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Inhaltsübersicht:<br />
Aus der Redaktion<br />
Aus der Redaktion............................................................................<br />
Seniorenbeirat wird erstmals per Brief gewählt................................<br />
Bewegte Vergangenheit.....................................................................<br />
Warum der Rollbraten „Rollbraten“ heißt.........................................<br />
„Leimber Wäjjer“............................................................................... 7<br />
Hans Berner....................................................................................... 8<br />
Ein Urlaubstag in den Hohenheimer Gärten..................................... 10<br />
Des Sängers Fluch Ludwig Uhland ............................................. 12<br />
Himalaya nicht zu hoch für Rollstuhl................................................ 13<br />
Selbst Max Schmeling liebte Sigis Küstenlandschaften................... 16<br />
Risiken und Nebenwirkungen........................................................... 19<br />
Tante Elses Geheimnis...................................................................... 20<br />
Die Klatschmohnfrau........................................................................ 22<br />
Rettung durch Seitensprünge............................................................ 25<br />
Lied ohne Worte................................................................................ 26<br />
Zweisamkeit und Naturerlebnis......................................................... 27<br />
Fragen an die Kandidaten für das Amt des Bürgermeisters.............. 29<br />
Stadt Siegen verleiht Rubenspreis an Sigmar Polke......................... 35<br />
Gott in der Falle der Hirnforscher?.................................................... 36<br />
Serviceseite....................................................................................... 43<br />
Gedächtnistraining............................................................................ 44<br />
Ein Pinsel vor Gericht....................................................................... 46<br />
Vor zwanzig Jahren im „durchblick“................................................ 47<br />
Kein Urinal für Uri............................................................................ 48<br />
Leistungsfähige Altenpflege durch motivierte Beschäftigte............. 49<br />
Statistiken, Prognosen und Interpretationen...................................... 49<br />
Lösungen / Das fiel uns auf............................................................... 50<br />
Impressum / Zu guter Letzt............................................................... 50<br />
Sommer und Reisen, diesem Thema widmen wir uns, ganz ungewollt, in dieser<br />
Ausgabe besonders ausführlich. Warum auch nicht? Das haben wir uns gefragt und entschieden,<br />
zwei von unseren Redakteuren eingereichte Reise-Beiträge sowie eine kurze<br />
(Reise)-Buchbesprechung aus unserer Buchreihe in dieser Ausgabe zu veröffentlichen.<br />
Der Sommer wird hoffentlich lang!<br />
Passend zum Titelbild, das in Erinnerung bringt, wie Amerika seine Politiker in Stein<br />
gemeißelt verewigt, kommen unsere drei Bürgermeisterkandidaten zu Wort. Unsere Fragen<br />
und ihre Antworten finden Sie im durchblick ab Seite 29. Das Titelbild wurde von<br />
dem neuen „durchblick-Photoshop-Club“ erstellt, der damit sein Debüt gibt. Der Club,<br />
der neben der Bildbearbeitung für unsere Zeitschrift auch die weiteren Verlagsprodukte<br />
bildtechnisch gestalten hilft, trifft sich wöchentlich dienstags zwischen 18 und 20 Uhr in<br />
unserem Redaktionsraum. Interessenten sind herzlich willkommen.<br />
Wann kann man von einem gelungenen Altern sprechen? Voraussetzung dafür sind<br />
– möglichst lebenslang – körperliche und geistige Beweglichkeit, die zu sinnvollen Aufgaben<br />
und Aktivitäten mobil machen. Der durchblick stellt seit geraumer Zeit immer wieder<br />
Personen vor, denen dies offensichtlich gelungen ist. In dieser Ausgabe erinnern sich<br />
„Weggefährten“ an Begegnungen mit Hans Berner. Im Alter von 89 Jahren gibt Berner in<br />
diesem Jahr den Vorsitz des Seniorenbeirats ab (Seite 8).<br />
Ihnen nun viel Freude beim Lesen des neuen durchblick.<br />
durchblick 2/ <strong>2007</strong> 3<br />
3<br />
4<br />
5<br />
6
Aus dem Seniorenbeirat<br />
Seniorenbeirat wird erstmals per Brief gewählt<br />
Herausforderung und Chance<br />
Im Juni endete<br />
die Wahlzeit des<br />
jetzigen Seniorenbeirats<br />
der Stadt<br />
Siegen. Die Neuwahlen<br />
finden in<br />
der Zeit vom 21. Juni<br />
bis 30. Juli <strong>2007</strong><br />
statt.<br />
Zeitlicher Ablauf<br />
der Wahlen<br />
Die entsprechend<br />
der Wahlordnung<br />
zugelassenen<br />
Kandidaten<br />
werden am 21. Juni<br />
in einer Pressekonferenz<br />
präsentiert.<br />
Im Zeitraum 21.<br />
Juni bis 17. Juli<br />
erhalten dann die<br />
Siegener Senioren<br />
ihre Wahlunterlagen;<br />
letzter Tag der<br />
Stimmabgabe ist<br />
der 30. Juli. Am 31.<br />
Juli werden die Ergebnisse<br />
ermittelt und am 1. August bekannt gegeben. Die<br />
konstituierende Sitzung des neuen Seniorenbeirats findet<br />
am 14. August <strong>2007</strong> statt.<br />
Umfassende Änderungen<br />
Durch das positive Votum des Rates am 17. April <strong>2007</strong><br />
wurden zwei einschneidende Änderungen auf den Weg<br />
gebracht: die Heraufsetzung des Wahlalters von 58 auf 60<br />
Jahre sowie die Durchführung der Wahlen ausschließlich<br />
als Briefwahlverfahren.<br />
Die Einführung des Briefwahlverfahrens war von Anfang<br />
an erklärtes Ziel der Verantwortlichen. „Eine Bevölkerungsgruppe,<br />
die häufiger als andere mit mobilitäts- oder<br />
gesundheitlichen Problemen zu tun hat, muss die Möglichkeit<br />
der Briefwahl haben“, so Astrid E. Schneider, Seniorenbeauftragte<br />
und Leiterin der Regiestelle „Leben im<br />
Alter“.<br />
Der größte Vorteil des Briefwahlverfahrens sieht der alte<br />
Seniorenbeirat in einer deutlichen Erhöhung der Wahlbeteiligung.<br />
„Bei der letzten Wahl des Seniorenbeirats, die<br />
bekanntlich in allen sechs Bezirken als Urwahl stattgefunden<br />
hat, lag die Wahlbeteiligung bei lediglich rund vier<br />
Prozent. Erfahrungen aus anderen Städten zeigen, dass die<br />
Wahlbeteiligung bei Durchführung der Wahl als Briefwahl<br />
in der Regel deutlich höher sein kann. In Dortmund lag die<br />
Beteiligung bei den Wahlen zum Seniorenbeirat im Jahr<br />
2005 so zum Beispiel bei 29 Prozent!“, berichtet ein Sprecher<br />
des Siegener Seniorenbeirats.<br />
„Mit einer deutlich erhöhten Wahlbeteiligung würde<br />
die äußerst engagierte Arbeit unseres Seniorenbeirates auf<br />
eine wesentlich breitere Basis gestellt“, berichtet Stadtrat<br />
Steffen Mues.<br />
Mut machender Start<br />
Unabhängig davon, wie viele ältere Siegenerinnen und<br />
Siegener ihre (maximal drei) Kreuzchen auf dem Wahlschein<br />
machen werden, steht bereits jetzt fest, dass die<br />
Wahlen die Stadtverwaltung vor eine besondere Herausforderung<br />
stellen werden – liegen doch bisher keine vergleichbaren<br />
Erfahrungen in Siegen vor. Dennoch ist Astrid E.<br />
Schneider zuversichtlich, das Ganze gut „über die Bühne“<br />
zu bringen, und freut sich über den gelungen Auftakt der<br />
Neuwahlen zum Seniorenbeirat <strong>2007</strong>.<br />
Für die Heraufsetzung des Wahlalters sprechen mehrere<br />
Gründe: Ein wichtiger Grund ist die zunehmend höhere<br />
Lebenserwartung Älterer und damit auch die Verlängerung<br />
der Lebensphase „Alter“ bzw. der spätere Eintritt in diese<br />
Lebensphase.<br />
„Eine zweite Begründung leiten wir ab aus den Diskussionen<br />
über die Erhöhung des Renteneinstiegsalters.<br />
Außerdem passt das bisherige Eintrittsalter von 58 Jahren<br />
nicht zu allen statistischen Erhebungen, die immer in<br />
5-Jahres-Schritten vorgehen“, erklärt der zuständige Beigeordnete<br />
– und Wahlleiter – Stadtrat Steffen Mues.<br />
Der scheidende Seniorenbeirat<br />
4 durchblick 2/<strong>2007</strong>
Aktivitäten<br />
Bewegte Vergangenheit – 20 Jahre VHS-Tanzkreis Seelbach<br />
entschließen, mitzutanzen, sodass eine<br />
große Gemeinschaft entstand. Es war<br />
sehr viel mehr als nur die Lust am Tanzen,<br />
es waren Augenblicke der Freude,<br />
inneren Begeisterung, man spürte eine<br />
verbindende Kraft und gegenseitiges<br />
Vertrauen. Tanzen ist Honig für die<br />
Seele, hat jemand gesagt, spricht Körper<br />
und Geist an und bringt diese drei<br />
Einheiten unseres Seins in Einklang.<br />
Der Tanz bringt der Seele Frieden und<br />
Entspannung. Er führt Menschen zusammen,<br />
fördert das soziale Verhalten.<br />
Tanzen spricht für Freude am Leben.<br />
Der Tanzkreis Seelbach feiert mit Gästen sein 20-jähriges Bestehen.<br />
Am Samstag, dem 28. April <strong>2007</strong>, fanden sich<br />
Tanzgruppen aus dem Siegerland in der Mehrzweckhalle<br />
in Niederdielfen ein. Der Tanzkreis aus Seelbach feierte<br />
in einer festlichen Feierstunde sein 20-jähriges Bestehen.<br />
Der Tanzkreis wurde vor 20 Jahren von Barbara Kerkhoff<br />
gegründet, den sie bis heute mit großem Erfolg leitet, seit<br />
zwei Jahren im Wechsel mit Karin Daschke.<br />
Einer der Höhepunkte war der<br />
Schlusstanz, der von Frau Kerkhoff<br />
organisiert und geleitet wurde.<br />
Alle Anwesenden kamen auf die Tanzfläche,<br />
bildeten drei Kreise, und reichten<br />
sich die Hände. Im gemeinsamen<br />
Reigen, Tanz und Lied wurde die Feier<br />
beendet.<br />
Dorothea Istock<br />
Zu den Teilnehmern der Feier gehörten der VHS-Tanzkreis<br />
Seelbach, Tanzkreis Freudenberg, die Tanzgruppen<br />
aus Kreuztal und Engsbach, die Montagsgruppe, der Tanzclub<br />
AWO sowie die Gymnastik-Gruppe VTB – Siegen/<br />
TSG Dielfen und andere geladene Gäste. Insgesamt waren<br />
ungefähr 120 Teilnehmer versammelt. Nach den herzlichen<br />
Begrüßungsworten von Barbara Kerkhoff, folgten<br />
drei Tänze mit allen Tanzgruppen. Auch diejenigen, die<br />
zu keiner Tanzgruppe gehörten, konnten mittanzen. Durch<br />
diese gemeinsamen Tänze wurde bereits eine lockere Gemeinschaft,<br />
Verbundenheit mit den anderen im Kreis, Begeisterung<br />
und Freude am Tanzen hergestellt.<br />
„Mit dem Tanz kommt immer wieder der Rhythmus des<br />
Lebens zum Ausdruck, der eigentlich unserem ganzen Dasein<br />
zugrunde liegt, selbst unserem Atmen. Unser gesamtes<br />
Sein und Tun bewegt sich in tänzerischen Rhythmen. Richtig<br />
verstanden, schenkt uns der Tanz eine zusätzliche Sprache,<br />
die mehr ausdrücken kann als alle Worte. Da kann man<br />
Sympathie für einen Menschen ebenso ausdrücken wie seine<br />
Antipathie.----“. (O. Betz, Der Leib als sichtbare Seele.)<br />
Nach einer Kaffeepause folgte eine schöne Tanzdarbietung<br />
aller aktiven Teilnehmer, spontan konnte sich jeder<br />
durchblick 2/<strong>2007</strong> 5
Im Sommer 1943<br />
machte ich im Landjahr<br />
meine Hauswirtschaftsprüfung.<br />
Die<br />
Theorie war überstanden.<br />
Heute war<br />
der Tag der Praxis.<br />
Morgens um acht Uhr<br />
bekamen wir, mein<br />
Mitprüfling Waltraud<br />
und ich, das Kuvert,<br />
in dem die Arbeiten<br />
für den Vormittag<br />
aufgeführt waren.<br />
Also: Ich musste<br />
ein Kleid waschen,<br />
eine weiße Bluse<br />
bügeln, eine Leinenschürze<br />
flicken, ein<br />
großes Doppelfenster mit Rahmen säubern und natürlich<br />
kochen. Ich musste gefüllte Gurken braten und einen<br />
großen Rollbraten herrichten. Waltraud, mein Mitprüfling,<br />
richtete einen Hefekloß mit Kompott an. Zusammen<br />
mussten wir auch noch eine schöne Tischdekoration<br />
machen und dann natürlich das fertige Essen auch noch<br />
stilgerecht servieren. In der großen Küche lag alles bereit,<br />
was wir benötigten.<br />
Ich ging aber zuerst ins Waschhaus, um alles zu erledigen,<br />
was mich später beim Kochen nicht mehr belasten<br />
konnte. Ich machte mich an die Arbeit. Alles klappte<br />
prima, ich lag gut in der Zeit. Dann aber zurück in die<br />
Küche. Während mich nach kurzer Zeit der prachtvolle<br />
Rollbraten anlachte, entwickelten sich die Gurken zu<br />
meinem Feind. Ich hatte sie ausgekratzt und mit Gehacktem<br />
gefüllt. Mit Zahnstochern wurden sie zusammengehalten<br />
und so ins heiße Fett gelegt. So weit – so<br />
Lassen Sie Ihren<br />
Trauring umarbeiten<br />
Aus einem alten Trauring kann<br />
ein wunderschöner Schmuckring<br />
werden, der seine Innengravur<br />
behält – mit Farbstein oder<br />
Brillant.<br />
Ihr Altgold nehmen wir in Zahlung.<br />
Unterhaltung<br />
Warum der Rollbraten „Rollbraten“ heißt?<br />
Bei jeder Scheibe Fleisch, die ich ihnen auf den Teller legte,<br />
musste ich mir ein innerliches Lachen verkneifen.<br />
ab € 98,-<br />
Am Dicken Turm<br />
Peter Müller | Kölner Straße 48 | 57072 Siegen | <strong>02</strong>71 53616<br />
gut – aber sobald ich<br />
sie wendete, blieb das<br />
Braune in der Pfanne<br />
und die Gurke war<br />
wieder grün. Diese<br />
Prozedur brachte mich<br />
zur Verzweiflung.<br />
Gurke braun – Gurke<br />
drehen – Gurke grün.<br />
So was Blödes werde<br />
ich nie in meinem<br />
Leben auf den Tisch<br />
bringen, schwor ich<br />
mir, habe ich auch nie<br />
getan. Sonst klappte<br />
alles richtig gut, auch<br />
bei meinem Mitprüfling.<br />
Wir machten einen<br />
hübschen Tischschmuck<br />
und deckten<br />
den großen Tisch für den Prüfungsausschuss. Als Letztes<br />
machte ich noch die Soße des Rollbratens. Schmeckte<br />
alles noch mal ab und war zufrieden mit mir. Die Prüferin<br />
auch, denn sie lächelte mir zu. Nun musste alles so gut<br />
serviert werden, dass der Eindruck passte. Ich band mir<br />
eine lange, weiße Schürze vor, löste das dünne Seil vom<br />
Rollbraten und legte ihn fein säuberlich auf die bereits<br />
dekorierte Fleischplatte. Es schlug gerade zwölf, – ooh<br />
