</strong> me<strong>in</strong>e Hosen gerettethatten.Die Blase <strong>der</strong> WahrnehmungDen Tag verbrachte ich alle<strong>in</strong> <strong>in</strong> <strong>Don</strong> Genaros <strong>Haus</strong>. Diemeiste Zeit schlief ich. Am Spätnachmittag kehrte <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong>zurück, und wir wan<strong>der</strong>ten <strong>in</strong> tiefem Schweigen zu e<strong>in</strong>ernahegelegenen Bergkette. Bei E<strong>in</strong>bruch <strong>der</strong> Dämmerungmachten wir halt und setzten uns am Rand e<strong>in</strong>er tiefenSchlucht, bis es be<strong>in</strong>ahe dunkel war. Dann führte <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong>mich an e<strong>in</strong>e an<strong>der</strong>e Stelle <strong>in</strong> <strong>der</strong> Nähe, zu e<strong>in</strong>er gigantischenKlippe mit e<strong>in</strong>er schier senkrechten Felswand. Die Klippe warvon dem Weg aus, <strong>der</strong> zu ihr h<strong>in</strong>führte, nicht zu sehen. Aber<strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> hatte sie mir schon e<strong>in</strong>ige Male zuvor gezeigt. Erhatte mich über den Rand h<strong>in</strong>unterspähen lassen und mirgesagt, daß die ganze Klippe e<strong>in</strong> Ort <strong>der</strong> <strong>Kraft</strong> sei, beson<strong>der</strong>saber ihre Basis, die <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em mehrere hun<strong>der</strong>t Fuß tiefenCanon lag. Jedesmal, wenn ich h<strong>in</strong>abschaute, hatte ich e<strong>in</strong>unangenehmes Frösteln empfunden. <strong>Der</strong> Canon wirkte immerdunkel und bedrohlich.Bevor wir die Stelle erreichten, sagte <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong>, ich müsse nunalle<strong>in</strong> weitergehen und würde am Rand <strong>der</strong> Klippe Pablitotreffen. Er empfahl mir, mich zu entspannen und die Gangart<strong>der</strong> <strong>Kraft</strong> anzuwenden, um me<strong>in</strong>e nervöse Müdigkeit abzuschütteln.<strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> trat zur Seite, l<strong>in</strong>ks vom Weg, und die Dunkelheitverschluckte ihn e<strong>in</strong>fach. Ich wollte stehen bleiben und nachschauen,woh<strong>in</strong> er gegangen war, aber me<strong>in</strong> Körper gehorchtemir nicht. Ich f<strong>in</strong>g an zu traben, obwohl ich so müde war, daßich mich kaum auf den Füßen halten konnte. Als ich die Klippeerreichte, konnte ich nichts mehr sehen, und so trabte ichweiter auf <strong>der</strong> Stelle und atmete tief. Nach e<strong>in</strong>er Weile fühlteich mich entspannter; ich stand reglos mit dem Rücken gegene<strong>in</strong>en Felsen gelehnt, und dann entdeckte ich e<strong>in</strong>ige Meter vormir die Gestalt e<strong>in</strong>es Mannes. Er hockte dort und barg denKopf <strong>in</strong> den Armen. E<strong>in</strong>en Augenblick hatte ich furchtbareAngst und fuhr zurück, aber dann erklärte ich mir, daß <strong>der</strong>Mann Pablito se<strong>in</strong> mußte, und ich näherte mich ihm, ohne zuzögern. Ich rief laut se<strong>in</strong>en Namen. Ich285


überlegte, vielleicht war er sich nicht sicher gewesen, wer ichsei, und war so erschrocken, daß er se<strong>in</strong>en Kopf bedeckt hatte,um nicht h<strong>in</strong>schauen zu müssen. Aber bevor ich bei ihm war,ergriff mich e<strong>in</strong>e unerklärliche Furcht. Me<strong>in</strong> Körper erstarrteauf <strong>der</strong> Stelle - mit ausgestrecktem Arm, bereit, ihn zuberühren. <strong>Der</strong> Mann hob den Kopf. Es war nicht Pablito! Se<strong>in</strong>eAugen waren zwei riesige Spiegel, wie die Augen e<strong>in</strong>es Tigers.Me<strong>in</strong> Körper schnellte rückwärts. Me<strong>in</strong>e Muskeln spanntensich und lockerten wie<strong>der</strong> ihre Spannung, ohne die ger<strong>in</strong>gsteBeteiligung me<strong>in</strong>es Willens, und ich tat e<strong>in</strong>en Satz nach h<strong>in</strong>ten,so schnell und so weit, daß ich unter normalen Umständenallerlei Spekulationen darüber angestellt hätte, wie das nurmöglich sei. In diesem Fall aber war me<strong>in</strong>e Angst soüberwältigend, daß ich ke<strong>in</strong>e Neigung zu Grübeleien verspürte,und ich wäre davongerannt, hätte nicht jemand michgewaltsam am Arm festgehalten. Das Gefühl, daß jemandme<strong>in</strong>en Arm gepackt hatte, stürzte mich gänzlich <strong>in</strong> Panik; ichschrie. Me<strong>in</strong> Ausbruch war aber nicht <strong>der</strong> Aufschrei, den icherwartet hätte, son<strong>der</strong>n e<strong>in</strong> langes, grauenerregendes Kreischen.Ich wandte mich zu me<strong>in</strong>em Angreifer um. Es war Pablito, <strong>der</strong>noch heftiger zitterte als ich. Me<strong>in</strong>e Nervosität erreichte ihrenGipfel. Ich konnte nicht sprechen, me<strong>in</strong>e Zähne klapperten,und über me<strong>in</strong>en Rücken liefen Wellenbewegungen, die michunfreiwillig auf- und abspr<strong>in</strong>gen ließen. Ich mußte durch denMund atmen.Zähneklappernd sagte Pablito, daß das »Nagual« ihn erwartethabe. Er sei ihm kaum entronnen, als er auf mich gestoßen sei,und ich hätte ihn dann mit me<strong>in</strong>em Schrei fast umgebracht. Ichwollte lachen und brachte die unheimlichsten Geräuscheheraus, die man sich vorstellen kann. Als ich me<strong>in</strong>e Ruhewie<strong>der</strong>gefunden hatte, sagte ich Pablito, daß mir ansche<strong>in</strong>enddasselbe wi<strong>der</strong>fahren sei. Auf mich hatte das Ganze schließlichdie Wirkung, daß me<strong>in</strong>e Müdigkeit verschwunden war; stattdessen empfand ich e<strong>in</strong>en unbezähmbaren Ansturm von <strong>Kraft</strong>und Wohlgefühl. Pablito schien die gleichen Gefühle zuerleben. Wir f<strong>in</strong>gen an. nervös und albern zu kichern. Ich hörtedie Laute von leisen, behutsamen Schritten <strong>in</strong> <strong>der</strong> Ferne. Ichbemerkte das Geräusch noch vor Pablito. Er schien286auf me<strong>in</strong>e Erstarrung zu reagieren. Ich hatte die Gewißheit,daß irgend jemand sich <strong>der</strong> Stelle näherte, wo wir waren. W irdrehten uns <strong>in</strong> die Richtung, aus <strong>der</strong> das Geräusch kam; e<strong>in</strong>enAugenblick später wurden die Umrisse von <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> und<strong>Don</strong> Genaro sichtbar. Sie g<strong>in</strong>gen gemächlich und bliebenzwei, drei M eter vor uns stehen. <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> schaute mich an,und D on G enaro schaute Pablito an. Ich wollte D on <strong>Juan</strong>erzählen, daß irgend etwas mich halb zu Tode erschreckthabe, aber Pablito kniff m ich <strong>in</strong> den Arm . Ich wußte, was erme<strong>in</strong>te. Es war irgend etwas M erkwürdiges um <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> und<strong>Don</strong> Genaro. Als ich sie anschaute, geriet me<strong>in</strong> Blick außerK ontrolle.<strong>Don</strong> Genaro stieß e<strong>in</strong> scharfes Kommando hervor. Ich verstandnicht, was er sagte, aber ich »wußte«, daß er geme<strong>in</strong>thatte, wir sollten nicht schielen.»D ie Dunkelheit hat sich über die W elt gesenkt«, sagte <strong>Don</strong><strong>Juan</strong> und sah zum Himmel.<strong>Don</strong> Genaro zeichnete e<strong>in</strong>en Halbmond auf den harten Ste<strong>in</strong>boden.E<strong>in</strong>en Augenblick kam es mir so vor, als habe er dazue<strong>in</strong>e Leuchtkreide benutzt, aber dann erkannte ich, daß ernichts <strong>in</strong> <strong>der</strong> Hand hatte; und doch nahm ich den imag<strong>in</strong>ärenH albm ond deutlich wahr, den er m it dem F<strong>in</strong>ger gezeichnethatte. Er ließ Pablito und m ich am <strong>in</strong>neren Rand des nachaußen gewölbten Bogens Platz nehmen, während er und <strong>Don</strong><strong>Juan</strong> sich mit untergeschlagenen Be<strong>in</strong>en an die äußeren Spitzendes Halbmonds setzten, zwei bis drei M eter von uns entfernt.Zuerst sprach D on J u a n ; er sagte, sie wollten uns nun ihreVerbündeten zeigen; er sagte, wir sollten auf ihre l<strong>in</strong>ke Körperseiteschauen, etwa zwischen dem Hüftknochen und denRippen, dort würden wir so etwas wie e<strong>in</strong>en Lappen o<strong>der</strong> e<strong>in</strong>Taschentuch von ihren Gürteln hängen »sehen«. <strong>Don</strong> Genarofügte h<strong>in</strong>zu, daß an ihren Gürteln, neben den Lappen, zweirunde, knopfartige D<strong>in</strong>ger h<strong>in</strong>gen und daß wir ihre Gürtelunverwandt anschauen sollten, bis wir die Lappen und dieKnöpfe »sehen« würden.Noch bevor <strong>Don</strong> Genaro gesprochen hatte, bemerkte ichbereits e<strong>in</strong>en flachen Gegenstand, etwas wie e<strong>in</strong> Stück Stoff,und e<strong>in</strong>en runden Kiesel, die an ihren Gürteln h<strong>in</strong>gen. <strong>Don</strong>287


<strong>Juan</strong>s Verbündete waren dunkler und bedrohlicher als die <strong>Don</strong>Genaros. Me<strong>in</strong>e Reaktion war e<strong>in</strong>e Mischung aus Neugier undFurcht. Dabei fühlte ich me<strong>in</strong>e Reaktionen im Bauch und stellteke<strong>in</strong>erlei rationale Überlegungen an. <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> und <strong>Don</strong> Genarogriffen nach ihren Gürteln und schienen die dunklen Stoffetzenabzunesteln. Sie nahmen sie <strong>in</strong> die l<strong>in</strong>ke Hand; <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> warfse<strong>in</strong>en über sich <strong>in</strong> die Luft, doch <strong>Don</strong> Genaro ließ se<strong>in</strong>en sachtzu Boden fallen. Die Stoffetzen streckten sich, als hätte dasEmporschleu<strong>der</strong>n und Fallenlassen bewirkt, daß sie sich wiesorgfältig gebügelte Taschentücher entfalteten: sie sankenlangsam herab, wobei sie wie Papierdrachen h<strong>in</strong>- undherschaukelten. Die Bewegungen, die <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong>s Verbündeterausführte, waren die exakte Wie<strong>der</strong>holung dessen, was ich ihnselbst hatte tun sehen, als er vor e<strong>in</strong> paar Tagen durch die Luftgekreiselt war. Die Stoffetzen näherten sich dem Boden, siewurden fest, rund und massiv. <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong>s Verbündeter wuchszu e<strong>in</strong>em volum<strong>in</strong>ösen Schatten an. Er setzte sich an die Spitzeund bewegte sich auf uns zu, wobei er kle<strong>in</strong>ere Ste<strong>in</strong>e und festeErdklumpen zerquetschte. Er näherte sich uns bis auf e<strong>in</strong>, zweiMeter und verharrte genau an <strong>der</strong> <strong>in</strong>neren Krümmung desHalbmonds, zwischen <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> und <strong>Don</strong> Genaro. E<strong>in</strong>enMoment me<strong>in</strong>te ich, er werde uns sogleich überrollen undpulverisieren. Me<strong>in</strong> Entsetzen lo<strong>der</strong>te wie Feuer. <strong>Der</strong> Schattenvor mir war gigantisch, vielleicht fünf Meter hoch und zweiMeter breit. Er bewegte sich, als müsse er sich bl<strong>in</strong>d se<strong>in</strong>enWeg ertasten. Er ruckte und taumelte h<strong>in</strong> und her. Ich wußte,daß er mich suchte. In diesem Augenblick barg Pablito se<strong>in</strong>enKopf an me<strong>in</strong>er Brust. Das Gefühl, das se<strong>in</strong>e Berührung <strong>in</strong> mirhervorrief, zerstreute e<strong>in</strong> wenig die furchtsame Aufmerksamkeit,mit <strong>der</strong> ich mich auf den Schatten konzentriert hatte. <strong>Der</strong> Schattenschien sich aufzulösen, jedenfalls nach se<strong>in</strong>en ziellosenZuckungen zu urteilen, und dann machte er sich davon undverschmolz mit <strong>der</strong> uns umgebenden Dunkelheit. Ich rütteltePablito. Er hob den Kopf und stieß e<strong>in</strong>en gedämpften Schreiaus. Ich blickte auf. E<strong>in</strong> seltsamer Mann starrte mich an. Erschien direkt h<strong>in</strong>ter dem Schatten gestanden, vielleicht sichh<strong>in</strong>ter ihm versteckt zu haben. Er war ziemlich groß undschlank, hatte e<strong>in</strong> längliches Gesicht, ke<strong>in</strong>e288Haare, und die l<strong>in</strong>ke Seite se<strong>in</strong>es Kopfes war von e<strong>in</strong>er ArtAusschlag o<strong>der</strong> Ekzem bedeckt. Se<strong>in</strong>e Augen leuchteten wild.Se<strong>in</strong> Mund stand halb offen. Bekleidet war er mit e<strong>in</strong>emeigenartigen Pyjama. Die Hosen waren ihm zu kurz. Ichkonnte nicht feststellen, ob er Schuhe trug o<strong>der</strong> nicht. So stan<strong>der</strong> da und schaute uns, wie mir schien, lange Zeit an, als ob erauf e<strong>in</strong>e Eröffnung wartete, um sich auf uns zu stürzen und unszu zerreißen. In se<strong>in</strong>en Augen lag e<strong>in</strong>e solche Intensität! Eswar nicht Haß o<strong>der</strong> Gewalt, son<strong>der</strong>n irgende<strong>in</strong> tierischesMißtrauen. Ich konnte die Spannung nicht länger ertragen. Ichwollte e<strong>in</strong>e Kampfstellung e<strong>in</strong>nehmen, die <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> mich vorJahren gelehrt hatte, und das hätte ich auch getan, wäre da nichtPablito gewesen, <strong>der</strong> mir zuflüsterte, daß <strong>der</strong> Verbündete nichtdie L<strong>in</strong>ie überschreiten könne, die <strong>Don</strong> Genaro auf den Bodengezeichnet hatte. Jetzt erkannte ich auch, daß dort e<strong>in</strong>e helleL<strong>in</strong>ie war, die das Unwesen vor uns zurückzuhalten schien.Nach e<strong>in</strong>er Weile wandte <strong>der</strong> Mann sich nach l<strong>in</strong>ks ab, genauwie vorh<strong>in</strong> <strong>der</strong> Schatten. Ich hatte den E<strong>in</strong>druck, daß <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong>und <strong>Don</strong> Genaro beide zurückgerufen hatten. Nun entstande<strong>in</strong>e kurze, stille Pause. Ich konnte <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> o<strong>der</strong> <strong>Don</strong> Genaronicht mehr sehen; sie saßen nicht mehr auf den Spitzen desHalbmonds. Plötzlich hörte ich e<strong>in</strong> Geräusch, als ob an <strong>der</strong>Stelle, wo wir saßen, zwei Ste<strong>in</strong>chen auf den festen Fußbodenfielen, und blitzartig war die Fläche vor uns erleuchtet, als seie<strong>in</strong> mildes, gelbliches Licht e<strong>in</strong>geschaltet worden. Vor unsstand e<strong>in</strong>e raubgierige Bestie, e<strong>in</strong> riesiger, ekeleregendaussehen<strong>der</strong> Kojote o<strong>der</strong> Wolf. Se<strong>in</strong> ganzer Körper war mite<strong>in</strong>em weißen Sekret bedeckt, vielleicht Schweiß o<strong>der</strong> Speichel.Se<strong>in</strong> Haar war zottig und feucht. Se<strong>in</strong>e Augen blickten wild. Erknurrte <strong>in</strong> bl<strong>in</strong><strong>der</strong> Wut, und mich durchfuhr e<strong>in</strong> Schauer. Se<strong>in</strong>eKiefer zitterten und Speichelflocken flogen umher. Er scharrteden Boden wie e<strong>in</strong> außer Rand und Band geratener Hund, <strong>der</strong>sich von e<strong>in</strong>er Kette zu befreien sucht. Dann richtete er sichauf den H<strong>in</strong>terbe<strong>in</strong>en auf und bewegte wie rasend se<strong>in</strong>eVor<strong>der</strong>pfoten und das Gebiß. Se<strong>in</strong>e ganze Wut schien daraufgerichtet, irgende<strong>in</strong>e Schranke vor uns zu durchbrechen. Mirwurde bewußt, daß me<strong>in</strong>e Angst vor dem rasenden Tier289


