Grundschule aktuell 124
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Rundschau<br />
Tipps für Kinder-/Jugendbücher<br />
Bücher zum Thema ›Behinderung‹<br />
Seit uns durch die UN-Konvention<br />
der Inklusionsanspruch aufrüttelt,<br />
erleben wir, wie unsicher<br />
nach wie vor oft PädagogInnen, Eltern,<br />
PolitikerInnen, BehördenvertreterInnen<br />
mit dem »Anderssein« von Mitmenschen<br />
umgehen. Was ist »normal«<br />
und wie verhält man sich »normal«?<br />
Haben wir – unbemerkte – Vorurteile<br />
in den Köpfen gegenüber Menschen aus<br />
anderen Ethnien und Kulturbereichen?<br />
Können wir ungehemmt und offen mit<br />
Menschen mit Behinderungen umgehen<br />
oder über Behinderung sprechen?<br />
Ist uns klar, was wirklich und konsequent<br />
»barrierefrei« bedeutet?<br />
Kindern geht es auch so, spätestens<br />
im Schulalter wird das erkennbar, wenn<br />
sie zuvor nicht schon selbstverständlich<br />
mit diesen »Anderen« aufgewachsen<br />
sind. Abfällige oder diffamierende Bemerkungen<br />
(»Spast«, »Mongo«, »Kanake«,<br />
»Schweinefleischfresser«), verstohlenes<br />
Weggucken oder Auslachen, Probleme<br />
bei der Sitzordnung und Partnerarbeiten<br />
sind uns aus dem Schulalltag<br />
bekannt. Auch Kinder müssen lernen,<br />
mit den »Anderen« unbefangen, rücksichtsvoll,<br />
wertschätzend umzugehen.<br />
In Bilder-, Kinder-, Jugendbüchern<br />
und Schulmaterialien kommt die Heterogenität,<br />
mit denen unsere SchülerInnen<br />
in Schule und Gesellschaft konfrontiert<br />
werden, aber nicht oder kaum<br />
vor.<br />
Ich möchte hier zwei Kinder-/<br />
Jugendbücher vorstellen, die ich als<br />
Klassenlektüre und/oder Teil der Klassenbibliothek<br />
für sehr geeignet halte,<br />
sich mit den Herausforderungen im<br />
Umgang mit Kindern mit Behinderungen<br />
auseinanderzusetzen und<br />
wertschätzende Gefühle entwickeln zu<br />
können – ohne etwa den moralischen<br />
Zeigefinder zu erheben. Beide Bücher<br />
bieten sowohl Identifikationsmöglichkeiten<br />
für die lesenden Kinder und Erwachsenen<br />
als auch viele Anlässe für<br />
kritische Reflexion und Auseinandersetzung<br />
mit dem Themenfeld.<br />
Martina Dierks<br />
»Als plötzlich alles anders war«,<br />
cbj-Verlag, München 2011<br />
Louisa, ca. elf Jahre alt, ist nach einem<br />
schweren Fahrradunfall stark behindert<br />
– sie kann nur noch mühselig<br />
laufen und ist überwiegend auf den<br />
Rollstuhl angewiesen, die Kopfverletzungen<br />
haben ihr Sprechvermögen und<br />
ihre feinmotorischen Möglichkeiten<br />
schwer eingeschränkt, alles Denken<br />
und Handeln ist mühsamer und langsamer<br />
geworden. Vor dem Unfall war<br />
Louisa eine glänzende Sportlerin, von<br />
den Mitschülerinnen als »Eislaufprinzessin«<br />
umschwärmt, die Eltern und die<br />
um ein Jahr ältere Schwester liebten sie<br />
voller Stolz. Der furchtbare Unfall zerrüttet<br />
die Familiensituation, weil alle –<br />
auf unterschiedliche Weise – nicht mit<br />
der neuen Realität fertig werden. Louisa<br />
selbst hadert mit ihrem neuen Leben,<br />
entwickelt schroffe, abweisende Verhaltensweisen,<br />
die auch die Beziehungen<br />