– als ich voller Stolz meinen Braten die hohe steinerne<br />
Treppe von der Küche zum Speisesaal hochtrug.<br />
Da ..., was war das? Ein Ruck ging durch meinen<br />
ganzen Körper. Ich konnte absolut nicht weitergehen.<br />
Hilfe ..., ich bin gelähmt!!! Was war geschehen? Simpel,<br />
Simpel, ich stand auf meiner langen Schürze. Stocksteif,<br />
bewegungsunfähig. Mein Rollbraten aber war im Gegensatz<br />
zu mir mopsfidel. Er sprang von der Platte und<br />
hopste und rollte, hopste, hopste und rollte, keine Stufe<br />
auslassend die ganze, lange Treppe hinunter. Unten stand<br />
die Prüferin. Fassungslos! Sekunden vergingen. Dann<br />
rief sie mich zurück. Schnappte den Braten vom Boden<br />
mit der Hand, zog ihn kurzerhand durch die Soße. Legte<br />
ihn auf eine neue Platte, band mir eine saubere Schürze<br />
um und erweckte mich mit einem Klaps auf den Po zu<br />
neuem Leben. Ich erkannte, was geschehen war, welch<br />
eine Chance ich bekommen hatte und eilte vorsichtig und<br />
erleichtert in den Speisesaal. Allen am Tisch schmeckte<br />
es vorzüglich und waren voll des Lobes. Bei jeder Scheibe<br />
Fleisch, die ich ihnen auf den Teller legte, musste<br />
ich mir trotz meiner Aufregung ein innerliches Lachen<br />
verkneifen.<br />
Jedenfalls wusste ich seit dem Vorfall, warum der<br />
„Rollbraten“ ... Rollbraten heißt!<br />
Inge Göbel<br />
6 durchblick 2/<strong>2007</strong>
Mundart<br />
„Leimber Wäjjer“ en Seje en de drissicher Joarn<br />
So gearn wi mier em Wender foar de körberliche Railichkait<br />
en de Barea’schdalt gengen, so gearn gengen m’r<br />
och em Sommer d’rfoar en d’r Leimber Wäjjer. Mier wollden<br />
os awer net nuer wäsche, mier wollden Schbass ha, en<br />
d’r Sonn läjje, schwemme, schbeln, Iss ässe on schbäer da<br />
och noch no de Jonge gucke.<br />
Groasmodder, Modder, Kenner, all Onkeln on Dande<br />
gengen bi os altemo em Sommer met Sack on Pack am<br />
Wochänn zom Leimber Wäjjer en d’r Iserner Schdrose, do<br />
wo itz d’r Audo-Bald es. Em Wender sin m’r om Wäjjer<br />
Schlettscho gelaufe, on en de groase Ferije woar d’r Leimber<br />
Wäjjer os „Urlaubsdomizil“. So fel geränt wi ho härret<br />
domols net, on wännet ränt, erret och em Wasser schea,<br />
nuer bim Gewedder sin m’r da schdifde gange. A’et ferraise<br />
hät kainer gedocht; do woar och ga kai Gäld foar do.<br />
Samsdachs, wann fel Li komen, ha ech emmer gewadet<br />
bes so fenne orrer sekse a d’r Kasse schdonnen. Ech sin da<br />
onner so nem glaine Kassebrätt gebeckt duerchgeflutscht,<br />
henner dä Li hergange und ha mech da wane gefräjjt ewer<br />
di zwanzich Pänning me foar Iss. Fier Mol foar fenf Pänning<br />
Iss, on jedesmo noch e Waffel-Hörnche d’rbi, wat m’r<br />
awer bal zom Hals russ heng. Soo drij.<br />
drenke zom Keln rengeschdallt. A d’r Bachsidde schdonnen<br />
Baim, wo m’r schea em Schadde läjje konn. Of d’r<br />
groase Wes on em Sand konnen de Kenner schbeln; en<br />
Wibbe gobet, e Kesdsches Dreller on en Rondlauf. Dat zog<br />
ainem oarndlech en de Arme, och de Bain mossde m’r arich<br />
schdrecke, wann m’r do dra heng. Ech glauwe, d’rwäje ha<br />
ech och de Arme on de Bain ze lang.<br />
„Wedde met m’r duerch d’r Wäjjer schwemme, hin on<br />
zerecke“, frogde mech emo min Onkel Emil, d’r Ma fa ain<br />
dä fenf Schwäsdern fa minner Modder. „Du kast dech a de<br />
Drägern fa minnem Bare’azoch fäsdehale on schwemmst<br />
met de Bain wi’e Grotsche, orrer häsde Angst?“ Ech scherrelde<br />
d’r Kobb. Da komm!<br />
M’r konn, wann m’r woll, sech nom Schwemme dusse<br />
onnern isskale Brause schdälln. Zom grendlich wäsche<br />
geng m’r en e glai Kabueffje woet warm Wasser gob, awer<br />
da mossde m’r wat bezaln. En nem Lare gobet Kaffe on<br />
Ko‘che, Dailcher, Schnuck on Iss ze kaufe. Postkade, Zaidonge,<br />
Zigaredde, Bier on Gleckerwasser woarn och ze ha.<br />
Gleckerwasser gobet en Fläsche, di oawe en Koggel (en<br />
Glecker) zom Endrecke hadden. Dräj Sorde konn m’ ha,<br />
Kirsch, Waldmaisder on Zidrone.<br />
Grotscher sin en jedem Wäjjer d’rhaim, em Leimber<br />
woarn se och. Wann di gelaicht hadden, woar foarn em<br />
glaine Bäcke der Borem zogesät met Gullbatsche. Et wemmelde<br />
nuer so foar ludder glaine schwarze Knäbbe met<br />
webbelije Färm. Geng m’r da end Wasser, woar darre gledschich<br />
Gedä onner de Fese. Mier hadden os awer dra geweant.<br />
Bim Schwemme ha m’r net geschwatt, os Mull blef<br />
fäsde zo. Wä well schoa en Gullbatsch em Bu’ch ha?<br />
Wann de Gullbatsche greaser wuern, zo glaine Fröschelcher,<br />
da hauden se ab fam Wäjjer uss a d’r Sidde e<br />
Schdeckelche de Wes hoch, ewern Wäch, henne werrer<br />
e Schdeckelche de Wes ronner zo end Bachbädde fa d’r<br />
Leimbe ren. Dat woar d’r Wasserzofloss foar d’r Wäjjer.<br />
En däm duermelden di sech da schbäer rem on ha de Li<br />
nächdens met earem Gegwake net schlofe lose.<br />
Em glassglore, emmer kale Leimbewasser ha m’r, wann<br />
m’r en ganze Dach blewen, d’r Doffelns’salot on wat ze<br />
Der alte Leimbacher Weiher<br />
En däm Sommer woar ech em Frejoar grad dräj Joar alt.<br />
Als m’r em Wasser woarn, säde min Onkel noch: „Mossde<br />
dech no emo lossloase, egal wearem, da kemmsde<br />
mem Kobb aimo onner Wasser, doch schwubb ha ech dech<br />
gepackt on Du läjjst mem Recke of minnem Buch, kast<br />
de Fejjelcher se’ on m’r zwai schwemme zerecke. Ech<br />
schwomm wi e Grotsche on hadde en wane Schbass d’rbi.<br />
Hennerhear säden se en d‘r Familje: „Dat Glai erren rechdje<br />
Wasserratte.“<br />
Aimol, a nem haisse Dach, kom och fa minner Dande<br />
Leni d’r Ma met; doch fel lewer wär d’r Fritz d’rhaim<br />
geblewe, si hadde än awer rechdech metgezerrt. „Ech lä<br />
mech en de Sonn, ear konnt jo schwemme go“, säde hä<br />
e bessje ogehale. Am schbäe Nommedach woaret äm da<br />
ze haiss woarn, hä sog och so glenich uss, woll ofschdo<br />
on fel aifach em. „Hitzschlag“, säden de Sanitäter on en<br />
defdije Sonnebrand d’rzo. En Zittlang sog d’r Fritz uss wi<br />
en Gwälldoffel, di geschällt wearn moss, doch hennerhear<br />
genget äm werrer got, on wann hä schbäer emo erjendwat<br />
net woll on säde: „En-nä! Frou!“, da säde det Leni: „Es got!<br />
Ma!“ – Scha, darret d’r Leimber Wäjjer neme get.<br />
Gerda Greis<br />
durchblick 2/<strong>2007</strong> 7
Gesellschaft<br />
Hans Berner<br />
ständigung und zum Wissen übereinander<br />
beizutragen, ein Zusammensein zu organisieren,<br />
sich mitzuteilen und Anerkennung<br />
und wohlmeinende Kritik zu äußern.<br />
Im Juli <strong>2007</strong> vollendet Hans Berner sein<br />
89. Lebensjahr und beweist damit, dass die<br />
persönliche Weiterentwicklung des Menschen<br />
und seine Gestaltungskraft nicht mit<br />
50 enden muss. Auch in diesem Sinn ist<br />
Hans Berner ein ermutigendes Vorbild – ich<br />
bin ihm dankbar!<br />
Erich Kerkhoff<br />
¹ („Staat, Gesellschaft, Freiheit“ 1976, S. 60).<br />
Gelungenes Altern: Hans Berner und Ehefrau Betty geb. Junker<br />
Geb. am 24. Juli 1918 im Hessischen. In Bosserode bei<br />
Wildeck begann seine kommunalpolitische Karriere. Gerade<br />
aus der Kriegsgefangenschaft entlassen, trat Hans 1945 in<br />
die SPD ein. Er wurde Gemeindevertreter und kurz danach<br />
jüngster Bürgermeister im Kreis Rotenburg/Fulda. 1951<br />
zog Hans Berner nach seiner Heirat mit Betty Junker nach<br />
Klafeld. Schon 1952 wurde er mit Stimmenmehrheit in die<br />
Gemeindevertretung Klafeld gewählt. Das war die Zeit des<br />
Wiederaufbaus, die Wenschtsiedlung wurde gebaut. Hans<br />
Berner war der letzte Bürgermeister der Gemeinde Geisweid.<br />
Er war maßgeblich am Zustandekommen der Partnerschaft<br />
mit der Gemeinde Rijnsburg 1963 beteiligt. 1966 wurde<br />
Hans Berner stellv. Bürgermeister der Stadt Hüttental und<br />
gehörte nach der Neugliederung dem Rat der Stadt Siegen<br />
bis 1989 an. 10 Jahre war er Vorsitzender des Bezirksausschusses<br />
Geisweid. 33 Jahre war er Mitglied im Kreistag und<br />
zehn Jahre lang stellv. Landrat. Seit 1997 – seit Gründung<br />
– ist er Vorsitzender des Seniorenbeirats.<br />
Ich kenne Hans Berner seit 1973. Damals<br />
war ich eine engagierte Jungsozialistin, mit<br />
dem Recht der Jugend auf Unausgewogenheit,<br />
Überschwang und extreme Positionen.<br />
Hans hingegen besaß schon in den siebziger<br />
Jahren das, was ihn bis heute auszeichnet.<br />
Nämlich ein großes Verständnis für alles<br />
Menschliche, Fürsorge und ein hohes Maß<br />
an Toleranz und Gerechtigkeitsempfinden. Dazu viel Lebensfreude<br />
und Zufriedenheit.<br />
Seit 10 Jahren nun erlebe ich Hans Berner mit diesen Eigenschaften<br />
ganz aus der Nähe. Wenngleich ich selbst auch<br />
an Jahren und Lebenserfahrung zugelegt habe, sind mir seine<br />
Tipps und Ausgeglichenheit, seine Ruhe und Zuversicht,<br />
seine Solidarität und Fürsorge auch heute noch lieb und<br />
wert. Hans Berner ist es zu verdanken, dass der Seniorenbeirat<br />
sich fern von parteipolitischem Taktieren entwickeln<br />
konnte. Er hat mit all seinem politischen Sachverstand und<br />
seinen menschlichen Eigenschaften die Weichen richtig<br />
gestellt und den Seniorenbeirat zu einer unverzichtbaren<br />
Größe im kommunalen Geschehen gemacht.<br />
Mich persönlich inspiriert seit Jahren sein Rat, niemals<br />
im Streit schlafen zu gehen. Und: Lieber Hans, ein besonderes<br />
Dankeschön für die leckeren Schinkenbrote, die du mir<br />
immer geschmiert hast, wenn wir auf Dienstreise gingen!<br />
Astrid E. Schneider<br />
„Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen,<br />
die er selbst nicht garantieren kann ...“. Das<br />
stellte Ernst-Wolfgang Böckenförde, Richter am Bundesverfassungsgericht<br />
fest.¹ Böckenförde deutet an, dass vor<br />
allem „moralische Substanz des Einzelnen“ gefragt ist.<br />
Hier denke ich an Hans Berner. Vor einigen Wochen konnte<br />
ich ihn im Rathaus Geisweid beobachten. Er war Mittelpunkt<br />
einer Gruppe älterer Erwachsener, die ihn befragten<br />
und mit ihm diskutierten. Offenbar ging es um das Thema<br />
einer zuvor im Rathaus stattgefundenen Versammlung. In<br />
der beobachteten Szene wurde deutlich, wofür ich Hans<br />
Berner nach einer jetzt 10-jährigen Bekanntschaft besonders<br />
schätze: Es ist seine Fähigkeit, zur gegenseitigen Ver-<br />
....Meine Eltern bauten 1953 mit großen Anstrengungen<br />
ein Haus für die achtköpfige Familie. Das Geld reichte<br />
nicht mehr für den Bau einer Bruchsteinmauer zur Grundstücksabgrenzung.<br />
Im September 1954 lieh Hans Berner<br />
meinen Eltern 1.000 DM für die Mauer. Das Darlehen wurde<br />
1955/1956 mit monatlich 50,– DM zurückgezahlt. Hans<br />
Berner quittierte die monatlichen Eingänge. Der Schuldschein<br />
und die Quittungen liegen heute noch vor. Meine<br />
Eltern waren Hans Berner dafür sehr dankbar.<br />
Seit 1979 bin ich im Rat der Stadt Siegen und habe seit<br />
der Zeit mit Hans Berner zusammengearbeitet. Er leitete<br />
von 1979 bis 1989 den Bezirksausschuss Geisweid. Ich<br />
habe an Hans Berner seinen immer frohen Mut und<br />
8 durchblick 2/<strong>2007</strong>
Gesellschaft<br />
seine Bescheidenheit geschätzt. Bewundert habe ich, dass<br />
er sich trotz geschäftlicher Probleme nicht hat unterkriegen<br />
lassen, sondern ehrenamtlich weitergearbeitet und sich als<br />
Vorsitzender des Seniorenbeirates für die Anliegen der älteren<br />
Mitbürger eingesetzt hat.<br />
Nach wie vor arbeitet Hans im Bezirksausschuss. Ein<br />
Spezialgebiet waren früher die Buslinien der VWS, da er<br />
dort im Aufsichtsgremium mitarbeitete. Als „Elder Statesman“<br />
sind seine Meinungen und Ratschläge noch immer gefragt.<br />
Für sein jahrzehntlanges ehrenamtliches Engagement<br />
wurde Hans mit dem Bundesverdienstkreuz 1. und 2. Klasse<br />
ausgezeichnet. Er erhielt den Ehrenring der Stadt Hüttental.<br />
Wir hoffen, dass er uns weiterhin mit seinem Rat und so<br />
munter, wie bisher, zur Seite stehen kann. Traute Fries<br />
Es war der Eingang in das Jahr 1962, als ich meine Arbeit<br />
bei den Stahlwerken Südwestfalen aufnahm. Dies war auch<br />
der Zeitpunkt, zu dem ich meinen Wohnsitz und damit meinen<br />
Lebensmittelpunkt in das Siegerland verlegte. So trat<br />
auch Hans Berner in Berührung mit meinem Lebensweg.<br />
Politik war mein erster Kontakt. Hans war damals Bürgermeister<br />
der Gemeinde Geisweid.<br />
Bei den Auseinandersetzungen mit meinem Chef, dem<br />
Arbeitsdirektor Dr. Dudziak, war die Partei, die Gewerkschaft<br />
und der Rat zutiefst zerstritten.<br />
Hans Berner fiel die Rolle des Vermittlers zu. Es war eine<br />
schwere Rolle. Dies wurde noch zusätzlich erschwert, da<br />
Hans ein angesehener Unternehmer war. Er hatte die Firma<br />
seines Schwiegervaters ausgebaut und mit zahlreichen Mitarbeitern<br />
der Fa. Junker nahm er Aufgaben in den Stahlwerken<br />
Südwestfalen wahr. Trotz der schwierigen Situation hat<br />
Hans das Schiff der Firma durch alle Klippen gesteuert. Dabei<br />
hat er immer die Interessen seiner Mitarbeiter beachtet.<br />
Er hat auch nach der Gründung der Stadt Hüttental und<br />
der späteren Großstadt Siegen sich den Aufgaben gestellt.<br />
Als stellvertretender Bürgermeister und Landrat, als Vertreter<br />
in Aufsichtsräten hat er den Bürgern gedient. Er hat sein<br />
Fachwissen eingebracht, war immer freundlich und warmherzig.<br />
Bis ins hohe Alter war und ist er engagiert. Dabei hat das<br />
Leben nicht nur Erfolge und Höhen gehabt, auch Tiefen und<br />
Nackenschläge hielt es bereit, bewundernswert hat er dies<br />
alles getragen. Auch als ohne sein Verschulden sein Lebenswerk<br />
zerstört wurde.<br />
So habe ich Hans Berner als Nachbarn kennengelernt.<br />
Jederzeit hilfsbereit, tolerant und verständnisvoll. Hans ist<br />
ein geselliger Mensch, er liebt die Geselligkeit. Er liebt seine<br />
Familie und die Probleme werden gemeinsam getragen.<br />
Es ist wohl sein gelebter Glaube, der ihm die Kraft dazu<br />
