Courage, Mumm, Schneid
Credit Suisse bulletin, 1998/04
Credit Suisse bulletin, 1998/04
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Schwerpunkt<br />
9<br />
«Der Fels ist<br />
wie eine Partitur.»<br />
Dietikon bei Zürich. Der junge Mann mit<br />
dem Lockenkopf und den gewaltigen Unter<br />
armen macht einen etwas verlorenen<br />
Eindruck. Frédéric Nicole, genannt Fred,<br />
ist kein Stadtmensch. Sein Element ist der<br />
Fels. Vier bis fünf Tage pro Woche verbringt<br />
der Extremkletterer an steilen Wänden,<br />
übt neue Griffe und Bewe gungsabläufe,<br />
kämpft sich Zentimeter für<br />
Zen ti meter nach oben – als Hilfsmittel allein<br />
seine Muskelkraft. Sein Name ist<br />
längst ein Begriff in der internationalen<br />
Kletter szene, sein Niveau praktisch unerreicht.<br />
Doch solche Details entlockt man dem<br />
28jährigen Romand nur mit Mühe. «Ich<br />
klettere nicht für den Ruhm. Deshalb habe<br />
ich auch vor drei Jahren aufgehört, an<br />
Wett kämpfen teilzunehmen.» Fred Nicoles<br />
Motivation kommt von innen. Er ist verrückt<br />
nach Fels. Im Einklang mit der Natur<br />
seine eigenen Grenzen überschreiten, die<br />
Gesetze der Schwerkraft aushebeln – das<br />
ist es, was ihn antreibt. Unermüdlich ist er<br />
auf der Suche nach neuen Kletterlinien,<br />
ob im Wallis, in Texas oder Südafrika. Vor<br />
einem Jahr dann, im Handegg, im Berner<br />
Oberland, sieht er zum ersten Mal «Elfe»,<br />
die Route seines Lebens. «Fünfzehn<br />
Meter weit springt der Granitfels vor. Die<br />
Strecke verlangt viel Kraft und ein hohes<br />
Mass an Koordination. Ein Geschenk der<br />
Natur.» Elf Tage braucht Fred Nicole, bis<br />
er die Passage überwindet. Es ist die<br />
schwie rig ste Route, die ein Kletterer je<br />
geschafft hat.<br />
Nicoles Leidenschaft nahm ihren Anfang,<br />
als er dreizehn war. Mit seinem drei<br />
Jahre älteren Bruder François unternimmt<br />
er erste Kletterversuche in den Felsen von<br />
St-Loup bei Yverdon. «In der Schule war<br />
ich nie ein guter Sportler, doch die Kletterei<br />
faszinierte mich.» Fernab von der<br />
übri gen Kletterszene wagen die beiden<br />
Autodidakten immer schwierigere Routen.<br />
1987 – Fred ist damals sechzehn – überwinden<br />
die zwei den «Toit d’Auguste» bei<br />
Monaco, damals das Mass aller Dinge.<br />
«Die Kletterwelt war empört über diese<br />
‹Petits Suisses›, die man für Angeber<br />
hielt.»<br />
Mit 20 beschliesst Nicole, nur noch<br />
vom Klettern zu leben. «Wahrschein lich<br />
mei ne mutigste Tat. Es war ein Sprung<br />
ins Ungewisse. Doch ich wollte meinen<br />
eigenen Weg gehen – ohne Rücksicht auf<br />
gesellschaftliche Zwänge.» Und der Mut<br />
am Fels ? Nicole winkt ab. «Ich habe<br />
Hemmungen, hier von Mut zu sprechen.<br />
Schliesslich zwingt mich niemand zu diesen<br />
Taten. Zudem klettere ich bei längeren<br />
Passagen stets gesichert.» Dies war nicht<br />
immer so. In seinen ungestümen Jugendjahren<br />
probierte er auch den «Solo Intégral»<br />
aus, das Klettern ohne Sicherung.<br />
«Obwohl ich mich nur an Felswänden versuchte,<br />
die ich im Griff hatte, geschah<br />
eines Tages, was geschehen musste: Ich<br />
glitt aus. Mit knapper Not konnte ich mich<br />
mit der einen Hand an einer Felskante<br />
festkrallen.» Risiken geht er seither so<br />
wenig wie möglich ein. «Es gibt Kollegen,<br />
die beim Klettern vor allem den Kitzel<br />
suchen. Ich gehöre nicht dazu.»<br />
Könnte sich der Romand ein anderes<br />
Leben vorstellen als die Jagd nach immer<br />
neuen Routen ? Langes Schweigen. «Vielleicht<br />
würde ich mich der Malerei widmen.»<br />
Die Antwort erstaunt. Doch Nicole sieht<br />
viele Parallelen zwischen Kunst und Kletterei.<br />
«Unser Rohstoff ist der Fels – das<br />
Werk keines Bildhauers, sondern der Natur.<br />
Mein Ziel ist es, diesen Fels zu spüren,<br />
ihn zu lesen, wie ein Musiker eine Parti<br />
Fred Nicole, Extremkletterer,<br />
ist verrückt nach fels, und das<br />
CREDIT SUISSE BULLETIN 4 |98