2015-12 KulturFenster Nr.6 - Dezember 2015
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Chorwesen<br />
Die Alpenländische Chorweihnacht der AGACH, die heuer in Rosenheim<br />
stattgefunden hat und vor einem Jahr in Trient (im Bild) steht jedes Jahr ganz im<br />
Zeichen des Advents- und Weihnachtsliedes.<br />
Christi im Zeichen des Glaubensinhalts selbst<br />
legt. Doch tatsächlich gibt es auch alte Weihnachtslieder,<br />
die bereits vor der häuslichen<br />
Romantik des 19. und 20. Jahrhunderts entstanden<br />
sind. Die ältesten Weihnachtslieder<br />
im westlichen Kulturkreis waren lateinische<br />
Hymnen, die in der Messe und im Stundengebet<br />
gesungen wurden. Im Mittelalter entwickelte<br />
sich der Brauch, diese mit deutschen<br />
Liedern zu verbinden. So hat sich in manchen<br />
Weihnachtsliedern eine deutsch-lateinische<br />
Mischform erhalten, wie in In dulci<br />
jubilo, ein aus dem 14. Jahrhundert stammendes<br />
Kirchenlied. Im Mittelalter werden<br />
Weihnachtslieder in der Kirche gesungen,<br />
noch ist die häuslich-romantische Weihnachtsfeier<br />
mit Keksen und Weihnachtsliedern<br />
in weiter Ferne: Auffälligstes Zeichen<br />
dafür, dass diese Lieder kirchliche Lieder<br />
waren, ist, dass sie auf Latein, in der Sprache<br />
der Kirche, gesungen wurden – wozu<br />
freilich dann oft die deutsche Übersetzung<br />
dazukam. Die Lieder waren Teil der Mitternachtsmesse<br />
und enden meist mit dem Ruf<br />
„Kyrie eleison“.<br />
Eine andere Wurzel des Weihnachtsliedes<br />
war das Kindelwiegen, ein nicht nur<br />
in Frauenklöstern praktizierter weihnachtlicher<br />
Brauch: Die Kindelwiegenfeier bestand<br />
in einer Reihe von Gesängen - aus<br />
dem Stundengebet und liturgisch nicht<br />
festgelegte Cantionen -, begleitet von Ansätzen<br />
eines Krippenspiels, wie dem symbolischen<br />
Wiegen eines Christuskindes. Es<br />
ist klar, dass es sich hier um einen Vorläufer<br />
der Krippendarstellung handelt. Aus diesem<br />
Kreis stammt das deutsche Weihnachtslied<br />
„Joseph, lieber Joseph mein“, ein Wiegenlied,<br />
das vom Mönch von Salzburg, der im<br />
14. Jahrhundert lebte, aufgezeichnet wurde.<br />
Der entscheidende Schritt, dass das<br />
Weihnachtslied in die Stuben der Menschen<br />
getragen wurde, war indirekt die Reformation.<br />
Martin Luther schuf viele deutsche<br />
Weihnachtslieder, da er wollte, dass<br />
die Menschen verstehen, was sie singen.<br />
So erhielt das Singen von Weihnachtsliedern<br />
im Gemeindegottesdienst einen Aufschwung,<br />
zuerst in Form eines „protestantischen<br />
Liedes“, das sich als Gegenstück<br />
zum katholischen Kirchengesang verstand.<br />
Bei aller reformatorischen Kritik an Formen<br />
des volkstümlichen Weihnachtsbrauchs<br />
nahm Martin Luther aber auch volkstümliche<br />
Weisen auf, wie das Lied „Vom Himmel<br />
hoch“ beweist, das er angeblich für die<br />
Weihnachtsbescherung seiner eigenen Kinder<br />
gedichtet hat.<br />
Das Weihnachtslied:<br />
Symbol bürgerlicher Idylle<br />
Doch im breiteren Ausmaß zog das Weihnachtslied<br />
erst im 18. Jahrhundert in die<br />
Familienstuben ein: Der Beginn einer Familienkultur,<br />
Verinnerlichung des Glaubens<br />
durch den Protestantismus, aber wohl auch<br />
eine zunehmende Emotionalisierung und<br />