gibt. Aber wohl auch dazu, im hohen Alter erneut ein öffentliches<br />
Amt zu übernehmen, den Vorsitz des Seniorenbeirates<br />
so viele Jahre zu leiten.<br />
Er ist ein liebenswerter Mensch, ein geachteter Bürger<br />
und es ist ein Gewinn, ihn zu erleben. Walter Nienhagen<br />
Viele sagen, meinem Vater sähe man sein Alter nicht an.<br />
Das liegt vor allem daran, dass er das Leben liebt und jeden<br />
Tag die Herausforderungen, die es stellt, guten Mutes<br />
annimmt. Sich zum alten Eisen gehörig zu fühlen kommt<br />
ihm nicht in den Sinn. Dafür warten auf ihn innerhalb und<br />
außerhalb der Familie zu viele Aufgaben.<br />
Die Familie bildet für meinen Vater den zentralen Mittelpunkt<br />
seines Lebens. Tage, an denen Kinder, Enkel und<br />
Urenkel um ihn versammelt sind, lassen ihn noch etwas<br />
„jünger“ erscheinen.<br />
Dass mein Vater so gut gelaunt alt werden konnte, liegt<br />
aber neben seinem unerschütterlichen Gottvertrauen vor<br />
allem an meiner Mutter, mit der er seit 61 Jahren glücklich<br />
verheiratet ist und die ihm in guten und schweren Zeiten<br />
immer zur Seite gestanden hat. Dr. Hans-Rainer Berner<br />
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noch vor dem nächsten Geburtstag, der ansteht.<br />
durchblick 2/<strong>2007</strong> 9
Botanik<br />
Ein Urlaubstag in den Hohenheimer Gärten<br />
Der älteste Gartenteil ist der Exotische Garten. Er geht<br />
auf die einst größere Englische Anlage zurück, die Herzog<br />
Carl Eugen mit seiner späteren Gemahlin Franziska von<br />
Hohenheim 1776-1779 begründete, und an deren Ausbau<br />
er bis zu seinem Tode 1793 rastlos arbeitete. Englische<br />
Gärten waren, nach der Mode der Zeit, Landschaftsgärten,<br />
die bewusst den Gegensatz zum streng gegliederten Barockgarten<br />
suchten. Sechs Jahre später (1785) wurde auf<br />
der Stelle eines alten Barockschlösschen der Grundstein<br />
für ein neues Schloss gelegt. Es sollte kein Lustschloss,<br />
sondern ein Residenzschloss werden. Geplant waren 75<br />
Räume auf zwei Etage. Das große botanische Interesse<br />
von Franziska von Hohenheim prägte von Anfang an die<br />
Gartengestaltung.<br />
Mit dem Anpflanzen heimischer und exotischer Pflanzen<br />
und Bäumen und mit der Einrichtung von nachgebildeten<br />
antiken und mittelalterlichen Bauten schuf sich das Herzogpaar<br />
eine romantische ländliche Welt. Die Anhäufung<br />
mit Monumenten und Gebäuden veränderte allerdings den<br />
ursprünglichen Charakter des Landschaftsgarten erheblich.<br />
Dieser Garten war zu Lebzeiten des Herzogspaar für die<br />
Öffentlichkeit nicht zugänglich und diente als Kulisse für<br />
Hoffeste sowie zum Aufenthalt in Mußestunden. Von den<br />
Architekturen des 18. Jahrhunderts gibt es heute noch das<br />
„Spielhaus“, das „Wirtshaus zur Stadt Rom“ und Reste der<br />
„drei Säulen des donnernden Jupiter“. In dem „Spielhaus“<br />
das einst dem Herzogpaar als Ort für gesellige und festliche<br />
Veranstaltungen diente, ist nach grundlegender Veränderung<br />
das Museum zur Geschichte Hohenheims eingerichtet.<br />
Blaugrüne Mammutbäume<br />
„Es gibt eine Kraft aus der Ewigkeit,<br />
und diese Kraft ist grün.“<br />
Hildegard von Bingen, 1098–1179<br />
Im Neckartal, südlich von Stuttgart, liegt Hohenheim.<br />
Hier wurde Geschichte gemacht und wurden Geschichten<br />
geschrieben. Auf einer Gesamtfläche von ungefähr 35 ha<br />
erstrecken sich die Hohenheimer Gärten. Sie sind ein botanisch<br />
äußerst vielseitiges, gartenbaulich sehr schönes und<br />
historisch über mehr als zwei Jahrhunderte gewachsenes<br />
Ensemble verschiedenartigster Gartenteile und sind eine<br />
wissenschaftliche Einrichtung der Universität Hohenheim<br />
für die Forschung und Lehre und wegen ihres hohen wissenschaftlichen<br />
Wertes international weithin bekannt.<br />
Der Exotische Garten fand Beachtung bei den Intellektuellen<br />
gegen Ende des 18. Jahrhunderts. Die Urteile fielen<br />
jedoch sehr verschieden aus: J.W. v. Goethe, der 1797<br />
auf seiner dritten Schweizer Reise Hohenheim besuchte,<br />
gefiel der Garten überhaupt nicht. Er sei „mit kleineren<br />
und größeren Gebäuden übersät, die mehr oder weniger<br />
teils einen engen, teils einen Repräsentationsgeist verraten“1.<br />
Ganz anders Fr. Schiller. Er, der als Schüler in der<br />
von Herzog Carl Eugen gegründeten Karlsschule viel unter<br />
dem Herzog zu leiden hatte, erkannte 1795 in dem Garten<br />
einen tieferen Sinn. „Ländliche Simplizität und versunkene<br />
städtische Herrlichkeit, die zwei äußersten Zustände der<br />
Gesellschaft, grenzen auf eine rührende Art aneinander,<br />
und das ernste Gefühl der Vergänglichkeit, verliert sich<br />
wunderbar schön in dem Gefühl des siegenden Lebens“.<br />
Ludwig Uhland soll im Sommer 1814 als er die Gärten<br />
besuchte durch die Szene „Drei Säulen des Donnernden Jupiters“<br />
zu der Ballade „Des Sängers Fluch“ angeregt worden<br />
sein. Die drei Säulen des donnernden Jupiters wurden<br />
den Tempelruinen auf dem Forum Romanum in Rom im<br />
Maßstab 1:4 nachgebaut. Der Schaft der östlichen Säule<br />
von den drei Säulen steht auch heute noch, die beiden anderen<br />
Säulen liegen als Trümmer am Boden.<br />
„Noch eine hohe Säule zeugt<br />
von verschwund’ner Pracht,<br />
auch diese, schon geborsten,<br />
kann stürzen über Nacht.“<br />
(Ballade „Des Sängers Fluch“).<br />
10 durchblick 2/<strong>2007</strong>
Für Eduard Mörike der in der von Hohenheim nahegelegenen<br />
Stadt Ludwigsburg geboren wurde, ausgebildeter<br />
Pfarrer und Dichter war es kein Zufall, dass die wichtigsten<br />
Ereignisse der Bibel sich gerade in Gärten abspielen: die<br />
Schöpfung im Paradiesgarten, die Todesangst Jesu im Ölgarten<br />
und seine Auferstehung im Garten mit dem leeren<br />
Grab. Der Garten wird damit zu einem umfassenden Bild,<br />
einem Zeichen<br />
der Hoffnung,<br />
in dem wir das<br />
Geheimnis von<br />
Leben, Tod<br />
und Auferstehung<br />
erkennen<br />
können.<br />
Im Laufe der Jahrhunderte erfuhr der Garten zahlreiche<br />
Umwandlungen und wurde durch verschiedene Nutzungen<br />
geprägt. Seit Gründung der „Landwirtschaftlichen Lehranstalt“<br />
auf dem Gelände im Jahre 1818, die im Jahre<br />
1967 den Rang einer Universität erhielt, wird der Garten<br />
für wissenschaftliche Versuche, reichliches Lehr- und Anschauungsmaterial<br />
für Studenten und Schüler genutzt, und<br />
für nicht wissenschaftlich interessierte Besucher ist er eine<br />
beliebte Erholungsstätte, die kostenlos und ganzjährig<br />
zur Verfügung steht. Heute stehen hier zusammen mit dem<br />
neuen Landschaftsgarten, der 1996 angelegt wurde, etwa<br />
2400 Gehölzarten und Varietäten aus über 90 Pflanzenfamilien<br />
und 270 Gattungen.<br />
Den besonderen Reiz dieses Garten macht jedoch der<br />
alte Baumbestand aus. Der aufmerksame Besucher wird<br />
öfter noch Bäume aus dem 18. Jahrhundert entdecken: so<br />
zum Beispiel die riesige nordamerikanische Platane beim<br />
„Spielhaus“ oder mehrere Tulpenbäume mit tulpenförmigen,<br />
gelbgrünen Blüten, die im Jahre 1779 gepflanzt<br />
wurden. Die Staudenterrasse mit Kleingehölzgarten vor<br />
dem historischen Spielhaus von 1788, das Rhododendrenquartier,<br />
die geheimnisvoll verschlungene Wege des Lavendel-Labyrinths<br />
bieten dem Besucher einen reizvollen<br />
Anblick.<br />
Der Schlosspark, eine ehemalige barocke Anlage im<br />
französischen Stil, der im Laufe der Zeit auch Veränderungen<br />
erfahren hat, dient heute als Park für Erholungssuchende.<br />
Bemerkenswert ist der im Jahre 1974 errichtete Botanische<br />
Garten mit dem neuzeitlichen Arzneipflanzengarten<br />
in dem etwa 400 Heil- und Giftpflanzen angepflanzt sind,<br />
und der nach den zu heilenden Organen geordnete mittelalterliche<br />
Heilpflanzengarten der Hildegard von Bingen.<br />
Botanik<br />
Gärten helfen uns, uns zu nähren, zu heilen<br />
und unser Wohlbefinden zu steigern.<br />
Zu erwähnen sind noch die Lehrgärten, die nur wissenschaftlichen<br />
Zwecken dienen und den Besuchern nicht<br />
zugänglich sind. Gärten helfen uns, unsere Umwelt zu verschönern,<br />
uns zu nähren, zu heilen und unser inneres und<br />
äußeres Wohlbefinden zu steigern.<br />
Sie sind Orte der Entspannung, der Stille, des Friedens<br />
und schenken uns Kraft für den Alltag. Gärten erwecken<br />
unsere Neugierde und Entdeckerfreude. Wie riecht diese<br />
Blume, wann wurde der Baum angepflanzt, für was werden<br />
die Nutzpflanzen verwendet? Viele andere Fragen kommen<br />
auf.<br />
Mit viel Liebe und Fürsorge<br />
werden die Gärten von der Hohenheimer<br />
Universität betreut.<br />
Ich habe die verschiedenen<br />
Gartenteile in Hohenheim<br />
zu verschiedenen Jahreszeiten besucht. Der historische<br />
Rundweg, ein erholsamer Spaziergang durch die ehemaligen<br />
Schlossanlagen, dem heutigen Universitätscampus,<br />
war für mich immer interessant und sehenswert, versetzte<br />
mich sogar in eine spannende Zeitreise durch 250 Jahre<br />
Gartenbaugeschichte.<br />
Historische Gärten wie die Hohenheimer Gärten sind<br />
keine beliebigen Überbleibsel von einst oder vorübergehende<br />
Einrichtungen auf Zeit, sondern kostbare Vermächtnisse<br />
der Geschichte und Gegenwart für die Zukunft.<br />
(1. Aus Goethes Tagebuch)<br />
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durchblick 2/<strong>2007</strong> 11
Ballade<br />
Des Sängers Fluch<br />
LUDWIG UHLAND<br />
(1787–1862)<br />
Es stand in alten Zeiten ein Schloß, so hoch und hehr,<br />
Weit glänzt es über die Lande bis an das blaue Meer,<br />
Und rings von duft´gen Gärten ein blütenreicher Kranz,<br />
Drin sprangen frische Brunnen im Regenbogenglanz.<br />
Dort saß ein stolzer König, an Land und Siegen reich,<br />
Er saß auf seinem Throne so finster und so bleich;<br />
Denn was er sinnt, ist Schrecken, und was er blickt, ist Wut,<br />
Und was er spricht ist Geißel, und was er schreibt, ist Blut.<br />
Einst zog nach diesem Schloße ein edles Sängerpar,<br />
Der ein´in goldnen Locken, der andre grau von Haar;<br />
Der Alte mit der Harfe, er saß auf schmuckem Roß,<br />
Es schritt ihm frisch zur Seite der blühende Genoß.<br />
Der Alte sprach zum Jungen: „Nun sei bereit, mein Sohn!<br />
Denk unsrer tiefsten Lieder, stimm an den vollsten Ton,<br />
Nimm alle Kraft zusammen, die Lust und auch den Schmerz!<br />
Es gilt uns heut zu rühren des Königs steinern Herz.“<br />
Schon stehn die beiden Sänger im hohen Säulensaal,<br />
Und auf dem Throne sitzen der König und sein Gemahl;<br />
Der König furchtbar prächtig, wie blut´ger Nordlichtschein,<br />
Die Königin, süß und milde, als blickte Vollmond drein.<br />
Da schlug der Greis die Saiten, er schlug sie wundervoll,<br />
Daß reicher, immer reicher der Klang zum Ohre schwoll.<br />
Dann strömte himmlisch helle des Jünglings Stimme vor,<br />
Des Alten Sang dazwischen wie dumpfer Geisterchor.<br />
Der Höflingsschar im Kreise verlernt jeden Spott,<br />
Des Königs trotz´ge Krieger, sie beugen sich vor Gott.<br />
Die Königin, zerflossen in Wehmut und in Lust,<br />
Sie wirft den Sängern nieder die Rose von ihrer Brust.<br />
„Ihr habt mein Volk verführet, verlockt ihr nun mein Weib?“<br />
Der König schreit es wütend, er bebt am ganzen Leib;<br />
Er wirft sein Schwert, das blitzend des Jünglings Brust durchdringt,<br />
Draus statt der goldnen Lieder, ein Blutstrahl hochauf springt.<br />
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Noch eine hohe Säule zeugt von verschwundner Pracht.<br />
Und wie vom Sturm zerstoben ist all der Hörer Schwarm,<br />
Der Jüngling hat verröchelt in seines Meister Arm.<br />
Der schlägt um ihn den Mantel und setzt ihn auf das Roß,<br />
Er bind´t ihn aufrecht feste, verläßt mit ihm das Schloß.<br />
Doch vor dem hohen Tore, da hält der Sängergreis<br />
Da faßt er seine Harfe, sie, aller Harfen Preis –<br />
An einer Marmorsäule, da hat er sie zerschellt,<br />
Dann ruft er, daß es schaurig durch Schloß und Garten gellt:<br />
„Weh euch, ihr stolzen Hallen! Nie töne süßer Klang<br />
Durch eure Räume wieder, nie Saite noch Gesang,<br />
Nein! Seufzer nur und Stöhnen und scheuer Sklavenschritt,<br />
Bis euch zu Schutt und Moder der Rachegeist zertritt!<br />
Weh euch, ihr duft´gen Gärten im holden Maienlicht!<br />
Euch zeig´ ich dieses Toten entstelltes Angesicht,<br />
Daß ihr darob verdorret, daß jeder Quell versiegt,<br />
Daß ihr in künft´gen Tagen versteint, verödet liegt.<br />
Weh dir, verruchter Mörder! Du Fluch des Sängertums!<br />
Umsonst sei all dein Ringen nach Kränzen blut´gen Ruhms,<br />
Dein Name sei vergessen, in ew´ge Nacht getaucht,<br />
Sei wie ein letztes Röcheln in leere Luft verhaucht!“<br />
Der Alte hat´s gerufen, der Himmel hat´gehört, –<br />
Die Mauern liegen nieder, die Hallen sind zerstört.<br />
Noch eine hohe Säule zeugt von verschwundner Pracht;<br />
Auch diese, schon geborsten, kann stürzen über Nacht.<br />
Und rings, statt duft´ger Gärten, ein ödes Heideland,<br />
Kein Baum streut Schatten, kein Quell durchdringt den Sand.<br />
Des Königs Namen meldet kein Lied, kein Heldenbuch;<br />
Versunken und vergessen! Das ist des Sängers Fluch.<br />
12 durchblick 2/<strong>2007</strong>
Reisen<br />
Himalaya nicht zu hoch für den Rollstuhl<br />
und öffentlichen Verkehrsmitteln. Nach weiteren sieben<br />
Jahren folgte dann die in drei Monaten erkämpfte Strecke<br />
auf 2700 Kilometern am Flusslauf bis hoch zum Himalaja<br />
von Kalkutta bis zur Quelle des heiligen Stroms.<br />
Der Plan, dem Ganges konsequent „mit Handbetrieb“<br />
zu folgen, brachte zwangsweise mit sich, dass der Rollstuhl<br />
auf dieser Route die öffentlichen Verkehrsmittel ersetzen<br />
musste. Dafür wurde er umfunktioniert in ein Allzweck-Reisemobil,<br />
extrem stabil, aber trotzdem leicht und faltbar. Mit<br />
dem roten, peppigen und schnittigen Flitzer will Pröve sich<br />
erkennbar distanzieren von Depression und Mutlosigkeit.<br />
