Grundschule aktuell 124
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Praxis: Grundschulgeschichte(n)<br />
Rechtschreiben lernen<br />
sie könnten sich damit falsche Wortbilder<br />
einprägen. Entsprechend begann<br />
das Schreiben eigener Texte mit aller<br />
Vorsicht und diversen Schreibvorlagen<br />
erst in Klasse 3. Nun lehrte die Erfahrung<br />
und belegten wissenschaftliche<br />
Studien, dass die Sorge nicht nur unbegründet<br />
war, sondern für den Schriftspracherwerb<br />
sogar hemmend.<br />
Jürgen Reichens »Lesen durch Schreiben«<br />
(1982), Hans Brügelmanns »Kinder<br />
auf dem Weg zur Schrift« (1983) und<br />
zahlreiche Autorinnen wie Gudrun Spitta<br />
und Mechthild Dehn trugen durch<br />
wissenschaftliche Studien und Praxisbeispiele<br />
zur Verbreitung dieses didaktischen<br />
Umbruchs bei. Auch der Grundschulverband<br />
unterstützte den Paradigmenwechsel<br />
durch Veröffentlichungen<br />
und Beiträge auf Grundschultagen.<br />
1983 lud Renate Valtin zusammen mit<br />
Ingrid Naegele zu einer Expertentagung<br />
des Grundschulverbandes ein. Teilnehmer<br />
aus Schulpraxis, Wissenschaft und<br />
Schulpsychologie trafen sich zwei Tage<br />
in Bad Nauheim und diskutierten zum<br />
Thema Rechtschreib lernen Grundlagen<br />
und Praxis, diagnostische Fragen und<br />
die Qualität von Rechtschreibmaterialien.<br />
Im Gefolge dieser Tagung entstand<br />
der Band 56/57: Rechtschreibunterricht<br />
in den Klassen 1 – 6. Zwar betrafen die<br />
meisten Beiträge den normorientierten<br />
Rechtschreibunterricht, ausführlich<br />
wurden marktführende Materialien<br />
kritisiert. Doch wurde auch die neue<br />
Sichtweise auf einen kindorientierten<br />
Schreibanfang deutlich: Mechthild<br />
Dehn berichtete aus einer Untersuchung<br />
»Wie Kinder Schriftsprache erlernen«:<br />
Sie plädierte für »die aktive Auseinandersetzung<br />
des Kindes mit den Normen<br />
der Schriftsprache«. Sie beschrieb, wie<br />
Kinder im ersten Stadium des Erwerbs<br />
dazu neigen, Wörter aufgrund auditiver<br />
Analysen zu schreiben, wie sie im<br />
Weiteren versuchen, orthographische<br />
Elemente einzubeziehen (Dehn in Band<br />
56/57, 1984). Dieser Band von 1984 wurde<br />
mehrfach nachgedruckt und im Jahr<br />
2000 gänzlich aktualisiert.<br />
1985 fand bereits die nächste Expertentagung<br />
des Grundschulverbandes<br />
zum Schriftspracherwerb statt, diesmal<br />
in Berlin. Hier ging es um die Fragen:<br />
Wie entdecken Kinder die Schrift? Wie<br />
die Orthographie? Wie können die Kinder<br />
von Anfang an zum Schreiben angeregt<br />
werden? Die Ergebnisse dieser<br />
Tagung, vermehrt um weitere Studien<br />
und Praxisbeispiele, wurden als Mitgliederband<br />
unter dem Titel »Schreiben<br />
ist wichtig!« veröffentlicht (Band 67/68,<br />
1986).<br />
Gut zehn Jahre später erschien ein<br />
Band, in dem ein Zwischenresümee der<br />
wissenschaftlichen Erkenntnisse und<br />
der Praxiserfahrungen gezogen wurde:<br />
Schatzkiste Sprache 1 – Von den Wegen<br />
der Kinder in die Schrift (Band 104,<br />
1998). Einige Beispiele:<br />
Gerheid Scheerer-<br />
Neumann resümierte<br />
»Stufenmodelle des<br />
Schriftspracherwerbs –<br />
Wo stehen wir heute?«<br />
(S. 54 ff.). Erika Brinkmann<br />
und Hans Brügelmann<br />
diskutierten<br />
»Oft gestellte Fragen<br />
– Antworten im Dialog«<br />
(S. 116 ff.). Jürgen<br />
Reichen und Heiko<br />
Balhorn führten einen<br />
Textdialog über das<br />
Konzept Lesen durch<br />