von an<strong>der</strong>er Art war als die Angst vor den zwei Ersche<strong>in</strong>ungen,die ich vorh<strong>in</strong> gesehen hatte. Me<strong>in</strong>e Furcht vor dieser Bestie ware<strong>in</strong> physischer Abscheu und Horror. In äußerster Ohnmachtbeobachtete ich ihr Toben. Plötzlich schien ihre Wildheitnachzulassen, und sie trottete davon. Dann hörte ich, wie etwasan<strong>der</strong>es sich uns näherte, o<strong>der</strong> vielleicht spürte ich es:plötzlich erhob sich drohend vor uns die Gestalt e<strong>in</strong>erkolossalen Raubkatze. Zuerst sah ich ihre Augen <strong>in</strong> <strong>der</strong>Dunkelheit. Sie waren riesig und starr, wie zwei das Lichtspiegelnde Wasserpfützen. Sie schnaubte und knurrte leise. Sieatmete schwer und glitt vor uns h<strong>in</strong> und her. ohne den Blickvon uns zu lassen. Sie hatte nicht jenes elektrische Leuchten,das <strong>der</strong> Kojote gehabt hatte. Ich konnte ihre Umrisse nichtklar erkennen, und doch war ihre Anwesenheit unendlichviel unheildrohen<strong>der</strong> als die <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Bestie. Sie schienihre Kräfte zu sammeln; ich spürte, sie war so wildentschlossen, daß sie alle Grenzen sprengen würde. Pablitomußte die gleiche Empf<strong>in</strong>dung haben, denn er flüsterte mir zu,ich solle me<strong>in</strong>en Kopf e<strong>in</strong>ziehen und mich flach auf den Bodenwerfen. In <strong>der</strong> nächsten Sekunde sprang die Katze los. Sie rasteauf uns zu - und dann sprang sie mit vorgestreckten Klauen. Ichschloß die Augen und verbarg den Kopf zwischen den Armenam Boden. Ich spürte, daß die Bestie die schützende L<strong>in</strong>ie, die<strong>Don</strong> Genaro um uns gezogen hatte, durchbrach und jetzttatsächlich über uns war. Ich spürte, wie ihr Gewicht michnie<strong>der</strong>drückte. Das Fell ihres Bauches scheuerte an me<strong>in</strong>emHals. Es schien, als steckten ihre Vor<strong>der</strong>pranken irgendwofest; sie wand sich, um freizukommen. Ich spürte ihr Ruckenund Stoßen und hörte ihr teuflisches Keuchen und Zischen.Jetzt wußte ich, daß ich verloren war. Ganz schwach empfandich so etwas wie e<strong>in</strong>e rationale Entscheidung, und ichbeschieß, mich ruhig <strong>in</strong> me<strong>in</strong> Schicksal zu fügen und hier zusterben, aber ich fürchtete mich vor dem körperlichen Schmerze<strong>in</strong>es Todes unter so schrecklichen Umständen. Dann stieg <strong>in</strong>me<strong>in</strong>em Körper irgende<strong>in</strong>e seltsame <strong>Kraft</strong> auf: es war, als obme<strong>in</strong> Körper sich weigerte zu sterben und all se<strong>in</strong>e Stärke ane<strong>in</strong>em e<strong>in</strong>zigen Punkt zusammenzog, nämlich <strong>in</strong> me<strong>in</strong>eml<strong>in</strong>ken Arm und <strong>der</strong> Hand. Ich spürte, wie e<strong>in</strong>e unbezähmbareAufwallung sie erfaßte. Irgend290etwas Unkontrollierbares nahm von me<strong>in</strong>em Körper Besitz,etwas, das mich zwang, die massive, bedrohliche Last dieserBestie von uns zu stoßen. Pablito hatte offenbar ganz ähnlichreagiert, und wir standen beide gleichzeitig auf; wir mobilisiertendabei so viel Energie, daß die Bestie wie e<strong>in</strong>e Stoffpuppedurch die Luft flog.Es war e<strong>in</strong>e übermäßige Anstrengung gewesen. Ich brach amBoden zusammen und japste nach Luft. Me<strong>in</strong>e Bauchmuskelnwaren so hart gespannt, daß ich nicht Atem holen konnte. Ichachtete nicht darauf, was mit Pablito geschah. Schließlichmerkte ich, daß <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> und <strong>Don</strong> Genaro mir halfen, michaufzusetzen. Jetzt sah ich Pablito, <strong>der</strong> bäuchl<strong>in</strong>gs, mit ausgebreitetenArmen, am Boden lag. Ansche<strong>in</strong>end war er ohnmächtiggeworden. Nachdem <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> und <strong>Don</strong> Genaro miraufgeholfen hatten, kümmerten sie sich um Pablito. Bei<strong>der</strong>ieben sie se<strong>in</strong>en Bauch und se<strong>in</strong>en Rücken ab. Sie stellten ihnauf die Füße, und nach e<strong>in</strong>er Weile konnte er wie<strong>der</strong> auseigner <strong>Kraft</strong> aufrecht sitzen.<strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> und <strong>Don</strong> Genaro setzten sich auf die Spitzen desHalbmonds, und nun begannen sie vor uns h<strong>in</strong> und her zugleiten, als ob zwischen den beiden Punkten e<strong>in</strong>e Schieneverlief - e<strong>in</strong>e Schiene, die sie benutzten, um von e<strong>in</strong>er Seitezur an<strong>der</strong>en zu gleiten. Vom H<strong>in</strong>schauen wurde mir schw<strong>in</strong>dlig.Schließlich machten sie neben Pablito halt und f<strong>in</strong>gen an, ihm<strong>in</strong>s Ohr zu flüstern. Nach e<strong>in</strong>er Weile standen sie auf, alle dreigleichzeitig, und g<strong>in</strong>gen zum Rand <strong>der</strong> Klippe. <strong>Don</strong> Genarohob Pablito hoch, als sei er e<strong>in</strong> kle<strong>in</strong>es K<strong>in</strong>d. Pablitos Körperwar brettsteif; <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> packte Pablito an den Fersen. Erwirbelte ihn herum, offenbar um <strong>Kraft</strong> und Schwung zusammeln, und schließlich ließ er se<strong>in</strong>e Be<strong>in</strong>e los und schleu<strong>der</strong>tese<strong>in</strong>en Körper <strong>in</strong> weitem Bogen über den Rand <strong>der</strong>Klippe <strong>in</strong> den Abgrund h<strong>in</strong>aus.Ich sah Pablitos Körper vor dem dunklen Westhimmel sichabheben. Er beschrieb Kreise, genau wie <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong>s Körper esvor Tagen getan hatte; die Kreisbewegungen waren langsam.Pablito schien Höhe zu gew<strong>in</strong>nen, statt h<strong>in</strong>abzustürzen. Dannwurde das Kreisen schneller. Pablitos Körper wirbelte e<strong>in</strong>enAugenblick herum wie e<strong>in</strong> Diskus, und dann zerfiel er. Ichnahm wahr, wie er sich förmlich <strong>in</strong> Luft auflöste.291


<strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> und <strong>Don</strong> Genaro kamen zu mir, hockten sich nebenmich und f<strong>in</strong>gen an, mir <strong>in</strong> die Ohren zu flüstern. Je<strong>der</strong> sagteetwas an<strong>der</strong>es, und doch fiel es mir nicht schwer, ihre Befehlezu befolgen. Es war, als würde ich »gespalten«, kaum daß siedie ersten Worte sagten. Ich spürte, daß sie mit mir dasselbemachten wie vorh<strong>in</strong> mit Pablito. <strong>Don</strong> Genaro wirbelte michherum, und dann hatte ich e<strong>in</strong>en Moment das ganz bewußteGefühl, zu kreiseln o<strong>der</strong> zu schweben. Als nächstes sauste ichdurch die Luft, stürzte ich mit ungeheurer Geschw<strong>in</strong>digkeit <strong>in</strong>den Abgrund. Im Fallen spürte ich, daß me<strong>in</strong>e Klei<strong>der</strong> heruntergerissenwurden, dann fiel me<strong>in</strong> Fleisch von mir, undschließlich blieb nur noch me<strong>in</strong> Kopf übrig. Ich hatte die ganzklare Empf<strong>in</strong>dung, daß ich, als me<strong>in</strong> Körper sich <strong>in</strong> Stückeauflöste, überflüssiges Gewicht verlor, und daß daher <strong>der</strong>Schwung me<strong>in</strong>es Sturzes nachließ und me<strong>in</strong>e Geschw<strong>in</strong>digkeitabnahm. Es war nun nicht mehr e<strong>in</strong> Sturz <strong>in</strong>s Bodenlose. Ichbegann h<strong>in</strong>- und herzuschaukeln wie e<strong>in</strong> fallendes Blatt. Dannverlor auch me<strong>in</strong> Kopf se<strong>in</strong> Gewicht, und alles, was von »mir«übrigblieb, war e<strong>in</strong> Kubikzentimeter, e<strong>in</strong> Klümpchen, e<strong>in</strong>w<strong>in</strong>ziger, körnchengroßer Rest. In ihm konzentrierte sich allme<strong>in</strong> Fühlen. Dann schien das Körnchen zu zerspr<strong>in</strong>gen, undich g<strong>in</strong>g <strong>in</strong> tausend Stücke. Ich wußte, o<strong>der</strong> irgend etwasirgendwo wußte, daß ich mir <strong>der</strong> tausend Stücke gleichzeitigbewußt war. Ich war dieses Bewußtse<strong>in</strong> selbst. Dann f<strong>in</strong>g e<strong>in</strong>Teil dieses Bewußtse<strong>in</strong>s an, sich zu regen, er stieg auf undwuchs. Ich konnte mich lokalisieren, und nach und nachgewann ich wie<strong>der</strong> das Gefühl von Grenzen, von wachenEmpf<strong>in</strong>dungen o<strong>der</strong> <strong>der</strong>gleichen, und plötzlich ergoß sich das»Ich«, das ich kannte und mit dem ich vertraut war, <strong>in</strong> denspektakulärsten Anblick aller vorstellbaren Komb<strong>in</strong>ationen von»schönen« Szenen; es war, als ob ich Tausende von Bil<strong>der</strong>n <strong>der</strong>Welt, von Menschen, von D<strong>in</strong>gen betrachtete. Dannverwischten sich diese Szenen. Ich hatte den E<strong>in</strong>druck, daß sieimmer schneller vor me<strong>in</strong>en Augen vorbeihuschten, bis ich sienicht mehr e<strong>in</strong>zeln wahrnehmen und untersuchen konnte.Schließlich war es, als ob ich den Aufbau <strong>der</strong> ganzen Welt <strong>in</strong>e<strong>in</strong>er ununterbrochenen, endlosen Kette vor me<strong>in</strong>en Augenablaufen sähe. Plötzlich fand ich mich neben <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> und<strong>Don</strong> Genaro auf<strong>der</strong> Klippe wie<strong>der</strong>. Sie flüsterten mir zu, daß sie mich zurückgeholthätten und daß ich das Unbekannte gesehen hätte, überdas man nicht sprechen könne. Sie sagten, daß sie mich noche<strong>in</strong>mal <strong>in</strong> dieses Unbekannte schleu<strong>der</strong>n würden und daß ichdie Flügel me<strong>in</strong>er W ahrnehmung sich entfalten lassen und das»Tonal« und das »N agual« gleichzeitig berühren solle, ohnemir bewußt zu se<strong>in</strong>, daß ich zwischen dem e<strong>in</strong>en und deman<strong>der</strong>en h<strong>in</strong>- und herpendelte.W ie<strong>der</strong> hatte ich das Gefühl, durch die Luft geschleu<strong>der</strong>t zuwerden, zu kreiseln und mit ungeheurer Geschw<strong>in</strong>digkeit zufallen. Dann explodierte ich. Ich löste mich auf. Irgend etwas <strong>in</strong>m ir verteilte sich. Es setzte etwas fre i, was ich m e<strong>in</strong> Leben langverschlossen gehalten hatte. Ich war m ir deutlich bewußt, daßme<strong>in</strong> <strong>in</strong>nerstes Reservoir angezapft war und daß es ungehemmtverström te. Es gab nicht länger diese m ir liebe E<strong>in</strong>heit, die ich»ich« nannte. Da war nichts, und doch war dieses Nichtserfüllt. Es war we<strong>der</strong> licht noch dunkel, we<strong>der</strong> heiß nochkalt, we<strong>der</strong> angenehm noch unangenehm. Nicht daß ich michbewegt o<strong>der</strong> stillgestanden hätte o<strong>der</strong> geschwebt wäre, auchwar ich ke<strong>in</strong>e vere<strong>in</strong>zelte E<strong>in</strong>heit, ke<strong>in</strong> Selbst, wie ich m ich zuerleben gewohnt b<strong>in</strong>. Ich war e<strong>in</strong>e M yriade von Selbsten, diealle »ich« waren, e<strong>in</strong>e Kolonie separater E<strong>in</strong>heiten, zwischendenen e<strong>in</strong> beson<strong>der</strong>er Zusammenhalt bestand und dieunaufhaltsam zusammenstrebten, um e<strong>in</strong> e<strong>in</strong>zelnesB ewußtse<strong>in</strong>, m e<strong>in</strong> m enschliches B ewußtse<strong>in</strong> zu bilden. N ichtdaß ich jenseits aller Zweifel »gewußt« hätte - denn es gabnichts, womit ich hätte »wissen« können, son<strong>der</strong>n alle me<strong>in</strong>ee<strong>in</strong>zelnen Bewußtse<strong>in</strong>e »wußten« -, daß das »Ich«, das »Selbst«me<strong>in</strong>er vertrauten W elt e<strong>in</strong>e Kolonie, e<strong>in</strong> Konglomerat vonisolierten, unabhängigen Gefühlen war, die e<strong>in</strong>an<strong>der</strong> <strong>in</strong>unauflösbarer Solidarität verbunden waren. Die unauflösbarSolidarität m e<strong>in</strong>er zahllosen B ewußtse<strong>in</strong>e, <strong>der</strong> Zusam m enhaltdieser Teile untere<strong>in</strong>an<strong>der</strong>, das war me<strong>in</strong>e Lebenskraft.U m diese e<strong>in</strong>heitliche Em pf<strong>in</strong>dung irgendwie zu beschreiben,könnte man sagen, daß diese Körnchen Bewußtse<strong>in</strong> verstreutwaren; jedes war se<strong>in</strong>er selbst bewußt, und ke<strong>in</strong>es überwogvor den an<strong>der</strong>en. Dann rührte irgend etwas sie auf, und sievere<strong>in</strong>igten sich und strömten <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e Region, wo sie sich alle292 293


