05/2017 Schule-Spezial
Fritz + Fränzi
Fritz + Fränzi
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Zwei Stunden vor Schulbeginn<br />
stehe ich im<br />
Schulzimmer, kontrolliere<br />
unwichtige Dinge,<br />
rücke penibel platzierte<br />
Unterlagen und akkurate Bücherbeigen<br />
noch genauer vor mich hin.<br />
Ich präge mir zu den Vornamen der<br />
erwarteten Kinder die passenden<br />
Nachnamen ein, räuspere mich zum<br />
zwanzigsten Mal. Dann gestehe ich<br />
mir ein: Ich bin nervös, ja sogar<br />
supernervös.<br />
Dieses Gefühl, eine Mischung aus<br />
Freude und Unsicherheit, Stolz und<br />
Selbstzweifeln, belastet mich körperlich<br />
dermassen, dass ich mir<br />
bereits am frühen Morgen mein<br />
Mittagessen vorstelle. Mindestens<br />
dreigängig soll es sein, mit einer<br />
Cremeschnitte zum Dessert, ohne<br />
Rücksicht auf die Kalorienzahl.<br />
Im Gang lachen und schwatzen<br />
andere Lehrpersonen miteinander,<br />
erzählen von Ferien, laut, fröhlich.<br />
Für mich, die Neue, etwas zu laut<br />
und definitiv zu fröhlich.<br />
Gespannte Erwartungen<br />
Endlich ist es so weit: Die Kinder<br />
kommen. Einige scheu und zögerlich,<br />
andere selbstbewusst und neugierig.<br />
Eltern stellen sich vor, kommen<br />
mit ins Schulzimmer, nehmen<br />
einen Augenschein, nicht nur vom<br />
Schulzimmer, sondern auch von der<br />
Lehrerin. Plätze werden gesucht,<br />
Schultaschen ausgepackt, Etuis und<br />
Farbschachteln wie Trophäen auf<br />
Pulten platziert. Summende Emsigkeit,<br />
Nervosität und unbändige Energie<br />
sind im ganzen Zimmer zu spüren.<br />
Eltern auf die Kinderstühle<br />
Ich verschaffe mir Gehör, bitte die<br />
Kinder nach vorne in den Klassenkreis<br />
und biete den Eltern die kindgerechten<br />
Schülerstühle als Sitzgelegenheit<br />
in der zweiten Reihe an. Da<br />
sitzen sie nun, «meine» 22 Erstklässlerinnen<br />
und Erstklässler. 22 junge<br />
Augenpaare. Erwartungsvoll, neugierig,<br />
wach. Und im Stuhlkreis,<br />
etwas zurückversetzt, mindestens 22<br />
weitere, ältere Augenpaare, nicht<br />
minder erwartungsvoll, neugierig<br />
und wach.<br />
Ich räuspere mich und stelle meine<br />
erste Frage: «Wer von euch hat<br />
denn in der letzten Nacht nicht so<br />
gut geschlafen?» Einige Finger<br />
schnellen hoch, wissendes Schmunzeln<br />
in der zweiten Reihe. Der<br />
Gedanke, als Lehrerin musst du<br />
authentisch, also ehrlich sein, lässt<br />
mich langsam auch meine Hand<br />
heben. Und plötzlich sind da viele<br />
Hände, wohlwollendes Lächeln in<br />
der zweiten Reihe, und die Spannung<br />
löst sich im spontanen, erlösenden<br />
Lachen aller. Es ging uns<br />
allen gleich.<br />
Gemeinsame Ängste<br />
Das war sie, unsere erste Gemeinsamkeit.<br />
Und somit war die Verbindung<br />
hergestellt, aus der eine Bindung,<br />
eine Beziehung wachsen<br />
können würde. Die Angst vor dem<br />
Neuen, dem Unbekannten hatte ein<br />
Gesicht und einen Namen, oder in<br />
meinem Fall viele Gesichter, viele<br />
Namen bekommen. Sie verlor schlagartig<br />
alle Bedrohlichkeit, als die ausgestandenen<br />
Ängste und Gedanken<br />
im Kreis erzählt und ausgetauscht<br />
wurden. Meine 22 Schülerinnen und<br />
Schüler verstanden mich und ich<br />
verstand sie. Und plötzlich war da in<br />
meinem Bauch ein ganz anderes<br />
«Als Lehrerin musst du<br />
vor allem eines: authentisch,<br />
also ehrlich sein.»<br />
Gefühl: wohlige Wärme, Vorfreude,<br />
Energie und Stolz. Vielleicht sollte<br />
ich heute doch auf die Cremeschnitte<br />
verzichten, allein schon wegen der<br />
Kalorienzahl.<br />
Aller Erfahrung zum Trotz<br />
Heute, 30 Jahre später, kann ich diesen<br />
allerersten Tag als Klassenlehrerin<br />
noch ganz genau in meinem<br />
Gedächtnis abrufen. Ich erinnere<br />
mich an die Gesichter und sogar an<br />
die meisten Namen meiner damaligen<br />
Schülerinnen und Schüler. Doch<br />
der unruhige Schlaf in der Nacht vor<br />
dem ersten Schultag, der Gefühlswirrwarr<br />
und die Nervosität, all das<br />
begleitet mich trotz jahrelanger<br />
Erfahrung immer wieder. Zuverlässig<br />
meldet es sich zurück, wenn ich<br />
vor meiner neuen Klasse stehe. Was<br />
sich geändert hat? In den letzten<br />
dreissig Jahren einzig die Gedanken<br />
an die Cremeschnitte als Belohnung.<br />
Die verkneife ich mir mittlerweile.<br />
Ursi Steiner<br />
ist Primarschullehrerin,<br />
Kommunikationsexpertin sowie Autorin.<br />
Die Mutter zweier erwachsener Kinder<br />
lebt in Hünenberg See im Kanton Zug.<br />
Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi <strong>Schule</strong><br />
Frühjahr <strong>2017</strong>59