zu ihren Freundinnen und Mitschülern<br />
in ihrer ehemaligen 6. Grundschulklasse<br />
(Berlin hat eine 6-jährige <strong>Grundschule</strong>),<br />
in die sie nach 4-monatiger Genesungszeit<br />
zurückkehrt, fast zerstören.<br />
Aber es gibt Ereignisse und Erlebnisse,<br />
die zu Entspannung führen, sodass alle<br />
wieder aufeinander zugehen können<br />
und Louisa neue Perspektiven findet –<br />
kein strahlendes Happy End, aber ein<br />
positiver Ausblick.<br />
Die Situationen, die Gedanken, Gefühle<br />
und Gespräche in diesem Buch<br />
werden sehr unprätentiös, nachvollziehbar,<br />
in leicht und gut lesbarer Sprache<br />
dargestellt.<br />
Raquel J. Palacio<br />
»Wunder«,<br />
Carl Hanser Verlag, München 2013<br />
August wurde mit einem völlig deformierten<br />
Gesicht geboren. Viele Operationen<br />
haben Gesichtsteile zwar funktionstüchtiger<br />
gemacht, aber sein andere<br />
Menschen erschreckendes Aussehen<br />
blieb. (»Ich werde nicht beschreiben,<br />
wie ich aussehe. Was immer ihr euch<br />
vorstellt – es ist schlimmer.«)<br />
Die Eltern und die vier Jahre ältere<br />
Schwester lieben August sehr, gehen<br />
Ulla Widmer-<br />
Rockstroh<br />
Fachreferentin<br />
für Inklusion<br />
im Grundschulverband<br />
wunderbar liebevoll, beschützend und<br />
unterstützend mit ihm um.<br />
Mit zehn Jahren soll August zum ersten<br />
Mal in eine Schule gehen, bis dahin<br />
hat ihn die Mutter zu Hause unterrichtet.<br />
August ist sehr intelligent, denkt<br />
und lernt leicht und schnell. Die ausgewählte<br />
Schule ist keine Sonderschule,<br />
aber auch keine Schule, die integrative<br />
(inklusive) Erfahrung hat.<br />
August hat fürchterliche Angst vor<br />
der Begegnung mit dieser unbekannten<br />
Welt, ahnt, was an Erschrecken und<br />
Ablehnung auf ihn zukommen wird,<br />
versucht oft sein Gesicht hinter langen<br />
Haaren zu verstecken – aber will diesen<br />
neuen Lebensschritt schaffen.<br />
Das Buch beschreibt in vielen Situationen<br />
ebenso wunderbares wie schreckliches<br />
Verhalten von MitschülerInnen,<br />
ihren Eltern, dem Schulleiter und LehrerInnen.<br />
Dabei wählt die Autorin ausschließlich<br />
die Form, dass einzelne Protagonisten<br />
(August, die Schwester, eine<br />
Mitschülerin usw.) ihre Gefühle und<br />
Wahrnehmungen in den verschiedenen<br />
Situationen jeweils in Ich-Form darstellen.<br />
Diese Darstellungsweise macht alles<br />
sehr verständlich und richtig »hautnah«.<br />
Im Verlaufe des einen im Buch beschriebenen<br />
Schuljahres von August in<br />
der 5. Klasse gibt es positive Entwicklungen<br />
– aber auch hier glaubwürdig<br />
und ohne Happy-End-Kitsch.<br />
Das Buch ist sehr dick – aber alle Kapitel<br />
sind immer nur zwei bis vier Seiten<br />
kurz, was das Lesen auch leichter<br />
macht; es bietet durch seinen Aufbau<br />
die Möglichkeit, Kapitel auszuwählen<br />
für langsame LeserInnen, ohne dass dadurch<br />
der »rote Faden« des Buches zerstört<br />
würde.<br />
(Der Verlag bietet zu diesem Buch<br />
auch Unterrichtsmaterial an.)<br />
GS <strong>aktuell</strong> <strong>124</strong> • November 2013<br />
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