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Courage, Mumm, Schneid

Credit Suisse bulletin, 1998/04

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Interview:<br />

Christian Pfister,<br />

Redaktion Bulletin<br />

Was, wenn Gott<br />

Schweizer wäre ?<br />

SChriftsteller Hugo Loetscher zur<br />

Schweizer Vollkaskomentalität<br />

C.P. Wie würden Sie einem Kameruner, der unser Land nur dem<br />

Namen nach kennt, die Vollkaskomentalität erklären ?<br />

C.P. Ich würde ihm eine Geschichte erzählen. Und zwar ein<br />

Märchen von den Brüdern Grimm: «Die kluge Else».<br />

Als Elses Bräutigam bei ihr zu Hause auf Besuch kommt, schickt<br />

sie ihr Vater in den Keller, um Bier zu holen. Weil Else auf sich<br />

warten lässt, wird die Hausmagd nachgeschickt; auch sie bleibt<br />

im Keller. Das gleiche passiert in der Folge mit dem Knecht und<br />

der Mutter. Als Elses Vater selber nachschaut, findet er alle im<br />

Keller am Weinen. Else hatte nämlich an der Kellerdecke einen<br />

lockeren Haken hängen sehen. Nun sinniert sie: «Was passiert,<br />

wenn ich ein Kind bekomme und es mal in den Keller schicke, um<br />

Bier zu holen ? Was, wenn der Haken sich löst und das Kind tötet<br />

?» Dieses Szenario bringt alle zum Schluchzen. Das ist typisch<br />

schweizerisch. Obwohl noch gar nichts passiert ist, denken wir wie<br />

die Figuren im Märchen an alle möglichen Horrorszenarien. Wir<br />

sind Weltmeister im Ausmalen von Eventualitäten. Und das bremst<br />

unseren existentiellen Elan.<br />

H.L. Dazu passt, dass die Schweizer hinter Japan das bestversicherte<br />

Volk sind. Auch ein Zeichen für Mutlosigkeit ?<br />

H.L. Ich habe mir erlaubt, Grimms «kluge Else» für einen eigenen<br />

Essay zu adaptieren. In meiner Version gesellt sich noch ein<br />

Schweizer zur Runde der Weinenden und fängt an, weitere<br />

mög liche Malheurs auszumalen – er spricht von Feuersbrünsten<br />

oder der Maul- und Klauenseuche. Das ist dann der, der die Rückversicherung<br />

erfindet. Das Ganze ist eine Art Schicksalsbeschwörung,<br />

um nicht in etwas einsteigen zu müssen, weil dies ein Risiko<br />

beinhalten würde. Schweizer sind nur allzu gerne<br />

bereit, vorweg im Kleinen zu leiden, um nicht im Grossen leiden zu<br />

müssen.<br />

Christian Pfister Einst bezeichneten Sie die Schweizer Mentalität als<br />

Konsequenz «ausgeklügelter Naivität» und «berechnender<br />

Bescheiden heit». Hat sich an dieser Einschätzung etwas verändert ?<br />

Hugo Loetscher Was heute auffällt, ist die ungeheure Angst vor<br />

jeglicher Veränderung. Nehmen wir etwa die Europafrage. Hier<br />

schlägt ein Beharrungswillen und ein Sicherheitsdenken durch,<br />

CREDIT SUISSE BULLETIN 4 |98

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