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Mitteilungsblatt - Deutscher Altphilologenverband

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Seidensticker zeigte am Beispiel des Malers und<br />

Graphikers Wolfgang Mattheuer, welche Impulse<br />

der antike Mythos im Schaffen des Künstlers<br />

bedeutete, der schließlich, vom System desillusioniert<br />

und gegenüber der DDR-Politik distanziert,<br />

aus der Partei ausgeschlossen wurde.<br />

Zwei mythologische Motive griff Mattheuer<br />

wiederholt auf: Sisyphus - das archetypische<br />

Bild für die sinnentleerte, entfremdete Arbeit,<br />

und Ikarus, um das Streben und Scheitern des<br />

Menschen zu verdeutlichen. Seidensticker gelang<br />

es durch die Präsentation von Abbildungen<br />

eindrucksvoll, in den Variationen des Dargestellten<br />

die jeweilig neue Nuance der Aussage<br />

zu veranschaulichen:<br />

1. Sisyphus befreit sich von der entfremdeten<br />

Arbeit durch Flucht.<br />

2. Er stößt in übermütiger Verweigerung den<br />

Stein in die Tiefe.<br />

3. Er bewegt sich sinnlos im Laufrad<br />

(zusammen mit seinem Stein).<br />

4. Er unternimmt, verbrüdert mit der Masse,<br />

einen Befreiungsversuch.<br />

5. Er versucht durch Behauen des Steins eine<br />

gezielte Veränderung der Welt.<br />

6. Er steht unbewegt am Stein (Resignation<br />

oder Pause?).<br />

Diese Bilder, in der Form der Karikatur, geben<br />

klare Antworten auf die gesellschaftlichen Fragen<br />

im erstarrten politischen System. In der<br />

Figur des Ikarus sieht der Maler einen Menschen,<br />

den kreative Phantasie beflügelt: Symbol<br />

inspirativer Kraft. Im Motiv „Flug und Sturz“<br />

wird die jugendliche Begeisterung deutlich,<br />

Wille und Mut zur Befreiung werden erkennbar:<br />

Sinnbild der Moderne, des zivilisatorischen<br />

Höhenfluges mit der Gefährdung.<br />

Mattheuer will nicht nur ästhetisch schöne Bilder<br />

produzieren, das permanente Experimentieren<br />

mit diesen archetypischen Bildern von der<br />

menschlichen Existenz zeugt von dem Willen,<br />

politische Bezüge durch die Chiffre, durch die<br />

Metapher und durch die symbolische Gestaltung<br />

herzustellen.<br />

86<br />

Mattheuer als Sisyphus und Ikarus - was für<br />

eine Aussage des Künstlers, was für ein Beitrag<br />

des Wissenschaftlers!<br />

4.3 In einer öffentlichen Veranstaltung unter<br />

dem Motto „Europa erinnert“ las DAGMAR<br />

NICK, vielfach ausgezeichnete Schriftstellerin<br />

aus München, neben Gedichten zum antiken<br />

Mythos und zur griechischen Landschaft aus<br />

ihrem Werk „Medea, ein Monolog“ im dichtbesetzten<br />

Großen Saal des Volkshauses.<br />

Medea möchte den Weg, den sie einst mit Jason<br />

vom Schwarzen Meer nach Griechenland zurücklegte,<br />

noch einmal bewältigen, um der Frage<br />

nach dem ewigen Leben und seinem eigentlichen<br />

Wert nachzugehen. Zwei Gestalten stehen<br />

am Anfang und Ende ihres Weges, welche eine<br />

fragwürdige Unsterblichkeit verkörpern: es sind<br />

Prometheus, der am Kaukasus festgeschmiedet<br />

leidet, und der weise Kentaur Chiron, der mit<br />

seinem unheilbaren Leiden in Iolkos in einer<br />

Höhle vegetiert. Medea wird zum Bindeglied<br />

zweier Mythen und zweier Gestalten, die beide -<br />

in unterschiedlicher Weise - mit ihrer Unsterblichkeit<br />

geschlagen sind. Falls Prometheus -<br />

Symbol des Fortschritts - in Freiheit weiterleben<br />

will, muß ein anderer seine Unsterblichkeit für<br />

ihn opfern: es ist Chiron - Symbol der Weisheit<br />

und Güte, ein als Kentaur urtümlich gezeichnetes<br />

Wesen am Ende einer archaischen Zeit.<br />

Die beschwörende Wirkung, welche der Mythos,<br />

dieser Vorrat existentieller Fragen und<br />

Stoffe, auch auf den modernen Menschen ausübt,<br />

wie Prof. Maier in seinen einführenden<br />

Worten bemerkte, verstärkte sich in der Lesung<br />

durch den betörenden Klang und Fluß der dichterischen<br />

Gestaltung. Rationale Legitimationsanstrengungen<br />

zum Sinn und Wert der Antikenrezeption<br />

wurden beim Zuhören verdrängt und<br />

überflüssig. Die Antike lebt(e).

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