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AKTUELL<br />
Solidarität – literarisch umgesetzt<br />
Der Schreibwettbewerb des Bulletin stiess – trotz Sommerferien und anspruchsvollem Thema – auf ein<br />
erfreuliches Echo. Die besten drei Texte sind zu lesen unter www.credit-suisse.ch/<strong>bull</strong>etin<br />
Drei der fünf Jurymitglieder setzten den<br />
nebenstehenden Beitrag der 14-jährigen<br />
Melanie Pfändler aus Gossau ZH auf<br />
den ersten Platz. Ihre ältere Schwester<br />
Stefanie landete mit einem Essay auf dem<br />
dritten Platz. Nur Rebecca Schnyder<br />
aus St.Gallen vermochte – auf überzeugende<br />
Art – in dieses spezielle Familienduell<br />
einzugreifen.<br />
Für den Schriftsteller Urs Richle verknüpfen<br />
sich bei Melanie «Realität, Traum und<br />
Erinnerung zu einem ausdrucksstarken,<br />
vielschichtigen Bild – als wärs eine Schlüsselszene<br />
aus einer längeren Geschichte.»<br />
Auch UNICEF-Geschäftsleiterin Elsbeth<br />
Müller lobt die verschiedenen Ebenen<br />
des vieldeutigen Textes. Kantonsschullehrerin<br />
Yvonne Stocker, Redaktorin<br />
der Literaturzeitschrift «entwürfe», findet<br />
Wortschatz und Wortwahl speziell bemerkenswert.<br />
Ihr Fazit: «Der Text hat literarische<br />
Qualitäten.»<br />
Gewinnerin Melanie Pfändler, 1988, Gossau ZH,<br />
Gymnasiastin in Wetzikon, gewinnt ein Schneeweekend<br />
für zwei Personen im Riders Palace in Laax, Alpenarena.<br />
2. Platz Rebecca Schnyder, 1986, St. Gallen.<br />
3. Platz Stefanie Pfändler, 1985, Gossau ZH.<br />
Jury Elsbeth Müller, Geschäftsleiterin UNICEF Schweiz;<br />
Urs Richle, Schriftsteller;<br />
Yvonne-Denise Köchli, «Weltwoche», Buchautorin;<br />
Yvonne Stocker, Redaktorin der Literaturzeitschrift «entwürfe»;<br />
Christian Pfister, Head External Communications<br />
Credit Suisse Financial Services.<br />
Dunkle Erinnerung<br />
Eine Kurzgeschichte von Melanie Pfändler<br />
Ein Regentropfen kullerte an Lukas’ Nacken hinunter. Grimmig wischte ihn der Junge weg:<br />
Seit Tagen schien sich der Himmel gegen die Menschen verschworen zu haben. Kaum traute<br />
man sich aus der warmen Stube, trieb der eisige Wind einem die Tränen in die Augen, riss<br />
an den Haaren und verwandelte jeden Atemzug in ein flaches Röcheln.<br />
Lukas versuchte, die klammen Hände zu wärmen, und blickte sich um. Da: In einer schmalen<br />
Nebengasse leuchteten die Fenster einer Teestube in die unfreundliche Finsternis heraus.<br />
Ein Schwall warmer Luft schlug dem Halbwüchsigen entgegen, als er die Tür der Schenke<br />
öffnete. Dankbar sog er den Duft frischer Kekse ein und hielt nach einem freien Platz<br />
Ausschau. Er war nicht der Einzige gewesen, der dem trüben Wetter hatte entfliehen wollen:<br />
Die kleinen Tische waren reichlich besetzt und auch in den gemütlichen Nischen sassen<br />
die Leute dicht gedrängt. An einer von ihnen blieb Lukas’ Blick hängen: Ein Farbiger – etwa<br />
in seinem Alter – hatte sich dort niedergelassen und schlürfte friedlich einen Tee.<br />
Lukas ballte die Hände zu Fäusten. Die Fingernägel gruben sich tief in seine Handflächen,<br />
doch er spürte den Schmerz nicht: Der Raum verschwamm vor seinen Augen, und die<br />
