Mitteilungsblatt - Deutscher Altphilologenverband
Mitteilungsblatt - Deutscher Altphilologenverband
Mitteilungsblatt - Deutscher Altphilologenverband
Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.
YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.
dige ethische und traditionsorientierte Geisteshaltung<br />
zu vermitteln.<br />
Bei aller Notwendigkeit einer an den Anforderungen<br />
der Arbeits- und Wirtschaftswelt orientierten<br />
gymnasialen Bildung will ich nicht einen<br />
geschichtslosen und wertfreien Modernismus<br />
einer ausschließlich für Beschäftigung instrumentalisierten<br />
Bildung propagieren. Eine rein<br />
traditionslose, mechanische Abrichtung junger<br />
Menschen für spätere Funktionen, ein pures<br />
intellektuelles Konditionstraining ohne Wertbezüge<br />
wäre geradezu ein Zerrbild richtig verstandener<br />
Bildung.<br />
Mir ist bei meinen Überlegungen sehr wohl<br />
bewußt, daß sich gesellschaftliche Wandlungsprozesse<br />
in gleicher Weise wie der Erziehungsund<br />
Bildungsprozeß zwischen Tradition und<br />
Fortschritt, also in permanenter Auseinandersetzung<br />
zwischen Altem und Neuem vollzieht.<br />
Zukunftsorientiertes Handeln in der Gegenwart,<br />
ob in Politik oder Wirtschaft, kann sich nur aus<br />
der historischen Erfahrung heraus vollziehen.<br />
Wirtschaftliches, soziales und politisches Handeln<br />
vollziehen sich immer zwischen Vergangenheit,<br />
Gegenwart und Zukunft. Wenn wir das<br />
wirtschaftliche und soziale Wohlstandsniveau<br />
unserer Gesellschaft, aber auch unsere derzeitigen<br />
Standortprobleme in Augenschein nehmen,<br />
lassen sich die Wurzeln falscher und richtiger<br />
Entscheidungen in der Vergangenheit ausmachen.<br />
Unsere Wohlstandsgesellschaft ist wie<br />
unsere Kultur- und Wertegemeinschaft aus der<br />
Vergangenheit geprägt. Sich der Geschichte<br />
bewußt zu werden, aus der Geschichte zu lernen<br />
und mit der Geschichte zu leben, sich aus der<br />
Geschichte im positiven Sinne zu befreien und<br />
Systeme anspruchsgerecht weiterzuentwickeln,<br />
hierfür die geistigen Voraussetzungen zu schaffen,<br />
ist eine ebenso wichtige Aufgabe gymnasialer<br />
Bildung und Erziehung wie beispielsweise<br />
die mathematisch-naturwissenschaftliche Bildung.<br />
Die alten Sprachen eröffnen dabei einen wichtigen<br />
Zugang zum besseren Verständnis unserer<br />
abendländischen Kulturtradition. Revolutionäre<br />
Veränderungen, politische und wirtschaftliche<br />
Strukturen in der Vergangenheit, werden über<br />
70<br />
die originären Sprachen, also auch über die damaligen<br />
Weltsprachen Griechisch und Latein,<br />
besser verstehbar. Sprache ist nicht nur ein<br />
wichtiges Kommunikationsmittel, sondern sie<br />
schafft auch Verständnis für historische Prozesse<br />
und Epochen. „Zurück zu den Quellen!“ Dies<br />
könnte in einer Zeit, die für historische Rückbesinnung<br />
und Rückbeziehung durchaus offen ist,<br />
ein geeignetes Motto sein, mit dessen Hilfe ein<br />
wirksames Marketing zugunsten der alten Sprachen<br />
entwickelt wird.<br />
These 4<br />
Das Gymnasium muß seinen großen komparativen<br />
Vorteil, besser als alle anderen Bildungseinrichtungen<br />
Sprachlichkeit vermitteln zu können,<br />
noch stärker ins Spiel bringen und ausbauen.<br />
Sprache gehört zum Wesen des Menschen. Sie<br />
ist - wie gesagt - nicht nur Kommunikationsmittel<br />
und Schlüssel zum Verständnis historischer<br />
Entwicklungslinien und Kulturtraditionen.<br />
Sprachvermögen ist mehr denn je unabdingbare<br />
Voraussetzung zur Bewältigung der vor uns<br />
liegenden Aufgaben.<br />
Dieser Satz muß in mehreren Dimensionen entfaltet<br />
werden.<br />
Sprache ist zunächst Instrument der Weltdurchdringung,<br />
der logischen Ordnung verwickelter<br />
Zusammenhänge. In einer technisierten, ökonomisierten<br />
Welt, die durch eine ständig zunehmende<br />
Komplexität gekennzeichnet ist, ist<br />
die Fähigkeit, diese Komplexität der Fakten und<br />
Entwicklungen in nachvollziehbare Aussagen zu<br />
übertragen, unverzichtbar. Ihr vorausgehen muß<br />
die Fähigkeit, die verwickelten Dinge logisch zu<br />
ordnen. Der von mir stark betonte Trend zur<br />
Gruppenarbeit hat zur zwingenden Voraussetzung<br />
ein hohes Abstraktionsvermögen der Akteure.<br />
Probleme identifizieren und fachsprachliche<br />
Barrieren überspringen zu können, gruppendynamische<br />
Prozesse zur Lösung von Problemen<br />
in Gang setzen zu können: dies alles ist<br />
nur möglich, wenn eine hohe Sprachsensibilität<br />
entwickelt worden ist.