2015-12 KulturFenster Nr.6 - Dezember 2015
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Komponisten im Porträt<br />
Blasmusik<br />
David Holsinger, der<br />
„Maler von Klängen“<br />
Zum 70. Geburtstag des amerikanischen<br />
Komponisten und Dirigenten<br />
Das „Weihnachtskind“ David Holsinger<br />
- am 26. <strong>Dezember</strong> wird er 70 Jahre alt -<br />
hat eine schwere Zeit hinter sich. Der sehr<br />
produktive amerikanische Komponist (www.<br />
davidrholinger.com), der nicht selten bis zu<br />
fünf neue Konzertwerke pro Jahr schreibt,<br />
wurde im Sommer gesundheitlich außer Gefecht<br />
gesetzt.<br />
Holsinger, der seit 1999 an der Lee University<br />
in Cleveland / Tennessee unterrichtet,<br />
erlitt im Juli nach der Rückkehr von einem<br />
Gastdirigat in New Orleans zwei Schlaganfälle,<br />
aufgrund derer seine linke Körperhälfte<br />
gelähmt war. Er erholt sich nur langsam<br />
davon. „Ich kann zumeist nur am Stock<br />
gehen. Mein linker Arm ist sehr schwach,<br />
aber langsam kommt die Energie wieder.“<br />
Daumen und Zeigefinger habe er inzwischen<br />
wieder bewegen können, aber die<br />
Arbeit am Computer ist natürlich sehr eingeschränkt.<br />
E-Mails kann er diktieren, aber<br />
die Arbeit mit dem Notensatzprogramm ist<br />
nicht möglich. „Meine kompositorischen Aktivitäten<br />
sind im Moment unterbrochen.“<br />
Bis er das Universitätsblasorchester wieder<br />
mit vollem Einsatz dirigieren kann, wird<br />
nach Angaben seines Arztes noch ein Jahr<br />
vergehen. Aber Holsinger lässt sich nicht<br />
unterkriegen. „Mit Hilfe meiner Assistenten<br />
und einiger fortgeschrittener Studenten arbeite<br />
ich mit dem Orchester. Dirigiert wird<br />
eben nur mit der rechten Hand und mit<br />
den Augenbrauen.“ Viel Energie hat er natürlich<br />
noch nicht. „Nach 30 Minuten bin<br />
ich meistens fix und fertig.“<br />
Als Kind konnte Holsinger am Klavier<br />
zunächst nicht schnell genug fertig werden,<br />
aber irgendwann hatte er Blut geleckt.<br />
„Meine Mutter musste mich im ersten Jahr<br />
förmlich ans Klavier prügeln. Danach verbrachte<br />
sie ihre Zeit damit, mich vom Klavier<br />
weg zu bekommen.“ Den Anstoß zur<br />
Komponistenlaufbahn erhielt er durch<br />
Vaclav Nelhybel, der als Gastdirigent am<br />
College „elektrisierend“ auf den 20-jährigen<br />
Holsinger wirkte.<br />
Holsingers Kompositionen liegt oft ein<br />
außermusikalisches Programm zugrunde.<br />
„Ich bin ein visueller Mensch“ sagt er. „Ich<br />
liebe die bildenden Künste und beim Lesen<br />
bevorzuge ich Belletristik. Ich habe<br />
keine Lust, Abhandlungen über posttonale<br />
Theorien zu meinem Vergnügen zu<br />
lesen. Ich muss mir den Inhalt vorstellen<br />
können.“ Als Komponist habe er sich immer<br />
als „Maler von Klängen“ angesehen.<br />
„Ich möchte, dass mein Publikum mit den<br />
Ohren sieht.“<br />
Viele von Holsingers programmatischen<br />
Werken beruhen auf biblischen, insbesondere<br />
alttestamentarischen Geschichten.<br />
Als bekennender Christ und Professor an<br />
einer Privatuniversität der Church of God<br />
Denomination ist die Bibel für ihn mehr als<br />
nur Gelegenheitslektüre. „Wenn ich einmal<br />
kein Thema für ein neues Stück habe, dann<br />
blättere ich im Alten Testament. Da gibt es<br />
hunderte von spannenden Geschichten.“<br />
So dramatisch wie diese oft sind, so<br />
komplex sind sie dann auch musikalisch<br />
ausgearbeitet. Da stellt sich natürlich auch<br />
die Frage, inwieweit Holsinger sich beim<br />
Schreiben für untere Leistungsklassen eingeschränkt<br />
fühlt. Die Antwort ist ein deutliches<br />
„Ja“. Ein Großteil der Probleme liege<br />
darin begründet, dass man Rhythmen und<br />
Tonhöhen nur eingeschränkt verwenden<br />
könne. Zumeist versuche er bei Aufträgen<br />
für leichtere Werke ähnliche Techniken zu<br />
verwenden wie Béla Bartók in seinem Zyklus<br />
„Mikrokosmos 1“. Feedback erhalte<br />
er in diesen Fällen aber selten. „Aufgrund<br />
ihres unkonventionellen Charakters werden<br />
diese Stücke nur sehr selten aufgeführt.<br />
Es ist eben einfacher, wenn junge Musiker<br />
immer wieder dieselben alten Sachen<br />
spielen.“ Besonders ans Herz gewachsen<br />
ist ihm in dieser Gruppe ein aus privatem<br />
Anlass geschriebenes Stück: „Kaylen Dreaming“;<br />
es ist seiner Enkeltochter gewidmet.<br />
In drei weiteren privaten Werken hat Holsinger<br />
versucht, seine beiden Söhne Niles<br />
und Grayson sowie seine Tochter Haven<br />
musikalisch zu charakterisieren. Als sie<br />
noch Kinder waren, haben die drei ihren<br />
Vater allerdings nie als Komponisten gesehen.<br />
„Ich war für sie einfach ihr ‚Dad‘; jemand,<br />
der Musik schreibt, im ganzen Land<br />
dirigiert und das Publikum dazu bringt, zu<br />
applaudieren und seine Freude zum Ausdruck<br />
zu bringen.“ Wenn sie von anderen<br />
Leuten nach der Arbeit des Vaters gefragt<br />
wurden, so antworteten sie: „Mein Vater<br />
schreibt Musik. Er arbeitet nicht und hat<br />
keine Anstellung.“ Heute freuen Sie sich<br />
natürlich, dass es je eine Komposition<br />
über sie gibt.<br />
Auch der Vater freut sich derzeit, und<br />
zwar über die vielen Genesungswünsche,<br />
die ihn im Laufe der vergangenen vier Monate<br />
erreicht haben. Mehr als 73.000 Karten,<br />
Briefe und Mails seien es gewesen, erzählt<br />
Holsinger und zitiert zum Abschluss<br />
seinen berühmten Landsmann Mark Twain,<br />
der nach einer Genesung einst sagte: „Die<br />
Nachrichten von meinem Ableben waren<br />
maßlos übertrieben.“<br />
Joachim Buch<br />
David Holsinger will sich trotz angeschlagener Gesundheit über seinen 70. Geburtstag hinaus seiner Musik widmen.<br />
Nr. 06 | <strong>Dezember</strong> <strong>2015</strong> 51