impuls - Soziale Arbeit - Berner Fachhochschule
impuls - Soziale Arbeit - Berner Fachhochschule
impuls - Soziale Arbeit - Berner Fachhochschule
Erfolgreiche ePaper selbst erstellen
Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.
STuDIuM<br />
Jugend – eine Begriffsbestimmung<br />
aus historischer Perspektive<br />
Im Zusammenhang mit dem Schwerpunktthema Kinder- und Jugendhilfe darf nicht<br />
versäumt werden, den Begriff Jugend genauer unter die Lupe zu nehmen. Gemeinhin<br />
wird damit eine Lebensphase zwischen Kindheit und erwachsenenalter bezeichnet.<br />
Bei genauerem hinsehen stellt sich heraus, dass die Grenzen der Lebensphase<br />
Jugend äusserst unscharf sind.<br />
Prof. Salvatore Cruceli<br />
Dozent<br />
salvatore.cruceli@bfh.ch<br />
Die 18jährige Lehrtochter, die bei ihren<br />
Eltern wohnt, ist eine Jugendliche – das<br />
scheint klar zu sein. Doch was ist mit dem<br />
26jährigen ungelernten <strong>Arbeit</strong>er, der seinen<br />
Lebensunterhalt mit Kurzzeitjobs<br />
bestreitet und die schmutzige Wäsche ins<br />
Elternhaus bringt? Und wie steht es mit<br />
dem 35jährigen Bankangestellten, der<br />
zwar einen Universitätsabschluss hat, aber<br />
weiterhin bei seinen Eltern wohnt?<br />
Die Fachliteratur verweist darauf, dass<br />
Jugend keine ahistorische oder gar absolute<br />
Kategorie ist. Die Lebensphase<br />
Jugend ist historisch in einem spezifischen<br />
Umfeld entstanden und erfüllt aus makrosozialer<br />
Perspektive wichtige gesellschaftliche<br />
Funktionen.<br />
Wandel im 18. Jahrhundert<br />
In vorindustrieller Zeit und bei sogenannten<br />
Naturvölkern existiert Jugend als Lebensphase<br />
nicht. Initiationsriten regeln den<br />
Übergang ins Erwachsenenalter. Das Kind<br />
wird damit unmittelbar zu einem vollwertigen<br />
(erwachsenen) Mitglied der Gemeinschaft.<br />
Ab dem 18. Jahrhundert setzt im Zuge<br />
der Aufklärung und Industrialisierung ein<br />
radikaler gesellschaftlicher Wandel ein. Die<br />
Einführung der Schulpflicht und spezifischer<br />
Ausbildungswege führt dazu, dass<br />
Jugend als eine eigenständige Lebensphase<br />
entdeckt wird. Es handelt sich dabei<br />
um eine Übergangszeit, welche auf die<br />
«harte» Welt der Erwachsenen vorbereiten<br />
soll. Die Jugendphase ist gemäss diesem<br />
klassischen Verständnis abgeschlossen,<br />
sobald das Individuum (dank guter Ausbildung)<br />
den eigenen Lebensunterhalt bestreitet<br />
und eine eigene Familie gründet.<br />
Jugend entsteht im damaligen Bürgertum<br />
und meint vorerst nur junge Männer.<br />
Im Laufe der Jahrzehnte bekommt die<br />
Lebensphase Jugend immer mehr eine ihr<br />
eigene Dynamik. Jugendliche entwickeln<br />
spezifische Codes (Sprache, Kleidung) und<br />
grenzen sich dadurch – auch durchaus<br />
kritisch – von bestehenden gesellschaftlichen<br />
Werten ab. Die Möglichkeit, bei<br />
gesellschaftlichen Problemen innovative<br />
Lösungswege anzubieten, ist aus soziologischer<br />
Perspektive bis heute eine wichtige<br />
Funktion der Jugend.<br />
Phänomen «Postadoleszenz»<br />
Die klassische Definition von Jugend ist<br />
im heutigen Kontext nur noch begrenzt<br />
gül tig. Der <strong>Arbeit</strong>smarkt der westlichen<br />
In dustriegesellschaften ist von hoher<br />
<strong>Arbeit</strong>slosigkeit und immer prekäreren<br />
<strong>Arbeit</strong>sbedingungen gekennzeichnet. Eine<br />
überdurchschnittliche berufliche Qualifikation<br />
ist häufig unerlässlich, um überhaupt<br />
Chancen auf eine <strong>Arbeit</strong>sstelle zu<br />
haben. In vielen europäischen Ländern<br />
bekommen gut qualifizierte Universitätsabsolventinnen<br />
und absolventen häufig<br />
nur befristete oder schlecht bezahlte<br />
<strong>Arbeit</strong>s und Praktikumsstellen. Die Jugend<br />
als Lebensphase kann sich unter<br />
solchen Bedingungen bis ins vierte<br />
Lebensjahrzehnt erstrecken. Die Fachlite<br />
ratur beschreibt dieses Phänomen als<br />
«Postadoleszenz» und als typische Erscheinung<br />
postmoderner Gesellschaften.<br />
Aus einer makrosozialen Perspektive<br />
kann in diesem Zusammenhang auf weitere<br />
wichtige Funktionen von Jugend hingewiesen<br />
werden. Es handelt sich um die<br />
entscheidende Lebensphase für individuelle<br />
Sozialisations und Identitätsbildungsprozesse.<br />
Sie bietet in diesem Sinne einen<br />
unverzichtbaren Raum für die Aneignung<br />
von immer komplexer werdenden sozialen<br />
Rollen. Umgekehrt schliesst die Gesellschaft<br />
dabei ihr vitalstes Element über<br />
längere Zeit aus wichtigen Entscheidungsprozessen<br />
aus. Sie tut dies eben gerade<br />
dadurch, dass der Eingang ins Erwachsenenalter<br />
(samt den entsprechenden Rechten<br />
und Pflichten) tendenziell immer später<br />
erfolgt. Das weiter oben angesprochene<br />
kritische Innovationspotenzial von Jugend<br />
wird damit stark eingeschränkt.<br />
Auch aus wirtschaftlicher Perspektive<br />
hat die Jugend eine grosse Bedeutung für<br />
die Gesellschaft und hat sich im Laufe<br />
der Zeit zum vielleicht wichtigsten Marktsegment<br />
entwickelt.<br />
Der Beginn der Lebensphase Jugend<br />
kann gemäss Fachliteratur anhand biologischer<br />
Kategorien recht genau definiert<br />
werden: Sie setzt mit der Pubertät im Alter<br />
von ca. 12 bis 13 Jahren ein. Die Frage,<br />
wann das Jugendalter beendet ist, stellt<br />
die Wissenschaft vor kaum auflösbare<br />
Widersprüche. Der Eintritt ins Erwachsenenalter<br />
ist sprunghaft und erfolgt je nach<br />
Lebensbereich zu einem unterschiedlichen<br />
Zeitpunkt.<br />
Literatur:<br />
Shell Deutschland Holding GmbH (2006): Jugend 2006.<br />
Eine pragmatische Generation unter Druck. Frankfurt a.M.:<br />
Fischer Taschenbuchverlag.<br />
Tillmann, K.J. (2007): Sozialisationstheorien.<br />
Eine Einführung in den Zusammenhang von Gesellschaft,<br />
Institution und Subjektwerdung (15. Auflage). Reinbek<br />
b. Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag.<br />
<strong>impuls</strong> September 2010<br />
27