auf e<strong>in</strong>em Haufen versammeln mußten, dem »Ich«, das ichkenne. Und als »ich«, als »ich selbst« beobachtete ich danne<strong>in</strong>e zusammenhängende Szene irdischer Aktivität o<strong>der</strong> e<strong>in</strong>eSzene, die an<strong>der</strong>en Welten angehörte und die ich für re<strong>in</strong>eImag<strong>in</strong>ation halten mußte, o<strong>der</strong> e<strong>in</strong>e Szene, die dem »re<strong>in</strong>enDenken« zugehörte, das heißt, ich hatte Visionen von <strong>in</strong>tellektuellenSystemen o<strong>der</strong> von Ideen, die zu Verbalisierungengebündelt waren. In manchen Szenen sprach ich nach Herzenslustmit mir selbst. Nach je<strong>der</strong> dieser zusammenhängendenVisionen löste das »Ich« sich auf und war wie<strong>der</strong> nichts. Beie<strong>in</strong>er dieser Exkursionen <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e zusammenhängende Visionerlebte ich mich oben auf <strong>der</strong> Klippe neben <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong>.Augenblicklich erkannte ich, daß ich nun das ganze, mirvertraute Ich war. Ich empfand me<strong>in</strong>e Physis als real. Ich war <strong>in</strong><strong>der</strong> Welt, statt sie nur anzuschauen.<strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> herzte mich wie e<strong>in</strong> K<strong>in</strong>d. Se<strong>in</strong> Gesicht war ganznah. Ich konnte se<strong>in</strong>e Augen <strong>in</strong> <strong>der</strong> Dunkelheit sehen. Siewaren freundlich. Sie schienen e<strong>in</strong>e Frage aussprechen zuwollen. Ich wußte, was es war. Das Unaussprechliche warwirklich unaussprechlich.»Gut?« fragte er leise, als bedürfe er me<strong>in</strong>er Bestätigung. Ichwar sprachlos. Die Wörter »betäubt«, »bestürzt«, »verwirrt«usw. konnten ke<strong>in</strong>eswegs me<strong>in</strong>e Gefühle <strong>in</strong> diesem Augenblickangemessen beschreiben. Ich war nicht aus festem Stoff. Ichwußte, daß <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> mich packen und mit Gewalt am Bodenfesthalten mußte, sonst wäre ich <strong>in</strong> die Luft geschwebt undverschwunden. Ich fürchtete mich nicht davor zu verschw<strong>in</strong>den.Ich sehnte mich nach dem »Unbekannten«, wome<strong>in</strong> Bewußtse<strong>in</strong> nicht gee<strong>in</strong>t war. Langsam führte <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong>mich, wobei er me<strong>in</strong>e beiden Schultern fest nach unten drückte,zu e<strong>in</strong>em Ort nicht weit von Genaros <strong>Haus</strong>. Hier hieß er michnie<strong>der</strong>liegen und bedeckte mich dann mit weicher Erde vone<strong>in</strong>em Haufen, <strong>der</strong> zu diesem Zweck vorbereitet zu se<strong>in</strong> schien.Er bedeckte mich bis zum Hals h<strong>in</strong>auf. Aus Laub machte er mire<strong>in</strong>e Art Kopfkissen und befahl mir, mich nicht zu bewegen undke<strong>in</strong>esfalls e<strong>in</strong>zuschlafen. Er sagte, er wolle sich neben michsetzen und mir Gesellschaft leisten, bis die Erde me<strong>in</strong>e Formwie<strong>der</strong> gefestigt hätte. Ich fühlte mich sehr wohl und hatte e<strong>in</strong>unwi<strong>der</strong>stehlichesSchlafbedürfnis, aber <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> ließ es nicht zu. Er verlangte,ich solle über alles unter <strong>der</strong> Sonne sprechen, ausgenommenüber das, was ich soeben erlebt hatte. Zuerst wußte ich nicht,worüber reden, dann fragte ich ihn nach <strong>Don</strong> Genaro. <strong>Don</strong><strong>Juan</strong> sagte, <strong>Don</strong> Genaro habe Pablito mitgenommen und ihnirgendwo <strong>in</strong> <strong>der</strong> Gegend e<strong>in</strong>gegraben, und er kümmere sich umihn, genau wie er, <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong>, sich um mich kümmerte. Ichwollte gern das Gespräch fortsetzen, aber irgend etwas <strong>in</strong> mirwar unvollständig; ich verspürte e<strong>in</strong>e ungewohnte Gleichgültigkeit,e<strong>in</strong>e Müdigkeit, die fast wie Langeweile war. <strong>Don</strong><strong>Juan</strong> schien zu wissen, wie ich mich fühlte. Er f<strong>in</strong>g an überPablito zu sprechen und darüber, wie unsere Schicksale mite<strong>in</strong>an<strong>der</strong>verwoben seien. Er sagte, daß er zur gleichen ZeitPablitos Wohltäter geworden sei, als <strong>Don</strong> Genaro se<strong>in</strong> Lehrerwurde, und daß die <strong>Kraft</strong> Pablito und mich Schritt um Schrittzusammengeführt habe. <strong>Der</strong> e<strong>in</strong>zige Unterschied zwischenPablito und mir, stellte er nachdrücklich fest, sei <strong>der</strong>, daßPablitos Welt als Krieger von Zwang und Furcht beherrschtsei, während me<strong>in</strong>e von Zuneigung und Freiheit regiert werde.Dieser Unterschied, erklärte <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong>, sei durch die wesensverschiedenenPersönlichkeiten <strong>der</strong> Wohltäter bed<strong>in</strong>gt: <strong>Don</strong>Genaro sei herzlich und liebevoll und lustig, während er selbststreng, autoritär und direkt sei. Me<strong>in</strong>e Persönlichkeit habee<strong>in</strong>en starken Lehrer, aber e<strong>in</strong>en sanften Wohltäter verlangt,während es bei Pablito umgekehrt sei: er brauche e<strong>in</strong>enfreundlichen Lehrer und e<strong>in</strong>en strengen Wohltäter. Wirsprachen noch lange weiter, und dann brach <strong>der</strong> Morgen an.Als die Sonne über den Bergen am östlichen Horizont aufg<strong>in</strong>g,half er mir, aus dem Erdhaufen aufzustehen.Nachdem ich am frühen Nachmittag erwacht war, setzten <strong>Don</strong><strong>Juan</strong> und ich uns neben die Tür von <strong>Don</strong> Genaros <strong>Haus</strong>. <strong>Don</strong><strong>Juan</strong> sagte, <strong>Don</strong> Genaro sei immer noch mit Pablito zusammenund bereite ihn auf die letzte Begegnung vor. »Morgen werdendu und Pablito <strong>in</strong> das Unbekannte gehen«, sagte er. »Ich mußdich jetzt darauf vorbereiten. Du wirst alle<strong>in</strong> h<strong>in</strong>e<strong>in</strong>gehen.Gestern abend wart ihr beide wie zwei h<strong>in</strong> - und hergezogene Jo-Jos. Morgen wirst du auf dich alle<strong>in</strong> gestellt se<strong>in</strong>.«294 295


Dann hatte ich e<strong>in</strong>en regelrechten Anfall von Neugier, und dieFragen h<strong>in</strong>sichtlich me<strong>in</strong>er Erfahrungen vom letzten Abendsprudelten nur so aus mir heraus. Er ließ sich durch me<strong>in</strong>Trommelfeuer nicht aus <strong>der</strong> Ruhe br<strong>in</strong>gen. »Heute muß mir e<strong>in</strong>ganz entscheidendes Manöver gel<strong>in</strong>gen«, sagte er. »Ich mußzum letztenmal e<strong>in</strong>en Trick mit dir anstellen. Und du mußt aufme<strong>in</strong>en Trick here<strong>in</strong>fallen.« Er lachte und schlug sich auf dieSchenkel. »Was Genaro dir gestern abend mit <strong>der</strong> ersten Übungzeigen wollte, das war. wie die Zauberer das Nagual nutzen«,fuhr er fort. »Man gelangt unmöglich zur Erklärung <strong>der</strong>Zauberer, solange man nicht willig das Nagual benutzt hat, o<strong>der</strong>besser, solange man nicht willig das Tonal genutzt hat, umse<strong>in</strong>e Handlungen im Nagual zu verstehen. Um es vielleichtverständlicher auszudrücken, könnte man sagen, daß dieAnsicht des Tonal vorherrschen muß, wenn man das Nagualnutzen will, wie die Zauberer es tun.«Ich sagte ihm, ich fände <strong>in</strong> dem, was er eben gesagt hatte,e<strong>in</strong>en eklatanten Wi<strong>der</strong>spruch. E<strong>in</strong>erseits hatte er mir erst vorzwei Tagen e<strong>in</strong>e unglaubliche Zusammenfassung all se<strong>in</strong>erwohlüberlegten Taten <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Zeitraum von Jahren gegeben -Taten, die me<strong>in</strong>e Weltsicht verän<strong>der</strong>n sollten. Und an<strong>der</strong>erseitswolle er nun, daß diese gleiche Ansicht vorherrsche. »Das e<strong>in</strong>ehat nichts mit dem än<strong>der</strong>n zu tun«, sagte er. »Die Ordnungunserer Wahrnehmung gehört ausschließlich zum Bereich desTonal. Nur dort können unsere Handlungen e<strong>in</strong>e Reihenfolgehaben, nur dort s<strong>in</strong>d sie wie Leitern, auf denen man dieSprossen zählen kann. Im Nagual gibt es nichts <strong>der</strong>gleichen. DieAnschauung des Tonal ist also e<strong>in</strong> Werkzeug, und als solches istes nicht nur das beste, son<strong>der</strong>n auch das e<strong>in</strong>zige Werkzeug, daswir haben.Gestern abend öffnete sich die Blase de<strong>in</strong>er Wahrnehmung,und ihre Flügel breiteten sich aus. Mehr kann man darübernicht sagen. Es ist unmöglich zu erklären, was dir wi<strong>der</strong>fuhr,darum werde ich es nicht versuchen, und auch du solltest esnicht versuchen. Es muß genügen, wenn ich sage, daß dieFlügel de<strong>in</strong>er Wahrnehmung dazu bestimmt waren, de<strong>in</strong>eGanzheit zu berühren. Gestern abend schwanktest du immerund immer wie<strong>der</strong> zwischen dem Nagual und dem Tonal h<strong>in</strong>und her. Du wurdest zweimal h<strong>in</strong>e<strong>in</strong>geschleu<strong>der</strong>t, um jedenIrrtum auszuschließen. Das zweite Mal erlebtest du die volleWirkung <strong>der</strong> Reise <strong>in</strong>s Unbekannte. Und de<strong>in</strong>e Wahrnehmungbreitete ihre Flügel aus, als irgend etwas <strong>in</strong> dir de<strong>in</strong>e wahreNatur erkannte. Du bist e<strong>in</strong> Bündel. Dies ist die Erklärung <strong>der</strong>Zauberer. Das Nagual ist das Unaussprechliche. In ihmschwimmen all die möglichen Gefühle und Wesenheiten undIchs wie Kähne im Wasser dah<strong>in</strong>, friedlich, unabän<strong>der</strong>lich,ewig. Dann b<strong>in</strong>det <strong>der</strong> Leim des Lebens e<strong>in</strong>ige von ihnenzusammen. Das hast du selbst gestern abend festgestellt, undauch Pablito hat es festgestellt, und auch Genaro, damals, als er<strong>in</strong> das Unbekannte aufbrach, und auch ich. Wenn <strong>der</strong> Leim desLebens diese Gefühle zusammenb<strong>in</strong>det, dann wird e<strong>in</strong> Wesengeschaffen - e<strong>in</strong> Wesen, das das Gefühl se<strong>in</strong>er wahren Naturverliert und sich durch den Glanz und Lärm jener Regionblenden läßt, <strong>in</strong> <strong>der</strong> die Wesen hausen, nämlich das Tonal. DasTonal ist da, wo e<strong>in</strong>heitliche Organisation herrscht. E<strong>in</strong> Wesentaucht <strong>in</strong>s Tonal e<strong>in</strong>, sobald die <strong>Kraft</strong> des Lebens alle dazunötigen Gefühle zusammenb<strong>in</strong>det. Ich sagte dir e<strong>in</strong>mal, daß dasTonal mit <strong>der</strong> Geburt beg<strong>in</strong>nt und mit dem Tod endet. Ich sagtedies, weil ich weiß, daß, sobald die <strong>Kraft</strong> des Lebens denKörper verläßt, alle diese Bewußtse<strong>in</strong>e sich auflösen undwie<strong>der</strong> dorth<strong>in</strong> zurückkehren, woher sie kamen, <strong>in</strong>s Nagual.Was e<strong>in</strong> Krieger tut, wenn er <strong>in</strong> das Unbekannte aufbricht, istganz ähnlich wie sterben, außer daß das Bündel se<strong>in</strong>ere<strong>in</strong>zelnen Gefühle sich nicht auflöst, son<strong>der</strong>n diese sich e<strong>in</strong>wenig ausdehnen, ohne ihren Zusammenhalt zu verlieren. BeimTod jedoch fallen sie ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong> und bewegen sichunabhängig von e<strong>in</strong>an<strong>der</strong>, als hätten sie nie e<strong>in</strong>e E<strong>in</strong>heitgebildet.«Ich wollte ihm sagen, wie vollkommen se<strong>in</strong>e Erläuterungenmit me<strong>in</strong>er Erfahrung übere<strong>in</strong>stimmten. Aber er ließ michnicht zu Wort kommen.»Es ist unmöglich, das Unbekannte zu benennen«, sagte er.»Man kann es nur erleben. Die Erklärung <strong>der</strong> Zauberer sagt,daß je<strong>der</strong> von uns e<strong>in</strong> Zentrum hat, von dem aus das Nagualerlebt werden kann, den Willen. E<strong>in</strong> Krieger kann sich also <strong>in</strong>sNagual vorwagen und se<strong>in</strong> Bündel <strong>der</strong> Gefühle auf jedemögliche Weise sich anordnen und umordnen lassen. Ich sagte296 297


