durchblick 2/2016

Medikamente, um all das was sonst noch so im Argen
liegt aufzufangen, so gut es eben geht. Aber es gibt auch
Dinge, von denen ich mich endgültig verabschiede, und
das fühlt sich gut an!
Da kommt mir natürlich mein dreiviertel Jahrhundert
Lebenszeit sehr zur Hilfe: Kein Mensch erwartet von mir,
dass ich noch 500 km alleine mit dem Auto fahre. Das war
durchaus auch früher schon Stress, aber den kann ich mir
jetzt beruhigt sparen: Ich bin ja alt! Schwieriger wird es
schon bei der viel gepriesenen sportlichen Fitness im Alter.
Wenn ich da meine Körpersignale nicht ernst nehme, grenzt
das an Selbstverstümmelung. Auch hier gilt: Ich muss mir
und anderen nichts mehr beweisen. Das ist eine sehr entlastende
Erkenntnis, und auch das fühlt sich gut an!
Ich kann mir aussuchen, mit wem und wie ich meine
freie Zeit gestalte, was ich unternehmen möchte, wo ich
mich engagieren will und wo nicht. Es ist eine wunderbare
Erkenntnis, dass ich die Welt nicht mehr retten muss, aber
mich noch einbringen kann. Mein Wissen und meine Erfahrung
sind gefragt, z. B. bei der Entwicklung moderner
Kommunikationstechnologien und deren Nutzung für Ältere.
Da bin ich doch auf dem richtigen Dampfer.
Die grauen Haare und dazu meine unzähligen Lachfalten
verschaffen mir in manchen Lebenssituationen auch
eine gewisse Narrenfreiheit: Wenn ich heute unbeschwert
flirte, dann missversteht das niemand mehr. Der Umgang
mit dem anderen Geschlecht ist viel lockerer und unbefangener
geworden, denn wir Alten sind ja „Jenseits von Gut
und Böse“. So denkt man jedenfalls...
Dass das Alter nicht vor Torheit schützt, wissen wir. Aber
ist es eine Torheit, sich im Alter noch einmal zu verlieben?
Für junge Menschen schwer vorstellbar, aber das Alter ist ja
keineswegs unerotisch. Es dann einfach genießen, die eigene
Lebendigkeit zu spüren, das fühlt sich sehr gut an! Wer Sorge
um den „guten Ruf“ hat muss es ja nicht an die große Glocke
hängen. Die kleinen Geheimnisse im Alter sind wie ein
Jungbrunnen, und träumen darf man ja. Das Alter und die hohe
Lebenserfahrung werden uns schon vor der jugendlichen
Torheit falscher Erwartungen schützen, denken wir... Wenn du
aber dann unerwartet das Signal erhältst: „Ich finde dich auch
attraktiv!“, dann hast du auch mit 75 noch dieselben Schmetterlinge
im Bauch wie mit 20. Wahrscheinlich sind es doch eher
neue, denn Schmetterlinge leben ja nicht so lange. Oder sind
es jetzt Nachtfalter?
Ich kokettiere gerne mit meinem Alter. Wer jahrelang
als „die Alte“ in einem jungen Team gearbeitet hat, nutzt
das als „Überlebensstrategie“. Wie leicht ist es, kleine
Schwächen aufs Alter zu schieben. Habe ich etwas vergessen:
„Oh, Verzeihung, das Alter!“ Habe ich etwas verlegt
und suche verzweifelt danach: „Das passiert eben
im Alter“ usw. Natürlich ist mir das früher auch häufig
passiert, aber da war ich einfach schusselig und unkonzentriert,
das erntete eher Kopfschütteln, jetzt wird es
akzeptiert… Voraussetzung ist natürlich, zu seinem Alter
zu stehen, es mit Humor zu nehmen. Wie könnte ich
sonst über die Komik so mancher Situation lachen? Das
hilft auch den Jüngeren, es etwas lockerer zu nehmen mit
den „schrulligen“ Alten.
2/2016 durchblick 45