Andreas Pröve mit dem Rollstuhl unterwegs,<br />
2700 km von der Mündung bis zur Quelle des Ganges.<br />
Andreas Pröve, Fotograf, Buchautor und Journalist, der<br />
sich den Traum erfüllte, Indien für sich zu entdecken und<br />
hoch im Himalaja Wasser aus der Quelle des Ganges zu<br />
schöpfen, ist querschnittsgelähmt. Er verunglückte 1981<br />
mit seiner Yamaha auf dem Nürburgring. Den Himalaja<br />
bezwang er mit seinem handbetriebenen Rollstuhl.<br />
Beim Kulturforum in Netphen startete der von Fernsehen<br />
und Presse bekannte Reporter im März seine Westfalentournee<br />
mit der faszinierenden Farb-Diaschau „Mein<br />
Traum von Indien“.<br />
In seinem gleichnamigen Buch schildert der Autor unsentimental<br />
und mit großer Erzählkunst neben dem Traum,<br />
den er sich erfüllte, den Albtraum, der vorangegangen war:<br />
„Ich lag hinter der Leitplanke auf dem Rücken und dachte:<br />
wie gut, du bist ja noch da“, beschreibt er sein Gefühl an<br />
dem Tag, der sein Leben grundlegend verändern sollte. „Die<br />
Beine waren weg, ich fühlte sie nicht mehr.“ Der Chefarzt<br />
im Krankenhaus teilte dem Patienten mit, was letzte Hoffnungen<br />
zerstören musste: „Gestern wurde ihr Rückgrat<br />
gestaucht, drei Wirbel sind gebrochen, die Nerven in der<br />
Wirbelsäule getrennt. Sie sind querschnittsgelähmt.“<br />
Ein „Handbike“, das vor den Rolli geschnallt wird, verwandelt<br />
das Gefährt zum Dreirad nach Maß, mit Frontantrieb<br />
und Gangschaltung, bewegt von einer Handkurbel.<br />
Auf engstem Raum, mit zehn Kilo Gepäck, ohne Bremse<br />
und Schutzblech, ist das Rollmobil ein einzigartiges in<br />
zahllosen Abenteuern und Gefahren bewährtes Zuhause,<br />
mit Reparaturwerkstatt, Miniküche und Plumpsklo.<br />
Die Reiseroute führt – im Fluge – über Belgrad und<br />
Istanbul, den Iran und Pakistan nach Kalkutta, der Stadt mit<br />
der größten Flussmündung der Welt. Mit dem akribischen<br />
Blick für das Wesentliche schöpft Pröve seine prallen Szenen<br />
aus dem vollen indischen Leben. Er beschreibt – oft mit<br />
hintergründigem Humor – ein indisches Stimmungsbild,<br />
das die Beschaffenheit des Landes und seiner Menschen,<br />
denen er ganz nahkommt, fast greifbar lebendig macht.<br />
Schockierende Armut wird immer wieder überglänzt von<br />
überschäumender Lebensfreude. Die Bewohner des mit<br />
kärglichen Lehm- und Holzhütten dicht besiedelten Umlands<br />
lieben und verehren den mit Umweltgiften verseuchten<br />
Fluss. Sie sind mit seinem Boden verwurzelt, und sie<br />
glauben zugleich an seine alles bezwingende Heilkraft.<br />
Das Gotteswort kommt da ins Gedächtnis. „Macht Euch<br />
die Erde untertan.“ Was Europäer in ihrer durch und durch<br />
zivilisierten Welt auf ihrem Teil der Erde mit ihren<br />
Ungebrochen bewies Andreas Pröve, dass er Rückgrat<br />
bewahrt hatte. „Es kommt im Leben nicht drauf an, ein<br />
gutes Blatt auf der Hand zu haben, sondern, mit schlechten<br />
Karten gut zu spielen“, sagte er im Gespräch mit dem<br />
durchblick. „Da war die Lähmung und der Rollstuhl, dagegengesetzt<br />
der ganz starke Wille, Barrieren zu überwinden<br />
und zu beweisen, es geht – jetzt gerade und trotz alledem.“<br />
Das ist der Appell des Überlebenskünstlers an Behinderte,<br />
die nicht aufgeben wollen: Träume noch verwirklichen,<br />
auch wenn alle Pläne durch Unfälle, Krankheiten, andere<br />
Schicksalsschläge – oder Nachlassen der Kräfte bei älteren<br />
Menschen – aus dem Gleichgewicht geraten sind. Die<br />
Quellen zur Kraft müssen dabei nicht unbedingt ganz oben<br />
im Himalaja entspringen. Drei Jahre nach dem Unfall brach<br />
Pröve zu seiner ersten Indienreise auf, mit dem Rollstuhl<br />
durchblick 2/<strong>2007</strong> 13
Möglichkeiten verunstalten oder gestalten können, ist vorrangig<br />
vom Gehirn gesteuert. In Indien, das verdeutlicht<br />
Pröve in Schlaglichtern, scheinen alle Sinne der Bewohner<br />
damit beschäftigt, aus dem dicht bevölkerten Stück Erde<br />
– mit dem Ganges als Göttergeschenk – herauszuholen,<br />
was darin steckt, mit Hören, Schmecken, Riechen, Ertasten<br />
und Fühlen.<br />
Das Ganges-Delta, dort, wo der Fluss sich in den Golf<br />
von Bengalen verströmt, war für den Abenteurer der Ausgangspunkt<br />
zum erträumten Ziel. Von der Insel aus, die jährlich<br />
Hundertschaften<br />
von wallfahrenden<br />
Touristen aufnimmt,<br />
rollte er todesmutig<br />
mit seinem Gefährt<br />
in den Ganges, dessen<br />
bisher unerklärliche<br />
Reinigungskraft die<br />
Besucherscharen magisch<br />
anzieht. Eine<br />
Welle, die ihre Brühe<br />
über den Badenden<br />
ergießt, bietet einen<br />
brodelnden, lauwarmen<br />
Schluck als<br />
Kostprobe. Pröve beschreibt,<br />
warum dieser<br />
Teil des Wunschtraums<br />
im Rückblick<br />
zum Albtraum geworden<br />
ist: „Dreihundert<br />
Millionen im Norden<br />
lebende Menschen<br />
leiten ihre Abwasser<br />
Reisen<br />
„Holi-Fest“ der Farben: Hindus zwischen Transzendenz, Musik und<br />
Hingabe, verstecken ihre Kastenunterschiede unter dicken Farbschichten.<br />
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ungeklärt in den Ganges und seine Nebenflüsse.“<br />
Unterwegs, am Flusslauf entlang,<br />
folgt dem Dreirad, wie überall auf den<br />
kommenden Etappen, ein Pulk von Dorfbewohnern,<br />
darunter eine lärmende Kinderschar.<br />
Pröves Behinderung stößt nicht<br />
auf Mitleid und nicht auf Ablehnung. Die<br />
Hindus, die mit ihrem Alltag am Fluss verankert<br />
und am Ufer verwurzelt sind, nehmen<br />
mit kindlicher Neugier auf, was sie<br />
nicht kennen. Der Wunsch des Gastes, ein<br />
Ziel für Extremkletterer mit dem Rollstuhl<br />
zu erzwingen, weckt Staunen und Bewunderung.<br />
Bei der Begegnung mit der Fangemeinde<br />
muss der Rolli-Reisende jedes<br />
Einzelteil der Spezialkonstruktion, die für<br />
die Inder eine Jahrhundert-Entdeckung ist,<br />
erklären.<br />
Ein Fischer bietet ein Nachtquartier in<br />
seiner mit Kokospalmblättern gedeckten<br />
Lehmhütte an. Die Kokospalme nutzt der Inder als Material<br />
für Matten, Einzäunungen und Überdachungen. Siegerländern<br />
würde hier ein Vergleich zur Haubergsnutzung<br />
einfallen.<br />
Im Zimmer ohne Möbel, auf der Erde sitzend, hat sich<br />
die Familie des gastfreundlichen Fischers auf dem Boden<br />
niedergelassen, vor dem mit Autobatterie gespeisten Fernseher.<br />
Die Flimmerkiste, Stolz ihrer Besitzer, bleibt dauerhaft<br />
angeschaltet und bewundert, obwohl es für die ausgediente<br />
Batterie keine Ersatzteile mehr gibt. Zur Nachtruhe<br />
wird dem Gast das Bett der Großfamilie angeboten. Für<br />
die Kinder wird unter dem Bett ein Lager bereitet. Solche<br />
Schilderungen reihen sich in Pröves Veröffentlichungen,<br />
die nicht nur bundesweit bekannt wurden, aneinander und<br />
lassen die Begegnung mit Land und Leuten hautnah greifbar<br />
werden.<br />
Höhepunkte der Traumreise sind die Schilderungen von<br />
Erlebnissen, die Schlaglichter auf die in Kasten aufgeteilte<br />
Gesellschaftsstruktur, Religionsvielfalt, Mentalität und<br />
Kultur werfen. Ein Beispiel gibt Pröves Teilnahme an dem<br />
tumultartigen „Holi-Fest“ der Farben. Da werden Körper<br />
und Gesicht von Hunderttausenden Gläubigen mit dicken<br />
Farbschichten bemalt, wobei ihre Kastenunterschiede<br />
übertüncht und vergessen werden. Fazit des staunenden<br />
Betrachters: „Zwischen Transzendenz, Musik und hemmunsloser<br />
Hingabe verschwimmt die Realität.“<br />
Immer wieder bestechen die Bilder des Fotografen, die<br />
die grandiose Schönheit der Natur so lebendig werden lassen,<br />
wie ihre zerstörerischen Kräfte, die im vergifteten, heiligen<br />
Wasser des Ganges lauern. Pröve berichtet, wie er sich „durch<br />
Zucker- und Reisfelder kurbelt“ und auf vollgestopften<br />
Straßen vor hoch beladenen Ochsenkarren, bedrohlichen<br />
Militärlastern, Straßenräubern, Hundertschaften<br />
14 durchblick 2/<strong>2007</strong>
Reisen<br />
Ein faszinierender Höhepunkt seiner Traumreise: Hunderttausende Gläubige<br />
stürzen sich in die schmutzigen Fluten des Ganges.<br />
von Ratten oder tief kreisenden Geiern flüchtet. Der Überlebenskünstler<br />
stellt fest: „Meine letzten funktionierenden<br />
Gliedmaßen müssen unversehrt bleiben. Ohne fremde Hilfe<br />
geht sonst nichts mehr.“<br />
Bevor Pröve die letzte Strecke zur Gangesquelle bewältigt,<br />
wird noch als ein faszinierender Höhepunkt das<br />
größte Badefest der Welt „Kumbh Mela“ zum Schauplatz<br />
gemacht. „Die Stadt Haridwar ist mit zehn Millionen Menschen<br />
um das Fünffache ihrer Einwohnerzahl angewachsen.<br />
In einem von Astrologen errechneten Moment stürzt<br />
sich eine riesige Menschenmenge in religiöser Verzückung<br />
in die Fluten. Sie tauchen fünf Mal auf und nieder, womit<br />
ihnen die Sünden vieler Lebenszeiten von Mutter Ganga<br />
für immer genommen sind.“<br />
Dass Behinderte trotz Willenskraft und Eigeninitiative,<br />
Kreativität und Lebensmut immer wieder auf die<br />
Hilfe anderer angewiesen sind, das ist auch am Beispiel<br />
des rollenden Reisenden zu erkennen. Als er auf einsamer<br />
Strecke in bergiger Landschaft in einem Schlagloch landet<br />
und das Rahmenrohr des Rollstuhls bricht, bringt nach<br />
schmerzvollem Ausharren ein Ochsenkarren die Rettung.<br />
Was geschehen kann, wenn Hilfe in solchen Notsituationen<br />
ausbleibt, nennt der Weltenbummler „Restrisiko“.<br />
Dass ein junger Inder, der ein Freund wird, sich entschließt,<br />
das Abenteuer – mal mit dem Taxi, mal mit dem<br />
Zug – zu verfolgen und schließlich auch den Endspurt<br />
zur Gangesquelle gemeinsam zu bewältigen, ist für Pröve<br />
eine unschätzbare Hilfe und menschliche Bereicherung<br />
zugleich.<br />
Er schildert in seinem Buch<br />
seine Versuche, in einem Schneckentempo,<br />
das der Tacho nicht<br />
messen kann, den Himalaja auch<br />
im Endspurt mit den Armen zu bezwingen.<br />
Die Quelle des Ganges<br />
auf 4000 Metern Höhe, über einer<br />
riesigen Lawine von abgebrochenem<br />
Geröll, verweigert sich<br />
jedoch diesem Wunsch.<br />
Im Huckepack zur Quelle<br />
Die Vorstellung, Rollstuhl<br />
und Fahrer über die Lawine<br />
hinwegzutragen, scheint die einzige<br />
Möglichkeit, zum Ziel zu<br />
kommen. Das bleibt jedoch zunächst<br />
Illusion. Für die spontan<br />
zusammengestellte kleine Begleittruppe,<br />
bestehend aus sechs<br />
trainierten Trägern (Sherpas), die<br />
mehrere pralle Säcke Gepäck über<br />
das etwa 50 Meter hohe Hindernis<br />
zu wuchten haben, ist der letzte<br />
Anstieg eine nicht ungewohnte<br />
Herausforderung. Ein per Hand gekurbelter Rollstuhl ist<br />
jedoch mit solcher Leistung überfordert.<br />
Der Vorschlag kommt von den Sherpas: „Huckepack<br />
zur Quelle“. Pröves Protest verhallt. Die Männer, die gewöhnt<br />
sind, von Touristen mit luxuriösem Gepäck Transportbefehle<br />
zu erhalten, geben bei so viel Durchhaltevermögen<br />
nicht auf.<br />
Bei der letzten Etappe wird der Rollstuhl auseinandermontiert.<br />
Was übrig bleibt, wird zu einer Sänfte umgebaut.<br />
Die Sherpas erklettern steile Trampelpfade mit ihrer zusammengeschnürten,<br />
lebendigen Last in der Sänfte, schlagen<br />
ihre Spitzhacken in Gletschereis. Als letzte Hürde wird eine<br />
über Abgründen klaffende steile Felswand überwunden.<br />
Der Rollstuhlsitz, an seinen vier Ecken mit Seilen befestigt,<br />
wird in die Höhe gezogen. Andreas Pröve schwebt mitten<br />
hinein in seinen Traum. Nun – endlich – geschafft!<br />
Am Fuß des siebentausend Meter hohen Baghirari-<br />
Berges, dessen Gipfel sich majestätisch vor dem erschöpften<br />
Team erhebt, entspringt der Ganges. Zwischen<br />
Felsbrocken quillt der Fluss unter dem Eis hervor. Eine<br />
Handvoll glitzernd klares Gangeswasser, in eine Filmdose<br />
gefüllt, ist für Andreas Pröve „das schönste Andenken“ an<br />
diesen Augenblick der Erfüllung.<br />
Die Quelle selbst, das Ziel wurde erobert. Und am Ende<br />
steht die Erkenntnis: „Nicht das Ziel macht den Wert der<br />
Reise aus, sondern der erkämpfte Weg dahin.“<br />
Maria Anspach<br />
durchblick 2/<strong>2007</strong> 15
Kultur<br />
Selbst Max Schmeling liebte Sigis Küstenlandschaften<br />
Die Bilder Reich an der Stolpes zeichnen sich durch Surrealistisches und gewaltige Farbkluften aus.<br />
Sie sprechen Gewühlswelten an.<br />
Tochter und Schwiegersohn plaudern<br />
in Wehbach über ihren berühmten Vater:<br />
Siegfried Reich an der Stolpe<br />
Das Haus liegt am Hang in Wehbach. Ein bisschen<br />
zurück. Es ist ein altes Haus. Die Ziegel haben zig Jahre<br />
auf dem Buckel. Ein schönes Haus. Mit viel Geschichte<br />
im Mauerwerk. Winklig ist das Haus. Und drinnen gibt es<br />
viel zu sehen. Beispielsweise einen Flügel, ein Keyboard<br />
und viel erlesene Kunst. Es gibt auch viel zu hören. Zum<br />
Beispiel Geschichten. Eine ganze Menge sogar. Wie jene<br />
von Sigi …<br />
Sigi ist berühmt. Da müssen Alben herbei, Fotos, teilweise<br />
zerknittert, angegilbt. Herbei müssen auch Presseberichte,<br />
Kunstkataloge, Fachgazetten. Beatrice und Klaus<br />
Schneider zeigen alles und sie erzählen dazu die Geschichte<br />
von Sigi – dem Maler.<br />
Im November 2001 legte Sigi den Pinsel für immer<br />
aus der Hand. Er trat ab von dieser Welt. Einer der großen<br />
Gegenwartskünstler. Ein Stilpräger. Ein charismatischer<br />
Künstler ist gegangen. Die Erinnerungen, die bleiben.<br />
Bei dampfendem Kaffee, der die Lebensgeister zur<br />
abendlichen Stunde weckt, wird die Geschichte vom Sigi<br />
aufgeblättert. In Wort und Bild. Nicht ganz einfach. Sigis<br />
Geschichte ist kompliziert. Und lang. Die chronologische<br />
Ordnung schält sich langsam heraus. Nun, das ist meistens<br />
so, wenn es um große Persönlichkeiten mit eng geschriebenem<br />
Lebenslauf geht.<br />
Am Ende steht dann fest: Der Sigi heißt nicht einfach<br />
Sigi, sondern hat einen langen Namen, unter dem ihn die<br />
