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Credit Suisse bulletin, 2002/04

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LEADERS<br />

«Versöhnung ist erst möglich, wenn<br />

die Justiz gehandelt hat»<br />

Chefanklägerin Carla Del Ponte fordert am Kriegsverbrechertribunal in Den Haag Gerechtigkeit<br />

für die Opfer des Milosevic-Regimes. Ihr Name steht weltweit für Integrität, Hartnäckigkeit und einen<br />

unerschütterlichen Glauben an die Gerechtigkeit. Interview: Daniel Huber, Redaktion Bulletin<br />

Daniel Huber Sie sind weit hinten im Maggiatal<br />

aufgewachsen. Vermissen Sie hier in<br />

Holland nicht die Berge?<br />

Carla Del Ponte Nein, eigentlich nicht. Ich<br />

habe auch nicht viel Zeit, um hinauszugehen<br />

und die Landschaft zu betrachten.<br />

Was ich hier von meinem Bürofenster aus<br />

sehe, gefällt mir recht gut. Besonders<br />

wenn das Stück Himmel wie heute blau ist.<br />

Fühlen Sie sich als Schweizerin? Aber<br />

sicher. Ich verfolge, so oft ich kann, was<br />

in der Schweiz passiert. Ich bin aber eine<br />

Schweizerin im Ausland, und das prägt.<br />

Man sieht die Schweiz ein bisschen anders.<br />

Positiver? Teilweise schon, aber nicht in<br />

allen Dingen.<br />

Im Jugoslawien-Konflikt war ein ausgeprägter<br />

Nationalismus die Triebfeder für viele<br />

Gräueltaten. Wie nah beisammen sind für<br />

Sie Patriotismus und Nationalismus? Für<br />

mich ist Patriotismus nicht gefährlich. Eine<br />

gesunde Portion erachte ich als positiv.<br />

Der Nationalismus, den wir hier in Den Haag<br />

erfahren, ist etwas völlig anderes und<br />

meiner Meinung nach auch eine Ausnahme.<br />

Inwiefern lassen sich die tiefen Wunden,<br />

die der Krieg in Ex-Jugoslawien hinterlassen<br />

hat, überhaupt heilen? Ich gehe oft in diese<br />

Region und habe Kontakte mit den Behörden,<br />

aber auch den Opfern. Ich spreche<br />

mit Frauen, die ihre Männer und Söhne verloren<br />

haben. Das Leid dieser Menschen ist<br />

selbst nach zehn Jahren noch immer sehr<br />

gross. Das macht eine Versöhnung schwierig.<br />

Von aussen lässt es sich leicht von<br />

Verzeihung und Zusammenleben sprechen,<br />

aber für die Betroffenen ist das schwierig.<br />

Vor allem wenn die Täter noch nicht<br />

abgeurteilt sind. Viele laufen sogar noch<br />

frei herum. Deshalb drängen wir auch<br />

die nationalen Behörden immer wieder, die<br />

Strafverfahren möglichst schnell zu eröffnen.<br />

Versöhnung ist erst möglich, wenn die<br />

Justiz gehandelt hat.<br />

Lassen sich solche Verbrechen, wie sie in<br />

Ex-Jugoslawien geschehen sind, überhaupt<br />

sühnen? Lässt sich ein Massenmord mit<br />

einer bestimmten Anzahl Jahren Gefängnis<br />

aufwiegen? Es ist nicht in erster Linie<br />

wichtig, wie viele Jahre die Angeschuldigten<br />

ins Gefängnis müssen. Entscheidend ist,<br />

dass diese Verbrecher zur Verantwortung<br />

gezogen werden. Auch ist es für die Bevölkerung<br />

wichtig, dass die Wahrheit an den<br />

Tag kommt. In Jugoslawien gab es zehn<br />

Jahre lang keine unabhängige Berichterstattung.<br />

Jemand muss die Leute über diese<br />

schrecklichen Dinge aufklären, damit sie<br />

