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Mitteilungsblatt - Deutscher Altphilologenverband

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Die Projektion heutigen Wissens auf die Zukunft,<br />

wie sie z. B. im Delphi-Report zum Programm<br />

erhoben wird, macht einem unwillkürlich<br />

die Problematik aller zukunftsorientierten<br />

Wissenschaften bewußt, die, wie wir sehen,<br />

gerade in unserem Jahrhundert immer akuter<br />

geworden ist: die Macht und Riskantheit<br />

menschlichen Wissens. Die Formel ‚Wissen ist<br />

Macht’ (scientia est potentia), mit der vor etwa<br />

400 Jahren der Engländer Francis Bacon dem<br />

einerseits von Kopernikus und Galilei freigesetzten,<br />

andererseits von Descartes philosophisch<br />

legitimierten Forschungsdrang in Richtung<br />

Natur eine ungeheure, bis heute nicht gebrochene<br />

Dynamik verlieh, hat die bis dahin<br />

eine Einheit bildende Kultur der Menschen, also<br />

ihr Bemühen, die Welt entsprechend ihren Bedürfnissen<br />

zu gestalten, in zwei Teile zerrissen.<br />

Man spricht deshalb von den „Zwei Kulturen“,<br />

in denen man sich mit jeweils verschiedenen<br />

Ambitionen wissenschaftlich betätigt, von den<br />

Naturwissenschaften und den Geisteswissenschaften.<br />

Die einen sind, so die verbreitete Meinung,<br />

für die Zukunft zuständig, sie sind fortschrittsorientiert<br />

und, wie schon Bacon sagte,<br />

auf Praxis bezogen, mit wenig Sinn für das Vergangene,<br />

die anderen hängen an der Vergangenheit,<br />

ihre Vertreter stehen mit dem Rücken zur<br />

Zukunft, sie sind für die Bewältigung von Zukunftsaufgaben,<br />

da sie, wie Bacon ihnen vorwirft,<br />

„bei den Musen bleiben“, nutzlos und<br />

ineffektiv. Zwischen Zukunft und Herkunft<br />

klafft ein starker Riß. Und dieser Riß zieht sich<br />

durch die Universitätsdisziplinen nicht weniger<br />

als durch die Schulfächer, mit der Folge gegenseitiger<br />

Ignoranz und zuweilen gar kalter Abneigung<br />

voreinander.<br />

Allerdings hat sich, wie die wissenschaftliche<br />

Diskussion zeigt, der Trend längst zu wenden<br />

begonnen. Der Anstoß dazu ging erstaunlicherweise<br />

von der Naturwissenschaft aus. Ihr<br />

Forschen ist, wie es scheint, an Grenzen gestoßen,<br />

so daß ihre Erkenntnisobjekte in den Sog<br />

der ‚letzten Fragen’ des Menschen geraten<br />

sind. An diesen Grenzen schwindet der Gegensatz<br />

von Geist und Natur. „Der Geist kehrt<br />

zurück zur Natur“, so lapidar drückt es der<br />

Medizin-Nobelpreisträger von 1972, Gerald<br />

56<br />

M. Edelman, in seinem 1992 erschienenen<br />

Buch „Göttliche Luft, vernichtendes Feuer“ aus.<br />

In bewußter Abkehr von Galilei und Descartes<br />

schafft der amerikanische Forscher eine, wie die<br />

Kritik schreibt, „brillante und fesselnde neue<br />

Vision des menschlichen Geistes“, indem er von<br />

den Naturwissenschaften, vor allem der Biologie<br />

her versucht, dem auf die Spur zu kommen,<br />

was den Menschen zum Menschen macht, seinem<br />

Bewußtsein, seinem Denkvermögen.<br />

Edelmans Erkenntnisse sind revolutionierend<br />

und zugleich beruhigend. Er, der für die Entstehung<br />

des Geistes im Gehirn eine wissenschaftlich<br />

plausible Erklärung vorlegt, weist dem<br />

Menschen eine im Laufe der Evolution zugewachsene<br />

Form „des höheren Bewußtseins“ zu;<br />

und dieses sei bestimmt von Intentionalität, von<br />

Selbstheit, von Sprache, von Logik, von Wertempfinden,<br />

von einem Gespür für Zeit, also für<br />

Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, von der<br />

subjektiven Erfahrung von Welt und Geschichte,<br />

schließlich von Sinnhaftigkeit.<br />

Da aber dieses Denken über das Denken, das<br />

Forschen des Geistes über den Geist den Naturwissenschaftler<br />

ständig seine Abhängigkeit von<br />

der eigenen Subjektivität spüren, also die individuelle<br />

Begrenztheit seines Erkenntnisvermögens<br />

erfahren läßt - Edelman spricht geradezu<br />

von einem „Eingekerkertsein“ -, erweist sich für<br />

ihn die rein naturwissenschaftliche Erklärung<br />

des Menschen als eines Geistwesens, auch wenn<br />

sie zuverlässige, unverzichtbare Grundlagen des<br />

Wissens darüber liefert, letztlich als nicht ausreichend.<br />

Andere Wissenschaften müssen, wie<br />

Edelman selbst sagt, hinzukommen: die Psychologie,<br />

die Linguistik, die Philosophie, die<br />

Kulturwissenschaften, auch die Theologie.<br />

Wir sehen: Die Geisteswissenschaften sind hier<br />

gefordert, freilich in einer ganz neuen, bisherige<br />

Traditionen sprengenden Form. Man ist, wie es<br />

der amerikanische Forscher ausdrückt, „auf der<br />

Suche nach neuen Harmonien“. Sind solche<br />

Harmonien aber möglich? Baut man von der<br />

anderen Seite her, der geisteswissenschaftlichen,<br />

an der noch offensichtlich nötigen Brücke über<br />

den Jahrhunderte alten Graben mit? Edelman

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