22.09.2017 Aufrufe

Courage, Mumm, Schneid

Credit Suisse bulletin, 1998/04

Credit Suisse bulletin, 1998/04

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

Schwerpunkt<br />

17<br />

das für unsere Gesellschaft zum Problem wird. Wir wollen uns<br />

nicht stören lassen. Und zwischen dem, was wir leben, und dem<br />

was Realität ist, exisitiert eine grosse Diskrepanz.<br />

C.P. Wie das ?<br />

C.P. Im Kopf haben wir immer noch die Vorstellung, die Schweiz<br />

sei ein Agrarstaat. Wir sind aber eine Industrienation mit alpinen<br />

Träumen. Drei Viertel der Bevölkerung leben in Städten oder deren<br />

Agglomerationen. Nehmen wir das Tessin. Ich bin<br />

sicher, dass den meisten abgelegene Täler und charmante Rustici<br />

in den Sinn kommen, wenn wir über diesen Landesteil reden.<br />

Doch das Tessin ist der am weitesten urbanisierte Kanton überhaupt.<br />

Wir leben nur Variationen im Vergleich zum Ausland. Der<br />

Sonderfall Schweiz existiert nicht. Sowenig es angehen kann, uns<br />

für unsere Eigenart hochzujubeln, sowenig ist es aber auch redlich,<br />

uns als die miesesten Kreaturen darzustellen. Die Wahrheit über<br />

uns ist viel unspektakulärer: Wir sind im Guten wie im Schlechten<br />

Durchschnitt – und so gesehen durchaus europatauglich.<br />

H.L. Braucht es denn keinen Mut, in Europa einen eigenen Weg zu<br />

gehen ?<br />

H.L. Mut bräuchte es, sich Europa zu öffnen. Aber verstehen Sie<br />

mich recht: Ich bin nicht für ein Europa in Aufhebung der Schweiz.<br />

Ich bin dafür, dass die Länder, die in Europa mittun, sich neu definieren.<br />

Das würde für uns bedeuten, ständig unsere eigene Art zu<br />

überdenken und sich mit Neuem und Fremdem auseinanderzusetzen.<br />

H.L. Bedeutet das kein Verlust ?<br />

C.P. Die europäische Kulturgeschichte ist eine unentwegte<br />

gegenseitige Beeinflussung der Länder und Völker. Kultur ist<br />

nichts Nationales. Unsere wichtigsten Probleme sind die gleichen<br />

wie die in anderen Nationen Europas. Dass eine Integration auch<br />

mit Verlusten verbunden sein kann, ist klar. Und ich fände es<br />

schrecklich, wenn alle Länder ihre Eigenart opfern würden und<br />

alle nur noch gleich dächten. Doch diese Gefahr besteht nicht.<br />

C.P. Was macht Sie so zuversichtlich ?<br />

H.L. Ein Beispiel: Wir messen in der Schweiz in Kilo und<br />

Metern. Vor 130 Jahren entbrannte darüber noch eine leidenschaftliche<br />

Diskussion. Sie können sich gar nicht vorstellen, was<br />

es brauchte, bis ein Pfund in allen Kantonen auch 500 Gramm<br />

bedeutete. Damals konnte man aufgrund der Masse noch einen<br />

Aargauer von einem Thurgauer unterscheiden, weil ein Pfund mal<br />

435 Gramm, mal 453 Gramm schwer war. Im Wallis wurde damals<br />

sogar gegen das Zehnersystem gewettert, weil es nicht der Natur<br />

des Menschen entspräche. Viele empfanden die Vereinheitlichung<br />

der Masse als Verlust an Eigenart. Dies erinnert mich an die heutige<br />

Europadiskussion. Dabei wird vergessen: Trotz Vereinheitlichung<br />

führten gleiche Masseinheiten nie zu einem kulturellen<br />

Einerlei.<br />

C.P. Der Schriftsteller Carl Spitteler hat behauptet: Hätten wir<br />

Schweizer die Alpen selber erschaffen, sie wären nicht so hoch<br />

ausgefallen. Teilen Sie seine Ansicht ?<br />

C.P. Es gibt in der Demokratie einen grundsätzlichen Konflikt:<br />

Über grosse Leistungen lässt sich nicht demokratisch befinden.<br />

Alle schöpferischen Leistungen sind nicht eine Frage der Mehrheit,<br />

sondern des Individuums. Wir müssen begreifen, dass es<br />

Momente gibt, in denen die Demokratie nicht mehr spielt.<br />

H.L. Haben Sie ein Beispiel ?<br />

H.L. Nehmen wir die Kunst. Sobald ich sage, die Mehrheit will<br />

das und das, töte ich das Schöpferische. Eine Kunstkommission<br />

nach politischen Kriterien zusammenzusetzen wäre fatal. Man<br />

muss begreifen, dass Kultur ein Gegengewicht darstellt, etwas,<br />

welches das Selbstgefällige in Frage stellt. Hier hapert es in unserem<br />

Land an Verständnis. Das führt zum Braven, Mittelmässigen<br />

und Schwerfälligen. Wir sind selbstzufrieden. Carl Spitteler lag mit<br />

seinem Bonmot durchaus richtig. Lassen Sie es mich mit einem<br />

meiner Essays erkären. Dort hiess es: «Wenn der liebe Gott<br />

Schweizer gewesen wäre, würde er heute noch auf den richtigen<br />

Moment warten, um die Welt zu erschaffen.»<br />

C.P. Sind wir wirklich solche Schlafmützen ?<br />

H.L. Die Geschichte der Schweiz ist nicht nur eine Geschichte<br />

der Mutlosen. Es ist allerdings ein Unterschied, ob man Ordnung<br />

als etwas Veränderbares ansieht oder als etwas Gottgegebenes.<br />

Wir tendieren leider zu zweitem. Unsere Bundesverfassung ist nur<br />

ein Hilfsmittel, das wir je nach historischer Situation wieder ändern<br />

können. Könnte ich die Verfassung umformulieren, würde ich die<br />

aktuelle Einleitung «Im Namen Gottes» durch «Im Namen der Revision»<br />

ersetzen – als Ausdruck einer Gesellschaft, die Veränderungen<br />

selbstbewusst gegenübertritt.<br />

C.P. Schriftsteller und Journalisten leben in einigen Ländern sehr<br />

gefährlich, weil das Aufdecken der Wahrheit für sie Tod und Verfolgung<br />

bedeuten kann. Braucht’s auch in der Schweiz Mut, die<br />

Wahr heit zu sagen ?<br />

H.L. Ich habe als Journalist erfahren, was es heisst, für eine unangenehme<br />

Berichterstattung seinen Job zu verlieren. Ver glichen<br />

mit Kolleginnen und Kollegen in Diktaturen ist das jedoch harmlos.<br />

Dennoch brauche ich als Schriftsteller Mut. Im Journalis mus ist die<br />

Rechtfertigung fürs eigene Tun gegeben – sie kommt aus<br />

der Aktualität. Journalisten arbeiten mit Argument und Gegen argument.<br />

Schriftsteller schöpfen hingegen aus dem Nichts. Wir<br />

machen etwas, das ungefragt ist. Mutig sind wir, indem wir uns an<br />

ein leeres Papier wagen, um eine neue Welt zu erschaffen.<br />

CREDIT SUISSE BULLETIN 4 |98

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!