WGT-Arbeitsheft 2014 - ÄgyptenÄgypten zwischen Agonie und leisem AufbruchAls Staat existiert das Land am Nil bereits seit fünf Jahrtausenden innerhalb jenerGrenzen, die auch heute gelten. Kaum ein an<strong>der</strong>es Land kann auf eine solcheterritoriale Kontinuität zurückblicken. Hier wurden Hierarchie und Beamtenapparatgleichsam erfunden. Doch gegenwärtig hat man den Eindruck, das Land stünde kurzvor dem Kollaps, die staatlichen Institutionen würden jede Substanz verlieren. Was2011 als Revolution mit politischen For<strong>der</strong>ungen, wie Ende <strong>der</strong> Korruption und Rufnach Gerechtigkeit, begann, kann je<strong>der</strong>zeit in eine Brotrevolte kippen. DieArbeitslosigkeit ist dramatisch, die Grundversorgung <strong>der</strong> Bevölkerung ist angesichtsleerer Staatskassen in Frage gestellt.Geschenk des Nils nannten die Menschen traditionell ihre Heimat, wo sie dank desfruchtbaren Nilschlammes und regelmäßiger Überflutungen mehrere Ernten im Jahreinbrachten. Die Kornkammer des Römischen Reiches muss heute 80 Prozent <strong>der</strong>Grundnahrungsmittel importieren. In vielfacher Hinsicht hat sich die einstigeHochkultur des Mittelmeeres verän<strong>der</strong>t. Wer vermag sich im Moloch von Kairo, worund 25 Millionen Menschen täglichunterwegs sind, vorstellen, dass dieseStadt im Jahr 1923 den Prix Universelals schönste Gartenstadt erhaltenhatte? Und was wurde aus demeinstigen Völkergemisch vonAlexandria, dessen Bibliothek in <strong>der</strong>Antike legendär war? Als Zentrum desHellenismus dominierte lange dieseHafenstadt die damalige Welt, umletztlich von Rom überrollt zu werden.Noch in den 1950er Jahren herrschtenhier Geschäftigkeit und Lebensfreude<strong>der</strong> Levante, wo ethnische undreligiöse Zugehörigkeiten keine Rollespielten. Vielmehr standenHeliopolis, einstmals Vorort v. Kairoum 1900 entstanden Wohnanlagen f. daslevantinische VölkergemischGedankenfreiheit und Kreativität im Vor<strong>der</strong>grund. Versinkt Ägypten wie<strong>der</strong> einmal inChaos?Der Staat kollabiert allmählichEs wäre nicht das erste Mal in <strong>der</strong> Geschichte, dass diese alte Macht an sich selbstzerbricht. In den Annalen <strong>der</strong> Pharaonen finden sich ebenso solche Zäsuren, wieauch die Geschichte <strong>der</strong> Neuzeit und folgen<strong>der</strong> Epochen mehr über ein provinziellesÄgypten zwischen Cholera und Armut berichtet als über jenes kosmopolitischeGroßreich, das einst Inbegriff zentraler Verwaltung und hoher Architektur war. Aufdessen Spuren wandelten im 19. Jahrhun<strong>der</strong>t die europäischen Bildungsreisendenund Orientalisten. Sie kamen wegen <strong>der</strong> Pyramiden und ägyptischen Mythologie,-6-
WGT-Arbeitsheft 2014 - Ägyptennicht wegen <strong>der</strong> Moscheen. Mit <strong>der</strong> vorislamischen Ära, <strong>der</strong> Zeit <strong>der</strong> Dunkelheit,können aber viele strenggläubige Muslime, insbeson<strong>der</strong>e die Muslimbrü<strong>der</strong>, weniganfangen. Die halbnackten Skulpturen, Gott-Mensch-Zwitterwesen und all das bunteKulturerbe sind ihnen ein Dorn im Auge. Der Alltag in Ägypten wurde mit islamischerGesellschaftsmoral weniger fröhlich. Dies spürt man auch als Gast auf Hochzeiten,die schon einmal bunter und ausgelassener waren.In den letzten Jahrzehnten wurde <strong>der</strong>Massentourismus Nil auf und Nil abverfrachtet, und die Küste am RotenMeer versackte zum neuen Mallorca.Auch wenn die Preise immer niedrigerwurden, diese so wichtigeEinnahmequelle des Landes kommtnun völlig zum Erliegen. TäglicheGewalt, Entführungen und absoluteUnsicherheit, wie es politischweitergeht, schrecken Reiselustige ab.Der Tourismus sorgte für rund 30Prozent <strong>der</strong> Staatseinnahmen, dieweite BevölkerungsschichtenMoschee, Ibn Tulun; Kairoerreichten. Der fliegende Händler, <strong>der</strong> Souvenirs vertrieb, hatte ebenso wie <strong>der</strong>Hotelmanager, <strong>der</strong> Koch und <strong>der</strong> Bootsunternehmer etwas vom großen KuchenFremdenverkehr. Sah man schon im Sommer 2011 immer weniger Reisegruppen, sobricht nun dieser wichtige Geschäftszweig völlig zusammen. Angesichts des hohenBevölkerungswachstums müssten theoretisch alle acht Monate um die 400 000Arbeitsplätze geschaffen werden. Tatsächlich gingen aber Millionen verloren, nichtzuletzt auch durch die ägyptischen Heimkehrer aus Libyen. Die zornigen jungenMänner haben keine Aussicht auf Verbesserung ihres Lebens, sie demonstrieren,werfen Steine und suchen Schuldige für ihre Misere. Keine Ehe gründen zu können,keinen Status sich zu schaffen, dies schafft tickende Zeitbomben an jungenMännern, die immer gewaltbereiter werden. Allein die wachsende Zahl anVergewaltigungen zeichnet ein dramatisches Bild gesellschaftlicher Zustände.Die Sorge vor einem lang anhaltenden Bürgerkrieg zwischen Anhängern <strong>der</strong>gestürzten Muslimbrü<strong>der</strong> und den säkularen Kräften, hinter denen die Armee steht,ist berechtigt. Denn die Einheit des Landes scheint völlig in Frage gestellt. Wie immerman die Ereignisse vom 3. Juli bezeichnen mag, ob als Umsturz mit starkemRückhalt im Volk, als Putsch o<strong>der</strong> als Volkserhebung gegen die neue Machtcliquerund um Präsident Mursi, die Bevölkerung ist tief gespalten. Sah man vor zweiJahren noch die Menschen in T-Shirts mit Sprüchen wie “Bin ein stolzer Ägypter“, sodriften die Aufschriften auf den Leibchen heute stark auseinan<strong>der</strong>. Anhänger o<strong>der</strong>Gegner von Mursi zu sein, wird eben auch textil zur Schau getragen. Gegen ihnwurden in den Monaten <strong>der</strong> permanenten Aufmärsche dieselben Parolen skandiert –nämlich „Irhal“ zu Deutsch „Hau ab“ – wie im Jänner 2011 gegen denLangzeitpräsidenten Hosni Mubarak. Den Sturz von Mursi genau ein Jahr nachAmtsantritt begrüßte Syriens Präsident Baschar al-Assad, Saudi-Arabien unterstütztedie Intervention <strong>der</strong> Armee diskret, während viele westliche Regierungen dies alsPutsch verurteilten. Die Führungsebene rund um Mursi wird gegenwärtig verhaftet,wie es zuvor den Profiteuren des Regime Mubarak ergangen war. Im Mai weilte ich-7-