kunstinteressierte Welt kennt: Siegfried Reich an der Stolpe.<br />
Beatrice ist eine seiner Töchter. Sie gibt Ballettunterricht.<br />
Ihr Mann Klaus ist privater Klavierlehrer.<br />
Also, der Sigi heißt eigentlich nur Reich. 1912 kommt<br />
er in einem verschlafenen Nest zur Welt. Stolp heißt es, und<br />
in Pommern liegt es. Das Nest liegt direkt an einem kleinen<br />
Flüsschen, das den Namen Stolpe trägt.<br />
An der Wiege seines künstlerischen Schaffens stehen<br />
Georg Grosz und Max Pechstein. Auch Schmitt-Rottluff<br />
beeinflusst Reich, der relativ schnell zu einem eigenen Stil<br />
findet. Klaus Schneider über seinen Schwiegervater: „Er<br />
nannte seinen Stil Emotionalismus.“<br />
Für Furore sorgt Reich an der Stolpe schnell. Kritiker<br />
erwähnen ihn in einem Atemzug mit Pechstein und eben<br />
Schmitt-Rottluff.<br />
In den 30er-Jahren kauft ihm Deutschlands berühmtester<br />
Boxer, Max Schmeling, ein Konvolut von Grafiken ab.<br />
Bevorzugte Motive: Küstenlandschaften, Meereswogen,<br />
Brandungen.<br />
Beatrice und Klaus Schneider sind sich einig: „Wichtiger<br />
und prägender als alle akademischen Ausbildungen<br />
und Studien waren für Sigi die Freundschaften mit und zu<br />
anderen Künstlern, beispielsweise zu Käthe Kollwitz.“<br />
Unter dem Hitler-Schreckensregime gelten seine Werke<br />
als entartete Kunst. Siegfried Reich an der Stolpe lebt in der<br />
brodelnden Metropole Berlin. Er führt unter dem wahnwitzigen<br />
Hitler-Regime ein Nischendasein. Wie viele Künstler<br />
in diesen „entarteten“ Zeiten.<br />
Und dann kommt einer der schwärzesten Tage im Leben<br />
des begnadeten Künstlers: Im irrsinnigen Bombenhagel<br />
geht sein Berliner Atelier zu Bruch. Fassungslos steht<br />
Reich an der Stolpe vor den Trümmern seines Domizils<br />
und seines Schaffens.<br />
Unterkriegen lässt er sich nicht. Jahre später fasst der<br />
Kriegsheimkehrer in Frankfurt Fuß. Sein Bekanntheitsgrad<br />
wächst. Seine Werke werden z. B. neben denen von<br />
16 durchblick 2/<strong>2007</strong>
Karl Hartung gezeigt. Reich an der Stolpe entwirft<br />
in seinem enormen Schaffensdrang ein<br />
„Manifest“ für eine Veranstaltungsreihe mit<br />
Themen aus Literatur, Malerei und Musik.<br />
– Deutschland in Trümmern. Die ersten Sekunden<br />
der Stunde Null ticken. Reich an der Stolpe<br />
weiß eines genau: Du musst der zerbombten und<br />
zersplitterten Realität ins Auge sehen und dabei<br />
den Blick auch fest auf die Zukunft richten. Nur,<br />
wie sieht die aus? Das weiß niemand zu sagen.<br />
Unsicherheiten und Ängste begleiten auch das<br />
künstlerische Streben.<br />
Klaus Schneider: „Imagination kommt ins<br />
Spiel.“ Sigis Bilder nehmen abstrakte Züge an.<br />
Das Ehepar Schneider legt Dokumente aus dieser<br />
Zeit vor. Drucke und Originale. Die Wiedergeburt<br />
der Farbe. Das Ansprechen der Gefühle.<br />
Und auch: Reichs Auseinandersetzung mit Paul<br />
Klee. Irgendein Kritiker schreibt damals etwas<br />
von Reichs „real-abstrakten Arabesken“.<br />
Als in Paris die Gruppe „Cobra“ (das steht<br />
für die drei Städte Copenhagen, Brüssel und Antwerpen)<br />
von damaligen Avantgardisten gegründet wird, ist<br />
Reich an der Stolpe neben Karl Otto Götz einer der ersten<br />
Deutschen, die Einladungen erhalten. Reich wird später für<br />
diese Gruppe mit prägend.<br />
Reichs Emotionalismus gewinnt immer mehr an Ausdruck<br />
und Form. Etwas Unverkennbares und Einmaliges<br />
lebt sich in seinen Werken aus: Surrealistisches mit gewaltigen<br />
Farbkluften ist vorherrschend. Daneben auch: überaus<br />
sensible Anordnungen und Arrangements. Die meisten<br />
seiner Bilder stürmen regelrecht auf den Betrachter ein,<br />
fordern ihn heraus – zu Zustimmung und Widerspruch.<br />
Kultur<br />
Beatrice und Klaus Schneider plaudern in ihrem Wehbacher<br />
Haus über den berühmten Maler Siegfried Reich an der Stolpe.<br />
Und immer sprechen sie Gefühlswelten an. Siegfried Reich<br />
an der Stolpe, der im Benelux-Raum auch eine Ausstellung<br />
mit Miró bestritt, war auch noch im hohen Alter von<br />
fast 90 Jahren immer einer der Leute, die sich aus dem<br />
Mainstream (Hauptstrom) regelrecht verdünnisierten, um<br />
Eigenständigkeit zu bewahren.<br />
Siegfried Reich an der Stolpe und seine Familie hatten<br />
ihre Zelte im spanischen Altea aufgeschlagen. Nach seinem<br />
Tod im Jahre 2001 siedelte seine Frau ebenfalls nach<br />
Kirchen-Wehbach um. Dem Ort, in dem Tochter Beatrice<br />
und Schwiegersohn Klaus leben. Der Siegener Maler Uwe<br />
Pieper, der ebenfalls in Altea Entspannung sucht und<br />
Museum für<br />
Gegenwartskunst<br />
Siegen<br />
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Sigmar Polke<br />
11. Rubenspreis<br />
24. Juni bis 16. September <strong>2007</strong><br />
durchblick 2/<strong>2007</strong> 17
in enger Nachbarschaft zu den Reichs wohnte, schätzt den<br />
Sigi sehr und findet ein dickes Lob: „Ein echter Individualist<br />
– einer der ganz großen Gegenwartskünstler.“<br />
Das dokumentierte sich auch darin: 1996 erhält Siegfried<br />
Reich an der Stolpe den Lovis-Corinth-Preis. Diese<br />
hohe Auszeichnung wird ihm verliehen von der Künstlergilde<br />
Esslingen und dem „Museum Ostdeutsche Galerie<br />
Regenburg“.<br />
Reich an der Stolpe sagte einmal: „Ein Bild ist Handschrift.<br />
Die zeitliche Bindung liegt nicht in der Illustration<br />
der Umwelt, sondern im seismografischen Aufzeichnen der<br />
innersten Schwingungen des kosmischen Geschehens.“<br />
Kultur<br />
Solche Sätze muss man wirken lassen. Das Begreifen<br />
des Gesagten geht relativ schnell über die Bühne. Aber:<br />
Das Erspüren, das innere Nachvollziehen eines derartigen<br />
Zeugnisses muss nicht hier und jetzt bei der dritten Tasse<br />
Kaffee – so gegen 22.50 Uhr – bei Schneiders stattfinden.<br />
Später in der Nacht vielleicht? Morgen? Oder nie? Wie<br />
wichtig ist das überhaupt?<br />
Übrigens organisierten die Schneiders kürzlich eine viel<br />
beachtete Ausstellung in der kleinen Freudenberger Galerie.<br />
Im „Alten Flecken“ gab sich zu diesem Anlass die<br />
Kunstwelt ein Stelldichein. Eine hochkarätige Ausstellung<br />
in kleinerem Rahmen. Vielleicht halten die Werke Siegfried<br />
Reichs an der Stolpe bald Einzug in andere Kulturstätten<br />
im Siegerland. Beispielsweise unter dem Siegener<br />
Krönchen. Das wär’s doch!<br />
Siegfried Reich an der Stolpe in seinem Atelier im<br />
spanischen Altea.<br />
Kurz vor Weihnachten des Jahres 1997 schreibt Siegfried<br />
Reich an der Stolpe anlässlich der Veröffentlichung<br />
des Kataloges „S. Reich a. d. Stolpe – Arbeiten/Obras<br />
1945–1997“ ein paar Sätze, die sein gesamtes Werk charakterisieren:<br />
„In meiner Kindheit und Jugend liegen die<br />
ersten Beobachtungen und Erkenntnisse in der Natur, die<br />
später Basis in der Vielfalt meines Schaffens wurden. Die<br />
Naturgeschehnisse bleiben der Urgrund meiner künstlerischen<br />
Ideen, die zum Bild führen. Das sind schöpferische<br />
Verkopplungen in sensibler und konstruktiver Form oder<br />
dynamischer Emotion. Die Idee, eine geistige und noch<br />
unfertige Vorstellung, ist die Geburt eines Bildes – ähnlich<br />
einer Befruchtung aus einem dunklen amorphen Urgrund<br />
bis hin zu mehr und mehr sichtbarem Licht. Gestaltformen<br />
und Farben verbinden sich zum Bild. Die Natur zeigt sich<br />
im Wachsen, Werden und Vergehen bis zum Zerfall (Geburt<br />
und Tod). Auch im Bild finden wir Ordnung, Komposition,<br />
auch Unordnung, Zerfall und wieder Aufbau. C’est la vie!<br />
– Viele Fakten, Möglichkeiten der Gestaltung, neue Mittel<br />
– Es bewegt sich etwas hin zum Bild. Meine Gestaltformen<br />
im Bild: Neuerleben und Anregungen von Objekten, Fundstücken<br />
verschiedenster Materialien, dynamisch emotional,<br />
dann Farbe, Tusche, Leinwandformate, Druckpapier<br />
– im Bildformat beginnt eine neue Phase des Farb-Form-<br />
Erlebnisses.“<br />
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18 durchblick 2/<strong>2007</strong>
Es war ein ziemlicher Skandal, als einzelnen Ärzte Mitte<br />
der 70er-Jahre betrügerische Abrechnungen nachgewiesen<br />
werden konnten. Die Ärzte hatten eine Bezahlung angeblich<br />
erbrachter Leistungen gefordert. Damals habe ich meine<br />
Krankenkasse um Kopien der mich betreffenden Arztrechnungen<br />
gebeten. Die Reaktion des zuständigen Sachbearbeiters<br />
verstehe ich zwar immer<br />
noch nicht („Dadurch würde nur<br />
das Vertrauensverhältnis zwischen<br />
Arzt und Patient gestört“),<br />
habe aber inzwischen begriffen,<br />
dass meine Frage ebenso naiv<br />
war wie die Antwort. Denn 1.<br />
kann ein Patient im herkömmlichen Abrechnungssystem<br />
nichts prüfen und 2. spielt das Patient-Arzt-Verhältnis in<br />
unserem Gesundheitssystem sowieso nur eine untergeordnete<br />
Rolle.<br />
Aber jetzt stehen wir am Beginn einer neuen Welt; mit<br />
der geplanten Einführung der elektronischen Gesundheitskarte<br />
(eGK) sind große Versprechen verbunden. Die eGK<br />
folgt der 1994/95 eingeführten Krankenversicherungskarte,<br />
die heute von 90 % der Bevölkerung benutzt wird. In<br />
einem ersten Schritt, ab Juni <strong>2007</strong>, soll die Möglichkeit geschaffen<br />
werden, alle „administrativen“ Daten eines Menschen<br />
auf seiner eGK zu speichern, als da sind: Alter, Name,<br />
Anschrift, Krankenkasse, Geburtsdatum, Geschlecht,<br />
Passbild usw. Gleichzeitig ist mit der eGK die Möglichkeit<br />
gegeben, auf ein Computernetzwerk zurückzugreifen. Ziel<br />
ist es, rund 80 Mio. gesetzlich und privat Versicherte mit<br />
neuen Chipkarten auszustatten und etwa 123.000 Arztpraxen,<br />
21.500 Apotheken, 2.200 Krankenhäuser und 300<br />
Krankenkassen miteinander zu vernetzen.<br />
Das alles beeinträchtigt noch niemanden – abgesehen davon,<br />
dass die Verwendung digitalisierter Passbilder äußerst<br />
bedenkliche Möglichkeiten der Überwachung zulässt.<br />
Gesundheitspolitik<br />
Risiken und Nebenwirkungen<br />
Werden Computerexperten zu<br />
Agenten im Gesundheitswesen?<br />
Hier geht es um die Finanzierung der Karten, der Lesegeräte<br />
und der technischen Infrastruktur in den Arztpraxen<br />
und Krankenhäusern. Alle Vorgänge müssen elektronisch<br />
signiert werden, wodurch zusätzliche Kosten entstehen.<br />
Das Bundesgesundheitsministerium erwartet, dass die<br />
Kosten im Wesentlichen von Ärzten,<br />
Apothekern und Krankenkassen aufgebracht<br />
werden. Allerdings könnte<br />
dies zu einer Beitragssatzsteigerung<br />
führen.<br />
Es bleibt unklar, wer alles Zugang<br />
zu den gespeicherten Daten hat bzw. ob der unberechtigte<br />
Zugriff verhindert werden kann. Das Interesse<br />
daran ist jedenfalls groß. Werden Computerexperten zu den<br />
eigentlichen Agenten im Gesundheitswesen? Kann ich als<br />
Bürger und Patient verhindern, dass ich einen gläsernen<br />
„Datenkörper“ habe? Im Blick auf die Strukturen unseres<br />
Gesundheitswesens sind gewisse Ängste begründet. Diese<br />
Einschätzung wird von vielen Ärzten geteilt. Sie sehen in<br />
der eGK weniger das Hilfsmitteln, sondern vor allem den<br />
Versuch der mächtigen Gesundheitsverbände, die Patienten<br />
und Heilberufler einer Doppelkontrolle zu unterwerfen.<br />
Erich Kerkhoff<br />
Kritisch ist ein zweiter Schritt zu sehen. Dann werden<br />
elektronische Rezepte auf der Karte gespeichert und außerdem<br />
sollen die Menschen in Deutschland überzeugt<br />
werden, sensible Daten auf ihrer eGK speichern zu lassen.<br />
Den Vorstellungen des Gesundheitsministeriums zufolge<br />
können auf diese Weise Kosten in Milliardenhöhe eingespart<br />
werden. Beispielsweise durch das Speichern von<br />
Untersuchungsdaten, um überflüssige Doppeldiagnosen zu<br />
vermeiden. Oder durch das elektronische Rezept und den<br />
elektronischen Arztbrief.<br />
Die geschätzten Gesamtkosten des Projekts „Einführung<br />
einer Gesundheitskarte“ liegen zwischen 1,4 und 1,7<br />
Mrd. Euro. Doch es gibt bereits Mahnungen, dass die Einführung<br />
eher 4 bis 7 Mrd. Euro verschlingen wird. Also<br />
ein Fünffaches. Zudem sollen die Betriebskosten bereits<br />
im ersten Jahr zwischen 120 und 150 Mio. Euro betragen.<br />
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durchblick 2/<strong>2007</strong> 19
Irma und Doris Bernsdorf saßen sich auf der Terrasse<br />
des Vorstadthäuschens gegenüber, das sie von Tante Else<br />
geerbt hatten. Sie waren zwei ungleiche Schwestern: Irma<br />
etwas mollig, mit Wuschelkopf und Grübchen, war immer<br />
bereit, sich für irgendetwas und irgendjemand einzusetzen.<br />
Doris, schwarzgelockt, schlank und elegant, blieb im Bezug<br />
auf die Einsatzbereitschaft für ihre Umwelt eher etwas<br />
zurückhaltend. Die Schwestern hatten mehrere Jahre wenig<br />
Kontakt zu einander gehabt. Das sollte nun anders werden<br />
durch Tante Elses Haus. Die beiden waren die einzigen<br />
Erben der Tante, außer einem ihnen unbekannten Mann,<br />
den der Testamentsvollstrecker im Gefängnis aufsuchen<br />
musste. Ihm hatte die alte Dame ihr restliches Vermögen<br />
vermacht, eine stattliche Summe, die den Wert des kleinen<br />
Häuschens überstieg. Irma beschäftigte eine Frage, die ihr<br />
nicht aus dem Kopf gehen wollte:<br />
„Ich möchte doch zu gerne wissen, warum Tante Else<br />
ihr gesamtes Geld einem Sträfling vererbt hat. Du weißt,<br />
wir brauchen es nicht, aber erfahren möchte ich doch, was<br />
die Tante mit diesem Menschen verbunden hat.“<br />
„Hör doch endlich auf und lass Tantchen ihr Geheimnis“,<br />
antwortete die Schwester lachend. „Entweder hat sie<br />
einen sozialen Tick gehabt oder eine große Liebe, die auf<br />
Abwege geraten ist.“ Irma musste der Schwester recht geben.<br />
Sie selbst hatte die Tante das letzte Mal vor 15 Jahren<br />
gesehen. Bei Doris war es wohl ähnlich, ihr Interesse an<br />
Tantes Geheimnis war noch nie groß gewesen.<br />
