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Mitteilungsblatt - Deutscher Altphilologenverband

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seiner Geistbefähigung bald den guten, bald den<br />

schlechten Weg“, anschließt, schreibt er dem<br />

Wissen selbst eine ethische Bedeutsamkeit zu,<br />

so daß es der kritischen Vernunft unterworfen<br />

wird. Es geht ihm nicht so sehr um das Wunder<br />

des Menschen als Geistwesen im einzelnen,<br />

sondern um die Wirkung dieser Begabung für<br />

das Ganze der Menschheit, er achtet darauf,<br />

„wie sich das Ungeheure menschlichen Tuns“<br />

auf die ihn umgebende Welt, auf die Natur auswirkt.<br />

Jonas thematisiert die geistbedingte Sonderstellung<br />

des Menschen über die Natur, so daß<br />

er sich nun unmittelbar mit den Naturwissenschaften<br />

auseinandersetzen muß.<br />

Der Mensch wird nicht mehr nur in seiner<br />

Selbstwerdung betrachtet und beurteilt, er wird<br />

in seiner Verantwortlichkeit für das Werden und<br />

Leben nachfolgender Generationen gesehen.<br />

Damit gewinnt für ihn das Nachdenken des<br />

Menschen über sein Denken, seinen Geist und<br />

über das Verhältnis von Geist und Natur eine<br />

zutiefst ethische Dimension, die weit über die<br />

Zuständigkeit des Naturwissenschaftlers hinausreicht.<br />

„Die Naturwissenschaft sagt“ - nach Jonas’<br />

Meinung - „nicht die ganze Wahrheit über<br />

die Natur aus.“ Die Frage, ob die Natur, ob die<br />

Schöpfung zu bewahren sei, so daß spätere Generationen<br />

darin noch leben können, daß also<br />

der neue kategorische Imperativ: „Handle so,<br />

daß die Wirkungen deiner Handlung verträglich<br />

sind mit der Permanenz echten menschlichen<br />

Lebens auf Erden“, ist nicht mit naturwissenschaftlichen<br />

Argumenten zu beantworten, sie<br />

fordert letztlich nach Jonas eine metaphysisch,<br />

also religiös begründete Antwort. Vielleicht<br />

liege nur darin ein verpflichtender Sinn, das<br />

Leben auf Erden zu erhalten, daß der Mensch<br />

sich als etwas Heiliges begreift, also sozusagen<br />

in einem Axiom.<br />

Homo homini res sacra. Es ließe sich dann fragen,<br />

ob etwa Senecas Maxime, daß der Mensch<br />

dem Menschen etwas Heiliges sei, den Kernsatz<br />

einer Zukunftsethik ausmache, eine Verpflichtung<br />

zur Rücksicht ausdrücke an die jeweils<br />

jetzige gegenüber der kommenden Generation.<br />

Hans Jonas freilich denkt anders. Für ihn verlangt<br />

die Zukunftgerichtetheit menschlicher<br />

Verantwortung eine ganz neuartige Ethik: kein<br />

58<br />

Prinzip früherer Ethik sei diesem neuen Anspruch<br />

an den Menschen gewachsen. Und doch<br />

läßt sich - Jonas würde dem gewiß nicht widersprechen<br />

- der Boden im Gewissen des Menschen<br />

für ethische Entscheidungen, für Moral<br />

nur auflockern durch die Auseinandersetzung<br />

mit Mustern und Modellen von Ethik, wie sie<br />

uns seit alters die Menschheitsgeschichte zur<br />

Verfügung stellt. Jonas selbst orientiert sich ja<br />

laufend an herkömmlichen Leitbildern.<br />

Der Naturwissenschaftler Edelman und der Geisteswissenschaftler<br />

Jonas kommen sich also<br />

dort, wo sie die Grenzen markieren, sehr nahe;<br />

sie sehen sich offensichtlich aufeinander angewiesen.<br />

Die Brücke, die wir hier zwischen den<br />

beiden hergestellt haben, ist nicht künstlich konstruiert;<br />

solche Begegnungen über den Graben<br />

hinweg finden heute immer mehr, auf verschiedenen<br />

Ebenen und unmittelbar, statt. Nur ein<br />

Beweis dafür: In ein und demselben Buch „Gott<br />

und die Wissenschaft“ (Paris 1990) diskutieren<br />

der Philosoph und Theologe Jean Guitton und<br />

die Physiker Igor und Grichke Bogdanow an<br />

den Grenzen physikalischer Erkenntnis über die<br />

‚letzten Fragen’ des Menschen, mit der vielleicht<br />

tröstlichen Einsicht, daß Physik und Metaphysik,<br />

Fakten und Ideen, Materie und Bewußtsein<br />

ein und dasselbe, also Ausformungen<br />

der einen Natur seien, daß also beide Betrachtungsweisen,<br />

die naturwissenschaftliche und die<br />

geisteswissenschaftliche, ihre Berechtigung<br />

haben. Das läßt den Schluß zu: die Selbstwerdung<br />

des Menschen, die sich stets von neuem<br />

vollzieht, bedarf allseitiger Unterstützung, von<br />

seiten des Fortschritts und von seiten der Tradition,<br />

also von der Biologie, der Physik, der<br />

Chemie, der Psychologie, aber auch der<br />

Sprachlehre, der Logik, von den Kulturwissenschaften,<br />

von der Philosophie, der Theologie<br />

und eben auch von der Ethik, und zwar immer<br />

im Erfahrungsraum von Welt und Geschichte.<br />

Wir sehen: die Zukunft braucht die Herkunft.<br />

Beides sind heute wieder kompatible Größen<br />

geworden.<br />

Der Satz „Zukunft braucht Herkunft“ ist also<br />

nicht bloß ein gern gehörter oder gelesener Slogan;<br />

er stellt eine anthropologische Wahrheit<br />

dar, die auch zu modernen wissenschaftlichen

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