SPORTaktiv Dezember 2016
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FOTOS: Herbert Ranggetiner<br />
JEDES JAHR, WENN ES KÄLTER WIRD,<br />
steht man als Kletterer vor einem nicht<br />
zu unterschätzenden Problem: Wie rette<br />
ich die mühsam antrainierte Form über<br />
die Wintermonate? Früher gab es für<br />
unsereins zwei Varianten: Rein in den<br />
VW-Bus und ab in wärmere Gefilde,<br />
oder runter in den dunklen Boulderkeller.<br />
Etwas blass und lichtscheu, aber mit<br />
einem Kreuz, das um einen gefühlten<br />
Meter breiter war, kroch man dann Monate<br />
später wieder aus diesem Loch.<br />
Aber auf die Frage: „Hast was trainiert<br />
im Winter?“ kam dann von jedem dieselbe<br />
Antwort: ,,Na, überhaupt nix, extrem<br />
faul g’wes’n den Winter. Wenn’s hochkommt,<br />
vielleicht fünf Klimmzüge“ ...<br />
HEUTE STRÖMEN MASSEN von Menschen<br />
in die Kletter- oder Boulderhallen, die<br />
wie Pilze aus dem Boden schießen. Ein<br />
Boom, der wohl noch lange nicht seinen<br />
Höhepunkt erreicht hat. Statt monotonem<br />
Gewichteheben geht man heute in<br />
die vollklimatisierte Kletterhalle mit<br />
Großbild-TV und Coffeeshop. Während<br />
die einen noch ihren Cappuccino trinken,<br />
tummelt sich vom Bürohengst über<br />
das knackige Mädel bis hin zum Opa<br />
und Kleinkind alles in der Welt der Plastikgriffe.<br />
WEIL ICH ALS PROFIKLETTERER oft um<br />
meine Meinung gefragt werde: Kann<br />
man etwas Negatives über einen Ort<br />
sagen, an dem Menschen etwas für ihren<br />
Körper und ihre Gesundheit tun?<br />
Ein Ort, an dem geklettert wird, schwer<br />
oder leicht, im Toprope oder im Vorstieg,<br />
und wo man auch noch seine Koordination<br />
fördert? Nein, ich finde es<br />
großartig, dass in einer Zeit, in der Themen<br />
wie Mangel an Bewegung, Übergewicht<br />
oder Verblödung vor dem Fernseher<br />
mehr als präsent sind, die Menschen<br />
in Kletterhallen gehen. Ich sage sogar:<br />
Besteht örtlich die Gelegenheit, dann<br />
sollten ganze Schulklassen die Kletterhalle<br />
besuchen und mit Spiel und Spaß<br />
an die Materie herangeführt werden.<br />
Denn so wird Sport wieder cool – auch<br />
für die Kinder, die nicht einmal mehr einen<br />
Purzelbaum beherrschen.<br />
Das Klettern in einer Halle hat sich<br />
längst zu einer eigenen Sportart entwickelt<br />
– die meisten Aktiven klettern ja<br />
überhaupt nicht mehr am Fels. Die vielen<br />
Vorteile liegen schließlich auf der<br />
Hand: kein mühsamer Zustieg, wetterneutral,<br />
kein Dreck oder Getier (wichtige<br />
Info für die Frauen), klar geregelte<br />
Öffnungszeiten – und ganz wichtig: der<br />
„Sehen-und-gesehen-werden-Effekt“.<br />
Trotzdem, ich persönlich bin selten in<br />
der Kletterhalle. Ich gehöre eben noch<br />
zur „old school-Generation“. Ich brauche<br />
frische Luft und muss die Elemente<br />
Der Kletterprofi<br />
HERBERT RANGGETINER, 47, aus<br />
Mühlbach im Pinzgau (S), ist Profikletterer<br />
und einer der besten<br />
Extremkletterer Europas. Mehr als<br />
600 Lines europaweit wurden von<br />
ihm als Erstem durchstiegen.<br />
In <strong>SPORTaktiv</strong> gibt Herbert regelmäßig<br />
einen Einblick in die faszinierende,<br />
für viele aber auch unbegreifliche<br />
Welt des Frei kletterns. Dabei<br />
nimmt er sich in jeder Ausgabe eines<br />
bestimmten Themas an, erklärt<br />
Techniken und Abläufe – und lässt<br />
den Leser dabei auch an seiner ganz<br />
speziellen Lebensphilosophie teilhaben.<br />
in all ihrer brachialen und herrlichen<br />
Vielfalt spüren. Wind, Sonne, Kälte und<br />
die Fähigkeit, sich auf diese Kräfte einzustellen,<br />
geben mir erst das Gefühl, so<br />
richtig zu leben.<br />
AUCH BEI MINUSGRADEN und Schneefall<br />
trifft man mich oft am Fels. Ein Lagerfeuer,<br />
eine Tasse Kaffee, dazwischen<br />
werden schnell einige Seillängen geklettert<br />
– ist alles Einstellungssache!<br />
Aber klar, es gibt auch die Tage, wo<br />
man nicht mal seinen Hund vor die Tür<br />
schickt, da zieht es mich in meinen eigenen<br />
Boulderraum und hier geht es<br />
ans Eingemachte. Hier arbeite ich an<br />
meinen Schwächen, trainiere für geplante<br />
Projekte und baue Schlüsselstellen<br />
von Routen nach. Wie ihr am großen<br />
Bild seht: Eine Kletterwand Marke Eigenbau,<br />
gerade mal 2 Meter breit und<br />
4,5 Meter hoch – aber 60 Grad steil ...<br />
DIESES KLEINE UNIVERSUM beinhaltet so<br />
ziemlich jede Art von Griffen, die es<br />
auch am Fels gibt. Hier ist der kleine<br />
Raum kein Problem: Mein Körper trainiert<br />
bloß an einem aus einer Notlösung<br />
geschaffenen Ort – geistig klettere ich<br />
gerade draußen an einem warmen<br />
Herbsttag eine geniale Route hoch. Das<br />
Ausweichen in den Boulderraum wird<br />
durch meine Ziele und Visionen gerechtfertigt.<br />
Würde ich in Frankreich<br />
oder Spanien leben, wäre ich wohl nur<br />
am Fels zu finden.<br />
ABER WINTER HEISST FÜR MICH auch<br />
Pulverschnee, Skifahren – und vor allem:<br />
mit den Tourenskiern durch einsame,<br />
wunderschöne Bergwelten zu wandern.<br />
Ein Traum für den Kopf – und<br />
zugleich, auch für Klettersportler, ein<br />
durchaus effektives Ausdauer- und Konditionstraining.<br />
Bei dem du mit der Wahl<br />
der Route ja selbst bestimmen kannst,<br />
welche Intensität du reinlegst.<br />
Aber ganz egal, ob du in die Kletterhalle<br />
gehst, im eigenen Keller ackerst oder<br />
durch den Tiefschnee stapfst – Hauptsache,<br />
du spürst den ,,Positiv-Effekt‘‘.<br />
Denn alles ist besser, als im Winter zu<br />
Hause vor der Glotze zu sitzen und mit<br />
Chips und Cola seinen Körper und Geist<br />
auf eine fatale Talfahrt zu schicken.<br />
Nr. 6; <strong>Dezember</strong> ´16 / Jänner ´17<br />
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