Aber Irma ließ nicht locker: „Sag mal Doris, erinnerst<br />
du dich noch an den Jungen, den die Tante bei sich aufge-<br />
Marias Krimi<br />
Tante Elses Geheimnis<br />
Vor Tante Elses vererbtem Häuschen kommen sich die<br />
Schwestern Irma und Doris Bernsdorf näher.<br />
nommen hat, als wir Kinder waren? Ich glaube,<br />
er war der Sohn einer verstorbenen Freundin. Er<br />
muss längere Zeit bei der Tante gelebt haben. Dann<br />
gab es einen großen Streit. Ich erinnere mich jetzt,<br />
dass sie einmal schrieb, der Junge sei für immer<br />
fort, und er sollte nie mehr erwähnt werden. Vielleicht<br />
ist er der Sträfling.“<br />
„Du hast verrückte Ideen“, konterte Doris. Der<br />
Sträfling heißt Fritz Braumann und ist ein bekannter<br />
Einbrecher, Dauergast im städtischen Knast.<br />
Sein Bewährungsgesuch wurde jetzt gerade wieder<br />
abgeschmettert, das stand in der Zeitung. Du<br />
glaubst doch nicht, dass ein Pflegekind unserer<br />
sanften Tante ein Verbrecher geworden ist.“<br />
Als Irma die Kaffeetassen abräumte, war ihr<br />
Entschluss gefasst. „Ich mache noch ein paar Besorgungen“,<br />
rief sie der Schwester zu. Doris sollte<br />
von ihrem Plan nichts wissen, sie würde kaum Verständnis<br />
dafür aufbringen. Irma nahm den von Doris<br />
mit ins Haus gebrachten, riesigen Bernhardiner<br />
Pluto an die Leine, der auch ihr treu ergeben war,<br />
und machte sich auf den Weg. Eine Stunde später<br />
saß sie in einem beklemmend engen, vergitterten Raum<br />
der Strafanstalt einem kleinen, hageren Mann gegenüber.<br />
Verlegen quetschte sie das große Kuchenpaket an sich, das<br />
sie mitgebracht hatte und wagte den Einstieg ins Gespräch:<br />
„Herr Braumann, verstehen Sie mich bitte nicht falsch. Ich<br />
bin die Nichte von Frau Bernsdorf.“ Der spürbar erregte<br />
Häftling unterbrach sie barsch mit einem Wortschwall:<br />
„Wenn Sie das Geld zurückhaben wollen, das können Sie<br />
haben. Ich will es nicht. Ich will mein Recht. Ihre Tante<br />
wusste genau, wer der Mörder ist. Sie wollte den Schuft<br />
nur decken, der seine Frau erschossen hat. Bestimmt hat<br />
Michael Brückner die Frau selbst umgelegt, die nachts die<br />
Treppe herunterkam, als er mich im Laden erwischte. Ich<br />
war es nicht – Basta.“<br />
Alles drehte sich jetzt in Irmas Kopf: Michael Brückner,<br />
das war der Name des Jungen, den die Tante damals bei<br />
sich aufgenommen hatte. Niemals würde ihre Tante dem<br />
Mann ein Vermögen hinterlassen haben, der die Frau ihres<br />
Pflegesohns erschossen hatte. Es gab da wirklich nur eine<br />
Erklärung. Tante Else wusste um die Schuld des Juweliers<br />
und wollte ihr Gewissen erleichtern mit der Erbschaft für<br />
den unschuldig Verurteilten. Irma drückte dem Gefangenen<br />
die Hand und sprudelte heraus: „Verlassen Sie sich<br />
darauf, ich werde Ihnen helfen. Ganz bestimmt muss man<br />
sie freilassen.“<br />
Auf der Straße eilte Irma zum nächsten Telefonhäuschen<br />
und blätterte im Fernsprechbuch. „Michael Brückner,<br />
Juwelier, Steinstraße 29“. Das genügte. Mit ihrem kleinen<br />
Sportwagen hatte sie den eleganten Laden im Stadt-<br />
20 durchblick 2/<strong>2007</strong>
Marias Krimi<br />
zentrum schnell erreicht und stand atemlos dem Juwelier<br />
gegenüber. Das schmale Gesicht mit den großen, ernsten<br />
Augen erinnerte sie an einen Schuljungen, den sie vor langer<br />
Zeit gekannt hatte.<br />
Ihre Worte entsprachen nicht den überlegten Sätzen,<br />
die sie unterwegs eingeübt hatte: „Ich war gerade bei dem<br />
Mann, der für Sie im Gefängnis sitzt. Meine Tante Else<br />
Bernsdorf muss gewusst haben, dass Sie Ihre Frau erschossen<br />
haben. Aber der Unschuldige will das Geld nicht. Er<br />
will sein Recht.“<br />
Für einen Moment schien Michael Brückner um Fassung<br />
zu ringen, aber dann wich der wirre Ausdruck in seinem<br />
Gesicht einem höflichen Lächeln. Sein Stimme klang<br />
ruhig und sachlich: „Sie irren sich, meine Frau ist von dem<br />
Einbrecher erschossen worden. Das wurde klar bewiesen.<br />
Warum Ihre Tante, der ich auch viel zu verdanken habe,<br />
sich um ihn gekümmert hat, begreife ich nicht. Aber bitte,<br />
es ist mir schmerzlich diese Dinge wieder aufzurollen. Wir<br />
haben uns nichts mehr zu sagen.“<br />
Abrupt wandte sich Irma zum Gehen. Für sie war der<br />
Fall klar, aber wie sollte sie jemals Beweise finden. Und<br />
warum hatte Michael Brückner seine Frau erschossen? Voller<br />
Unruhe fuhr Irma nach Hause. Der Wunsch, von dem<br />
Mann, der sie so hart abgewiesen hatte, die Wahrheit zu<br />
erfahren, trieb sie zurück ins Stadtzentrum. Seltsam, auch<br />
Doris war fortgegangen, obwohl sie nichts von solcher Absicht<br />
gesagt hatte. Pluto, der sanfte „Höllenhund“, blieb an<br />
Irmas Seite und nahm ihr etwas von ihrer Angst.<br />
Das Juweliergeschäft war jetzt geschlossen. Irma ging<br />
hinter das Haus, wo eine Treppe zu einer leicht angelehnten<br />
Tür führte. Deutlich hörte sie die Stimme Brückners und<br />
versuchte, den Sinn seiner Worte zu verstehen. „Sie war<br />
vorhin hier,“ stieß der Juwelier aufgeregt hervor. „Sie hält<br />
mich für den Mörder. Ich habe damals meine hinter der<br />
Kasse liegende Waffe verschwinden lassen und niemand<br />
gesagt, dass du<br />
geschossen hast.<br />
Dich hatte niemand<br />
gesehen,<br />
auch der Einbrecher<br />
nicht, der auf<br />
der Flucht festgenommen<br />
wurde<br />
und für die Polizei<br />
der Täter war.“<br />
Michael Brückner<br />
steigerte sich<br />
zu höchster Erregung,<br />
als er fortfuhr:<br />
„Als meine<br />
Frau damals plötzlich<br />
vor dir stand,<br />
weil sie Lärm gehört<br />
hatte, hast du<br />
die Gelegenheit<br />
genutzt und sie<br />
getötet.“ Bei den<br />
Warum vermachte Tante Else ihr<br />
Vermögen einem Strafgefangenen?<br />
folgenden Worten versagte die Männerstimme fast: „Auch<br />
meine Liebe zu dir ist tot. Ein Mann hat 15 Jahre für deine<br />
Schuld gebüßt. Du wirst dich der Polizei ...“ Die Stimme<br />
verstummte.<br />
Die vor Angst zitternde Irma hatte nur einen Gedanken.<br />
Jetzt musste sie etwas tun. Sie zog den Hund vor den Türspalt<br />
und rief: „Fass, Pluto, fass.“ Der Hund stürzte ins Zimmer.<br />
Dann hörte Irma ein lautes freudiges Winseln. Als sie<br />
Pluto folgte, sah sie, dass ihre Schwester Doris gerade eine<br />
kleine, silberne Pistole an ihre Schläfe drückte. Nun begriff<br />
sie das Geheimnis der Tante. Als die beiden Frauen zum<br />
Polizeirevier fuhren, wühlte Doris den Kopf schluchzend in<br />
das dichte Fell des treuen Bernhardiners. Maria Anspach<br />
durchblick 2/<strong>2007</strong> 21
Erotik und Sexualität im Alter – ein Tabubruch – in der<br />
Generation meiner Eltern noch degoutant, abartig, verpönt,<br />
in der klassischen Literatur nicht der Stoff, aus dem die<br />
Träume sind. Dem Thema näherte man sich in den letzten<br />
Jahren zaghaft, so, als befürchte man, damit immer noch<br />
aus der Zeit zu fallen. Die Bücher flossen überwiegend aus<br />
den Federn weiblicher Autoren. Doch langsam hat auch<br />
die literarische Altherrenriege Geschmack gefunden an der<br />
Brisanz des Stoffes. Es ist wie<br />
ein Dammbruch. Vielleicht ist<br />
heute im alternden Menschen<br />
der Mut und die Kraft zur<br />
Wahrhaftigkeit stärker. Das<br />
allgemeine Interesse an der<br />
älteren Generation ist gewachsen,<br />
sowohl in positiver als<br />
auch in negativer Richtung. Sie<br />
hat sich aus ihrem Schattendasein<br />
herauskatapultiert und ist,<br />
neben den Kinderkrippen, auch<br />
vorherrschendes politisches<br />
Kalkül. Die Alten werden in<br />
so viele Nischen gepresst und<br />
bekommen so viele Etiketten<br />
verpasst, dass sie immer mehr<br />
zu Exoten mutieren.<br />
Das vorherrschende Klischee<br />
war immer: Ein Mann<br />
mit angegrauten Schläfen wird<br />
erst richtig interessant, aber eine<br />
Frau mit schütterem grauen<br />
Haar ... Doch liest man Martin<br />
Walser, Botho Strauß oder auch<br />
Hellmuth Karasek, ist es eine<br />
andere Melodie, die in ihren<br />
Bekenntnissen anklingt.<br />
Das Glücksangebot jagt<br />
den Menschen ein Leben lang<br />
durch das seelische Elend,<br />
welches in der stets von neuem<br />
verunglückenden Verständigung mit dem anderen<br />
sein Spiel treibt.<br />
Manchen Frauen tut das Altwerden Gewalt an. Schon<br />
sehr oft hat es mich schmerzhaft berührt, wenn ich auf<br />
Hochzeitsfotos strahlende Schönheiten gesehen habe und<br />
dann vergegenwärtigen musste, was davon übrig geblieben<br />
war. Viele ältere Frauen verweigern sich einer neuerlichen<br />
Liebesbeziehung, nicht nur lustige Witwen. Auf die Frage,<br />
warum, bekommt man oft die nichtssagende Antwort:<br />
Ich möchte nicht noch einmal die Socken eines anderen<br />
Buchbesprechung<br />
Die Klatschmohnfrau<br />
Das hohe Lied der Liebe<br />
„Die Klatschmohnfrau“ 174 Seiten. Erschienen bei<br />
Kiepenheuer und Witsch, Köln, 7,90 EUR<br />
waschen oder: Vielleicht wird er dann bald ein Pflegefall.<br />
Würde nur einmal die Ästhetik erwähnt, dann könnte ich<br />
es nachvollziehen, obwohl ich weiß, dass Ästhetik nicht<br />
gleich Erotik ist. Der körperliche Verfall – es braucht Mut,<br />
um weiterzumachen. Und wenn sich dann noch ein Mann<br />
für einen interessiert, multipliziert sich der Makel und<br />
verlängert den Schatten. Mich spaltet das Alter, ich muss<br />
immer wieder den Bezug zu mir selbst herstellen, zu der<br />
Frau, die ich einmal war.<br />
Und dann kommt so eine<br />
Geschichte daher, federleicht,<br />
anrührend, verführerisch.<br />
Aller Ballast abgeworfen.<br />
Geschrieben hat sie Noëlle<br />
Châtelet. Im Vorspann lese<br />
ich: in Deutschland würde<br />
man den Roman nicht als anspruchsvolle<br />
Literatur werten,<br />
in Frankreich sei das anders.<br />
Der Roman sei stilistisch sicher<br />
geschrieben und sehr<br />
genau durchkomponiert. Die<br />
weibliche Hauptfigur durchlebt<br />
eine Metamorphose. Ohne<br />
kritische Distanzierung werden<br />
Leidenschaft und gelebte<br />
Sexualität als reale und beglückende<br />
Anteile des Lebens<br />
alter Menschen akzeptiert<br />
und als berechtigter Anspruch<br />
gegenüber gesellschaftlichen<br />
Normen gesehen.<br />
Marthe gelingt , was ich einen<br />
Spagat nennen würde. Nun<br />
ist sie der Kindchentyp (nicht<br />
die Kindfrau Lolita), für meine<br />
Empfindungen sehr schlicht.<br />
Sie tritt aus einem Einband<br />
mit üppigem Klatschmohn<br />
hervor. Wir lernen sie kennen<br />
in ihrem Schlafzimmer aus verblichenem Beige. Die<br />
70-Jährige öffnet die Augen, sortiert ihre schmerzenden<br />
Gelenke, seufzt (sie nennt Seufzer Windstöße der Seele),<br />
schlüpft in ihren Morgenmantel aus rotem Satin und begibt<br />
sich in ihre Küche. Sie hat die Erfahrung einer lieblosen,<br />
unlebendigen Ehe mit Edmond hinter sich und ist<br />
seit zwanzig Jahren Witwe. Da gibt es einen Sohn und eine<br />
Tochter und Enkelkinder. Sie existiert eigentlich nur, es ist<br />
ein eintöniges Leben ohne jegliche Gelüste oder Ambivalenzen<br />
bis zu dem schicksalhaften Moment, in dem Felix,<br />
der Mann mit den 1000 Halstüchern, und sein Hund,<br />
22 durchblick 2/<strong>2007</strong>
Buchbesprechung<br />
der einfach nur Hund heißt,<br />
in ihr Leben treten. Felix ist<br />
10 Jahre älter, sehr lebendig<br />
und kreativ.<br />
An dem Morgen, an dem<br />
wir sie begleiten, verspürt sie<br />
plötzlich ein Verlangen nach<br />
Kaffee, ein sensationeller<br />
Vorgang, nachdem sie all die<br />
Jahre Eisenkrauttee bevorzugt<br />
hat. Felix hatte am Vortag<br />
im Bistro „Les Trois Canons“,<br />
einem Etablissement,<br />
welches Marthe regelmäßig<br />
nachmittags um 15 Uhr frequentierte,<br />
auf sich aufmerksam<br />
gemacht, indem er ihr<br />
mit einem Kaffee zutrank.<br />
Auch er ist Stammgast im<br />
Bistro. Diese seine Geste hatte<br />
in ihr etwas zum Klingen gebracht.<br />
Sie stellt an sich fest,<br />
dass sie plötzlich intensiver<br />
und bewusster lebt, die Farben, die Gerüche, die Gegenstände,<br />
die sie berührt, nimmt sie anders wahr. Man kennt<br />
diese Bewusstseinserweiterung aus Zeiten des eigenen Verliebtseins.<br />
Die Geste rührt an ihre Wurzeln, rüttelt an ihren<br />
Empfindungen. Die Zeit scheint Mitgefühl, Zärtlichkeit und<br />
Empfindsamkeit unter vergänglichem Fleisch zu begraben.<br />
Sie schmiedet einen Plan: Heute würde sie im Bistro zwei<br />
Espressi bestellen. Ihre Erscheinung: im Nacken geknotetes<br />
Haar, blaues Kleid aus Kreppseide, Netzhandschuhe, Hut,<br />
braune Handtasche aus geflochtenem Leder. Ich stelle sie<br />
mir etwas verhuscht vor und kann sie schlecht in die heutige<br />
Zeit transportieren. Felix ist nicht da. Trotzdem bestellt sie<br />
zwei Espressi. Sie ist sich der grotesken Situation durchaus<br />
bewusst, fühlt sich erniedrigt und verraten, amüsiert sich<br />
aber gleichzeitig über sich selbst.<br />
Am nächsten Tag erfährt sie durch die Concierge, dass<br />
in den „Trois Canons“ eine Explosion stattgefunden hat,<br />
dieselbe, die sie in ihrem Inneren erlebt. Der Boden tut sich<br />
unter ihr auf. Sie sieht Felix in einer Blutlache. So schnell,<br />
wie es ihre stechende Hüfte erlaubt, eilt sie zum Bistro.<br />
Der Schaden ist geringfügig. Sie taumelt vor Erleichterung,<br />
spürt Felix feste Hand auf ihrem Arm.<br />
Sie hat eine Verabredung. In ihrem Notizbuch standen<br />
bisher nur die Namen von Dr. Binet und einem Beamten<br />
der Pensionskasse, der ab und an überprüft, ob sie noch<br />
lebt. Sie erwirbt einen Taschenkalender aus rotem Saffianleder<br />
mit einem kleinen, goldenen Kugelschreiber. Vor<br />
dem Bistro wartet eine andere Marthe auf sie. Sie ist ihr<br />
fast fremd. Nur der Mann mit den 1000 Halstüchern ist<br />
über jeden Zweifel erhaben. Sie bewundert ihn, schaut zu<br />
ihm auf, stellt keine Bedingungen, sie lässt es geschehen.<br />
Man schenke mir noch einmal die Begegnung mit einem<br />
