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Courage, Mumm, Schneid

Credit Suisse bulletin, 1998/04

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Schwerpunkt<br />

8<br />

im zweiten weltkrieg plANTE<br />

Anne-Marie Im Hof-Piguet DIE FLUCHT<br />

jüdischeR kinder über die grüne<br />

grenze in die schweiz.<br />

Herbst 1940. Anne-Marie Piguet hat eben<br />

an der Universität Lausanne ihr Studium<br />

ab solviert. Im waadtländischen Schul dienst<br />

könnte sie eine Stelle antreten. Doch<br />

rundherum tobt der Krieg. Die junge Frau<br />

will nicht tatenlos zusehen. Sie verreist<br />

nach Frankreich, um für das Kin der hilfswerk<br />

des Schweizerischen Roten Kreuzes<br />

zu arbeiten. Es folgen zwei Jahre, die ihr<br />

ewig in Erinnerung bleiben werden.<br />

Mehr als ein halbes Jahrhundert ist<br />

seither verstrichen. Anne-Marie Im Hof-<br />

Piguet – sie heiratete kurz nach dem Krieg<br />

– bewohnt ein altes Haus in Köniz bei<br />

Bern. Die Vitalität der 82jährigen wirkt auf<br />

ihre Umgebung ansteckend. Im Gespräch<br />

mit ihr fällt häufig der Name «La Hille». In<br />

diesem baufälligen Schloss am Fusse der<br />

Pyrenäen richtete das Kinderhilfswerk 1941<br />

eine Kolonie ein. Seine Be wohner sind zur<br />

grossen Mehrheit Kinder deutscher und<br />

österreichischer Juden. «Trotz schwieriger<br />

Umstände lebte man wie in einer grossen<br />

Familie.» Doch dann, im August 1942,<br />

tauchen plötzlich französische Gendarmen<br />

auf. In zwei klapprigen Bussen führen sie<br />

alle Jugendlichen über sechzehn in ein Internierungslager.<br />

Nur dank dem resoluten<br />

Einsatz eini ger Rotkreuz-Verantwortlicher<br />

kommen die vierzig Leute wieder frei. Doch<br />

von nun an denken die Grösseren nur noch<br />

an Flucht.<br />

In dieser Zeit der Auflösung kommt<br />

Anne-Marie Piguet nach La Hille. Augenblicklich<br />

begreift sie den Ernst der Lage.<br />

«Ich war zwar nur ein kleiner Wurm, doch<br />

diesem Hitler, den man dauernd im Radio<br />

schreien hörte, dem wollte ich es zeigen.»<br />

Sie besinnt sich auf ihre Heimat, das Vallée<br />

de Joux. «Die Grenze besteht dort nur aus<br />

einem Mäuerchen, das sich durch den<br />

Wald schlängelt.» Noch im Sommer nutzt<br />

sie ihre Ferien, um das Gebiet auszukundschaften.<br />

Sie macht die Bekanntschaft<br />

von Victoria Cordier, einer jungen Französin,<br />

die für den Nachrichten dienst arbeitet<br />

und die Grenze oft passiert.<br />

Die erste Flucht ist auf September angesetzt.<br />

Der 18jährige Addy macht sich<br />

auf den Weg. Auf einer Odyssee durch halb<br />

Frankreich gelangt er ins Grenzdörfchen<br />

Chapelle-des-Bois. Ausserhalb des Dorfes,<br />

im Sperrgebiet, bewohnen die Cordiers<br />

ein Häuschen – der ideale Ort, um<br />

unbemerkt in den nahen Wald zu<br />

entkommen. Doch vor der Grenze wartet<br />

der Gy de l’Echelle, ein tiefer Einschnitt in<br />

den Felswänden. «Der Pfad war steil und<br />

schmal; mit einer Hand musste man sich<br />

am Fels, mit der andern an kleinen Bäumchen<br />

festklammern, um sich hochzu ziehen.<br />

Oben war man auf Schweizer Boden.»<br />

Das Unternehmen gelingt.<br />

Bis im Mai 1944 gelangen so rund zwölf<br />

Personen in die Schweiz. Wie durch ein<br />

Wunder kommt es zu keinen Zwischen fällen.<br />

«Mit ihren schlecht gefälschten Pässen<br />

wären die Kinder in einer Kontrolle sofort<br />

hängengeblieben.»<br />

Nach dem Krieg bleibt die couragierte<br />

Waadtländerin nicht untätig. «Die Ereignisse<br />

hatten mich für immer geprägt.» Sie<br />

engagiert sich in der Entwicklungshilfe.<br />

Und vor kurzem hat sie eine Akademie der<br />

Menschenrechte ins Leben gerufen. «Mut<br />

kann ich auch hier gebrauchen, wenn ich<br />

mit Unternehmern um Beiträge feilschen<br />

muss.» Aus der Zeit von La Hille hat die<br />

nimmermüde Kämpferin auch eine gesunde<br />

Portion Misstrauen gegenüber der<br />

offiziellen Politik mitgenommen. «Immer<br />

wieder beschleicht mich das ungute Gefühl,<br />

dass wir heute die Fehler von damals<br />

« Dem hitler<br />

wollte ich es zeigen»<br />

CREDIT SUISSE BULLETIN 4 |98

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