COMPACT-Magazin 03-2016
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<strong>COMPACT</strong> Leben<br />
gerottet und geben im Chor ein schneidiges Gebrüll<br />
von sich. Ihre weiße Oberbekleidung lässt sie dabei<br />
fast wie Gespenster durch die Nacht wabern. Die<br />
Beleuchtung der überdimensionalen Führerbilder am<br />
Rand des Platzes verstärkt diesen Eindruck zusätzlich.<br />
Surreal. So etwas habe ich noch nie gesehen. Kim junior<br />
scheint mir die Verblüffung anzumerken. «Die proben<br />
für die große Parade am 10. Oktober», erklärt er<br />
lächelnd. «Da feiern wir den 70. Gründungstag unserer<br />
Partei, der Partei der Arbeit Koreas.»<br />
58<br />
Nordkoreas Frauen brauchen keinen<br />
Gender-Gaga. Foto: Autor<br />
Autobahn werktags zum Feierabendverkehr.<br />
Foto: Autor<br />
Der Himmelssee auf 2.700 Meter.<br />
Foto: Autor<br />
Der nächste<br />
Koreakrieg soll in<br />
den USA stattfinden.<br />
herrscht «Pjöngjang-Zeit». Außerdem leben wir ab<br />
sofort nicht mehr im Jahr 2015, sondern 104 Chu’che,<br />
dem 104. Jahr nach der Geburt des Staatsgründers<br />
Kim Il-sung. «Chu’che» – wörtlich übersetzt «Eigenständigkeit»<br />
oder «Autarkie» – bezeichnet die hiesige<br />
Staatsphilosophie.<br />
Die Suche nach dem fünften Stock<br />
In Nordkorea ist es für Ausländer unmöglich, auf<br />
eigene Faust und ohne staatliche Kontrolle durchs<br />
Land zu tingeln. Jeder Tourist, jede Reisegruppe erhält<br />
ihre eigenen Führer, abgestellt von der staatlichen<br />
Reiseagentur KITC. Das muss man akzeptieren –<br />
oder zu Hause bleiben. Die Namen unserer Führer sind<br />
leicht zu merken. Zwei von Dreien heißen Kim – Kim<br />
senior und Kim junior. Der Dritte ist einfach der, der<br />
nicht Kim heißt. In ein paar Tagen werden wir herausfinden,<br />
dass seine Kollegen bei der KITC ihn wegen<br />
seines Bauchansatzes «Bärchen» getauft haben, und<br />
ihn fortan ebenfalls «Bärchen» nennen. Jetzt ist erst<br />
einmal abtasten angesagt. Beschnuppern. Auf beiden<br />
Seiten. Ein Punkt ist Reiseleiter «Bärchen» besonders<br />
wichtig: keine koreanischen Zeitungen zerreißen,<br />
zerknittern oder bekritzeln. Zumindest keine, die ein<br />
Bild von Machthaber Kim Jong-un, seinem Vater Kim<br />
Jong-il oder seinem Großvater Kim Il-sung enthalten…<br />
«Das ist verboten», mahnt er eindringlich. Alles klar.<br />
Halten wir uns lieber dran…<br />
Zwei Stunden später: Zum ersten Mal setze ich einen<br />
Fuß auf Pjöngjanger Asphalt und laufe ein paar<br />
Meter. Doch plötzlich zucke ich zusammen. Hinter mir<br />
durchschneidet lautes Geschrei die Szene. Es klingt<br />
wie Parolen, Kampfrufe. Ich blicke mich um – und erstarre:<br />
Hunderte, wirklich Hunderte Menschen – weiße<br />
Hemden, schwarze Hosen, weiße Baseballmützen<br />
– haben sich keine 50 Meter neben uns zusammen-<br />
Wir feiern unsere Ankunft mit einem üppigen<br />
Abendessen im Hotel Yanggakdo, gelegen auf einer<br />
Insel inmitten des Flusses Taedong, der Pjöngjang in<br />
zwei Teile trennt. Danach geht es auf nächtliche Entdeckungstour<br />
zu den Prunkplätzen der Stadt. Dabei<br />
statten wir auch dem berühmten Mansudae-Monument<br />
einen obligatorischen Besuch ab. Hier, auf einer<br />
Anhöhe gelegen, wachen die mehr als 20 Meter<br />
hohen Bronzestatuen von Kim Il-sung und Kim Jongil<br />
mit freundlich lächelndem Blick über ihr Reich. Im<br />
Hintergrund säumt ein Wandbild des Berges Paektu,<br />
des heiligen Bergs der Koreaner, die Fassade des Revolutionsmuseums.<br />
Links und rechts wird die Kulisse<br />
von beeindruckend lebensecht wirkenden Figurengruppen<br />
flankiert. Sie symbolisieren Szenen aus dem<br />
koreanischen Befreiungskampf. Eine ganz besondere<br />
Atmosphäre umgibt diesen taghell erleuchteten Ort,<br />
um den herum alles umso finsterer erscheint. Sehr feierlich<br />
– eine Kathedrale der Chu’che-Ideologie! Ein<br />
Hort der religiösen Verehrung gottgleicher Gestalten.<br />
Befremdlich. Aber gerade deshalb faszinierend.<br />
Zurück im Hotel, wundern wir uns, warum im Aufzug<br />
der Knopf für den fünften Stock fehlt – und warum<br />
die Anzeige beim Passieren desselben direkt von<br />
4 auf 6 springt. Abermals brodelt die Gerüchteküche.<br />
Das fünfte Stockwerk als Kommandozentrale zur Bespitzelung<br />
der Hotelgäste? Schon möglich. Die Notausgangstür<br />
des Stockwerks im Treppenhaus ist verriegelt.<br />
Und hat keine Klinke…<br />
Unterirdische Paläste<br />
Der nächste Tag beginnt neblig. Um sechs Uhr klingelt<br />
der Wecker. Den hätte ich allerdings gar nicht stellen<br />
müssen, denn vom Bahnhof aus schallt muntere<br />
Morgenmusik über die Stadt, durchs offene Fenster<br />
meines Zimmers im 42. Stock, bis direkt an mein Bett.<br />
So also begrüßt Pjöngjang den Tag… Ich reibe mir den<br />
Schlaf aus den Augen und schaue hinaus.<br />
Aus über 100 Metern Höhe, über dem Scheitel<br />
des Taedong, wirkt die Hauptstadt überraschend<br />
normal. Von hier oben fällt vor allem die starke Häufung<br />
himmelstürmender Hochhäuser ins Auge, etwa<br />
ein Viertel davon sind sehr modern und offensichtlich<br />
erst seit Kurzem fertiggestellt. Das gigantomanische,<br />
pfeilförmige, 330 Meter hohe Ryugyong-Hotel und der