Mann, zu dem ich aufschauen könnte. Beim Lesen der<br />
Bildtitel: Marthes Alter Ego<br />
Lektüre sträuben sich mir manches Mal die Haare. Und,<br />
trotzdem, fasziniert diese Geschichte, weil sie eine Art<br />
von Beziehung in unsere Wirklichkeit rückt, nach der sich<br />
die Frau seit Urgedenken der Menschheit sehnt, nach all<br />
den Geschlechterkämpfen und Lebensschlachten, dennoch<br />
wissend, dass es eine Utopie ist.<br />
Felix trägt heute kein Halstuch, sie sieht einen nackten<br />
Hals, einen von geheimnisvollen Falten zerfurchten Hals, einen<br />
verbrauchten, lebendigen Hals. Ihr Mund wird trocken.<br />
Instinktiv greift sie sich an den eigenen Hals, der ebenso<br />
nackt, ebenso verbraucht ist. Ihre Verabredungen werden<br />
zu einem Ritual. Felix lädt sie ein in die Oper, der<br />
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durchblick 2/<strong>2007</strong> 23
„Barbier von Sevilla“ wird gegeben. Er trägt den granatfarbenen<br />
Schal mit den Kaschmirmustern. Es ist ein überwältigendes<br />
Erlebnis für sie. Rosinas Hauch schürt eine Glut<br />
in Marthe, die seit ihrer Jugend in ihr schwelt und endlich<br />
zum Ausdruck gekommen ist. Er<br />
überhäuft sie mit Geschenken. Sie<br />
bekommt ihren ersten Liebesbrief.<br />
Es kündigt sich ein dreitägiges Zuneigungsfieber<br />
an. Während der<br />
Rekonvaleszenz schreitet sie über<br />
die Boulevards, erlebt Paris völlig<br />
neu. Sie trifft ihr Alter Ego, eine junge Frau, die eine Bluse<br />
in dem Rot des Klatschmohns trägt, ähnlich wie die eigene,<br />
die sie vor ihrer Verlobung so geliebt hat. Klatschmohn, so<br />
sagt man, sei die Blume des Begehrens.<br />
Diese Begegnung ermutigt sie, einer Einladung Felix in<br />
sein Atelier zu folgen. Der Hund will wieder einmal nicht<br />
fressen. Felix möchte sie malen. Sie sitzen sich schutzlos<br />
gegenüber in dieser späten Stunde des Abends, ja, des Lebens,<br />
er ohne Halstuch, sie ohne Hut. Marthe beschließt,<br />
ihr Schlafzimmer zu verändern. Beigetöne verschwinden<br />
irgendwann ganz und sie mit ihnen. Sie entscheidet sich<br />
für einen perlmutglänzenden Stoff, der mit leuchtend roten<br />
Blumen übersät ist.<br />
Marthe schlägt Felix vor, ihm ihr neues Schlafzimmer<br />
zu zeigen. Trotz ihrer Verliebtheit bereut Marthe nicht,<br />
Buchbesprechung<br />
Das Glücksangebot jagt den<br />
Menschen ein Leben lang<br />
durch das seelische Elend.<br />
eine alte Frau zu sein. Die Prüfungen des Alterns, die ein<br />
wenig schmerzhaft sind, hat sie hinter sich. Die Schlacht<br />
ihres Körpers – die Zeit hat mit unerbittlicher Hand gearbeitet<br />
– hat sie verloren, aber, sie wird begehrt. Ich habe<br />
die vielen Spiegel in meiner Wohnung<br />
geliebt. Nun möchte ich sie am liebsten<br />
alle verhängen. Auch käme mir<br />
der Brauch, Schleier tragen zu dürfen,<br />
sehr gelegen. Sie sitzt Model und stellt<br />
Felix ihrer Familie vor. Einmal erspäht<br />
sie aus einem Taxi heraus auf der anderen<br />
Straßenseite eine Frau, die sie an die Klatschmohnfrau<br />
erinnert. Sie hätte es beschwören können, wenn diese<br />
Frau nicht einen straffen Knoten und ein Kleid aus blauer<br />
Kreppseide getragen hätte, eines, wie Marthe es eben abgelegt<br />
hatte.<br />
Sie behalten etwas mehr Haltung in ihrem Klatschmohnzimmer.<br />
Doch es kommt die Nacht in Felix Atelier,<br />
wo alles nicht mehr zählt, weder die Beschwerden des<br />
Alters, noch die Medikamente, weder die schlafstörende<br />
Hüfte noch das aufgelöste Haar. Vorerst letzter Höhepunkt<br />
ist eine Reise nach Sevilla. Sie war nur einmal in ihrem Leben<br />
von zu Hause weg, in Boulogne-sur-mer. Marthe trägt<br />
ein neues Kleid, natürlich mit roten Motiven auf cremefarbenem<br />
Untergrund, eine dazu passende Handtasche, darauf<br />
abgestimmte Schuhe und einen Strohhut. Erika Krumm<br />
24 durchblick 2/<strong>2007</strong>
Eigentlich widerstrebt es mir, in das Dickicht der enttäuschenden<br />
Affäre erneut einzutauchen. Trotz aller Aufklärung<br />
umkreise ich das ganze nur, die Rätselhaftigkeit bleibt<br />
unangetastet. Auch schließt sich in diesen wunderschönen<br />
Sonnentagen die Haut über der Wunde. Ich spüre aber, dass<br />
sich der Vorhang nach dem ersten Akt noch einmal heben<br />
sollte, um einem zweiten, nicht minder ominösen Raum<br />
zu geben.<br />
Im ersten Bericht habe ich die Frage aufgeworfen: Was<br />
ist mit der Sicht meines Vermieters auf die peinliche Situation?<br />
Ich erlaubte mir die Voraussage: Sie wird eine andere<br />
sein, und, tatsächlich, es prallen da Welten aufeinander.<br />
Hier, in selbst erwählter Einsamkeit, mein sich aufbäumendes<br />
Ich, in all seiner Anspannung, dem Ringen um<br />
Gerechtigkeit, wie es sie, da auch dieser Begriff relativ,<br />
auf dieser Welt nie geben wird. Mit Fantasien, die sich ins<br />
Krankhafte steigern, während dort ein Paar in trauter Gemeinsamkeit,<br />
nach den Mühen des Tages, vor dem Kamin<br />
sitzt, das Problem, sicherlich, hin und wieder berührt, nach<br />
einer wenig schmerzhaften Lösung sucht, es dann aber<br />
auch sehr gut loslassen kann.<br />
Es war als Abschlussgespräch gedacht. Die Begrüßungsworte<br />
meiner Vermieterin: Was gibt es denn jetzt<br />
noch zu klären, Frau E., die Anlage ist doch umgeklemmt,<br />
dann kommt sie auch noch mit ihren gesammelten Werken<br />
(sprich: meine Stromunterlagen), sollen wir etwa jetzt die<br />
Hälfte ihres Stromverbrauches bezahlen? Die Sätze trafen<br />
mich wie Fausthiebe, sie brachten mein Weltbild endgültig<br />
ins Wanken. Sie schnappte sich meinen Ordner, blätterte<br />
ihn durch und behielt ihn, was ich ihr in meinem grenzenlosen<br />
Entgegenkommen gestattete. Er saß, wie immer,<br />
abgeklärt in seinem Sessel, obwohl ich eine leichte Irritation<br />
zu bemerken meinte, ob des schroffen Empfangs von<br />
Seiten seiner Angetrauten. Ich murmelte in Richtung seiner<br />
Auch sonntags von 10 –18 Uhr geöffnet<br />
„Endlich Sommer –<br />
hinein ins heißkalte<br />
Vergnügen…!“<br />
Unter Kopfzeile Spannung<br />
Lied ohne Worte<br />
Das große Finale<br />
Person, dass es sich doch nicht nur um ein Kavaliersdelikt<br />
handele, worauf er mit einem lakonischen ja, ja reagierte.<br />
Angeblich verbrauche die Solaranlage nur Strom für drei<br />
Euro im Monat, und ich saß auf einem Mehrverbrauch von<br />
1000 kw im Jahr. Wer weiß, was da alles an meiner Strippe<br />
gehangen hat. Ihr Freund vom RWE ist mir nicht namentlich<br />
vorgestellt worden.<br />
Sie verabschiedeten sich mit dem lapidaren Versprechen,<br />
weitere Auskünfte einholen zu wollen. Die trockenen<br />
Sätze klangen hohl und unverbindlich. Vierzehn Tage lang<br />
geschah nichts, und ich hatte nicht das Gefühl, dass sie sich<br />
je wieder rühren würden. Ich spielte in meiner Wut und<br />
in meinem Frust wieder ungezählte Szenarien durch. Die<br />
schlimmste Vorstellung war, sie könnten meine Unterlagen<br />
fälschen, ja, sie könnten sie sogar, mit Hilfe ihres Freundes<br />
in den Computern des RWE löschen.<br />
Ich nahm mit dem Mieterbund Kontakt auf, durchforstete<br />
die Wohnungsanzeigen der Zeitung. Es waren zwei<br />
Ungeheuer, die über mir thronten. Ich schrieb einen Brief,<br />
in dem ich mit Mietminderung drohte und das sich Einschalten<br />
meines Rechtsanwaltes ankündigte. Endlich bewegte<br />
man sich.<br />
Es klopfte, und meine Vermieterin stand im Türrahmen<br />
ohne ihren Mann im Gefolge. Sie war völlig souverän,<br />
sie verblüffte mich. Sie vermittelte mir den Eindruck, als<br />
handele es sich um ganz selbstverständliche Abläufe. Ihre<br />
Worte auf meine diversen Einwände: Ach Gott, Frau E., die<br />
Unterlagen, die habe ich durchgeblättert, habe sie beiseite<br />
gelegt, sie irgendwann vom RWE durchrechnen lassen<br />
und sie dann über meinem Tagesablauf vergessen. Was das<br />
Gespräch angeht, wenn Sie es so verletzend empfunden haben,<br />
es war nicht so gemeint. Schon seit Wochen bin ich auf<br />
Grund von Überarbeitung sehr nervös. Ich war überwältigt,<br />
alles löste sich mal wieder in Wohlgefallen auf, jede<br />
weitere Vorhaltung meinerseits überging sie geflissentlich<br />
oder entschärfte ihn auf ihre Art. Uneingeschränktes Wohlwollen<br />
tropfte auf mich herab, und obwohl ich wusste, es<br />
konnte so nicht ganz gewesen sein, war es Balsam für mein<br />
wundes Hirn und mein krankes Herz. Die Summe, die sie<br />
errechnet hatte, deckte sich nicht mit der meinigen, aber<br />
sie war für mich akzeptabel. Ich war wie neu geboren, kein<br />
Anwalt, kein Prozess ...<br />
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Die beiden Figuren schrumpften wieder auf Normalmaß,<br />
sowohl äußerlich als auch innerlich, auch, da ich gemerkt<br />
hatte, dass ich mit Hass und Verachtung nicht leben<br />
konnte. Der Vorhang senkt sich über dem finalen Akt. Und<br />
in Zukunft? Ich weiß, dass ich auf der Hut sein muss.<br />
Erika Krumm<br />
26 durchblick 2/<strong>2007</strong>
In seinem ersten Buch berichtet der Siegener Arzt<br />
Dietmar Berger über seine Kanu- und Floßwanderungen<br />
durch Schweden. Er will Mut machen, aus aktivem Naturerleben<br />
Kraft zu schöpfen. Das bebilderte Buch ist im<br />
Siegener Buchhandel erhältlich und kostet 12,90 €.<br />
„Biii-ber, Ää-älch, Rennn-tier“, so hallt es manchmal<br />
langgezogen über den See, als riefen wir Tiger, Panther<br />
und Puma, unsere Katzen, zum Futternapf. Aber im Gegensatz<br />
zu unseren ewig hungrigen „Fellmägen“ ist hier<br />
unser Rufen vergebens, kein Tier lässt sich daraufhin blicken.<br />
Der Biber macht seinen Mittagsschlaf in der Burg,<br />
an der wir gerade vorbeipaddeln. Der Elch kommt in der<br />
Frühe ans Ufer zur Tränke, wenn wir noch schlafen. Und<br />
Rentiere werden wir in diesem Urlaub noch zur Genüge<br />
sehen, allerdings nicht vom Boot aus. Diese drei Tiere sind<br />
für uns Symbole für Urlaub, Schweden, Zweisamkeit und<br />
Naturerlebnis. Ebenso gut könnten wir „Wasser, Sonne,<br />
Wald“ rufen oder mit anderen Worten einfach nur unser<br />
Glücksgefühl ausdrücken, so viel Schönes erleben zu dürfen.<br />
Deshalb nimmt für uns Kanuwandern in Schweden den<br />
ersten Platz ein, selbst noch vor Tauchen, Hundeschlittenfahren<br />
oder Bergbesteigung. Es macht nichts aus, ob es ein<br />
„durchblick-buchreihe“<br />
Kopfzeile<br />
Zweisamkeit und Naturerlebnis<br />
aus dem Buch: Biber, Elch und Rentier<br />
prächtiger Tag wie heute ist, an dem kleine Wölkchen am<br />
blauen Himmel ab und zu wohltuenden Schatten spenden,<br />
oder ob es andauernd auf unser Regenzeug nieselt oder ob<br />
uns der Wind ins Gesicht bläst und die Wellen das Kanu<br />
hochheben und wieder herunterklatschen lassen, sodass<br />
Anne durchaus nicht missmutig wieder einen ihrer Lieblingssprüche<br />
anbringt:<br />
„Ich weiß nicht, welche meiner Freundinnen das alles<br />
mit dir mitmachen würde!“<br />
„Keine“, entgegne ich, „weil du eben die falschen<br />
Freundinnen hast. Im Übrigen will ich das alles nur mit<br />
dir erleben.“<br />
Beide gemeinsam haben wir das Kanuwandern für uns<br />
entdeckt. Keiner muss sich dem Partner zuliebe überwinden,<br />
so wie sich ein deutsches Urlauberpaar im Gästebuch<br />
einer Heimatstube mit Sommercafé dargestellt hat. Auf der<br />
gelungenen Karikatur sitzen sie im Kanu, die Frau vorne,<br />
der Mann hinten.<br />
„Sprich mit mir“, fordert er sie auf.<br />
„Lenke!“, erwidert sie nur und denkt sich dabei: ‚Wann<br />
sind wir endlich wieder am Wohnwagen?‘<br />
Wir hingegen genießen die Stunden im Kanu und fragen<br />
uns umgekehrt beim langen Umtragen:<br />
„Wann schwimmen wir endlich wieder im Wasser?“<br />
Siegen muss in guten Händen bleiben<br />
mit Steffen Mues<br />
Bürgermeister für Siegen<br />
Bürgermeisterwahl in Siegen am 09. September <strong>2007</strong><br />
SIEGEN<br />
www.steffenmues.de<br />
durchblick 2/<strong>2007</strong> 27
Kopfzeile<br />
Gemeinsam handeln.<br />
Für Kinder. Für Jugend. Für Familie.<br />
Wahltag<br />
09.09.<strong>2007</strong><br />
Briefwahl nicht vergessen.<br />
Ihr Bürgermeister für Siegen<br />
www.rujanski.de<br />
28 durchblick 2/<strong>2007</strong>
1. Der demografische Wandel<br />
wurde in der jüngsten Vergangenheit<br />
zu einem Megathema. Entscheidungsträger<br />
in zahlreichen Städten<br />
sehen hier eine Aufgabe, die den<br />
Gestaltungswillen in praktisch allen<br />
kommunalen Handlungsfeldern<br />
herausfordert.<br />
Welche Vorstellung haben Sie<br />
von einer Stadt, die eine hohe<br />
Lebensqualität für alle Generationen<br />
bietet?<br />
Michael Groß Wir werden weniger,<br />
bunter und älter – das ist<br />
zugespitzt die Kernaussage der<br />
Auswirkungen des demografischen<br />
Wandels für Siegen. Es gilt diese<br />
Realität anzunehmen und sie zu gestalten.<br />
Und ich bin überzeugt, wir<br />
können auch mit einer etwas kleiner<br />
werdenden großen Stadt gut leben, denn Lebensqualität ist<br />
keine Frage der Größe.<br />
Mein Leitbild ist eine Stadt, die nicht nur hektisch und<br />
geschäftig wirkt, sondern die auch Ruhe und Verweilzonen<br />
anbietet. Orte, die nicht nur der kommerziellen Logik folgen.<br />
Ein zentraler Punkt für eine gesteigerte Lebensqualität<br />
in diesem Sinne wäre es, den „Erlebnisraum Sieg“ zu<br />
schaffen – die Sieg den Menschen wieder näherbringen.<br />
Konkret bedeutet dies: Abriss der Siegplatte und vernünftige<br />
Gestaltung des Uferbereichs. Beides fordert meine<br />
Fraktion seit Jahren.<br />
Zur Lebensqualität gehört es auch die Nahversorgung<br />
im Stadtteil zu garantieren. Wir werden älter – und deshalb<br />
ist es gut, eine barrierefreie fußgängerfreundliche<br />
Nahversorgung im Stadtteil zu schaffen. Daneben braucht<br />
es einen bedarfsgerecht ausgebauten ÖPNV. Lebensqualität,<br />
so wie ich sie verstehe, bedeutet Zusammenleben von<br />
Generationen und Kulturen. Wir werden eben nicht nur<br />
