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Credit Suisse bulletin, 2002/04

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JUGEND<br />

Foto: Eva-Maria Züllig<br />

Sprayen – für die einen ists junge, zeitgenössische Kunst, für die<br />

anderen sinds illegale Wandschmierereien jugendlicher Anarchisten.<br />

Für Max Oertli war es Kalkül: «Als es darum ging, die Brunnen-<br />

Skulptur beim Neumarkt aufzufrischen, hab ich mich gefragt: Wie<br />

kann ich schön gemalte Flächen vor den unvermeidlich eintreffenden<br />

Sprayereien schützen?» Nach dem letzten Neuanstrich vor 14 Jahren<br />

blieb die Skulptur nur wenige Tage verschont. «Darum beschloss ich<br />

diesmal, den Stier bei den Hörnern zu packen», erklärt Oertli. «Ich<br />

suchte nach Sprayern, mit denen ich den Brunnen gemeinsam neu<br />

gestalten konnte.» Das Kalkül dahinter: Gemäss einem ungeschriebenen<br />

Ehrenkodex in der Sprayerszene bleiben bestehende, gute<br />

Arbeiten unangetastet.<br />

Oertlis Rechnung scheint aufzugehen: Seit drei Monaten erstrahlt<br />

das Kunstwerk unbefleckt in seiner neuen Pracht. Aufgesprayt sind<br />

farbenprächtig verschlüsselt einzelne Buchstaben und Ziffern im<br />

Graffitistil, die zusammen den Namen des Gebäudekomplexes,<br />

«Neumarkt 1 2 3 4 5», ergeben.<br />

Ausgeführt haben die Arbeit Sabina Schütz<br />

(25), Timo Müller (22) und Fabian Breitenmoser<br />

(24). Die drei wurden Oertli durch das St.Galler<br />

<strong>Jugend</strong>sekretariat vermittelt. Ansonsten ist es<br />

schwierig, an Mitglieder der Sprayergemeinde<br />

heranzukommen. Nur die wenigsten arbeiten<br />

legal, gehört doch der Kitzel der nächtlichen Illegalität und Hektik zur<br />

Faszination. Für Sabina,Timo und Fabian ist das Vergangenheit. Sie<br />

arbeiten heute lieber bei Tageslicht für Geld und ohne die Angst vor<br />

der Polizei im Nacken. Zu den augenfälligsten Werken von Timo und<br />

Fabian gehören zwei Besprayungen der Boxentürme neben der<br />

Hauptbühne am St. Galler Open Air (2000 und 2001).<br />

Für die <strong>Jugend</strong>lichen war die Zusammenarbeit mit dem rund<br />

60 Jahre älteren, etablierten St. Galler Künstler eine interessante<br />

Erfahrung. Zwei Welten trafen aufeinander. Fabian: «Wir sind mit<br />

unseren Arbeiten mehr auf der figürlichen Seite, Max auf der<br />

abstrakten. Wir bevorzugen grelle, intensive Farben, Max eher<br />

dreckig erdige.» Bevor der erste Spraystoss auf die Skulptur abgegeben<br />

wurde, haben Sabina, Timo und Fabian eine Woche lang Max<br />

Oertli in die Kunst des Sprayens eingeführt. «Ich wollte wissen, wie<br />

das geht, und was alles möglich ist», erzählt Oertli. Dabei stiess der<br />

Künstler bald schon auf ein entscheidendes Handicap: Ihm fehlt<br />

die vordere Hälfte des rechten Zeigefingers und somit der übliche<br />

Auslöser der Sprühdüse. Oertli führt dadurch die Spraydosen mit<br />

beiden Händen. Das schränkt ein. Fabian erklärt: «Beim Sprayen<br />

gibt es nur weiche und scharfe Striche. Den Unterschied macht die<br />

Geschwindigkeit. Beidhändig kann Max nur weiche Striche machen,<br />

für die scharfen fehlt ihm der notwendige Schwung.»<br />

Doch auch sonst liessen sich die künstlerischen Welten der<br />

Sprayer und Max Oertlis nicht so einfach vereinen. «Wir sprechen eine<br />

völlig andere Sprache», sagt Oertli. «Bald schon war mir klar, dass<br />

wir zusammen zwar einen Gesamtentwurf erarbeiten können, ich bei<br />

der Ausführung aber Sabina, Timo und Fabian freie Hand lassen muss.<br />

Kommt dazu, dass ich mit meiner Arthrose nicht mehr auf dem Gerüst<br />

herumklettern kann.» Am Ende der Woche standen das Konzept der<br />