dir. daß die Ausdrucksform des Nagual e<strong>in</strong>e Frage <strong>der</strong> Persönlichkeitist. D am it m e<strong>in</strong>te ich, daß es dem e <strong>in</strong> z e ln e n K riegerselbst überlassen ist, die Anordnung und Umordnung diesesBündels zu dirigieren. Die menschliche Form, o<strong>der</strong> dasmenschliche Fühlen, ist die ursprüngliche Form, vielleichtdiejenige, die uns unter allen am liebsten ist. Es gibt jedoche<strong>in</strong>e endlose Zahl alternativer Formen, die das Bündel annehmenkann. Ich sagte d ir ja, daß e<strong>in</strong> Zauberer jede Form annehmenkann, die er wünscht. Das ist richtig. E<strong>in</strong> Zauberer, <strong>der</strong> im Besitz<strong>der</strong> G anzheit se<strong>in</strong>es Selbst ist. kann die Teile se<strong>in</strong>es Bündelsdirigieren, so daß sie sich auf jede vorstellbare W eisevere<strong>in</strong>igen. Die <strong>Kraft</strong> des Lebens ist es. die alle dieseM ischungen ermöglicht. Sobald sie erschöpft ist. gibt es ke<strong>in</strong>M ittel mehr, dieses Bündel zu versammeln. Dieses Bündel habeich die Blase <strong>der</strong> W ahrnehmung genannt. Ich sagte auch, daßdiese versiegelt, fest verschlossen ist und daß sie sich bis zumAugenblick unseres Todes nie öffnet. Und doch könnte siegeöffnet werden. Offenbar haben die Zauberer diesesGeheimnis gelernt, und obwohl sie nicht alle die Ganzheitihres Selbst erreichen, wissen sie um <strong>der</strong>en M öglichkeit. Siewissen, daß die Blase sich nur öffnet, w e n n man <strong>in</strong>s Nagualstürzt. Gestern habe ich dir e<strong>in</strong>e Zusammenfassung all <strong>der</strong>Schritte gegeben, die du e <strong>in</strong> h a lte n mußtest. um d ie se n Punktzu erreichen.«Er sah mich prüfend an. als erwartete er e<strong>in</strong>en E<strong>in</strong>wand o<strong>der</strong>e<strong>in</strong>e Frage. Doch was er gesagt hatte, erübrigte alle W orte.Jetzt verstand ich. daß es ganz folgenlos geblieben wäre, wenn ermir dies alles vor vierzehn Jahren o<strong>der</strong> zu irgende<strong>in</strong>eman<strong>der</strong>en Zeitpunkt me<strong>in</strong>er Lehrzeit gesagt hätte. W ichtig waralle<strong>in</strong> die Tatsache, daß ich mit o<strong>der</strong> <strong>in</strong> me<strong>in</strong>em Körper dieVoraussetzungen se<strong>in</strong>er Erklärungen erfahren hatte. »Ichwarte auf de<strong>in</strong>e übliche Frage«, sagte er, wobei er die Wortelangsam artikulierte. »W elche Frage?« fragte ich.»D ie e<strong>in</strong>e, die de<strong>in</strong>er Vernunft auf <strong>der</strong> Zunge liegt.« »Heuteverzichte ich auf alle Fragen. Ic h habe wirklich k e <strong>in</strong> e . <strong>Don</strong><strong>Juan</strong>.«»Das ist nicht fa ir « , sagte er lachend. »E s gibt e<strong>in</strong>e beson<strong>der</strong>eFrage, die ich von dir brauche.«298Er sagte, daß ich, wenn ich nur e<strong>in</strong>en Augenblick me<strong>in</strong>en<strong>in</strong>neren Dialog abstellte, erkennen könne, um welche Frage essich handelte. Plötzlich kam mir e<strong>in</strong> Gedanke, e<strong>in</strong>e momentaneE<strong>in</strong>sicht, und ich wußte, was er erwartete. »Wo war me<strong>in</strong>Körper, während all dies mit mir geschah?« fragte ich, und erbrach <strong>in</strong> herzhaftes Lachen aus. »Dies ist <strong>der</strong> letzte von denTricks <strong>der</strong> Zauberer«, sagte er. »O<strong>der</strong> sagen wir, was ich dirjetzt enthüllen werde, ist das letzte Stück <strong>der</strong> Erklärung <strong>der</strong>Zauberer. Bis jetzt ist de<strong>in</strong>e Vernunft aufs Geratewohl me<strong>in</strong>emTun gefolgt. De<strong>in</strong>e Vernunft ist bereit zuzugeben, daß die Weltnicht so ist, wie die Beschreibung sie darstellt, daß es mit ihrnoch mehr auf sich hat als das, was unmittelbar <strong>in</strong>s Augespr<strong>in</strong>gt. De<strong>in</strong>e Vernunft ist be<strong>in</strong>ahe gewillt und bereitzuzugeben, daß de<strong>in</strong>e Wahrnehmung jene Klippe auf- undabschwebte o<strong>der</strong> daß irgend etwas <strong>in</strong> dir o<strong>der</strong> du <strong>in</strong>sgesamt aufden Grund <strong>der</strong> Schlucht gesprungen bist und mit den Augen desTonal untersucht hast, was es dort zu sehen gab, ganz als ob dukörperlich an e<strong>in</strong>em Seil o<strong>der</strong> über e<strong>in</strong>e Leiter h<strong>in</strong>abgestiegenwärst. Dieser Akt, das Untersuchen des Bodens <strong>der</strong> Schlucht,war die Krönung aller dieser Jahre <strong>der</strong> Schulung. Du hast de<strong>in</strong>eSache gut gemacht. Genaro sah se<strong>in</strong> Quentchen Chance, als ere<strong>in</strong>en Ste<strong>in</strong> auf dich warf, auf das Du, das am Grund <strong>der</strong>Schlucht war. Du sahst alles. Da wußten Genaro und ich ohnejeden Zweifel, daß du bereit warst, <strong>in</strong> das Unbekanntegeschleu<strong>der</strong>t zu werden. In diesem Augenblick sahst du nichtnur, son<strong>der</strong>n du wußtest auch alles über den Doppelgänger, denAn<strong>der</strong>en.«Ich unterbrach ihn und me<strong>in</strong>te, er lobe mich unverdientermaßenfür etwas, das ganz außerhalb me<strong>in</strong>es Verständnisses liege. Erantwortete, daß ich Zeit benötigte, um all diese E<strong>in</strong>drücke zuverarbeiten, und daß, sobald ich dies getan hätte, dieAntworten nur so aus mir heraussprudeln würden, ganz ähnlichwie bisher die Fragen.»Das Geheimnis des Doppelgängers liegt <strong>in</strong> <strong>der</strong> Blase <strong>der</strong>Wahrnehmung, und <strong>in</strong> de<strong>in</strong>em Fall befand sich diese gesterngleichzeitig auf dem Gipfel <strong>der</strong> Klippe und am Grunde <strong>der</strong>Schlucht«, sagte er. »Das Bündel von Gefühlen kann dazugebracht werden, sich augenblicklich überall zu versammeln.299


300M it an<strong>der</strong>en W orten, m an kann h ie r und dort gleichzeitigwahrnehmen.«Er drängte mich, nachzudenken und mich an e<strong>in</strong>e Reihe vonVorgängen zu er<strong>in</strong>nern, die so alltäglich seien, daß ich siebe<strong>in</strong>ahe vergessen hätte.Ich wußte nicht, wovon er redete. Er verlangte, ich solle michanstrengen.»Denk doch mal an de<strong>in</strong>en H ut!« sagte er. »Und denk daran,was Genaro mit ihm machte!«Schlagartig kam mir die Erkenntnis. Ich hatte ganz vergessen,daß D on G enaro tatsächlich geme<strong>in</strong>t h a tte , ich solle me<strong>in</strong>enHut absetzen, weil <strong>der</strong> W <strong>in</strong>d ihn mir dauernd vom Kopf wehte.Aber ich wollte nicht auf ihn verzichten. Ich kam mirirgendwie blöd vor, nackt, wie ich war. E<strong>in</strong>en Hut zu tragen,was ich für gewöhnlich nie tat, das gab mir e<strong>in</strong> Gefühl <strong>der</strong>Frem dheit; so war ich nicht w irk lic h ich selbst, und <strong>in</strong> diesemFall war es nicht so pe<strong>in</strong>lich, ohne Klei<strong>der</strong> dazustehen. <strong>Don</strong>Genaro hatte dann versucht, mit mir die Hüte zu tauschen,aber se<strong>in</strong>er war zu kle<strong>in</strong> für me<strong>in</strong>en Kopf. Er riß W itze überme<strong>in</strong>en Kopfumfang und die Proportionen me<strong>in</strong>es Körpers,und schließlich nahm er mir den Hut ab und wickelte mir e<strong>in</strong>enalten Poncho wie e<strong>in</strong>en Turban um den Kopf. Ich sagte zu <strong>Don</strong><strong>Juan</strong>, daß ich diesen Vorgang vergessen hätte, <strong>der</strong> sich, dessenwar ich sicher, zwischen den angeblichen Sprüngen abgespielthatte. Und doch bildete me<strong>in</strong>e Er<strong>in</strong>nerung an diese »Sprünge«e<strong>in</strong>e E<strong>in</strong>heit. »Gewiß waren sie e<strong>in</strong>e ununterbrochene E<strong>in</strong>heit,aber das waren auch Genaros Kapriolen mit de<strong>in</strong>em H u t«,sagte er. »Diese beiden Er<strong>in</strong>nerungen können nichth<strong>in</strong>tere<strong>in</strong>an<strong>der</strong> angeordnet werden, weil sie zur gleichen Zeitgeschahen.« Er bewegte die F<strong>in</strong>ger se<strong>in</strong>er l<strong>in</strong>ken Hand, als obsie nicht <strong>in</strong> die Zwischenräume zwischen den F<strong>in</strong>gern se<strong>in</strong>errechten H and passen wollten.»Diese Sprünge waren nur <strong>der</strong> Anfang«, fuhr er fort. »Dannkam de<strong>in</strong>e eigentliche Exkursion <strong>in</strong> das Unbekannte. Gesternnacht erlebtest du das Unaussprechliche, das Nagual. De<strong>in</strong>eVernunft kann die physische Erkenntnis, daß du e<strong>in</strong> unbeschreiblichesBündel von Gefühlen bist, nicht abwehren. De<strong>in</strong>eVernunft würde an diesem Punkt vielleicht sogar zugeben,daß es noch e<strong>in</strong> an<strong>der</strong>es Zentrum <strong>der</strong> Sammlung gibt, denW illen, durch den es m öglich ist, die außerordentlichen W irkungendes Nagual abzuschätzen o<strong>der</strong> zu nutzen. Endlichdämmert es de<strong>in</strong>er Vernunft, daß man das Nagual durch denW illen reflektieren kann, obwohl m an es niem als erklärenkann.Jetzt aber zu de<strong>in</strong>er Frage: W o warst du, während all diesgeschah? W o war de<strong>in</strong> Körper? Die Überzeugung, daß es e<strong>in</strong>wirkliches Du gibt, ist e<strong>in</strong>e Folge <strong>der</strong> Tatsache, daß du alles,was du hast, um de<strong>in</strong>e Vernunft versammelt hast. In diesemPunkt räumt de<strong>in</strong>e Vernunft e<strong>in</strong>, daß das Nagual das Unbeschreiblicheist, nicht weil B eweise sie überzeugt hätten, son<strong>der</strong>nweil es für sie sicherer ist, dies zuzugeben. De<strong>in</strong>e Vernunftsteht auf sicherem Boden, alle Elemente des Ton«/s<strong>in</strong>d aufihrer Seite.«<strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> machte e<strong>in</strong>e Pause und sah mich prüfend an. Se<strong>in</strong>Lächeln wirkte freundlich.»Laß uns jetzt zu Genaros Platz <strong>der</strong> >Inneren W ahl< gehen«,sagte er unvermittelt. Er stand auf, und wir g<strong>in</strong>gen zu demflachen Ste<strong>in</strong>, wo wir uns vor zwei Tagen unterhalten hatten;den Rücken gegen den Fels gelehnt, machten wir es uns an <strong>der</strong>gleichen Stelle bequem.»Es ist stets die Aufgabe des Lehrers, <strong>der</strong> Vernunft das Gefühl<strong>der</strong> Sicherheit zu geben«, sagte er. »Ich habe de<strong>in</strong>e Vernunft<strong>in</strong> die Auffassung h<strong>in</strong>e<strong>in</strong>getrickst, das Tonal sei erklärbar undvorhersagbar. Genaro und ich. wir haben uns bemüht, dir denE<strong>in</strong>druck zu verm itteln, als entziehe sich nur das Nagual dieserErklärung. Daß <strong>der</strong> Trick erfolgreich war, beweist dieTatsache, daß es dir im Augenblick, trotz allem , was dudurchgemacht hast, immer noch so ersche<strong>in</strong>t, als gebe es e<strong>in</strong>en<strong>in</strong>nersten Kern, den du als de<strong>in</strong> eigen beanspruchen kannst,de<strong>in</strong>e Vernunft. Dies ist e<strong>in</strong>e Luftspiegelung. De<strong>in</strong>e kostbareVernunft ist nur e<strong>in</strong> Zentrum <strong>der</strong> Sammlung, e<strong>in</strong> Spiegel, <strong>der</strong>etwas reflektiert, das sich außerhalb von dir bef<strong>in</strong>det. Gesternabend erlebtest du nicht nur das unbeschreibliche Nagual,son<strong>der</strong>n auch das unbeschreibliche Tonal.<strong>Der</strong> letzte Teil <strong>der</strong> Erklärung <strong>der</strong> Zauberer besagt, daß dieVernunft lediglich e<strong>in</strong>e äußere Ordnung reflektiert und daß301


