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bull_02_04_Jugend

Credit Suisse bulletin, 2002/04

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AKTUELL<br />

Solidarität – literarisch umgesetzt<br />

Der Schreibwettbewerb des Bulletin stiess – trotz Sommerferien und anspruchsvollem Thema – auf ein<br />

erfreuliches Echo. Die besten drei Texte sind zu lesen unter www.credit-suisse.ch/<strong>bull</strong>etin<br />

Drei der fünf Jurymitglieder setzten den<br />

nebenstehenden Beitrag der 14-jährigen<br />

Melanie Pfändler aus Gossau ZH auf<br />

den ersten Platz. Ihre ältere Schwester<br />

Stefanie landete mit einem Essay auf dem<br />

dritten Platz. Nur Rebecca Schnyder<br />

aus St.Gallen vermochte – auf überzeugende<br />

Art – in dieses spezielle Familienduell<br />

einzugreifen.<br />

Für den Schriftsteller Urs Richle verknüpfen<br />

sich bei Melanie «Realität, Traum und<br />

Erinnerung zu einem ausdrucksstarken,<br />

vielschichtigen Bild – als wärs eine Schlüsselszene<br />

aus einer längeren Geschichte.»<br />

Auch UNICEF-Geschäftsleiterin Elsbeth<br />

Müller lobt die verschiedenen Ebenen<br />

des vieldeutigen Textes. Kantonsschullehrerin<br />

Yvonne Stocker, Redaktorin<br />

der Literaturzeitschrift «entwürfe», findet<br />

Wortschatz und Wortwahl speziell bemerkenswert.<br />

Ihr Fazit: «Der Text hat literarische<br />

Qualitäten.»<br />

Gewinnerin Melanie Pfändler, 1988, Gossau ZH,<br />

Gymnasiastin in Wetzikon, gewinnt ein Schneeweekend<br />

für zwei Personen im Riders Palace in Laax, Alpenarena.<br />

2. Platz Rebecca Schnyder, 1986, St. Gallen.<br />

3. Platz Stefanie Pfändler, 1985, Gossau ZH.<br />

Jury Elsbeth Müller, Geschäftsleiterin UNICEF Schweiz;<br />

Urs Richle, Schriftsteller;<br />

Yvonne-Denise Köchli, «Weltwoche», Buchautorin;<br />

Yvonne Stocker, Redaktorin der Literaturzeitschrift «entwürfe»;<br />

Christian Pfister, Head External Communications<br />

Credit Suisse Financial Services.<br />

Dunkle Erinnerung<br />

Eine Kurzgeschichte von Melanie Pfändler<br />

Ein Regentropfen kullerte an Lukas’ Nacken hinunter. Grimmig wischte ihn der Junge weg:<br />

Seit Tagen schien sich der Himmel gegen die Menschen verschworen zu haben. Kaum traute<br />

man sich aus der warmen Stube, trieb der eisige Wind einem die Tränen in die Augen, riss<br />

an den Haaren und verwandelte jeden Atemzug in ein flaches Röcheln.<br />

Lukas versuchte, die klammen Hände zu wärmen, und blickte sich um. Da: In einer schmalen<br />

Nebengasse leuchteten die Fenster einer Teestube in die unfreundliche Finsternis heraus.<br />

Ein Schwall warmer Luft schlug dem Halbwüchsigen entgegen, als er die Tür der Schenke<br />

öffnete. Dankbar sog er den Duft frischer Kekse ein und hielt nach einem freien Platz<br />

Ausschau. Er war nicht der Einzige gewesen, der dem trüben Wetter hatte entfliehen wollen:<br />

Die kleinen Tische waren reichlich besetzt und auch in den gemütlichen Nischen sassen<br />

die Leute dicht gedrängt. An einer von ihnen blieb Lukas’ Blick hängen: Ein Farbiger – etwa<br />

in seinem Alter – hatte sich dort niedergelassen und schlürfte friedlich einen Tee.<br />