einzelnen Buchstaben und das Grundraster für die Farbgebung.<br />

Ausgefallenere Ideen, wie zum Beispiel auslaufende Farbdosen,<br />

die sich über die Skulptur ergiessen, konnten aus anderen Gründen<br />

«Ich wollte wissen,<br />

wie Sprayen geht und<br />

was möglich ist.»<br />

Max Oertli, Maler und Bildhauer<br />

nicht verwirklicht werden. «Die Bemalung durfte in keiner Weise als<br />

Einladung für andere Sprayer verstanden werden», erklärt Oertli. Das<br />

war vor allem auch der Wunsch der Stadt St. Gallen, die als Besitzerin<br />

des Brunnens als Auftraggeberin auftrat. Von dieser Seite her<br />

gab es am Anfang grosse Widerstände gegen das Projekt. Die Stadt<br />

St. Gallen fährt gegenüber Sprayern eine harte Linie. Wilde Graffiti<br />

werden nicht geduldet und wenn immer möglich entfernt. Für Fabian<br />

ist das der falsche Weg: «Jedes überweisselte Bild zieht drei neue<br />

nach sich.» Da sei das freiere Vorgehen in Basel wesentlich effektvoller.<br />

Dort gebe es entlang der Eisenbahnlinie legale Wände zum<br />

Besprayen. Die einzige Krux: Wer erwischt wird, bezahlt 100 Franken<br />

Busse für das Überschreiten der Bahngeleise. Dagegen kann das<br />

«Verunstalten» fremden Eigentums in St. Gallen schnell einmal in<br />

die Tausende von Franken gehen. Grundsätzlich findet auch Fabian<br />

Sprayereien nicht einfach aus Prinzip gut. Er hat zwar Verständnis<br />

für die anarchistischen Beweggründe dahinter,<br />

aber nicht immer für deren Umsetzungen. «Für<br />

mich macht es keinen Sinn, graue Wände mit<br />

Schwarz, Grau und Silber zu besprayen, oder<br />

einfach mit einer so genannten Destroyer-Linie<br />

Ein Kunstwerk im Zeichen der Spraydose<br />

Schon am Anfang der 1973 auf dem Neumarktplatz in St. Gallen<br />

errichteten Eisenskulptur stand eine Spraydose. Mir ihr kennzeichnete<br />

Max Oertli auf den riesigen Alteisenhalden die interessantesten<br />

Stücke. Diese sammelte dann der Kranführer ein und<br />

stellte sie für den Abtransport bereit. «Es hat damals alles enorm<br />

pressiert», erzählt Oertli. «Der Bauherr der Neumarkt-Hochhäuser,<br />

Viktor Kleinert, kam im Sommer zu mir und sagte: ‹Herr<br />

Oertli, ich brauche für den leeren Platz in der Mitte etwas Grosses,<br />

Buntes. Es muss aber bis zur Eröffnung am 11.11. morgens um elf<br />

Uhr dort stehen.›» Damit sei eine vom Arbeitsprozess her sehr<br />

aufwendige Bronzefigur schon einmal weggefallen. Trotzdem<br />

musste es angesichts der modernen Hochhäuser etwas Metallenes<br />

sein. Oertli entschied sich für Alteisen, wobei sich die<br />

Suche nach den Teilen als gar nicht so einfach entpuppte und<br />

Oertli kreuz und quer durch die ganze Schweiz reiste. Das<br />

wichtigste Stück sollte schliesslich ein alter Tank aus Liechtenstein<br />

werden. Dieser lieferte auch alle Nieten und prägte so<br />

entscheidend die Formsprache.<br />

Kleinert bekam die Figur vorab nur einmal als rund zehn Zentimeter<br />

grosses, rudimentäres Blechmodell zu sehen. «Ihm war<br />

eigentlich völlig egal, wie die Skulptur aussah», sagte Oertli.<br />

Die Verwirklichung war ebenfalls recht abenteuerlich. So liess<br />

sich für das acht Meter grosse Kunstwerk auf die Schnelle keine<br />

genügend hohe Halle finden. Deshalb wurde es liegend zusammengebaut.<br />

Oertli legte sich dann häufig auf eine Matratze<br />

daneben, um einen besseren Eindruck von der optischen Wirkung<br />

zu gewinnen. Nach der abschliessenden Spritzverzinkung blieb<br />

noch ein Wochenende Zeit für die Bemalung. Oertli entschied sich<br />

für grosse, farbige Flächen.<br />

Credit Suisse Bulletin 4-<strong>02</strong> 19

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