Entkirchlichung des konfessionellen Glaubens<br />
waren dafür ausschlaggebend. Eine<br />
Blüte erlebten die Lieder daher im romantisch-biedermeierlichen<br />
19. Jahrhundert, wie<br />
sich an zahlreichen Neudichtungen zeigt.<br />
Das Weihnachtslied wurde langsam vom<br />
kirchlichen Kontext entkoppelt. 1870/71 entstanden<br />
sogar einige Weihnachtslieder im<br />
deutschnationalen Stil. So gab es einerseits<br />
den Weg des Chorals in die „gute Stube“,<br />
anderseits wanderten für den häuslichen<br />
Gebrauch geschaffene Lieder in die Kirche<br />
und Gesangbücher, zum Beispiel „Ich steh<br />
an deiner Krippen hier“ von Paul Gerhardt.<br />
Das 19. Jahrhundert steht nicht mehr im alleinigen<br />
Zeichen des konfessionellen Glaubens,<br />
die religiöse Kunst beginnt sich von<br />
der Konfession zu verselbständigen, das gilt<br />
auch für das Weihnachtslied: Nicht der theologische<br />
Aspekt, sondern der religiös-gefühlsmäßig<br />
und künstlerische Aspekt steht<br />
im Mittelpunkt. Weihnachtslieder wurden<br />
als Ausdruck von Kultur gesehen. So war<br />
es eine naheliegende Folge, dass nun auch<br />
Lieder aus anderen Ländern in die deutsche<br />
Liedkultur aufgenommen wurden. Friedrich<br />
Heinrich Ranke schrieb 1823 das Weihnachtslied<br />
Herbei, o ihr Gläubigen (nach<br />
dem lateinischen Adeste Fideles, Musik<br />
vermutlich von John Francis Wade, 1711–<br />
1786, EG 45), und Johannes Daniel Falk<br />
(1768–1826) und Heinrich Holzschuher<br />
(1798–1847) schrieben O du fröhliche auf<br />
die Melodie des italienischen Marienliedes<br />
O sanctissima. Karl Riedel (1827–1888)<br />
machte das böhmische Lied Kommet, ihr<br />
Hirten in Deutschland heimisch und leitete<br />
eine Renaissance der älteren Weihnachtslieder<br />
wie Den die Hirten lobeten sehre und<br />
Es ist ein Ros entsprungen ein.<br />
Das bekannteste und vermutlich weltweit<br />
am weitesten verbreitete Weihnachtslied<br />
Stille Nacht, heilige Nacht stammt ebenfalls<br />
aus dem 19. Jahrhundert. Ebenso<br />
zahlreiche weitere Weihnachtslieder aus<br />
dem englischsprachigen Raum, wie z.B.<br />
die ersten Druckfassungen von God Rest<br />
Ye Merry, Gentlemen, The First Noel, I Saw<br />
Three Ships und Hark! The Herald Angels<br />
Sing, die allesamt in Christmas Carols Ancient<br />
and Modern (1833) von William B. Sandys<br />
erschienen. Komponisten wie Arthur<br />
Sullivan halfen mit, dem Weihnachtslied zu<br />
neuer Beliebtheit zu verhelfen, und aus dieser<br />
Periode stammen Lieder wie Good King<br />
Wenceslas und It Came Upon the Midnight<br />
Clear, ein Weihnachtslied aus Neuengland<br />
von Edmund H. Sears und Richard S. Willis.<br />
Die neue „weltliche“ Frömmigkeit und<br />
das Aufkommen der bürgerlichen Weihnachtsfeier<br />
im 19. Jahrhundert akzeptierte<br />
und wünschte sogar Lieder, in denen nicht<br />
mehr von der Geburt Jesu die Rede ist. Das<br />
bis heute bekannteste dieser Lieder ist O<br />
Tannenbaum. Dies war ursprünglich kein<br />
Weihnachtslied, sondern ein trauriges Liebeslied<br />
von August Zarnack, dessen zweite<br />
Strophe mit „O Mägdelein, o Mägdelein,<br />
wie falsch ist dein Gemüte“ begann. Später<br />
wurde es von Ernst Anschütz umge-<br />
Nr. 06 | <strong>Dezember</strong> <strong>2015</strong> 19