05/2017 Schule-Spezial
Fritz + Fränzi
Fritz + Fränzi
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Kolumne<br />
Die grosse Reise<br />
Illustration: Petra Dufkova/Die Illustratoren<br />
Michèle Binswanger<br />
ist Journalistin, Buchautorin und<br />
Mutter zweier Kinder und lebt in Basel.<br />
Die studierte Philosophin schreibt<br />
regelmässig für das Schweizer<br />
ElternMagazin Fritz+Fränzi.<br />
Und dann ist er plötzlich da, der grosse Tag: Der Thek ist<br />
gepackt, das Znünibrot gestrichen, das Kind mit einer<br />
Extraportion guter Laune und Zuversicht vorbereitet auf<br />
diesen grossen Schritt. Auf dem Weg zur <strong>Schule</strong> habe<br />
ich die vielen kleinen Schrittchen der Tochter an der<br />
Hand gezählt, denn sie muss ja diesen Weg bald alleine gehen. Um Stück<br />
für Stück zu lernen, noch ganz andere Wege alleine zu gehen. Bis sie<br />
einmal ganz auf eigenen Beinen wird stehen können.<br />
Aber jetzt noch nicht. Ich stehe inmitten der anderen Eltern auf<br />
dem Schulplatz, und ich denke: Lag ich nicht eben noch in den Wehen,<br />
warf meine Kleine nicht eben noch Randenbrei durch die Küche?<br />
Und jetzt ist sie bereits ein Schulkind, und morgen wird sie ausziehen.<br />
Gegenüber haben sich die Kleinen bereits um die Klassenlehrerin<br />
versammelt, einige kennen sich bereits vom Kindergarten, die meisten<br />
aber sind sich noch fremd und harren der Dinge, die da kommen<br />
werden. Die älteren Mitschüler, die alten Hasen, singen ein<br />
Willkommenslied. Man veranstaltet ein Seilziehen. Alle sind freundlich,<br />
fröhlich. Nur die Neuen stehen bei der Lehrerin und werfen ab und an<br />
einen Blick zu ihren Müttern und Vätern wie Passagiere an der<br />
Reling eines auslaufenden Dampfers. Und wir Eltern stehen am Pier,<br />
lächeln, winken und verdrücken vielleicht eine Träne. Die Kleinen<br />
wissen es nicht, aber wir schon. Wir schicken sie tatsächlich auf eine<br />
Reise weg von uns. Hinein in die Gesellschaft, deren Teil sie irgendwann<br />
sein werden.<br />
Später erzählte mir die Tochter von diesem ersten Schultag. Von der<br />
Aufregung und Neugier und Angst. Und wie alle Schüler in einer Traube<br />
ganz dicht an der Lehrerin dranblieben, auch in der Pause, weil sie nicht<br />
wussten, dass Pause Freiheit bedeutet. Nur die ganz Mutigen wagten<br />
es, sich ein paar Schritte von der Traube zu entfernen. Bis am Schluss<br />
nur noch die ganz Ängstlichen bei der Lehrerin standen.<br />
Ja, auch Freiheit will gelernt sein, und das ist nicht immer einfach.<br />
Kinder sind manchmal brutal, die Gesellschaft folgt ihren eigenen<br />
Regeln, und am Schluss muss jeder allein herausfinden, wie sich darin zu<br />
behaupten. Alleine seine Erfahrungen machen, alleine lernen, wie<br />
Frustration, Ungerechtigkeit, Hackordnungen, Langeweile zu bewältigen<br />
sind. Unseren eigenen Weg gehen, herausfinden, wer wir sind und<br />
werden wollen, werden können. Aber auch Freunde finden, Interessen,<br />
Gemeinsamkeiten.<br />
«Wir werden alleine geboren, leben alleine, sterben alleine», schrieb<br />
Orson Welles – und wird seither gern zitiert, wenn es um die Conditio<br />
humana geht. Aber so etwas kann nur jemand schreiben, der nie ein<br />
Kind geboren hat. Natürlich fühlen wir uns manchmal alleine, aber nur<br />
Mutterliebe, Zuwendung und Gemeinschaft machen uns zu Menschen.<br />
Und wie Gemeinschaft ausserhalb der Familie geht, das lernen wir unter<br />
anderem in der <strong>Schule</strong>. Es ist eine grosse Reise, zu der die Tochter da<br />
aufbricht. Aber ich weiss, sie wird es schaffen.<br />
Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi <strong>Schule</strong><br />
Frühjahr <strong>2017</strong>53