Lukas ballte die Hände zu Fäusten. Die Fingernägel gruben sich tief in seine Handflächen,<br />

doch er spürte den Schmerz nicht: Der Raum verschwamm vor seinen Augen, und die<br />

Geräusche der fröhlichen Menschen tosten in seinen Ohren wie ein unberechenbarer<br />

Bienenschwarm. Er torkelte, wollte sich festhalten, doch ohne Erfolg; Lukas wankte, als<br />

stehe er auf einem Fischkutter, der von riesigen Wellen in die Luft geschleudert wurde, ohne<br />

jeglichen Halt auf der offenen See – doch da lichtete sich der Nebelschleier vor seinen<br />

Augen. Der Junge sah sich selbst, in einem hölzernen Sandkasten und fühlte sich leicht wie<br />

ein Vogel. Nach einem tüchtigen Blinzeln entdeckte er – wenn auch etwas undeutlich – seine<br />

Mutter. Sie stand etwas abseits, ihr rotes Sommerkleid wehte im Wind, und es schien, als<br />

hätte dieser die Fältchen um ihre klaren Rehaugen und alle sonstigen Zeugen des Alters<br />

fortgetragen. Ihr unverwechselbares Lachen hallte durch die Luft, als sie langsam wieder<br />

in dem Strudel der milchigen Farben verschwand. Doch kaum war das tröstliche Geräusch<br />

verklungen, drang ein anderes an seine Ohren: Die Erde erzitterte ein wenig, und wie aus<br />

dem Nu brach eine Gruppe von farbigen <strong>Jugend</strong>lichen aus dem Schleier. Grölend trottete<br />

sie Richtung Sandkasten.<br />

In diesem Moment erkannte Lukas schlagartig die Situation: Er war gefangen in seiner<br />

eigenen Erinnerung! Ein ersticktes Keuchen kam über seine Lippen, er wollte schreien, doch<br />

es war ihm einfach nicht möglich.<br />

Unaufhaltsam näherte sich die Front der Dunkelhäutigen dem kleinen Lukas, welcher diese<br />

mit grossen, wachen Augen anblickte. Da schien die Traumwelt zu explodieren: Einer der<br />

Jungen versetzte der lieblichen Sandburg einen Tritt, die Zinnen und Türmchen zerfielen zu<br />

Staub, ein anderer brach die kleine Kinderschaufel entzwei, und die restlichen stürzten sich<br />

auf das Kind: Sie überragten es um ein Weites, entblössten dämlich grinsend ihre gelben<br />

Zähne und … Der erste Faustschlag traf Lukas im Bauch: Er krümmte sich und rollte sich<br />

instinktiv zusammen, um sich vor einem nächsten Schlag zu schützen. Ein anderer holte<br />

aus, doch bevor der Angreifer ihn traf, schlug Lukas die Augen auf.<br />

Das dunkle Gesicht war jedoch nicht verschwunden, nur war die bösartige Grimasse einem<br />

besorgten Ausdruck gewichen. Lukas rappelte sich auf: Er stand in der Mitte des<br />

Restaurants und wurde von allen angestarrt. Doch nur jemand war von seinem Platz<br />

aufgestanden, um ihm zu helfen: der Farbige! Die anderen empfanden Lukas’ Ohnmacht<br />

wohl nur als amüsante Attraktion – unverhohlen glotzten sie ihn an, ohne auch nur mit einer<br />

Wimper zu zucken.<br />

«Geht’s dir wieder besser?» Sein Helfer klopfte ihm den Schmutz von den Kleidern. Mit<br />

einem gemurmelten «Schon wieder o.k.» liess sich Lukas auf den nächstbesten Stuhl fallen.<br />

Doch seinem Gegenüber genügte dies nicht: Er wollte wissen, ob er Lukas nicht nach Hause<br />

begleiten solle, denn ein solcher Zusammenbruch sei ja nicht gerade gewöhnlich! Doch<br />

Lukas schenkte ihm nur ein dankbares Lächeln: «Nein, nein, es geht mir gut! Eigentlich<br />

besser als vorher …»<br />

Credit Suisse Bulletin 4-<strong>02</strong> 35

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