sich einer gewissen Schuld bewusst werden.<br />

Erst dann ist eine Versöhnung möglich.<br />

Während des Konflikts war Milosevic lange<br />

ein akzeptierter Gesprächspartner. Erst als<br />

er am Boden war, wurde er zur Verantwortung<br />

gezogen. Ist Ihr Gericht ein Tribunal für<br />

Verlierer? Das ist eine sehr starke Vereinfachung.<br />

Es stimmt, dass sich die internationale<br />

Gemeinschaft mit Milosevic lange an<br />

den Verhandlungstisch gesetzt hat. Soviel<br />

wir wissen, hat sich das aber schlagartig<br />

geändert, als die Gräueltaten bekannt<br />

wurden. Auch fanden die Gespräche von<br />

Dayton auf einer politischen Ebene statt,<br />

und dort war man sozusagen gezwungen,<br />

mit Milosevic zu verhandeln. Er war als<br />

institutioneller Präsident der Mann, der die<br />

Dinge stoppen konnte.<br />

Damit ein Rechtssystem funktionieren kann,<br />

braucht es ein ausführendes Organ. Wer<br />

ist Ihre Polizei? Wir haben ein paar eigene<br />

Polizisten, die hier am Tribunal arbeiten.<br />

Für Zwangsmassnahmen wie Durchsuchungen<br />

und Verhaftungen bin ich aber auf<br />

die örtlichen Polizeikräfte oder die KFOR-<br />

Truppen angewiesen.<br />

Henry Dunant war darüber frustriert, dass<br />

sein Lebenswerk, das Internationale Rote<br />

Kreuz, zwar viel Leid lindert, aber nur wenig<br />

dazu beitragen kann, dass es gar nicht erst<br />

entsteht. Kennen Sie dieses Gefühl? Obwohl<br />

es in der heutigen Zeit gar nicht danach<br />

aussieht, hoffen wir natürlich auf und glauben<br />

an eine präventive Wirkung. So nennt<br />

der Beschluss des Sicherheitsrates für die<br />

Schaffung des Tribunals die Prävention<br />

explizit als Ziel. Das ist aber ein Effekt, der<br />

erst in ein paar Jahren Wirkung zeigen<br />

kann. Gerade deshalb ist es auch wichtig,<br />

dass wir den permanenten Gerichtshof<br />

haben, dessen Zuständigkeit nicht wie bei<br />

uns auf die Regionen Ex-Jugoslawien<br />

und Ruanda begrenzt ist.<br />

Wie wichtig sind die USA für Ihre Arbeit?<br />

Wenn es darum geht, Druck auszuüben,<br />

sind die USA für uns sehr wichtig. So<br />

knüpften die USA ihre finanzielle Unterstützung<br />

für Jugoslawien an klare Bedingungen.<br />

Eine davon war die Kooperation mit<br />

dem Tribunal, die letztendlich zur Auslieferung<br />

von Milosevic führte. Dagegen schafft<br />

es Europa nicht, entschlossen als Einheit<br />

aufzutreten. Es gibt immer ein Land, dem<br />

die Massnahmen zu weit gehen. Daneben<br />

sind die USA auch personell wichtig. Wir<br />

können aus einem riesigen Reservoir an<br />

juristisch qualifizierten Leuten schöpfen.<br />

Sie verbringen viel Zeit an Schauplätzen<br />

ehemaliger Gräueltaten, sprechen mit Opfern.<br />

Wie verarbeiten Sie diese Bilder und<br />

Erlebnisse? Wissen Sie, ich bin nun schon<br />

mehr als zwanzig Jahre Staatsanwältin.<br />

Das härtet ab und das ist gut so. Wer nicht<br />

gut schläft, kann auch nicht mehr gut<br />

arbeiten. Leichen sind zwar grausam, aber<br />

Foto: © Jacques Langerin/Corbis Sigma<br />

80 Credit Suisse Bulletin 4-<strong>02</strong>

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