Courage, Mumm, Schneid
Credit Suisse bulletin, 1998/04
Credit Suisse bulletin, 1998/04
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Schwerpunkt<br />
17<br />
das für unsere Gesellschaft zum Problem wird. Wir wollen uns<br />
nicht stören lassen. Und zwischen dem, was wir leben, und dem<br />
was Realität ist, exisitiert eine grosse Diskrepanz.<br />
C.P. Wie das ?<br />
C.P. Im Kopf haben wir immer noch die Vorstellung, die Schweiz<br />
sei ein Agrarstaat. Wir sind aber eine Industrienation mit alpinen<br />
Träumen. Drei Viertel der Bevölkerung leben in Städten oder deren<br />
Agglomerationen. Nehmen wir das Tessin. Ich bin<br />
sicher, dass den meisten abgelegene Täler und charmante Rustici<br />
in den Sinn kommen, wenn wir über diesen Landesteil reden.<br />
Doch das Tessin ist der am weitesten urbanisierte Kanton überhaupt.<br />
Wir leben nur Variationen im Vergleich zum Ausland. Der<br />
Sonderfall Schweiz existiert nicht. Sowenig es angehen kann, uns<br />
für unsere Eigenart hochzujubeln, sowenig ist es aber auch redlich,<br />
uns als die miesesten Kreaturen darzustellen. Die Wahrheit über<br />
uns ist viel unspektakulärer: Wir sind im Guten wie im Schlechten<br />
Durchschnitt – und so gesehen durchaus europatauglich.<br />
H.L. Braucht es denn keinen Mut, in Europa einen eigenen Weg zu<br />
gehen ?<br />
H.L. Mut bräuchte es, sich Europa zu öffnen. Aber verstehen Sie<br />
mich recht: Ich bin nicht für ein Europa in Aufhebung der Schweiz.<br />
Ich bin dafür, dass die Länder, die in Europa mittun, sich neu definieren.<br />
Das würde für uns bedeuten, ständig unsere eigene Art zu<br />
überdenken und sich mit Neuem und Fremdem auseinanderzusetzen.<br />
H.L. Bedeutet das kein Verlust ?<br />
C.P. Die europäische Kulturgeschichte ist eine unentwegte<br />
gegenseitige Beeinflussung der Länder und Völker. Kultur ist<br />
nichts Nationales. Unsere wichtigsten Probleme sind die gleichen<br />
wie die in anderen Nationen Europas. Dass eine Integration auch<br />
mit Verlusten verbunden sein kann, ist klar. Und ich fände es<br />
schrecklich, wenn alle Länder ihre Eigenart opfern würden und<br />
alle nur noch gleich dächten. Doch diese Gefahr besteht nicht.<br />
C.P. Was macht Sie so zuversichtlich ?<br />
H.L. Ein Beispiel: Wir messen in der Schweiz in Kilo und<br />
Metern. Vor 130 Jahren entbrannte darüber noch eine leidenschaftliche<br />
Diskussion. Sie können sich gar nicht vorstellen, was<br />
es brauchte, bis ein Pfund in allen Kantonen auch 500 Gramm<br />
bedeutete. Damals konnte man aufgrund der Masse noch einen<br />
Aargauer von einem Thurgauer unterscheiden, weil ein Pfund mal<br />
435 Gramm, mal 453 Gramm schwer war. Im Wallis wurde damals<br />
sogar gegen das Zehnersystem gewettert, weil es nicht der Natur<br />
des Menschen entspräche. Viele empfanden die Vereinheitlichung<br />
der Masse als Verlust an Eigenart. Dies erinnert mich an die heutige<br />
Europadiskussion. Dabei wird vergessen: Trotz Vereinheitlichung<br />
führten gleiche Masseinheiten nie zu einem kulturellen<br />
Einerlei.<br />
C.P. Der Schriftsteller Carl Spitteler hat behauptet: Hätten wir<br />
Schweizer die Alpen selber erschaffen, sie wären nicht so hoch<br />
ausgefallen. Teilen Sie seine Ansicht ?<br />
C.P. Es gibt in der Demokratie einen grundsätzlichen Konflikt:<br />
Über grosse Leistungen lässt sich nicht demokratisch befinden.<br />
Alle schöpferischen Leistungen sind nicht eine Frage der Mehrheit,<br />
sondern des Individuums. Wir müssen begreifen, dass es<br />
Momente gibt, in denen die Demokratie nicht mehr spielt.<br />
H.L. Haben Sie ein Beispiel ?<br />
H.L. Nehmen wir die Kunst. Sobald ich sage, die Mehrheit will<br />
das und das, töte ich das Schöpferische. Eine Kunstkommission<br />
nach politischen Kriterien zusammenzusetzen wäre fatal. Man<br />
muss begreifen, dass Kultur ein Gegengewicht darstellt, etwas,<br />
welches das Selbstgefällige in Frage stellt. Hier hapert es in unserem<br />
Land an Verständnis. Das führt zum Braven, Mittelmässigen<br />
und Schwerfälligen. Wir sind selbstzufrieden. Carl Spitteler lag mit<br />
seinem Bonmot durchaus richtig. Lassen Sie es mich mit einem<br />
meiner Essays erkären. Dort hiess es: «Wenn der liebe Gott<br />
Schweizer gewesen wäre, würde er heute noch auf den richtigen<br />
Moment warten, um die Welt zu erschaffen.»<br />
C.P. Sind wir wirklich solche Schlafmützen ?<br />
H.L. Die Geschichte der Schweiz ist nicht nur eine Geschichte<br />
der Mutlosen. Es ist allerdings ein Unterschied, ob man Ordnung<br />
als etwas Veränderbares ansieht oder als etwas Gottgegebenes.<br />
Wir tendieren leider zu zweitem. Unsere Bundesverfassung ist nur<br />
ein Hilfsmittel, das wir je nach historischer Situation wieder ändern<br />
können. Könnte ich die Verfassung umformulieren, würde ich die<br />
aktuelle Einleitung «Im Namen Gottes» durch «Im Namen der Revision»<br />
ersetzen – als Ausdruck einer Gesellschaft, die Veränderungen<br />
selbstbewusst gegenübertritt.<br />
C.P. Schriftsteller und Journalisten leben in einigen Ländern sehr<br />
gefährlich, weil das Aufdecken der Wahrheit für sie Tod und Verfolgung<br />
bedeuten kann. Braucht’s auch in der Schweiz Mut, die<br />
Wahr heit zu sagen ?<br />
H.L. Ich habe als Journalist erfahren, was es heisst, für eine unangenehme<br />
Berichterstattung seinen Job zu verlieren. Ver glichen<br />
mit Kolleginnen und Kollegen in Diktaturen ist das jedoch harmlos.<br />
Dennoch brauche ich als Schriftsteller Mut. Im Journalis mus ist die<br />
Rechtfertigung fürs eigene Tun gegeben – sie kommt aus<br />
der Aktualität. Journalisten arbeiten mit Argument und Gegen argument.<br />
Schriftsteller schöpfen hingegen aus dem Nichts. Wir<br />
machen etwas, das ungefragt ist. Mutig sind wir, indem wir uns an<br />
ein leeres Papier wagen, um eine neue Welt zu erschaffen.<br />
CREDIT SUISSE BULLETIN 4 |98