Erfolgreiche ePaper selbst erstellen
Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.
JUGEND<br />
Foto: Eva-Maria Züllig<br />
Sprayen – für die einen ists junge, zeitgenössische Kunst, für die<br />
anderen sinds illegale Wandschmierereien jugendlicher Anarchisten.<br />
Für Max Oertli war es Kalkül: «Als es darum ging, die Brunnen-<br />
Skulptur beim Neumarkt aufzufrischen, hab ich mich gefragt: Wie<br />
kann ich schön gemalte Flächen vor den unvermeidlich eintreffenden<br />
Sprayereien schützen?» Nach dem letzten Neuanstrich vor 14 Jahren<br />
blieb die Skulptur nur wenige Tage verschont. «Darum beschloss ich<br />
diesmal, den Stier bei den Hörnern zu packen», erklärt Oertli. «Ich<br />
suchte nach Sprayern, mit denen ich den Brunnen gemeinsam neu<br />
gestalten konnte.» Das Kalkül dahinter: Gemäss einem ungeschriebenen<br />
Ehrenkodex in der Sprayerszene bleiben bestehende, gute<br />
Arbeiten unangetastet.<br />
Oertlis Rechnung scheint aufzugehen: Seit drei Monaten erstrahlt<br />
das Kunstwerk unbefleckt in seiner neuen Pracht. Aufgesprayt sind<br />
farbenprächtig verschlüsselt einzelne Buchstaben und Ziffern im<br />
Graffitistil, die zusammen den Namen des Gebäudekomplexes,<br />
«Neumarkt 1 2 3 4 5», ergeben.<br />
Ausgeführt haben die Arbeit Sabina Schütz<br />
(25), Timo Müller (22) und Fabian Breitenmoser<br />
(24). Die drei wurden Oertli durch das St.Galler<br />
<strong>Jugend</strong>sekretariat vermittelt. Ansonsten ist es<br />
schwierig, an Mitglieder der Sprayergemeinde<br />
heranzukommen. Nur die wenigsten arbeiten<br />
legal, gehört doch der Kitzel der nächtlichen Illegalität und Hektik zur<br />
Faszination. Für Sabina,Timo und Fabian ist das Vergangenheit. Sie<br />
arbeiten heute lieber bei Tageslicht für Geld und ohne die Angst vor<br />
der Polizei im Nacken. Zu den augenfälligsten Werken von Timo und<br />
Fabian gehören zwei Besprayungen der Boxentürme neben der<br />
Hauptbühne am St. Galler Open Air (2000 und 2001).<br />
Für die <strong>Jugend</strong>lichen war die Zusammenarbeit mit dem rund<br />
60 Jahre älteren, etablierten St. Galler Künstler eine interessante<br />
Erfahrung. Zwei Welten trafen aufeinander. Fabian: «Wir sind mit<br />
unseren Arbeiten mehr auf der figürlichen Seite, Max auf der<br />
abstrakten. Wir bevorzugen grelle, intensive Farben, Max eher<br />
dreckig erdige.» Bevor der erste Spraystoss auf die Skulptur abgegeben<br />
wurde, haben Sabina, Timo und Fabian eine Woche lang Max<br />
Oertli in die Kunst des Sprayens eingeführt. «Ich wollte wissen, wie<br />
das geht, und was alles möglich ist», erzählt Oertli. Dabei stiess der<br />
Künstler bald schon auf ein entscheidendes Handicap: Ihm fehlt<br />
die vordere Hälfte des rechten Zeigefingers und somit der übliche<br />
Auslöser der Sprühdüse. Oertli führt dadurch die Spraydosen mit<br />
beiden Händen. Das schränkt ein. Fabian erklärt: «Beim Sprayen<br />
gibt es nur weiche und scharfe Striche. Den Unterschied macht die<br />
Geschwindigkeit. Beidhändig kann Max nur weiche Striche machen,<br />
für die scharfen fehlt ihm der notwendige Schwung.»<br />
Doch auch sonst liessen sich die künstlerischen Welten der<br />
Sprayer und Max Oertlis nicht so einfach vereinen. «Wir sprechen eine<br />
völlig andere Sprache», sagt Oertli. «Bald schon war mir klar, dass<br />
wir zusammen zwar einen Gesamtentwurf erarbeiten können, ich bei<br />
der Ausführung aber Sabina, Timo und Fabian freie Hand lassen muss.<br />
Kommt dazu, dass ich mit meiner Arthrose nicht mehr auf dem Gerüst<br />
herumklettern kann.» Am Ende der Woche standen das Konzept der<br />
