Erziehung & <strong>Schule</strong> Bild: Herbert Zimmermann / 13 Photo Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne … Eine Mischung aus Freude und Unsicherheit, Stolz und Selbstzweifeln – und eine üppige Cremeschnitte zur Belohnung: Auch Lehrpersonen haben Respekt vor dem ersten Schultag. Eine erfahrene Pädagogin erinnert sich an ihre erste Klasse. Text: Ursi Steiner 58 Frühjahr <strong>2017</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi <strong>Schule</strong>
Zwei Stunden vor Schulbeginn stehe ich im Schulzimmer, kontrolliere unwichtige Dinge, rücke penibel platzierte Unterlagen und akkurate Bücherbeigen noch genauer vor mich hin. Ich präge mir zu den Vornamen der erwarteten Kinder die passenden Nachnamen ein, räuspere mich zum zwanzigsten Mal. Dann gestehe ich mir ein: Ich bin nervös, ja sogar supernervös. Dieses Gefühl, eine Mischung aus Freude und Unsicherheit, Stolz und Selbstzweifeln, belastet mich körperlich dermassen, dass ich mir bereits am frühen Morgen mein Mittagessen vorstelle. Mindestens dreigängig soll es sein, mit einer Cremeschnitte zum Dessert, ohne Rücksicht auf die Kalorienzahl. Im Gang lachen und schwatzen andere Lehrpersonen miteinander, erzählen von Ferien, laut, fröhlich. Für mich, die Neue, etwas zu laut und definitiv zu fröhlich. Gespannte Erwartungen Endlich ist es so weit: Die Kinder kommen. Einige scheu und zögerlich, andere selbstbewusst und neugierig. Eltern stellen sich vor, kommen mit ins Schulzimmer, nehmen einen Augenschein, nicht nur vom Schulzimmer, sondern auch von der Lehrerin. Plätze werden gesucht, Schultaschen ausgepackt, Etuis und Farbschachteln wie Trophäen auf Pulten platziert. Summende Emsigkeit, Nervosität und unbändige Energie sind im ganzen Zimmer zu spüren. Eltern auf die Kinderstühle Ich verschaffe mir Gehör, bitte die Kinder nach vorne in den Klassenkreis und biete den Eltern die kindgerechten Schülerstühle als Sitzgelegenheit in der zweiten Reihe an. Da sitzen sie nun, «meine» 22 Erstklässlerinnen und Erstklässler. 22 junge Augenpaare. Erwartungsvoll, neugierig, wach. Und im Stuhlkreis, etwas zurückversetzt, mindestens 22 weitere, ältere Augenpaare, nicht minder erwartungsvoll, neugierig und wach. Ich räuspere mich und stelle meine erste Frage: «Wer von euch hat denn in der letzten Nacht nicht so gut geschlafen?» Einige Finger schnellen hoch, wissendes Schmunzeln in der zweiten Reihe. Der Gedanke, als Lehrerin musst du authentisch, also ehrlich sein, lässt mich langsam auch meine Hand heben. Und plötzlich sind da viele Hände, wohlwollendes Lächeln in der zweiten Reihe, und die Spannung löst sich im spontanen, erlösenden Lachen aller. Es ging uns allen gleich. Gemeinsame Ängste Das war sie, unsere erste Gemeinsamkeit. Und somit war die Verbindung hergestellt, aus der eine Bindung, eine Beziehung wachsen können würde. Die Angst vor dem Neuen, dem Unbekannten hatte ein Gesicht und einen Namen, oder in meinem Fall viele Gesichter, viele Namen bekommen. Sie verlor schlagartig alle Bedrohlichkeit, als die ausgestandenen Ängste und Gedanken im Kreis erzählt und ausgetauscht wurden. Meine 22 Schülerinnen und Schüler verstanden mich und ich verstand sie. Und plötzlich war da in meinem Bauch ein ganz anderes «Als Lehrerin musst du vor allem eines: authentisch, also ehrlich sein.» Gefühl: wohlige Wärme, Vorfreude, Energie und Stolz. Vielleicht sollte ich heute doch auf die Cremeschnitte verzichten, allein schon wegen der Kalorienzahl. Aller Erfahrung zum Trotz Heute, 30 Jahre später, kann ich diesen allerersten Tag als Klassenlehrerin noch ganz genau in meinem Gedächtnis abrufen. Ich erinnere mich an die Gesichter und sogar an die meisten Namen meiner damaligen Schülerinnen und Schüler. Doch der unruhige Schlaf in der Nacht vor dem ersten Schultag, der Gefühlswirrwarr und die Nervosität, all das begleitet mich trotz jahrelanger Erfahrung immer wieder. Zuverlässig meldet es sich zurück, wenn ich vor meiner neuen Klasse stehe. Was sich geändert hat? In den letzten dreissig Jahren einzig die Gedanken an die Cremeschnitte als Belohnung. Die verkneife ich mir mittlerweile. Ursi Steiner ist Primarschullehrerin, Kommunikationsexpertin sowie Autorin. Die Mutter zweier erwachsener Kinder lebt in Hünenberg See im Kanton Zug. Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi <strong>Schule</strong> Frühjahr <strong>2017</strong>59