Geräusche der fröhlichen Menschen tosten in seinen Ohren wie ein unberechenbarer<br />
Bienenschwarm. Er torkelte, wollte sich festhalten, doch ohne Erfolg; Lukas wankte, als<br />
stehe er auf einem Fischkutter, der von riesigen Wellen in die Luft geschleudert wurde, ohne<br />
jeglichen Halt auf der offenen See – doch da lichtete sich der Nebelschleier vor seinen<br />
Augen. Der Junge sah sich selbst, in einem hölzernen Sandkasten und fühlte sich leicht wie<br />
ein Vogel. Nach einem tüchtigen Blinzeln entdeckte er – wenn auch etwas undeutlich – seine<br />
Mutter. Sie stand etwas abseits, ihr rotes Sommerkleid wehte im Wind, und es schien, als<br />
hätte dieser die Fältchen um ihre klaren Rehaugen und alle sonstigen Zeugen des Alters<br />
fortgetragen. Ihr unverwechselbares Lachen hallte durch die Luft, als sie langsam wieder<br />
in dem Strudel der milchigen Farben verschwand. Doch kaum war das tröstliche Geräusch<br />
verklungen, drang ein anderes an seine Ohren: Die Erde erzitterte ein wenig, und wie aus<br />
dem Nu brach eine Gruppe von farbigen <strong>Jugend</strong>lichen aus dem Schleier. Grölend trottete<br />
sie Richtung Sandkasten.<br />
In diesem Moment erkannte Lukas schlagartig die Situation: Er war gefangen in seiner<br />
eigenen Erinnerung! Ein ersticktes Keuchen kam über seine Lippen, er wollte schreien, doch<br />
es war ihm einfach nicht möglich.<br />
Unaufhaltsam näherte sich die Front der Dunkelhäutigen dem kleinen Lukas, welcher diese<br />
mit grossen, wachen Augen anblickte. Da schien die Traumwelt zu explodieren: Einer der<br />
Jungen versetzte der lieblichen Sandburg einen Tritt, die Zinnen und Türmchen zerfielen zu<br />
Staub, ein anderer brach die kleine Kinderschaufel entzwei, und die restlichen stürzten sich<br />
auf das Kind: Sie überragten es um ein Weites, entblössten dämlich grinsend ihre gelben<br />
Zähne und … Der erste Faustschlag traf Lukas im Bauch: Er krümmte sich und rollte sich<br />
instinktiv zusammen, um sich vor einem nächsten Schlag zu schützen. Ein anderer holte<br />
aus, doch bevor der Angreifer ihn traf, schlug Lukas die Augen auf.<br />
Das dunkle Gesicht war jedoch nicht verschwunden, nur war die bösartige Grimasse einem<br />
besorgten Ausdruck gewichen. Lukas rappelte sich auf: Er stand in der Mitte des<br />
Restaurants und wurde von allen angestarrt. Doch nur jemand war von seinem Platz<br />
aufgestanden, um ihm zu helfen: der Farbige! Die anderen empfanden Lukas’ Ohnmacht<br />
wohl nur als amüsante Attraktion – unverhohlen glotzten sie ihn an, ohne auch nur mit einer<br />
Wimper zu zucken.<br />
«Geht’s dir wieder besser?» Sein Helfer klopfte ihm den Schmutz von den Kleidern. Mit<br />
einem gemurmelten «Schon wieder o.k.» liess sich Lukas auf den nächstbesten Stuhl fallen.<br />
Doch seinem Gegenüber genügte dies nicht: Er wollte wissen, ob er Lukas nicht nach Hause<br />
begleiten solle, denn ein solcher Zusammenbruch sei ja nicht gerade gewöhnlich! Doch<br />
Lukas schenkte ihm nur ein dankbares Lächeln: «Nein, nein, es geht mir gut! Eigentlich<br />
besser als vorher …»<br />
Credit Suisse Bulletin 4-<strong>02</strong> 35