die Vernunft nichts über diese Ordnung weiß. Sie kann sienicht erklären, genauso wenig wie sie das Nagual erklärenkann. Die Vernunft kann nur die Wirkungen des Tonal erleben,aber niemals könnte sie es verstehen o<strong>der</strong> entschlüsseln. Diebloße Tatsache, daß wir denken und sprechen, weist auf e<strong>in</strong>eOrdnung h<strong>in</strong>, die wir e<strong>in</strong>halten, ohne je zu wissen, daß wir estun, o<strong>der</strong> was diese Ordnung eigentlich ist.« Ich äußerte denGedanken, daß vielleicht die im Westen betriebeneErforschung <strong>der</strong> Vorgänge im Gehirn e<strong>in</strong>e mögliche Erklärungbieten könnte, was diese Ordnung sei. E<strong>in</strong>e solche Forschung,entgegnete er, könne nichts an<strong>der</strong>es bestätigen, als daßüberhaupt irgend etwas geschieht. »Das gleiche tun dieZauberer mit ihrem Willen«, sagte er. »Sie sagen, daß sie durchden Willen die Wirkungen des Nagual erleben können. Ichkann nun h<strong>in</strong>zufügen, daß wir durch die Vernunft, ganz gleich,was wir mit ihr tun o<strong>der</strong> wie wir es tun, lediglich dieWirkungen des Tonal erleben. In beiden Fällen gibt es ke<strong>in</strong>eHoffnung, je zu verstehen o<strong>der</strong> zu erklären, was dies ist, daswir da erleben. Gestern abend war es das erste Mal, daß du mitden Flügeln de<strong>in</strong>er Wahrnehmung geflogen bist. Du warst nochsehr ängstlich. Du bewegtest dich nur im Rahmen <strong>der</strong>menschlichen Wahrnehmung. E<strong>in</strong> Zauberer kann diese Flügelbenutzen, um an<strong>der</strong>e Sensibilitäten zu erreichen, etwa die e<strong>in</strong>erKrähe, e<strong>in</strong>es Kojoten, e<strong>in</strong>er Grille o<strong>der</strong> die Ordnung an<strong>der</strong>erWelten dort im unendlichen Raum.« »Me<strong>in</strong>st du auf an<strong>der</strong>ePlaneten, <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> 9 « »Selbstverständlich! Die Flügel <strong>der</strong>Wahrnehmung können uns an die entlegensten Grenzen desNagual o<strong>der</strong> <strong>in</strong> die unvorstellbaren Welten des Tonal tragen.«»Kann e<strong>in</strong> Zauberer zum Beispiel zum Mond fliegen?«»Natürlich kann er das«, antwortete er. »Aber er könnte wohlke<strong>in</strong>en Sack voll Mondgeste<strong>in</strong> mitbr<strong>in</strong>gen.« Wir lachten undscherzten über diese Feststellung, aber es war ihm völlig ernstdamit gewesen.»Und damit s<strong>in</strong>d wir beim letzten Teil <strong>der</strong> Erklärung <strong>der</strong>Zauberer«, sagte er. »Gestern nacht zeigten Genaro und ich dirdie letzten beiden Punkte, die die Ganzheit des Menschenausmachen, das Nagual und das Tonal. Ich habe dir e<strong>in</strong>mal302gesagt, daß diese zwei Punkte außerhalb von uns und dochnicht außerhalb liegen. Dies ist das Paradox <strong>der</strong> leuchtendenWesen. Das Tonal e<strong>in</strong>es jeden von uns ist nur e<strong>in</strong> Reflex jenesunbeschreiblichen Unbekannten, das mit Ordnung erfüllt ist.Das Nagual e<strong>in</strong>es jeden von uns ist nur e<strong>in</strong> Reflex jenerunbeschreiblichen Leere, die alles enthält. Und jetzt solltestdu an Genaros Platz <strong>der</strong> >Inneren Wahl< sitzenbleiben, bis esdämmert. Bis dah<strong>in</strong> solltest du die Erklärung <strong>der</strong> Zauberer <strong>in</strong>dich aufgenommen haben. Wie du hier sitzt, hast du nichtsaußer <strong>der</strong> <strong>Kraft</strong> de<strong>in</strong>es Lebens, die dieses Bündel von Gefühlenzusammenhält.« Er stand auf.»Morgen wirst du die Aufgabe haben, dich alle<strong>in</strong> <strong>in</strong> dasUnbekannte zu stürzen, während Genaro und ich dich beobachtenwerden, ohne e<strong>in</strong>zuschreiten«, sagte er. »Bleib hiersitzen und stell de<strong>in</strong>en <strong>in</strong>neren Dialog ab! Vielleicht kannst dudie <strong>Kraft</strong> ansammeln, die du brauchst, um die Flügel de<strong>in</strong>erWahrnehmung auszubreiten und <strong>in</strong> diese Unendlichkeit zufliegen.«


Die <strong>in</strong>nere Wahl zweier Krieger<strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> weckte mich bei Anbruch <strong>der</strong> Dämmerung. Erreichte m ir e<strong>in</strong>e m it W asser gefüllte Kalebasse und e<strong>in</strong>enBeutel Trockenfleisch. Schweigend g<strong>in</strong>gen wir e<strong>in</strong> paar Meilenbis zu <strong>der</strong> Stelle, wo ich vor zwei Tagen m e<strong>in</strong> Auto geparkthatte.»Diese Reise ist unsere letzte gem e<strong>in</strong>sam e Reise«, sagte ermit ruhiger Stimme, als wir den Wagen erreichten. Es gab mire<strong>in</strong>en Stich im Magen. Ich wußte, was er me<strong>in</strong>te. Während ichdie Tür zum Beifahrersitz öffnete, lehnte er sich gegen denh<strong>in</strong>teren Kotflügel und blickte mich mit e<strong>in</strong>emGefühlsausdruck an, den er nie zuvor gezeigt hatte. W irstiegen e<strong>in</strong>, aber bevor ich den M otor anließ, machte er e<strong>in</strong>igedunkle Andeutungen, die ich ebenfalls mit völliger Klarheitverstand; er sagte, wir müßten e<strong>in</strong> paar M <strong>in</strong>uten im Autositzenbleiben und noch e<strong>in</strong>mal e<strong>in</strong> paar sehr persönliche undbittere Gefühle streifen.Ich saß ruhig da, aber m e<strong>in</strong> Geist war rastlos. Ich wollte etwas zuihm sagen, irgend etwas, das hauptsächlich mich besänftigensollte. Vergeblich suchte ich nach den richtigen W orten, nach<strong>der</strong> Formel, die das e<strong>in</strong>e ausdrücken könnte, das ich»wußte«, ohne daß es mir gesagt worden wäre. <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong>sprach über e<strong>in</strong>en kle<strong>in</strong>en Jungen, den ich e<strong>in</strong>mal gekannthatte, und darüber, wie me<strong>in</strong> Gefühl für ihn sich mit denJahren o<strong>der</strong> über die Entfernung h<strong>in</strong> nicht verän<strong>der</strong>t habe.<strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> sagte, er sei sicher, daß me<strong>in</strong> Geist, immer wennich an den kle<strong>in</strong>en Jungen dachte, vor Freude hüpfte und ichihm ohne e<strong>in</strong>e Spur von Selbstmitleid o<strong>der</strong> Verzagtheit Glückwünschte.Ja, er er<strong>in</strong>nerte mich an e<strong>in</strong>e Geschichte von e<strong>in</strong>em kle<strong>in</strong>enJungen, die ich ihm e<strong>in</strong>mal erzählt hatte, e<strong>in</strong>e Geschichte, dieihm sehr gefallen hatte und die, wie er fand, e<strong>in</strong>e tiefereBedeutung enthielt. Während e<strong>in</strong>er Wan<strong>der</strong>ung <strong>in</strong> den Bergenbei Los Angeles war <strong>der</strong> kle<strong>in</strong>e Junge müde geworden undwollte nicht m ehr laufen, darum hatte ich ihn auf m e<strong>in</strong>enSchultern reiten lassen. Da überschwemmte uns beide e<strong>in</strong>eW oge von Glückseligkeit, und <strong>der</strong> kle<strong>in</strong>e Junge juchzte se<strong>in</strong>enDank an die Sonne und an die Berge h<strong>in</strong>aus. »Das war se<strong>in</strong>eArt, dir Lebewohl zu sagen«, sagte <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong>. Ich spürte me<strong>in</strong>eBeklommenheit als Druck im Hals. »Es gibt viele ArtenLebewohl zu sagen«, sagte er. »Die beste ist vielleicht, siche<strong>in</strong>e bestimmte Er<strong>in</strong>nerung <strong>der</strong> Freude zu bewahren. W enn duzum B eispiel lebst wie e <strong>in</strong> K rieger, dann wird die warmeHerzlichkeit, die du empfandest, als <strong>der</strong> kle<strong>in</strong>e Junge auf de<strong>in</strong>enSchultern ritt, frisch und scharf se<strong>in</strong>, solange du lebst. D ies istdie Art des Kriegers, Lebewohl zu sagen.« Rasch ließ ich denM otor an und fuhr schneller als gewöhnlich über den festen ,ste<strong>in</strong>igen Boden, bis wir die Sandstraße erreichten.W ir fuhren e<strong>in</strong> kurzes Stück, und dann wan<strong>der</strong>ten wir denRest des Tages zu Fuß. Nach etwa e<strong>in</strong>er Stunde erreichten wire<strong>in</strong>e Gruppe von Bäumen. Dort warteten <strong>Don</strong> Genaro, Pablitound Nestor auf uns. Ich begrüßte sie. Alle schienen sie soglücklich und energiegeladen. Als ich sie und <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> ansah,überkam mich e<strong>in</strong> tiefes M itgefühl für sie alle. <strong>Don</strong> Genaroumarmte mich und klopfte mir liebevoll den Rücken. Er sagtezu N estor und Pablito, ich hätte e<strong>in</strong>e gute Leistung vollbracht,als ich zum Grund <strong>der</strong> Schlucht h<strong>in</strong>abgesprungen war. DieHand noch immer auf me<strong>in</strong>er Schulter, sprach er mit lauterStimme zu ihnen.»Ja, me<strong>in</strong>e Herren«, sagte er und sah sie an. »Ich b<strong>in</strong> se<strong>in</strong>W ohltäter, und ich weiß, was das für e<strong>in</strong>e Leistung war. Daswar die Krönung von Jahren des Lebens als Krieger.« Erwandte sich zu mir und legte auch die an<strong>der</strong>e Hand auf me<strong>in</strong>eSchulter. Se<strong>in</strong>e Augen leuchteten voller Frieden. »Sonst weißich dir nichts zu sagen, Carlitos«, sagte er, wobei er die W ortebedächtig aussprach. »Außer, daß du e<strong>in</strong>e erstaunliche M engeScheißdreck im G edärm hattest.« U nd dam it brüllten er undD on <strong>Juan</strong> vor Lachen los, bis sie fast um fielen. Pablito undNestor kicherten nervös und wußten nicht recht, was tun.Als <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> und <strong>Don</strong> Genaro sich beruhigt hatten, sagtePablito zu m ir, er sei sich se<strong>in</strong>er Fähigkeit, alle<strong>in</strong> <strong>in</strong> das»Unbekannte« zu gehen, nicht recht sicher. »Ich habe nicht dieblasseste Ahnung, wie ich es machen soll«,304 305


sagte er. »Genaro sagt, man braucht nichts an<strong>der</strong>es als M akellosigkeit.W as m e<strong>in</strong>st du?«Ich sagte ihm, ich wisse noch weniger als er. Nestor seufzteund wirkte echt besorgt; nervös bewegte er Hände und M und,als sei er im Begriff, etwas W ichtiges zu sagen, und wisse nicht,wie.»Genaro sagt, ih r zwei werdet es schaffen«, sagte er schließlich.<strong>Don</strong> Genaro gab mit <strong>der</strong> Hand das Zeichen zum Aufbruch. Erund <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> g<strong>in</strong>gen nebene<strong>in</strong>an<strong>der</strong>, e<strong>in</strong>ige M eter vor uns.Fast den ganzen Tag folgten wir dem gleichen Bergpfad. W irg<strong>in</strong>gen <strong>in</strong> völligem Schweigen und machten ke<strong>in</strong> e<strong>in</strong>ziges Malhalt. Je<strong>der</strong> von uns hatte e<strong>in</strong>en Vorrat an Trockenfleisch unde<strong>in</strong>e Kalebasse mit W asser, und es war ausgemacht, daß wirim Gehen essen würden. Irgendwann erweiterte <strong>der</strong> Pfad sichnachgerade zu e<strong>in</strong>er Straße. Sie führte im Bogen um e<strong>in</strong>enBerghang, und plötzlich öffnete sich vor uns <strong>der</strong> Ausblick <strong>in</strong>e<strong>in</strong> Tal. Es war e<strong>in</strong> atemberauben<strong>der</strong> A nblick, e<strong>in</strong> langgestrecktesgrünes Tal, das im Sonnenlicht erstrahlte. Darüberstanden zwei wun<strong>der</strong>bare Regenbogen, und hier und da h<strong>in</strong>genRegenschleier über den Bergen im Umkreis. <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> bliebstehen und wies <strong>Don</strong> Genaro mit e<strong>in</strong>er Kopfbewegung aufirgend etwas drunten im Tal h<strong>in</strong>. <strong>Don</strong> Genaro schüttelte denKopf. Es war we<strong>der</strong> e<strong>in</strong>e bejahende noch e<strong>in</strong>e verne<strong>in</strong>endeGeste; eher war es e<strong>in</strong> Ruck mit dem Kopf. Beide standenreglos da und spähten lange <strong>in</strong> das Tal h<strong>in</strong>unter.An dieser Stelle verließen wir die Straße und nahmen, wie esschien, e<strong>in</strong>e Abkürzung. W ir stiegen über e<strong>in</strong>en schmalerenund gefährlicheren Pfad h<strong>in</strong>ab, <strong>der</strong> zum nördlichen Ende desTales führte.Als wir die Ebene erreichten, war es hoher N achm ittag. E<strong>in</strong>starker Duft von Flußweiden und feuchter Erde umf<strong>in</strong>g mich.E<strong>in</strong>en M oment war <strong>der</strong> Regen wie e<strong>in</strong> leises grünes Raunen <strong>in</strong>den Bäumen zu me<strong>in</strong>er L<strong>in</strong>ken, dann war er nur noch e<strong>in</strong>Beben im Schilf. Ich hörte e<strong>in</strong>en Bach plätschern. Ich bliebe<strong>in</strong>en Augenblick stehen, um zu lauschen. Ich schaute zu denB aum wipfeln h<strong>in</strong>auf; die hohen Zirruswölkchen am westlichenHorizont sahen aus wie über den Himmel verstreute306W attebäusche. Ich stand da und betrachtete die W olken, bisdie an<strong>der</strong>en e<strong>in</strong>en ziemlichen Vorsprung gewonnen hatten. Ichlief ihnen nach.<strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> und <strong>Don</strong> Genaro blieben stehen und drehten sichwie auf Verabredung um; sie rollten die Augen und richtetendann so gleichzeitig und präzise den B lick auf m ich, daß sie e<strong>in</strong>und <strong>der</strong>selbe M ann zu se<strong>in</strong> schienen. Es war e<strong>in</strong> kurzer,ungeheuerlicher Blick, <strong>der</strong> mir e<strong>in</strong> Frösteln über den Rückenjagte. Dann lachte <strong>Don</strong> Genaro und me<strong>in</strong>te, ich liefe plumpsenddaher wie e<strong>in</strong> dreihun<strong>der</strong>t Pfund schwerer, plattfüßigerM exikaner.»W arum ausgerechnet e<strong>in</strong> M exikaner?« fragte <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong>. »E<strong>in</strong>plattfüßiger, dreihun<strong>der</strong>t Pfund schwerer Indianer rennt nicht«,sagte <strong>Don</strong> Genaro <strong>in</strong> erklärendem Ton. »A ch«, sagte <strong>Don</strong><strong>Juan</strong>, als hätte <strong>Don</strong> Genaro wirklich etwas Bedeutendes erklärt.W ir durchquerten das saftig grüne Tal und stiegen die Bergeim O sten h<strong>in</strong>an. Am Spätnachm ittag m achten wir schließlichauf e<strong>in</strong>er flachen, karstigen M esa, e<strong>in</strong>em Tafelberg, halt, von<strong>der</strong> aus m an das H ochtal im Süden überblickte. D ie V egetationhatte sich merklich verän<strong>der</strong>t. <strong>R<strong>in</strong>g</strong>sumher standen zerklüfteteBerge. Das Land im Tal und an den Bergflanken war parzelliertund bebaut, und doch machte die ganze Szene den E<strong>in</strong>druckunfruchtbarer Ödnis.D ie Sonne stand bereits niedrig am südwestlichen H orizont.<strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> und <strong>Don</strong> Genaro w<strong>in</strong>kten uns zum nördlichenAbbruch <strong>der</strong> M esa heran. <strong>Der</strong> Ausblick von dort war erhaben.Nach Norden erstreckten sich endlos Täler und Berge, undnach W esten türmten sich hohe Sierras auf. Das Sonnenlicht,das sich auf den fernen Bergen im Norden brach, färbte sieorangefarben, ganz wie die Farbe <strong>der</strong> W olkenbänke über demW esten. D as B ild wirkte, trotz se<strong>in</strong>er Schönheit, traurig unde<strong>in</strong>sam.<strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> reichte mir me<strong>in</strong> Schreibzeug, aber ich war nichtaufgelegt, mir Notizen zu machen. W ir setzten uns im Halbkreis,wobei <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> und <strong>Don</strong> Genaro außen Platz nahmen.»Schreibend hast du den W eg des W issens betreten, undgenauso wirst du ihn vollenden«, sagte <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong>.307


