Lebenslust Gottingen - Winter 2016

66 ZU GUTER LETZT lebenslust:gö
Der alltägliche Wahnsinn ‒ schöne heile Welt?
Hautkunst?
Ihr lieben Leute, denkt doch nach, bevor ihr
Eure Haut mit bunten Kritzeleien verschandelt!“,
möchte man denjenigen zurufen, die
im Begriff sind, sich eine trendige Tätowierung
zuzulegen. Und diese Mahnung kommt
durchaus wohlwollend daher, ist doch der
Sinn und Zweck (und nicht nur das Erscheinungsbild)
mancher Permanentverzierungen
unserer Derma durchaus zweifelhaft.
Und damit ist nicht nur die Mutter aller Körperkunst,
ein seltsames Liniengewirr, häufig
in Flügelform angeordnet und über dem Rektum
befindlich – vulgo: Arschritzenadler –
gemeint. Nicht nur, dass dieser stolze Vogel
im Alter häufig die einst so mächtigen
Schwingen hängen lässt – auch der Sinn
einer solchen Verzierung lässt sich selbst mit
gutem Willen nicht erahnen. Fliegen kann
man damit jedenfalls nicht.
Vordergründig sinnvoller erscheinen da permanente
Gedächtnisstützen, gerne auf Unterarmen
platziert, die dem Betrachter Name
und Geburtsdatum näherer Verwandter respektive
ehemaliger oder aktueller Lebensabschnittsbegleiter
in Erinnerung rufen sollen.
Ob es solche „Erinnerungshilfen“ wirklich
wert sind, hierfür viel Geld auszugeben oder
sich ein Körperteil zu verschandeln, sei dahingestellt,
ebenso wie die Frage, woher eine
Person, die diese rudimentären Daten nicht
ohne einen Merkzettel behalten kann, über
hinreichende finanzielle Mittel verfügt, diese
„Verschönerungen“ zu finanzieren.
Ursprünglich dienten Tätowierungen übrigens
als Mitgliedszeichen von Stämmen oder
als rituelle bzw. sakrale Symbole. Man
grenzte sich durch bestimmte Tätowierungen
von anderen Menschen ab. (Häufig in
unseren Breitengraden vorgefundene Motive
„Mama“ und „Papa“, jeweils auf Unterarmen,
Handgelenken oder Fingerknöcheln platziert,
dienen allenfalls dazu, sich von den
0,001% Retortenkindern, die ein Erzeugerpärchen
nicht vorzuweisen haben, zu unterscheiden.)
Ansonsten erfüllten Tätowierungen auch
eine Hinweis- und Warnfunktion, indem sie
z. B. im alten Japan dazu gereichten, Kriminelle
zu brandmarken. Auch die russische
Mafia bedient sich als Zugehörigkeits- oder
Rangzeichen derartiger Markierungen, denen
auch hierzulande eher das Stigma des
Matrosen oder eben das des Häftlings anhängt.
Es darf bezweifelt werden, ob tatsächlich
alle Träger einer Tätowierung den
Wunsch hegen, sich in diese Richtung zu profilieren,
sodass eine solche Zweckbestimmung
eher ungewollt erscheint.
Noch weniger nachvollziehbar sind fremdsprachliche
Schriftzeichen auf der Haut. Was
soll der Betrachter mit einem Text anfangen,
den er nicht lesen kann? Mehr noch: Was
bringt es dem Träger? Diese Frage scheint
insbesondere interessant vor dem Hintergrund,
dass gar nicht erwiesen ist, ob der tatsächlich
aufgebrachte Text dem entspricht,
was der Besteller in Auftrag gegeben hat. Es
erscheint nicht unwahrscheinlich, dass viele
stolze Zurschausteller einer solchen Tätowierung
nicht ihr Sternzeichen, den Namen und
das Geburtsdatum ihres Liebsten oder irgendeinen
Sinnspruch vermitteln, sondern
eher aufgrund eines üblen Scherzes des Tätowiermeisters
eine Schmäh- oder Spottschrift,
häufig in Bezug auf den Träger selbst.
Zusammengefasst stellt sich die Frage,
warum überhaupt jemand mit geschmacklich
bestenfalls fragwürdigen, nicht mehr entfernbaren,
teilweise unleserlichen, in jedem
Falle aber völlig sinnfreien Motiven freiwillig
herumläuft.
Menschen, die das Geburtsdatum ihrer Kinder
oder den Umstand, von Mutter und Vater
abzustammen, nicht ohne permanente
Erinnerungshilfe behalten können, werden
diese Frage sicherlich nicht beantworten
können. ■
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