05/2017 Schule-Spezial
Fritz + Fränzi
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Erziehung & <strong>Schule</strong><br />
«In den ersten Schuljahren<br />
kommt es nicht auf Leistung an»<br />
Wenn Kinder in die <strong>Schule</strong> kommen, sollten Eltern wie Lehrer ihre Erwartungen an die<br />
Möglichkeiten des Kindes anpassen, fordert Oskar Jenni, Co-Leiter der entwicklungspädiatrischen<br />
Abteilung des Kinderspitals Zürich. Denn Kinder sind unterschiedlich weit entwickelt.<br />
Ein Gespräch über individualisierten Unterricht, Schulpsychologen und Lernprobleme.<br />
Interview: Evelin Hartmann Bilder: Marvin Zilm / 13 Photo<br />
Eine schöne, alte Stadtvilla am Fusse<br />
des Züribergs. Hier, unweit des<br />
Kinderspitals, finden Besucher die<br />
Räume der entwicklungspädiatrischen<br />
Abteilung. Oskar Jenni kommt die<br />
knarzende Stiege hinunter. Sein Gang ist<br />
schwungvoll, sein Händedruck fest.<br />
«Lassen Sie uns anfangen», sagt der<br />
Kinderarzt und zeigt auf ein freies<br />
Sitzungszimmer. Oskar Jenni ist voll bei<br />
der Sache.<br />
Herr Jenni, Kinder treten hierzulande<br />
mit sechs Jahren in die <strong>Schule</strong> ein. Auf<br />
welchem Entwicklungsstand sind sie<br />
in diesem Alter?<br />
Das ist, wie in jedem Alter, sehr<br />
unterschiedlich. Ich würde sagen auf<br />
dem Stand eines viereinhalb bis siebeneinhalb<br />
Jahre alten Kindes.<br />
Können Sie uns das erläutern?<br />
Wenn eine Lehrerin eine erste Primarklasse<br />
mit 20 sechsjährigen Kindern<br />
vor sich hat, unterscheiden sich<br />
die Kinder in ihrem Entwicklungsalter<br />
um bis zu drei Jahre. So steht<br />
beispielsweise ein Junge, nennen wir<br />
ihn Ruben, auf dem Entwicklungsstand<br />
eines Siebenjährigen und kann<br />
bereits Schreiben, während die<br />
gleichaltrige Mara mit einem Entwicklungsalter<br />
von fünf Jahren weit<br />
davon entfernt ist. Zusätzlich ist auch<br />
ein und dasselbe Kind nicht in allen<br />
Bereichen gleich weit entwickelt. Das<br />
heisst, Ruben mag in seinen schriftlichen<br />
Fähigkeiten auf dem Stand<br />
eines Siebenjährigen sein, sein So <br />
zial verhalten entspricht aber eher<br />
dem eines Fünfjährigen. Die Norm<br />
ist, dass ein Kind Stärken und Schwächen<br />
hat. Wie wir Erwachsenen auch.<br />
Wann ist ein Kind also schulreif?<br />
Der Begriff Schulreife orientiert sich<br />
am Kind. Man schaut aufs Kind und<br />
fragt, ob es sprachlich, kognitiv, in<br />
seinem Sozialverhalten, der Selbständigkeit,<br />
im Arbeitsverhalten und in<br />
«Viele Lehrpersonen<br />
bemühen sich<br />
darum, jedem Kind<br />
gerecht zu werden.»<br />
seinen motorischen Kompetenzen<br />
so weit ist, den Schulalltag zu meistern.<br />
Ob das Kind aber eingeschult<br />
werden soll, hängt auch von anderen<br />
Faktoren ab, etwa von der <strong>Schule</strong>, in<br />
die es kommen wird. Welches Leitbild<br />
vertritt diese Institution? Wie<br />
steht es um die Erfahrung der Lehrpersonen?<br />
Die Klassengrös se? Passt<br />
das Profil des Kindes in diese <strong>Schule</strong><br />
oder nicht? Das ist die eigentliche<br />
Frage, die wir uns stellen müssten ...<br />
… was aber nicht der momentanen<br />
Praxis entspricht.<br />
Stimmt, aber diese Art der Individualisierung<br />
wäre kindgerecht. Es geht<br />
darum, sicherzustellen, dass die<br />
Eigenheiten des Kindes mit den An <br />
forderungen der Umwelt und in<br />
diesem Fall mit denjenigen der <strong>Schule</strong><br />
übereinstimmen. Man muss sich<br />
einfach bewusst sein: Kinder sind in<br />
ihrem Wesen sehr unterschiedlich,<br />
und man muss diese Variabilität zwischen<br />
Kindern akzeptieren, das Kind<br />
so annehmen, wie es ist, und es seinem<br />
Entwicklungsstand entsprechend<br />
fördern.<br />
Sie sprechen damit den individualisierten<br />
Unterricht an.<br />
Individualisierter Unterricht ist eine<br />
Herausforderung und gerät dadurch,<br />
dass Bildung ständig getestet, standardisiert<br />
und evaluiert wird, unter<br />
Druck. Die heutige Bildungspolitik<br />
geht nicht vom Kind aus, sondern<br />
wird von ökonomischen Interessen<br />
geleitet. Bildung wird als eine der<br />
wichtigsten wirtschaftlichen Ressourcen<br />
und Erfolgsfaktoren eines<br />
Landes verstanden. Und dieser Rohstoff<br />
gilt es aktiv und gezielt zu fördern.<br />
Das steht im Widerspruch zur<br />
Individualisierung.<br />
Werden die Lehrpersonen ihrer Aufgabe<br />
nicht gerecht?<br />
Ich bin überzeugt, dass viele Lehrpersonen<br />
die grosse Vielfalt im Klassenzimmer<br />
anerkennen und sich<br />
darum bemühen, jedem Kind ge <br />
recht zu werden. Auf der anderen<br />
Seite haben sie aber ein Bildungssystem<br />
im Rücken, das von ihnen<br />
Kinderarzt Oskar<br />
Jenni betreut<br />
viele Kinder, die<br />
in ihrem<br />
Schulalltag nicht<br />
zurechtkommen. >>><br />
Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi <strong>Schule</strong><br />
Frühjahr <strong>2017</strong>17