Alle drängten sie mich zu schreiben, als ob es wichtig sei, daßich schrieb.»Du stehst jetzt genau am Rande, Carlitos«, sagte <strong>Don</strong> Genaroplötzlich. »Du und Pablito, ih r beide.« Se<strong>in</strong>e Stimme warsanft. Ohne den üblichen scherzenden Tonfall klang siefreundlich und besorgt. »An<strong>der</strong>e Krieger, die <strong>in</strong> das Unbekannteaufbrachen, s<strong>in</strong>d genau an dieser Stelle gestanden«, fuhr er fort.»Sie alle wünschen euch sehr viel G lück.«Ich spürte e<strong>in</strong>e Wellenbewegung <strong>in</strong> <strong>der</strong> Luft um mich her. alsob diese aus halbwegs fester Materie wäre und etwas sie <strong>in</strong>Bewegung versetzt hätte.»Auch wir alle wünschen euch beiden G lück«, sagte er. Nestorumarmte Pablito und mich und setzte sich dann <strong>in</strong> e<strong>in</strong>igemAbstand von uns.»Wir haben noch etwas Zeit«, sagte <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> und sah zumHimmel. Und dann, an Nestor gewandt, fragte er: »Was solltenwir <strong>in</strong> <strong>der</strong> Zwischenzeit t u n ? «»W ir sollten lachen und uns vergnügen«, antwortete Nestor,gut gelaunt.Ich sagte <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong>, daß ich mich fürchtete vor dem, was micherwartete, und daß ich ganz sicher sei, <strong>in</strong> all dies h<strong>in</strong>e<strong>in</strong>getrickstworden zu se<strong>in</strong>. Ich, <strong>der</strong> ich mir nicht hätte träumen lassen, daßes Situationen wie diese gäbe, die Pablito und ich jetzt erlebten.Ich sagte, irgend etwas wirklich Furchtbares habe von mir Besitzergriffen und mich nach und nach immer weiter geschoben, bisich jetzt etwas gewärtigte, das vielleicht schlimmer als <strong>der</strong> Todsei.»Du beklagst dich«, sagte <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> trocken. »Du tust dir selbstleid - bis zur letzten M <strong>in</strong> u te .«Alle lachten. Er hatte recht. Was für e<strong>in</strong> unüberw<strong>in</strong>dlicherZwang! Und ich glaubte, ich hätte ihn schon aus me<strong>in</strong>em Lebenverbannt. Ich bat sie alle, me<strong>in</strong>e Idiotie zu verzeihen.»Entschuldige dich nicht!« sagte <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> zu mir. »Entschuldigungens<strong>in</strong>d Unfug. Was wirklich zählt, ist, daß man andiesem e<strong>in</strong>zigartigen O rt <strong>der</strong> <strong>Kraft</strong> e<strong>in</strong> makelloser Krieger ist.Dieser Ort hat die besten Krieger beherbergt. Sei ebenso gut,w ie sie es w aren!« D ann sprach er zu Pablito und mir.»Ihr wißt bereits, daß dies die letzte Aufgabe ist, bei <strong>der</strong> wirZusammense<strong>in</strong> werden«, sagte er. »Ihr werdet, alle<strong>in</strong> durch dieStärke eurer persönlichen <strong>Kraft</strong>, <strong>in</strong> das Nagual und das Tonale<strong>in</strong>treten. Genaro und ich s<strong>in</strong>d nur hier, um euch Lebewohl zusagen. Die <strong>Kraft</strong> hat beschlossen, daß Nestor nur als Zeugedabeise<strong>in</strong> soll. So sei es.Dies wird auch euer letzter Scheideweg se<strong>in</strong>, bis zu demGenaro und ich euch begleitet haben. Sobald ihr aus eigenemAntrieb <strong>in</strong> das Unbekannte e<strong>in</strong>getreten seid, könnt ihr euchnicht mehr darauf verlassen, daß wir euch zurückholen. Darumist e<strong>in</strong>e Entscheidung geboten. Ihr müßt euch entscheiden, obihr zurückkehren wollt o<strong>der</strong> nicht. Wir vertrauen darauf, daßihr beide stark genug seid, um zurückzukehren, falls ihr diesbeschließt. Gestern abend wart ihr ohne weiteres fähig - vere<strong>in</strong>to<strong>der</strong> je<strong>der</strong> e<strong>in</strong>zeln -, den Verbündeten abzuschütteln, <strong>der</strong>euch sonst zermalmt hätte. Dies war e<strong>in</strong> Test eurer Stärke.Ich muß auch h<strong>in</strong>zufügen, daß nur wenige Krieger die Begegnungmit dem Unbekannten überstehen, die euch bevorsteht,nicht so sehr, weil sie schwer wäre, son<strong>der</strong>n weil das Nagualüber alle Maßen verlockend ist, und Krieger, die zu ihmaufbrechen, halten die Rückkehr <strong>in</strong>s Tonal o<strong>der</strong> <strong>in</strong> die Welt<strong>der</strong> Ordnung, des Lärms und des Leidens, für e<strong>in</strong>e wenigerstrebenswerte Aussicht.Die Entscheidung, zu bleiben o<strong>der</strong> zurückzukehren, wird durchetwas <strong>in</strong> uns gefällt, das we<strong>der</strong> unsere Vernunft noch unserWunsch ist, son<strong>der</strong>n unser Wille, und daher ist es unmöglich,das Ergebnis im voraus zu wissen. Falls ihr euch entscheidet,nicht zurückzukehren, dann werdet ihr verschw<strong>in</strong>den, als hättedie Erde euch verschluckt. Aber wenn ihr euch entscheidet, zudieser Erde zurückzukehren, dann müßt ihr wie wahrhafteKrieger warten, bis eure beson<strong>der</strong>en Aufgaben abgeschlossens<strong>in</strong>d. Sobald sie abgeschlossen s<strong>in</strong>d, sei es Erfolg o<strong>der</strong>Nie<strong>der</strong>lage, werdet ihr die Herrschaft über die Ganzheit euresSelbst haben.« <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> machte e<strong>in</strong>e kurze Pause. <strong>Don</strong> Genarosah mich an und bl<strong>in</strong>zelte.»Carlitos will wissen, was es heißt, die Herrschaft über dieGanzheit des Selbst zu haben«, sagte er, und alle lachten.308 309


Er hatte recht. Unter an<strong>der</strong>en Umständen hätte ich danachgefragt. Diese Situation jedoch war zu feierlich für Fragen. »Esbedeutet, daß <strong>der</strong> Krieger endlich die <strong>Kraft</strong> gefunden hat«,sagte <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong>. »Niemand kann sagen, was <strong>der</strong> e<strong>in</strong>zelneKrieger dam it anfangen wird. Vielleicht werdet ihr beidefriedlich und unbemerkt über das Antlitz <strong>der</strong> Erde wandeln,vielleicht werdet ihr euch als haßerfüllte M enschen erweisen,o<strong>der</strong> vielleicht berüchtigt se<strong>in</strong>, o<strong>der</strong> wer weiß. All dies hängtvon <strong>der</strong> Makellosigkeit und <strong>der</strong> Freiheit eures Geistes ab. DasW ichtigste aber ist eure Aufgabe. Diese ist das Vermächtnis, dase<strong>in</strong> Lehrer und e<strong>in</strong> Wohltäter ihren Lehrl<strong>in</strong>gen mitgeben. Ichbete darum, daß es euch beiden gel<strong>in</strong>gen möge, eure Aufgabenzu e<strong>in</strong>em Höhepunkt zu führen.« »Das Warten auf dieErfüllung ist e<strong>in</strong> ganz beson<strong>der</strong>es Warten«, sagte <strong>Don</strong> Genaroganz plötzlich. »Und ich will euch die G eschichte e<strong>in</strong>er G ruppevon Kriegern erzählen, die vor Zeiten <strong>in</strong> den Bergen lebten,irgendwo <strong>in</strong> dieser Richtung.« Er deutete nachlässig nachOsten, aber dann, nach kurzem Zögern, schien er es sichan<strong>der</strong>s zu überlegen, stand auf und wies auf die fernen Bergeim Norden.»Ne<strong>in</strong>. Sie wohnten <strong>in</strong> dieser Richtung«, sagte er, sah mich anund lächelte mit gelehrsamer Miene. »Genau e<strong>in</strong>hun<strong>der</strong>tundfünfunddreißigKilometer von hier.«<strong>Don</strong> Genaro im itierte m ich offenbar. Se<strong>in</strong> M und und se<strong>in</strong>eStirn waren angespannt, die Hände drückte er fest gegen dieBrust, als halte er irgende<strong>in</strong>en im ag<strong>in</strong>ären Gegenstand, v ie l-leicht e<strong>in</strong> Notizbuch. So verharrte er <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er höchst lächerlichenPose. Ich sagte, ich hätte e<strong>in</strong>mal e<strong>in</strong>en deutschen Gelehrtengetroffen, e<strong>in</strong>en S<strong>in</strong>ologen, <strong>der</strong> genauso aussah. <strong>Der</strong> Gedanke,daß ich all die Zeit unbewußt die Grimassen e<strong>in</strong>es deutschenS<strong>in</strong>ologen im itiert haben könnte, belustigte mich sehr. Ichlachte vor mich h<strong>in</strong>. Dies war e<strong>in</strong> Spaß, <strong>der</strong> nur mir zu geltenschien.<strong>Don</strong> Genaro setzte sich wie<strong>der</strong> und fuhr mit se<strong>in</strong>er Geschichtefort.»Immer wenn e<strong>in</strong> Mitglied dieser Gruppe von Kriegern imVerdacht stand, e<strong>in</strong>e Handlung begangen zu haben, die gegenihre Gesetze verstieß, lag die Entscheidung über se<strong>in</strong> Schicksal<strong>in</strong> den Händen aller. <strong>Der</strong> Schuldige mußte se<strong>in</strong>e Gründefür se<strong>in</strong>e Tat erklären. Se<strong>in</strong>e Kameraden mußten ihm zuhören,und dann g<strong>in</strong>gen sie entwe<strong>der</strong> ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong>, weil se<strong>in</strong>e Gründesie überzeugt hatten, o<strong>der</strong> sie stellten sich mit ihren Waffen amAbhang e<strong>in</strong>es flachen Berges auf - ganz ähnlich wie dieserBerg, auf dem wir hier sitzen -, bereit, se<strong>in</strong> Todesurteil zuvollstrecken, weil sie se<strong>in</strong>e Gründe als unannehmbarerachteten. In diesem Fall mußte <strong>der</strong> verurteilte Krieger se<strong>in</strong>enalten Kameraden Lebewohl sagen, und se<strong>in</strong>e Exekutionbegann.«<strong>Don</strong> Genaro sah mich und Pablito an, als warte er auf e<strong>in</strong>Zeichen von uns. Dann wandte er sich an Nestor. »Vielleichtkann <strong>der</strong> Zeuge uns sagen, was diese Geschichte mit den beidenhier zu tun hat?« sagte er zu Nestor. Nestor lächelteschüchtern und schien e<strong>in</strong>e Weile <strong>in</strong> tiefes Nachdenken zuvers<strong>in</strong>ken.»<strong>Der</strong> Zeuge hat ke<strong>in</strong>e Ahnung«, sagte er und brach <strong>in</strong> e<strong>in</strong>nervöses Kichern aus.<strong>Don</strong> Genaro for<strong>der</strong>te uns alle auf, uns zu erheben und mit ihmzu kommen, um über die westliche Kante <strong>der</strong> Mesa h<strong>in</strong>abzublicken.Dort erstreckte sich e<strong>in</strong> leicht geneigter Hang bis <strong>in</strong>s Tal h<strong>in</strong>ab,und daran schloß sich e<strong>in</strong> schmaler, flacher Landstreifen anund endete <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Graben, <strong>der</strong> e<strong>in</strong> natürlicher Abfluß für dasRegenwasser zu se<strong>in</strong> schien. »Genau dort, wo <strong>der</strong>Wassergraben ist, stand <strong>in</strong> den Bergen, von denen dieGeschichte erzählt, e<strong>in</strong>e Baumreihe«, sagte er. Jenseitserstreckte sich e<strong>in</strong> dichter Wald. »Nachdem <strong>der</strong> verurteilteKrieger sich von se<strong>in</strong>en Kameraden verabschiedet hatte, mußteer über den Hang h<strong>in</strong>unter zu den Bäumen gehen. Se<strong>in</strong>eKameraden brachten ihre Waffen <strong>in</strong> Anschlag und zielten aufihn. Falls ke<strong>in</strong>er von ihnen schoß o<strong>der</strong> falls <strong>der</strong> Krieger se<strong>in</strong>eVerletzungen überlebte und den Waldrand erreichte, war erfrei.«Wir g<strong>in</strong>gen zurück zu <strong>der</strong> Stelle, wo wir gesessen hatten. »Undwas nun, Zeuge?« fragte er Nestor. »Kannst du es sagen?«Nestor war e<strong>in</strong> Ausbund von Nervosität. Er nahm den Hut abund kratzte sich am Kopf. Dann barg er se<strong>in</strong> Gesicht <strong>in</strong> denHänden.310 311