einzelnen Buchstaben und das Grundraster für die Farbgebung.<br />
Ausgefallenere Ideen, wie zum Beispiel auslaufende Farbdosen,<br />
die sich über die Skulptur ergiessen, konnten aus anderen Gründen<br />
«Ich wollte wissen,<br />
wie Sprayen geht und<br />
was möglich ist.»<br />
Max Oertli, Maler und Bildhauer<br />
nicht verwirklicht werden. «Die Bemalung durfte in keiner Weise als<br />
Einladung für andere Sprayer verstanden werden», erklärt Oertli. Das<br />
war vor allem auch der Wunsch der Stadt St. Gallen, die als Besitzerin<br />
des Brunnens als Auftraggeberin auftrat. Von dieser Seite her<br />
gab es am Anfang grosse Widerstände gegen das Projekt. Die Stadt<br />
St. Gallen fährt gegenüber Sprayern eine harte Linie. Wilde Graffiti<br />
werden nicht geduldet und wenn immer möglich entfernt. Für Fabian<br />
ist das der falsche Weg: «Jedes überweisselte Bild zieht drei neue<br />
nach sich.» Da sei das freiere Vorgehen in Basel wesentlich effektvoller.<br />
Dort gebe es entlang der Eisenbahnlinie legale Wände zum<br />
Besprayen. Die einzige Krux: Wer erwischt wird, bezahlt 100 Franken<br />
Busse für das Überschreiten der Bahngeleise. Dagegen kann das<br />
«Verunstalten» fremden Eigentums in St. Gallen schnell einmal in<br />
die Tausende von Franken gehen. Grundsätzlich findet auch Fabian<br />
Sprayereien nicht einfach aus Prinzip gut. Er hat zwar Verständnis<br />
für die anarchistischen Beweggründe dahinter,<br />
aber nicht immer für deren Umsetzungen. «Für<br />
mich macht es keinen Sinn, graue Wände mit<br />
Schwarz, Grau und Silber zu besprayen, oder<br />
einfach mit einer so genannten Destroyer-Linie<br />
Ein Kunstwerk im Zeichen der Spraydose<br />
Schon am Anfang der 1973 auf dem Neumarktplatz in St. Gallen<br />
errichteten Eisenskulptur stand eine Spraydose. Mir ihr kennzeichnete<br />
Max Oertli auf den riesigen Alteisenhalden die interessantesten<br />
Stücke. Diese sammelte dann der Kranführer ein und<br />
stellte sie für den Abtransport bereit. «Es hat damals alles enorm<br />
pressiert», erzählt Oertli. «Der Bauherr der Neumarkt-Hochhäuser,<br />
Viktor Kleinert, kam im Sommer zu mir und sagte: ‹Herr<br />
Oertli, ich brauche für den leeren Platz in der Mitte etwas Grosses,<br />
Buntes. Es muss aber bis zur Eröffnung am 11.11. morgens um elf<br />
Uhr dort stehen.›» Damit sei eine vom Arbeitsprozess her sehr<br />
aufwendige Bronzefigur schon einmal weggefallen. Trotzdem<br />
musste es angesichts der modernen Hochhäuser etwas Metallenes<br />
sein. Oertli entschied sich für Alteisen, wobei sich die<br />
Suche nach den Teilen als gar nicht so einfach entpuppte und<br />
Oertli kreuz und quer durch die ganze Schweiz reiste. Das<br />
wichtigste Stück sollte schliesslich ein alter Tank aus Liechtenstein<br />
werden. Dieser lieferte auch alle Nieten und prägte so<br />
entscheidend die Formsprache.<br />
Kleinert bekam die Figur vorab nur einmal als rund zehn Zentimeter<br />
grosses, rudimentäres Blechmodell zu sehen. «Ihm war<br />
eigentlich völlig egal, wie die Skulptur aussah», sagte Oertli.<br />
Die Verwirklichung war ebenfalls recht abenteuerlich. So liess<br />
sich für das acht Meter grosse Kunstwerk auf die Schnelle keine<br />
genügend hohe Halle finden. Deshalb wurde es liegend zusammengebaut.<br />
Oertli legte sich dann häufig auf eine Matratze<br />
daneben, um einen besseren Eindruck von der optischen Wirkung<br />
zu gewinnen. Nach der abschliessenden Spritzverzinkung blieb<br />
noch ein Wochenende Zeit für die Bemalung. Oertli entschied sich<br />
für grosse, farbige Flächen.<br />
Credit Suisse Bulletin 4-<strong>02</strong> 19