Schreiben, in dem es u. a. um die Funktion<br />
des Lesens beim Schriftspracherwerb<br />
und um das leidige Thema Rechtschreiben<br />
ging (S. 327 ff.).<br />
»Schafft die Klassendiktate ab!«<br />
Dies war Konsens: Die zeitgemäße<br />
Sichtweise von Schriftspracherwerb<br />
geht von individuellen Entwicklungen<br />
auch im Rechtschreiben aus. Fehler<br />
sind nicht Makel, sondern Fenster<br />
in den Entwicklungsstand des Kindes.<br />
Das Diagnoseinstrument Klassendiktat<br />
war als Relikt aus vergangenen Didaktikzeiten<br />
damit obsolet geworden, erst<br />
recht ein auf Klassendiktate hin zugeschnittener<br />
Unterricht. Aber sie sind<br />
nicht nur überflüssig, sondern sogar<br />
hinderlich beim Rechtschreiblernen.<br />
Christa Erichson, Hans Brügelmann<br />
und Horst Bartnitzky verfassten 1998<br />
einen Aufruf: Fördert das Rechtschreiblernen<br />
und schafft die Klassendiktate<br />
ab! Er wurde zuerst in der Mitgliederzeitschrift<br />
vom Januar 1998 veröffentlicht<br />
(Grundschulverband <strong>aktuell</strong>, Heft<br />
61) und verschiedentlich nachgedruckt.<br />
Kindgeleitet und normorientiert<br />
Jetzt, im Jahre 2013, regte sich öffentlichkeitswirksam<br />
Widerstand gegen die<br />
Entwicklungsdidaktik. Der Spiegel rief<br />
im Sommer mit der Titelgeschichte die<br />
Rechtschreibkatastrophe aus; in Brandenburg<br />
erregte sich ein CDU-Landtagsabgeordneter<br />
über das »lautgetreue<br />
Schreiben« und sorgte für politischen<br />
Wirbel; der Vorsitzende des bayerischen<br />
Philologenverbandes klagte: »In den<br />
Schulheften der Fünftklässler herrscht<br />
blindes Chaos.«<br />
Wohl wird man einräumen müssen,<br />
dass in Schulen bundesweit auch didaktische<br />
Fehlformen<br />
anzutreffen sind: Es<br />
gibt die Ausblendung<br />
aller orthographischen<br />
Aspekte bis hinein in<br />
die 3. Klasse ebenso,<br />
wie es immer noch an<br />
Klassendiktaten orientierten<br />
Unterricht gibt.<br />
Aus wissenschaftlicher<br />
Sicht reagierten<br />
die Professoren<br />
Wolfgang Eichler und<br />
Hans Brügelmann in<br />
einer gemeinsamen<br />
Stellungnahme auf die<br />
Anwürfe (http://shiftingschool.wordpress.com/2013/07/18/aufklarung-inder-konfusion-uber-lese-und-schreibunterricht).<br />
Der Grundschulverband legte eine<br />
Klarstellung vor: Rechtschreiblernen<br />
– aktiv, individuell, integrativ (<strong>Grundschule</strong><br />
<strong>aktuell</strong>, Heft 123). Ziehen wir ein<br />
Resümee aus den Arbeiten und Publikationen<br />
des Verbandes, dann kann die<br />
gegenwärtige Position etwa so lauten:<br />
1. Kinder sind Entdecker, auch beim<br />
Schriftspracherwerb.<br />
2. Lesen und Schreiben sind von Beginn<br />
an sich gegenseitig stützende Arbeitsfelder.<br />
3. Kindgeleitet und normorientiert<br />
– beides ist beim Rechtschreiblernen<br />
didaktisch zusammenzubringen.<br />
4. Rechtschreiblernen beginnt in der<br />
<strong>Grundschule</strong> und muss in den nachfolgenden<br />
Schulen fortgesetzt werden.<br />
5. Schriftsprachdidaktik muss Pflichtbereich<br />
in der Studienordnung für das<br />
Lehramt an der <strong>Grundschule</strong> sein.<br />
Horst Bartnitzky<br />
Anmerkung<br />
Bei den angegebenen Bänden handelt es sich<br />
um Mitgliederbände des Grundschulverbandes<br />
aus der Reihe: »Beiträge zur Reform der<br />
<strong>Grundschule</strong>«.<br />
GS <strong>aktuell</strong> <strong>124</strong> • November 2013<br />
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