»Wie kann <strong>der</strong> arme Zeuge das wissen?« antwortete erschließlich heraufor<strong>der</strong>nd und fiel <strong>in</strong> unser aller Lachen e<strong>in</strong>.»Man sagt, daß es Männer gab, die unverletzt davonkamen«,fuhr <strong>Don</strong> Genaro fort. »Nehmen wir an, ihre persönliche <strong>Kraft</strong>tat ihre Wirkung auf die Kameraden. E<strong>in</strong>e Welle erfaßte sie,während sie auf ihn zielten, und ke<strong>in</strong>er wagte es, se<strong>in</strong>e Waffezu gebrauchen. O<strong>der</strong> vielleicht erfüllte se<strong>in</strong>e Tapferkeit sie mitEhrfurcht, und sie konnten ihm nichts antun.« <strong>Don</strong> Genaro sahmich an und dann Pablito. »Es galt auch e<strong>in</strong>e beson<strong>der</strong>e Regelfür diesen Gang zum Waldrand h<strong>in</strong>ab«, fuhr er fort. »<strong>Der</strong>Krieger mußte ruhig und gleichmütig gehen. Se<strong>in</strong> Schritt mußtesicher und fest se<strong>in</strong>, se<strong>in</strong> Blick friedlich geradeaus. Er mußteh<strong>in</strong>abgehen, ohne zu stolpern, ohne sich umzusehen und vorallem ohne zu rennen.«<strong>Don</strong> Genaro hielt <strong>in</strong>ne. Pablito pflichtete ihm kopfnickendbei.»Falls ihr beide euch entscheidet, zu dieser Erde zurückzukehren«,sagte er, »werdet ihr warten müssen wie wahreKrieger, bis eure Aufgaben erfüllt s<strong>in</strong>d. Dieses W arten istganz ähnlich wie <strong>der</strong> Gang des Kriegers <strong>in</strong> <strong>der</strong> Geschichte. Ihrseht, die menschliche Zeit des Kriegers war abgelaufen, undeure auch. <strong>Der</strong> e<strong>in</strong>zige Unterschied ist, wer auf euch zielt. Dieauf den Krieger zielten, das waren se<strong>in</strong>e Kriegerkameraden.Aber was auf euch beide zielt, das ist das Unbekannte. Euree<strong>in</strong>zige Chance ist eure Makellosigkeit. Ihr müßt warten, ohneeuch umzusehen. Ihr müßt warten, ohne Belohnung zu erwarten.Und ihr müßt all eure persönliche <strong>Kraft</strong> auf die Erfüllung eurerAufgaben wenden.Wenn ihr nicht makellos handelt, wenn ihr euch auflehnt undanfangt, ungeduldig zu werden und zu verzweifeln, dannwerdet ihr von den Scharfschützen aus dem Unbekanntenerbarmungslos nie<strong>der</strong>gemacht.Wenn h<strong>in</strong>gegen eure Makellosigkeit und eure persönliche<strong>Kraft</strong> dazu angetan s<strong>in</strong>d, daß ihr eure Aufgaben erfüllenkönnt, werdet ihr das Versprechen <strong>der</strong> <strong>Kraft</strong> gew<strong>in</strong>nen. Undwas ist dieses Versprechen, werdet ihr fragen? Es ist e<strong>in</strong>Versprechen, das die <strong>Kraft</strong> den Menschen als leuchtendenWesen gibt. Je<strong>der</strong> Krieger hat e<strong>in</strong> an<strong>der</strong>es Schicksal, deshalb312ist es unmöglich zu sagen, was dieses Versprechen für jedenf ü r euch se<strong>in</strong> wird.«Die Sonne stand im Begriff unterzugehen. Die helle Orangefärbung<strong>der</strong> fernen Berge im Norden war dunkler geworden.Die Szene vermittelte mir den E<strong>in</strong>druck e<strong>in</strong>er w<strong>in</strong>dgepeitschtenverlassenen Welt.»Ihr habt gelernt, daß es das Rückgrat e<strong>in</strong>es Kriegers ist,bescheiden und tüchtig zu se<strong>in</strong>«, sagte <strong>Don</strong> Genaro, und se<strong>in</strong>eStimme ließ mich auffahren. »Ihr habt gelernt, zu handeln,ohne etwas dafür zu erwarten. Jetzt sage ich euch, daß ihr, umdas, was jenseits dieses Tages vor euch liegt, zu überstehen,eure letzte Geduld brauchen werdet.«Ich empfand e<strong>in</strong>en Schock <strong>in</strong> <strong>der</strong> Magengegend. Pablito f<strong>in</strong>gunmerklich an zu zittern.»E<strong>in</strong> Krieger muß immer bereit se<strong>in</strong>«, sagte er. »Es ist dasGeschick von uns allen, wie wir hier s<strong>in</strong>d, zu wissen, daß wirGefangene <strong>der</strong> <strong>Kraft</strong> s<strong>in</strong>d. Niemand weiß, warum ausgerechnetwir, aber das ist e<strong>in</strong> großes Glück!« <strong>Don</strong> Genaro hörte auf zusprechen und senkte den Kopf, als sei er erschöpft. Dies wardas erste Mal, daß ich ihn mit solchem Ernst hatte sprechenhören.»Hier nun ist es geboten, daß e<strong>in</strong> Krieger allen AnwesendenLebewohl sagt - und auch allen, die er zurückläßt«, sagte <strong>Don</strong><strong>Juan</strong> plötzlich. »Dies muß er <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en eigenen Worten tun, undlaut, damit se<strong>in</strong>e Stimme auf ewig hier an diesem Ort <strong>der</strong> <strong>Kraft</strong>bleibe.«<strong>Don</strong> <strong>Juan</strong>s Stimme tat noch e<strong>in</strong>e weitere Dimension me<strong>in</strong>esaugenblicklichen Gemütszustands auf. Unser Gespräch vorh<strong>in</strong>im Auto wurde mir noch e<strong>in</strong>dr<strong>in</strong>glicher. Wie recht hatte er, als ersagte, daß die Heiterkeit des Bildes um uns her nur e<strong>in</strong>eLuftspiegelung sei und daß die Erklärung <strong>der</strong> Zauberer e<strong>in</strong>eme<strong>in</strong>en Schlag versetze, den niemand parieren könne. Ich hattedie Erklärung <strong>der</strong> Zauberer vernommen, und ich hatte ihrePrämissen selbst erlebt. Und da war ich nun, nackter undhilfloser denn je <strong>in</strong> me<strong>in</strong>em ganzen Leben. Nichts, was ich jegetan hatte, nichts, was ich mir je vorgestellt hätte, warvergleichbar mit dem Schmerz und <strong>der</strong> E<strong>in</strong>samkeit diesesAugenblicks. Die Erklärung <strong>der</strong> Zauberer hatte mich sogarme<strong>in</strong>er »Vernunft« beraubt. <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> hatte recht, wenn er313


sagte, e<strong>in</strong> Krieger könne nicht Leid und Kummer vermeiden,son<strong>der</strong>n nur, sich ihnen h<strong>in</strong>zugeben. In diesem Augenblickwar me<strong>in</strong>e Traurigkeit unbezähmbar. Ich konnte nicht aufstehenund denen Lebewohl sagen, die die W endungen me<strong>in</strong>esSchicksals m it m ir geteilt hatten. Ic h erzählte D on <strong>Juan</strong> und<strong>Don</strong> Genaro, daß ich mit jemandem e<strong>in</strong>en Pakt geschlossenhätte, geme<strong>in</strong>sam zu sterben, und daß me<strong>in</strong>e Seele es nichtertragen könne, alle<strong>in</strong> zu scheiden.»W ir alle s<strong>in</strong>d alle<strong>in</strong>, Carlitos«, sagte <strong>Don</strong> Genaro sanft. »Dasist unser m enschlicher Zustand.«<strong>Der</strong> Schmerz me<strong>in</strong>er Liebe zum Leben und zu den mir nahenM enschen preßte mir die Kehle zu; ich weigerte mich, ih n enLebewohl zu sagen.»Wir s<strong>in</strong>d alle<strong>in</strong>«, sagte <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong>. »Aber alle<strong>in</strong> sterben heißtnicht <strong>in</strong> E<strong>in</strong>sam keit ste rb e n .«Se<strong>in</strong>e Stimme klang gedämpft und trocken, fast wie H usten.Pablito we<strong>in</strong>te leise. D ann stand er auf und sprach. Es warke<strong>in</strong>e Ansprache, auch ke<strong>in</strong> Bekenntnis. M it klarer Stimmedankte er <strong>Don</strong> Genaro und <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> für ihre Freundlichkeit.Er wandte sich an Nestor und dankte ihm, daß er ihm Gelegenheitgegeben hatte, sich se<strong>in</strong>er anzunehmen. Er wischtesich mit dem Ärmel über die Augen.»W ie wun<strong>der</strong>bar war es, <strong>in</strong> dieser schönen W elt zu se<strong>in</strong>! Indieser wun<strong>der</strong>baren Zeit!« rief er und seufzte. Se<strong>in</strong>e Stimmungüberwältigte m ich.»Falls ich nicht wie<strong>der</strong>kehre, dann bitte ich dich, als e<strong>in</strong>e letzteGunst denen zu helfen, die ihr Schicksal mit mir teilten«, sagte erzu <strong>Don</strong> Genaro.Dann wandte er sich nach W esten, <strong>in</strong> die Richtung se<strong>in</strong>esZuhauses. Se<strong>in</strong> schlanker Körper verkrampfte sich unter Tränen.M it ausgestreckten Armen, als ob er liefe, jemand zuumarmen, rannte er zum Rand <strong>der</strong> M esa. Se<strong>in</strong>e Lippen bewegtensich, er schien leise zu sprechen. Ich wandte mich ab.Ich wollte nicht hören, was Pablito sagte. Er kam zurück, wowir saßen, fiel neben mir zu Boden und senkte den Kopf.Ich war unfähig, etwas zu sagen. Dann aber schien e<strong>in</strong>e <strong>Kraft</strong>von außen die Oberhand zu gew<strong>in</strong>nen, die mich aufstehenließ, und ich äußerte me<strong>in</strong>en Dank und me<strong>in</strong>e Trauer.314W ie<strong>der</strong> waren wir still. <strong>Der</strong> Nordw<strong>in</strong>d rauschte leise und bliesmir <strong>in</strong>s Gesicht. <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> sah mich an. Nie hatte ich so vielFreundlichkeit <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en Augen gesehen. Er sagte mir, daß e<strong>in</strong>Krieger Lebewohl sage, <strong>in</strong>dem er all denen danke, dieFreundschaft und Sorge für ihn empf<strong>in</strong>den, und daß ich nichtnur ihnen me<strong>in</strong>e Dankbarkeit aussprechen müsse, son<strong>der</strong>nauch all denen, die für mich gesorgt und mir auf me<strong>in</strong>em Weggeholfen hätten.Ich wandte mich nach Nordwesten, <strong>in</strong> die Richtung von LosAngeles, und alle Sentimentalität m e<strong>in</strong>er Seele flöß aus m irheraus. Welch e<strong>in</strong>e re<strong>in</strong>igende Befreiung war es, me<strong>in</strong>en Dankauszusprechen!Ich setzte mich wie<strong>der</strong>. Niemand schaute mich an. »E <strong>in</strong>Krieger erkennt se<strong>in</strong>en Schmerz an, aber er läßt sich nicht <strong>in</strong>ihm gehen«, sagte <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong>. »Die Stimmung e<strong>in</strong>es Kriegers,<strong>der</strong> <strong>in</strong> das Unbekannte e<strong>in</strong>tritt, ist daher nicht Traurigkeit, imGegenteil, er ist fröhlich, weil er sich durch se<strong>in</strong> großes Glückbegnadet fühlt, weil er darauf vertraut, daß se<strong>in</strong> Geist makellosist, und vor allem, weil er sich se<strong>in</strong>er Tüchtigkeit bewußt ist.Die Fröhlichkeit e<strong>in</strong>es Kriegers rührt daher, daß er se<strong>in</strong>Schicksal akzeptiert hat - und weil er sich aufrichtig auf dasvorbereitet hat, was vor ihm liegt.« N un entstand e<strong>in</strong>e langePause. M e<strong>in</strong>e Traurigkeit erreichte den höchsten Punkt. Ichwollte irgend etwas tun, nur um m ich von dieser Beklem m ungzu befreien.»Zeuge, bitte betätige de<strong>in</strong>en Geist-Fänger«, sagte <strong>Don</strong> Genarozu Nestor.Ich hörte das laute, lächerliche Geräusch von Nestors Apparat.Pablito wurde fast hysterisch vor Lachen, und ähnlich erg<strong>in</strong>ges <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> und <strong>Don</strong> Genaro. Ich bemerkte e<strong>in</strong>en son<strong>der</strong>barenGeruch, und dann wurde mir klar, daß Nestor gefurzt hatte.Das wahns<strong>in</strong>nig Kom ische daran war se<strong>in</strong> völlig ernsterGesichtsausdruck. Er hatte nicht zum Spaß gefurzt, son<strong>der</strong>nweil er se<strong>in</strong>en Geist-Fänger nicht bei sich hatte. Er hatteversucht, behilflich zu se<strong>in</strong>, so gut er eben konnte. Alle lachtenausgelassen. Welch e<strong>in</strong>e Fähigkeit hatten sie doch, sich ausden erhabendsten Situationen <strong>in</strong> die alleralbernsten zuversetzen.315


Plötzlich sprach Pablito m ich an. Er wollte wissen, ob ich e<strong>in</strong>Dichter sei, aber noch bevor ich auf se<strong>in</strong>e Frage antwortenkonnte, reimte <strong>Don</strong> Genaro:»Carlitos, <strong>der</strong> ist allerhand, halb ist er D ichter, halb D epp undIgnorant.«W ie<strong>der</strong> platzten alle los vor Lachen.»Na, das ist e<strong>in</strong>e bessere Stimmung«, sagte <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong>. »Undjetzt, bevor Genaro und ich euch Lebewohl sagen, dürft ihrzwei alles sagen, was euch gefällt. Es könnte das letzte Malse<strong>in</strong>, daß ihr e<strong>in</strong> W ort sagt - jem als.«Pablito schüttelte verne<strong>in</strong>end den K opf, aber ich hatte etwas zusagen. Ic h wollte m e<strong>in</strong>e B ewun<strong>der</strong>ung, me<strong>in</strong>e Ehrfurcht vor<strong>der</strong> hervorragenden Ges<strong>in</strong>nung von <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> und <strong>Don</strong>Genaros Kriegergeist zum Ausdruck br<strong>in</strong>gen. Ich verhed<strong>der</strong>temich <strong>in</strong> me<strong>in</strong>en W orten und sagte schließlich gar nichts. O<strong>der</strong>noch schlimmer, es klang am Ende, als ob ich mich wie<strong>der</strong>beklagte.<strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> schüttelte den Kopf und schmatzte <strong>in</strong> gespielterM ißbilligung mit den Lippen. Ich mußte unwillkürlich lachen. Esmachte mir aber nichts aus, daß ich me<strong>in</strong>e Chance vertan hatte,ihnen me<strong>in</strong>e Bewun<strong>der</strong>ung auszudrücken, denn auf e<strong>in</strong>malergriff e<strong>in</strong> ganz eigenartiges Gefühl von mir Besitz. Ich empfandH eiterkeit und Freude, e<strong>in</strong> köstliches Freiheitsgef ü h l, dasmich zum Lachen brachte. Ich sagte <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> und <strong>Don</strong>Genaro, daß es mir ganz egal sei, wie me<strong>in</strong>e Begegnung mitdem »Unbekannten« ausgehen werde, daß ich mich glücklichund vollkommen fühlte und daß es mir im Augenblick nichtsausmachte, ob ich lebte o<strong>der</strong> sterben würde. <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> und <strong>Don</strong>Genaro schienen sich über me<strong>in</strong>e Behauptungen fast noch mehrzu freuen als ich selbst. <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> schlug sich lachend auf dieSchenkel. <strong>Don</strong> Genaro warf se<strong>in</strong>en Hut auf den Boden und stieße<strong>in</strong>en Schrei aus, als ob er auf e<strong>in</strong>em wilden Pferd ritte.»W ir haben uns vergnügt und gelacht, während wir warteten,genau wie <strong>der</strong> Zeuge es empfohlen hat«, sagte <strong>Don</strong> Genaroganz plötzlich. »Aber es ist e<strong>in</strong>e natürliche Ordnung, daß auchdies e<strong>in</strong> Ende hat.« Er blickte zum Himmel. »Es ist be<strong>in</strong>aheZeit, daß wir ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong>gehen, wie dieKrieger <strong>in</strong> <strong>der</strong> Geschichte«, sagte er »Aber bevor wir unseregetrennten Wege gehen, muß ich euch e<strong>in</strong> Letztes sagen. Ichwerde euch e<strong>in</strong> Geheimnis des Kriegers enthüllen. Vielleichtkann man es e<strong>in</strong>e <strong>in</strong>nere Wahl des Kriegers nennen.« Erwandte sich beson<strong>der</strong>s an mich und me<strong>in</strong>te, ich hätte ihme<strong>in</strong>mal gesagt, daß das Leben e<strong>in</strong>es Kriegers kalt und e<strong>in</strong>samund leer an Gefühlen sei. Und er fügte h<strong>in</strong>zu, daß ich wohlauch <strong>in</strong> diesem Augenblick davon überzeugt sei. »Das Lebene<strong>in</strong>es Kriegers kann unmöglich kalt und e<strong>in</strong>sam und gefühlsleerse<strong>in</strong>«, sagte er, »denn es gründet sich auf se<strong>in</strong>e Liebe, se<strong>in</strong>eH<strong>in</strong>gabe, se<strong>in</strong>e Verehrung für se<strong>in</strong>e Geliebte. Und wer, wirstdu fragen, ist se<strong>in</strong>e Geliebte? Ich werde sie dir jetzt zeigen.«<strong>Don</strong> Genaro stand auf und g<strong>in</strong>g langsam zu e<strong>in</strong>er vollkommenebenen Stelle, drei, vier Meter vor uns. Dort machte er e<strong>in</strong>emerkwürdige Gebärde. Er bewegte se<strong>in</strong>e Hände, als ob erStaub von se<strong>in</strong>er Brust und se<strong>in</strong>em Bauch fegte. Dann geschahetwas Seltsames. E<strong>in</strong> Blitz von be<strong>in</strong>ahe unwahrnehmbaremLicht durchzuckte ihn. Er kam aus dem Boden und schiense<strong>in</strong>en ganzen Körper zu entzünden. Er machte so etwas wiee<strong>in</strong>en Salto rückwärts o<strong>der</strong>, genauer gesagt, e<strong>in</strong>en Kopfsprungund landete auf Brust und Armen. Diese Bewegung führte ermit solcher Präzision und Geschicklichkeit aus, daß er mir wiee<strong>in</strong> gewichtsloses Wesen erschien, e<strong>in</strong> wurmartiges Geschöpf,das sich um sich selbst gedreht hatte. Am Boden führte er danne<strong>in</strong>e Reihe übernatürlicher Bewegungen aus. Er schwebte e<strong>in</strong>paar Zentimeter über dem Boden o<strong>der</strong> er rollte wie aufKugellagern o<strong>der</strong> er schwamm darüber h<strong>in</strong>, wobei er Kreisebeschrieb und sich mit <strong>der</strong> Schnelligkeit und Beweglichkeite<strong>in</strong>es Aales im Meer wand.Irgendwann f<strong>in</strong>gen me<strong>in</strong>e Augen an zu schielen, und dann sahich, ohne Übergang, e<strong>in</strong>e leuchtende Kugel wie über dieFläche e<strong>in</strong>es Eisparketts h<strong>in</strong>- und hergleiten, auf <strong>der</strong> TausendeLichter glitzerten.Es war e<strong>in</strong> erhabener Anblick. Dann blieb die Feuerkugelstehen und verharrte reglos. E<strong>in</strong>e Stimme schreckte mich aufund lenkte me<strong>in</strong>e Aufmerksamkeit ab. Es war <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong>, <strong>der</strong>sprach. Zuerst konnte ich nicht unterscheiden, was er sagte. Ichschaute wie<strong>der</strong> zu <strong>der</strong> Feuerkugel h<strong>in</strong>. Ich entdeckte nur316 317


<strong>Don</strong> Genaro, <strong>der</strong> mit ausgebreiteten Armen und Be<strong>in</strong>en amBoden lag.<strong>Don</strong> <strong>Juan</strong>s Stimme war sehr klar. Sie schien e<strong>in</strong>e Reaktion <strong>in</strong>mir auszulösen, und ich f<strong>in</strong>g an zu schreiben. »Genaros Liebeist die W elt«, sagte er. »Jetzt eben hat er diese gewaltige Erdeumarmt, aber da er so w<strong>in</strong>zig ist, kann er nur <strong>in</strong> ihr schwimmen.Aber die Erde weiß, daß Genaro sie liebt, und sie schenkt ihmihre Fürsorge. Deshalb ist Genaros Leben bis zum Ran<strong>der</strong>füllt, und se<strong>in</strong> Dase<strong>in</strong>, wie immer es se<strong>in</strong> mag, ist Überfluß.Genaro wan<strong>der</strong>t auf den Pfaden se<strong>in</strong>er Liebe, und wo immer erist, da ist er ganz und gar.« <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> hockte sich vor uns.Zärtlich streichelte er den Boden.»D ies ist die >Innere W ahl< zweier Krieger«, sagte er. »DieseErde, diese W elt! Für e<strong>in</strong>en Krieger kann es ke<strong>in</strong>e größereLiebe geben.«<strong>Don</strong> Genaro stand auf und hockte sich für e<strong>in</strong>en Augenblicklang neben <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong>, währenddessen sie uns fest <strong>in</strong> die Augenblickten, dann setzten sie sich gleichzeitig mit untergeschlagenenBe<strong>in</strong>en h<strong>in</strong>.»Nur wenn man diese Erde mit unerschütterlicher Leidenschaftliebt, kann man sich von se<strong>in</strong>er Traurigkeit befreien«,sagte D on <strong>Juan</strong>. »E<strong>in</strong> K rieger ist immer fröhlich, weil se<strong>in</strong>eLiebe unwandelbar ist und weil se<strong>in</strong>e G eliebte, die Erde, ihnumarmt und ihn mit unvorstellbaren Gaben beschenkt. DieTraurigkeit ist nur bei denen, die gerade das hassen, was ihremDase<strong>in</strong> Obdach gibt.«W ie<strong>der</strong> streichelte D on <strong>Juan</strong> den B oden voller Zärtlichkeit.»D ieses liebliche W esen, das bis <strong>in</strong> den letzten W <strong>in</strong>kel lebendigist und jedes G efühl versteht, besänftigte m ich, es heilte m ichvon me<strong>in</strong>em Schmerz, und schließlich, als ich me<strong>in</strong>e Liebe zuihm ganz begriffen hatte, lehrte es m ich Freiheit.« Er m achtee<strong>in</strong> Pause. D ie Stille um uns war furchterregend. D er W <strong>in</strong>drauschte leise, und dann hörte ich das ferne Bellen e<strong>in</strong>ese<strong>in</strong>samen Hundes.»Horcht auf dieses Bellen«, fuhr <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> fort. »Auf dieseW eise w ill me<strong>in</strong>e geliebte Erde mir helfen, euch noch diesesletzte nahezubr<strong>in</strong>gend. D ieses B e lle n ist das Traurigste, wasman hören kann.«Wir schwiegen e<strong>in</strong>e Weile. Das Bellen jenes e<strong>in</strong>samen Hundeswar so traurig und die Stimmung um uns her so <strong>in</strong>tensiv, daßmich e<strong>in</strong> betäuben<strong>der</strong> Schmerz befiel. Ich mußte an me<strong>in</strong>eigenes Leben denken, me<strong>in</strong>e Traurigkeit, me<strong>in</strong> Nichtwissen,woh<strong>in</strong>, was tun.»Das Bellen des Hundes ist die nächtliche Stimme e<strong>in</strong>esMenschen«, sagte <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong>. »Sie kommt aus e<strong>in</strong>em <strong>Haus</strong> <strong>in</strong>diesem Tal, gen Süden. E<strong>in</strong> Mann schreit durch se<strong>in</strong>en Hund -denn sie s<strong>in</strong>d als Sklaven Gefährten fürs Leben - se<strong>in</strong>e Traurigkeit,se<strong>in</strong>e Langeweile h<strong>in</strong>aus. Er fleht se<strong>in</strong>en Tod an, zukommen und ihn von den stumpfs<strong>in</strong>nigen, trostlosen Kettense<strong>in</strong>es Lebens zu befreien.«<strong>Don</strong> <strong>Juan</strong>s Worte hatten e<strong>in</strong>en schmerzenden Nerv <strong>in</strong> mirgetroffen. Ich spürte, daß er direkt zu mir sprach. »DiesesBellen, und die E<strong>in</strong>samkeit, die es erzeugt, all das spricht vonden Gefühlen <strong>der</strong> Menschen«, fuhr er fort. »<strong>Der</strong> Menschen,f ü r die das ganze Leben war wie e<strong>in</strong> gewisserSonntagnachmittag, e<strong>in</strong> Nachmittag, <strong>der</strong> nicht gerade erbärmlich,aber heiß und stumpfs<strong>in</strong>nig und bedrückend war. Sieschwitzten und machten e<strong>in</strong>e Menge Wirbel. Sie wußten nicht,woh<strong>in</strong> sie gehen, was sie tun sollten. Dieser Nachmittag h<strong>in</strong>terließihnen nur die Er<strong>in</strong>nerung an kle<strong>in</strong>e Ärgernisse undLangeweile, und dann, plötzlich, war er vorbei. Schon war esAbend geworden.«Ja, er erzählte e<strong>in</strong>e Geschichte wie<strong>der</strong>, die ich ihm e<strong>in</strong>malberichtet hatte; von e<strong>in</strong>em zweiundsiebzigjährigen Mann, <strong>der</strong>sich beklagte, se<strong>in</strong> Leben sei so kurz gewesen, daß er me<strong>in</strong>te, essei erst gestern gewesen, als er e<strong>in</strong> kle<strong>in</strong>er Junge war. Er hattemir gesagt: »Ich er<strong>in</strong>nere mich noch an den Pyjama, den ich mitzehn Jahren trug. Es sche<strong>in</strong>t erst e<strong>in</strong>en Tag her. Wo ist bloß dieZeit geblieben?«»Und hier ist das Gegengift, das dieses Gift austreibt«, sagte<strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> und liebkoste den Boden. Die Erklärung <strong>der</strong> Zaubererkann den Geist überhaupt nicht befreien. Schaut euch an,ihr beide! Ihr habt die Erklärung <strong>der</strong> Zauberer vernommen,aber daß ihr sie jetzt wißt, än<strong>der</strong>t gar nichts. Ihr seid mehralle<strong>in</strong> denn je, denn ohne e<strong>in</strong>e unerschütterliche Liebe zu demWesen, das euch Schutz bietet, ist das Alle<strong>in</strong>se<strong>in</strong> E<strong>in</strong>samkeit.318 319


Nur die Liebe zu diesem strahlenden Wesen kann dem Geiste<strong>in</strong>es Kriegers Freiheit geben, und Freiheit ist Freude, Tüchtigkeitund Unerschrockenheit im Angesicht von Widrigkeiten.Dies ist die letzte Lektion. Sie wird stets für den allerletztenAugenblick aufbewahrt, für den Moment <strong>der</strong> äußerstenE<strong>in</strong>samkeit, da e<strong>in</strong> Mann se<strong>in</strong>em Tod und se<strong>in</strong>em Alle<strong>in</strong>se<strong>in</strong>gegenübertritt. Erst dann versteht er.«<strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> und <strong>Don</strong> Genaro standen auf, reckten die Arme undkrümmten den Rücken, als ob sie vom Sitzen steif gewordenwären. Me<strong>in</strong> Herz schlug schneller. Sie hießen Pablito und michaufstehen.»Die Dämmerung ist <strong>der</strong> Spalt zwischen den Welten«, sagte<strong>Don</strong> <strong>Juan</strong>. »Sie ist die Pforte zum Unbekannten.« Mit e<strong>in</strong>erausholenden Handbewegung wies er auf die Mesa, auf <strong>der</strong> wirstanden.»Dies ist die Schwelle vor jener Pforte.« Dann deutete er zumnördlichen Abbruch <strong>der</strong> Mesa. »Dort ist die Pforte! Dah<strong>in</strong>ter iste<strong>in</strong> Abgrund, und jenseits dieses Abgrunds ist dasUnbekannte.«Dann wandten <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> und <strong>Don</strong> Genaro sich an Pablito undsagten ihm Lebewohl. Pablitos Augen waren weit geöffnet undstarr. Tränen liefen ihm über die Wangen. Ich hörte <strong>Don</strong>Genaros Stimme mir Lebewohl sagen, aber <strong>Don</strong> <strong>Juan</strong>s Stimmehörte ich nicht.<strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> und <strong>Don</strong> Genaro traten auf Pablito zu und flüstertenihm kurz <strong>in</strong> die Ohren. Dann kamen sie zu mir. Aber nochbevor sie etwas flüsterten, hatte ich schon jenes eigenartigeGefühl, gespalten zu se<strong>in</strong>.»Jetzt werden wir wie Staub auf <strong>der</strong> Straße se<strong>in</strong>«, sagte <strong>Don</strong>Genaro. »Vielleicht fliegen wir euch wie<strong>der</strong> mal <strong>in</strong>s Auge,e<strong>in</strong>es Tages.«<strong>Don</strong> <strong>Juan</strong> und <strong>Don</strong> Genaro traten zurück und schienen mit <strong>der</strong>Dunkelheit zu verschmelzen. Pablito hielt mich am Arm, undwir sagten e<strong>in</strong>an<strong>der</strong> Lebewohl. Dann ließ e<strong>in</strong> seltsamer Zwang,e<strong>in</strong>e <strong>Kraft</strong>, mich zum nördlichen Rand <strong>der</strong> Mesa rennen. Ichspürte se<strong>in</strong>en Arm, <strong>der</strong> mich hielt, bis wir sprangen, und dannwar ich alle<strong>in</strong>.

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