älter, sondern gleichzeitig auch bunter, d.h., der Anteil von<br />
Menschen, die zugewandert sind, ist größer geworden. Mir<br />
liegt an einer Stadtentwicklung, in der sich alle Menschen<br />
dieser Stadt aktiv begegnen.<br />
Ich denke, der demographische Wandel bietet auch die<br />
Chance von der Abkehr einer zu sehr autozentrierten Stadt,<br />
welche nicht der Lebensqualität dient. Der Lebensraum<br />
von Kindern wird durch den Kraftfahrzeugverkehr stark<br />
eingeschränkt. Aber auch ältere Menschen leiden darunter.<br />
Fazit: Der demografische Wandel gibt uns die Chance<br />
automobile Verkehrsinfrastruktur zurückzubauen und Orte<br />
wieder begehbarer und erlebbarer zu machen. Angefangen<br />
bei der fußgängerunfreundlichen Ampelschaltung, über<br />
Kopfzeile Wahlen<br />
Fragen an die Kandidaten für das Amt des Bürgermeisters<br />
Wer gewinnt die Schlacht um das Rathaus?<br />
Wir haben die Bewerber um das Amt des Bürgermeisters befragt und<br />
informieren Sie über deren Ansichten, Pläne und Vorhaben.<br />
den unübersichtlichen Zentralen Omnibusplatz bis hin zur<br />
Ausweisung von mehr Spielstraßen.<br />
Steffen Mues Für Menschen aller Generationen muss<br />
es erstrebenswert sein, in Siegen zu leben. Es geht daher<br />
um die Gesamtheit aller Angebote, die Lebensqualität und<br />
Attraktivität einer Stadt für ihre Bürger ausmachen. Das<br />
bedingt eine Infrastruktur, die den Belangen aller Altersgruppen<br />
in der Bevölkerung Rechnung trägt.<br />
Die zunehmende Anzahl älter werdender Menschen<br />
verlangt von uns eine völlig neue Ausrichtung unserer<br />
Angebote für Senioren – in quantitativer und qualitativer<br />
Hinsicht. Im gleichen Maße müssen wir allerdings auch die<br />
bereits vorhandenen hochwertigen familienfreundlichen<br />
Strukturen weiter ausbauen, damit es auch für junge Familien<br />
mit Kindern erstrebenswert ist, in Siegen zu leben.<br />
Detlef Rujanski Die SPD in Siegen hat bereits vor<br />
mehr als 10 Jahren diese demografische Entwicklung<br />
gesehen und aktiv und vorausschauend die Position der<br />
„Seniorenbeauftragten“ installiert.<br />
Die Thematik „Älter werden“ verstehe ich als eine kommunale<br />
Querschnittsaufgabe, die neben der Bereitstellung<br />
entsprechender Versorgungsstrukturen z. B. auch verkehrs-,<br />
kultur- und bildungspolitische Auswirkungen hat.<br />
Besonders wichtig ist der Bereich des Wohnens. Da gilt<br />
es aufzupassen, dass zentrumsnah bezahlbare Wohnangebote<br />
geschaffen werden, die nicht zu einer Isolation Älterer<br />
führen. Denn eine Stadt mit hoher Lebensqualität zeichnet<br />
sich dadurch aus, dass sie sowohl generationsübergreifende<br />
wie auch spezifische Angebote für unterschiedliche<br />
Lebenslagen vorhält.<br />
durchblick 2/<strong>2007</strong> 29
Kopfzeile Wahlen<br />
2. Die steigende Lebenserwartung und, damit verbunden,<br />
der zunehmende Anteil älterer Menschen an der Gesellschaft,<br />
führt zu einem Bedeutungsgewinn dieser Bevölkerungsgruppe.<br />
Der Siegener Seniorenbeirat fordert von der Landesregierung,<br />
gemeinsam mit den anderen mehr als 130 Seniorenbeiräten<br />
in NRW, als Pflichtvertretung (ähnlich dem<br />
Migrationsbeirat) in die Gemeindeordnung aufgenommen<br />
zu werden.<br />
Unterstützen Sie diese Forderung?<br />
Welche Möglichkeiten einer Partizipation älterer<br />
Menschen sehen Sie darüber hinaus?<br />
Rujanski Diese Forderung unterstütze ich. Aber Partizipation<br />
im Sinne von Teilhabe heißt auch, Möglichkeiten<br />
zu schaffen, an Kommunikation und Aktivität teilnehmen zu<br />
können. Das bedeutet z. B. Unterstützung zur Steigerung<br />
der Mobilität und Ausweitung sozialer Netzwerke.<br />
Mues Meine Ausführungen zu Frage 1 lassen nur eine<br />
Schlussfolgerung zu: Die Stimme der aktiven Senioren<br />
muss sich gerade im kommunalpolitischen Raum Gehör<br />
verschaffen können, ein Seniorenbeirat als Pflichtvertretung<br />
ist daher zu begrüßen.<br />
Darüber hinausgehende Partizipation am gesellschaftlichen<br />
Leben kann ich mir vor allem im ehrenamtlichen Bereich<br />
vorstellen, wie sie teilweise<br />
heute schon praktiziert werden:<br />
Zusatzangebote in Schulen und<br />
Kindergärten, Beratungs- und<br />
Hilfeangebote in fast allen Bereichen<br />
des gesellschaftlichen<br />
Lebens. Vorleseangebote sind<br />
z. B. in einigen Schulen und der<br />
Stadtbücherei bereits im festen<br />
Programm.<br />
Es wäre schön, wenn ältere<br />
Menschen ihre Kenntnisse und<br />
Fähigkeiten auch im Ruhestand<br />
noch einsetzen können, soweit<br />
sie es wollen. Außerdem halte<br />
ich die Mitwirkung der Senioren<br />
in den Vorständen von Vereinen<br />
und Verbänden nutzbringend für<br />
alle, um Traditionen zu erhalten,<br />
Erfahrungen weiterzugeben und<br />
Vorbild und Anreiz für die jüngeren<br />
Generationen zu sein.<br />
Groß Die Forderung unterstütze<br />
ich nicht pauschal – ich<br />
denke, das sollte sich in jeder<br />
Stadt eigenständig entwickeln.<br />
Anfangs stand ich dem Seniorenbeirat<br />
in Siegen kritisch gegenüber,<br />
bin aber mittlerweile von<br />
der Qualität dieses Gremiums<br />
überzeugt und halte ihn für einen<br />
Gewinn für Siegen.<br />
Der in der Frage genannte<br />
Hinweis auf den Migrationsbeirat<br />
ist insofern nicht ganz schlüssig,<br />
da Migranten ohne deutschen<br />
Pass hier kein Wahlrecht,<br />
also keine Stimme haben. Die<br />
Senioren aber haben eine Stimme<br />
– und die wird mehr Einfluss<br />
gewinnen. Aus meiner Erfahrung<br />
30 durchblick 2/<strong>2007</strong>
Kopfzeile Wahlen<br />
u.a. im Rat der Stadt Siegen weiß ich aber, dass allein das<br />
Lebensalter noch lange kein Garant dafür ist, „altengerechte“<br />
Politik umzusetzen.<br />
Partizipationsmöglichkeiten fehlen in vielen Lebensbereichen.<br />
So sollte meines Erachtens die Kompetenz auch<br />
der alten Menschen in den sozialräumlichen Planungen<br />
und stadtentwicklungspolitischen Fragen eingebunden<br />
werden. Schade, dass der Rat der Stadt Siegen den Prozess<br />
der Agenda 21, der viele Möglichkeiten geboten hätte,<br />
durch seine Politik faktisch beendet hat.<br />
Die Partizipation von älteren Menschen in Pflegeeinrichtungen<br />
macht mir ebenfalls Sorge – hier gilt es mehr<br />
offene Strukturen einzuführen und den alten Menschen<br />
ohne Stimme eine Stimme zu geben. Auch Menschen in<br />
schwierigen Lebenssituationen müssen als eigenständige<br />
Persönlichkeiten wahrgenommen und behandelt werden.<br />
3. Um die Aufgaben unseres Zusammenlebens zu lösen<br />
ist die Gesellschaft immer stärker darauf angewiesen,<br />
Wissen und Können der älteren Generation auch ohne<br />
finanzielle Gegenleistung nutzbar zu machen.<br />
Ist es für Sie vorstellbar, ehrenamtliches Engagement<br />
auch dadurch zu fördern, dass „Ehrenämtler“ in Ausübung<br />
ihrer Tätigkeit, vom Fahrpreis öffentlicher Verkehrsmittel<br />
und von Parkgebühren befreit werden?<br />
Groß Ja, ich kann mir gut vorstellen, das Ehrenamt<br />
durch diverse Vergünstigungen (z.B. Befreiung vom Fahrpreis<br />
bei Nutzung des ÖPNV) zu fördern – und ich halte es<br />
auch für wünschenswert.<br />
Rujanski Vergleichbare Vorstöße habe ich mit der SPD-<br />
Fraktion in der Vergangenheit wiederholt unternommen,<br />
z. B. für die Ehrenamtlichen der freiwilligen Feuerwehr.<br />
Richtig ist, dass wir verstärkt über eine Anerkennungskultur<br />
nachdenken müssen, die unbürokratisch und<br />
vor allem gerecht allen zukommt, die sich ehrenamtlich<br />
betätigen. Denn nach meiner festen Überzeugung engagieren<br />
sich viel mehr Menschen im Stillen als öffentlich<br />
bekannt ist.<br />
Mues Grundsätzlich halte ich das für wünschenswert,<br />
da oft ja nicht die besonders gut „Betuchten“ unter den<br />
Senioren Ehrenamtsarbeit leisten. Mit einer Entgeltbefreiung<br />
wäre zudem ein Motivationsschub verbunden.<br />
Inwieweit sich eine Lösung umsetzen lässt – beispielsweise<br />
ein „Ehrenamtsausweis für Senioren im Dienst“<br />
– müsste überprüft werden. Vorschläge Ihrerseits würde<br />
ich als Bürgermeister dieser Stadt gerne entgegennehmen.<br />
4. In einer alternden Gesellschaft ist eine wachsende<br />
Anzahl von Menschen auf ein Unterstützungsnetz angewiesen.<br />
Auch deshalb gewinnen bürgerschaftliches Engagement,<br />
Selbstorganisation und Selbsthilfe an Bedeutung.<br />
In den letzten Jahren haben sich zunehmend Vereine und<br />
Gruppen im Stadtgebiet etabliert, die sich der aktiven Altenarbeit<br />
verschrieben haben.<br />
Welche dieser Vereine sind Ihnen bekannt?<br />
Welche Möglichkeiten der Unterstützung können<br />
Sie diesen Vereinen oder Gruppen bieten?<br />
Rujanski Ehrenamtliches Engagement war und ist eine<br />
tragende Säule unserer Gesellschaft, weil wir dadurch die<br />
Menschen selbst einbeziehen in Gestaltung und Verantwortung<br />
für unser Gemeinwesen. Ich beobachte sehr genau<br />
die Entwicklung von neuen wie alten Gruppen, Vereinen<br />
und Initiativen und den dort Aktiven gilt meine besondere<br />
Hochachtung.<br />
Ich setze mich - neben der bisherigen finanziellen Unterstützung<br />
- für den Ausbau von kommunalen Engagementstrukturen<br />
ein, denn Ehrenamt bedarf auch der Unterstützung<br />
durch Hauptamtliche.<br />
Mues Neben dem vielfältigen Angebot der Wohlfahrtsverbände,<br />
Kirchen, Diakonischem Werk, SKF und einer<br />
Vielzahl von Selbsthilfegruppen sind hier natürlich die<br />
vielen im „Haus Herbstzeitlos“ organisierten Vereine und<br />
Gruppen von Alter Aktiv über die Seniorenhilfe, die verschiedenen<br />
Gruppen, die sich für bestimmte Tätigkeiten<br />
interessieren (Wandergruppen, Senec@fe und Schreibwerkstatt)<br />
zu nennen.<br />
Die Stadt Siegen unterstützt heute schon Vereine und<br />
Gruppen finanziell im Rahmen der sog. „freiwilligen<br />
Leistungen“. Darüber hinaus habe ich mir vorgenommen,<br />
einen Ehrenamtsservice in der Verwaltung zu etablieren<br />
und einen Ehrenamtspreis auszuloben, der einmal jährlich<br />
im Rahmen einer Feierstunde überreicht wird.<br />
Für Anregungen zu den Modalitäten wäre ich im Fall<br />
meiner Wahl dankbar. Der „Durchblick“ und der „Seniorenbeirat“<br />
könnten hier eine tragende Rolle übernehmen.<br />
Koordinierend unterstützt schon heute die Regiestelle<br />
„Leben im Alter“ Vereine und Gruppen bei der aktiven<br />
Seniorenarbeit. Diese Unterstützung sollte bei Bedarf ver-<br />
Damit man in jedem Alter<br />
die Zeit noch schöner<br />
genießen kann ...<br />
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durchblick 2/<strong>2007</strong> 31
Kopfzeile Wahlen<br />
Michael Groß, 48 Jahre, verh.<br />
2 Kinder, Kandidat der Grünen<br />
Steffen Mues, 42 Jahre, verh.<br />
2 Kinder, Kandidat der CDU<br />
Detlef Rujanski, 50 Jahre, verh.<br />
2 Kinder, Kandidat der SPD<br />
stärkt werden, z. B. im Rahmen von Mehrgenerationenhäusern<br />
gemäß Frage 5.<br />
Groß Mir sind diverse Initiativen und Organisationen<br />
bekannt: das „Haus Herbstzeitlos“ als Zentrum für verschiedene<br />
Gruppen und Vereine – Seniorenhilfe, Durchblick,<br />
Internetcafé, Alter Aktiv. Hinzu kommen der Siegen-<br />
Wittgensteiner Seniorenverband mit der Begegnungsstätte<br />
in Geisweid und weitere Altenbegegnungsstätten der<br />
Verbände.<br />
Nicht zu vergessen die zahlreichen Altenclubs (56) und<br />
Bewegungsgruppen (38) von Verbänden und Kirchengemeinden.<br />
Wichtig auch die Theatergruppe SenTheSi.<br />
Meine Partei hat schon vor einigen Jahren betont, dass<br />
die Mittel für „Zuschüsse für die Durchführung der Altenhilfe“<br />
aufgestockt werden müssen, da der Ansatz nicht<br />
mehr auskömmlich ist. Bisher gab es dafür aber keine<br />
Mehrheiten.<br />
Und ein ähnliches System wie die Jugendleitercard im<br />
Jugendbereich könnte auch für Selbsthilfegruppen im Altenbereich<br />
etabliert werden.<br />
5. Im Hinblick auf die verminderte Mobilität vieler älterer<br />
Menschen wird eine Förderung kleinräumiger (ortsteilbezogener)<br />
Netzwerke älterer Menschen empfohlen.<br />
Wir denken dabei z. B. an Mehrgenerationenhäuser,<br />
Internetcafés, Selbsthilfegruppen, Einrichtungen wie das<br />
„Haus Herbstzeitlos“ usw.<br />
Die Bereitstellung entsprechender Räume sowie organisatorische<br />
und personelle Hilfe wäre einer solchen Förderung<br />
hilfreich.<br />
Welche Pläne haben Sie in diesem Zusammenhang?<br />
(Die alte Jugendherberge am Oberen Schloss verrottet<br />
zusehends, ließe sich dieses Gebäude für Zwecke der<br />
Seniorenarbeit herrichten?)<br />
Mues Ich habe große Sympathie für die Einrichtung von<br />
Mehrgenerationenhäusern, wobei ich zwei Richtungen unterscheide.<br />
Die erste beinhaltet ein Haus, das verlässliche Kommunikationsstrukturen<br />
beherbergt. Es ist Anlaufstelle und<br />
Basisstation eines Netzwerks für alle Familien: generationen<br />
übergreifende gegenseitige Hilfen, spontane Kinderbetreuung,<br />
Wohnraumberatung, Unterstützungsdienste, ambulante Hilfen,<br />
Schulangebote etc. Das zweite ist das Mehrgenerationen-Wohnen<br />
und beinhaltet im Grunde die Struktur der Großfamilie<br />
früherer Zeiten. Junge helfen den Alten, Alte unterstützen die<br />
Jungen. Für beide Projekte würden Sie in mir als Bürgermeister<br />
einen Fürsprecher finden. Die richtige Standortwahl sollte<br />
genauen Planungen vorbehalten bleiben.<br />
Rujanski Ich bin dankbar, dass Sie das „Haus Herbstzeitlos“<br />
ansprechen, denn bereits vor 10 Jahren unterstützten<br />
die SPD-Landesregierung und der SPD-Stadtdirektor die<br />
Verwirklichung dieser selbstorganisierten Einrichtung.<br />
Nicht zuletzt aufgrund meiner langjährigen Tätigkeit als<br />
Geschäftsführer des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes,<br />
werde ich die weitere Entwicklung zum eigenverantwortlichen<br />
Handeln und dem Engagement auch für andere unterstützen.<br />
Inwieweit die ehemalige Jugendherberge dabei<br />
einbezogen werden kann, bedarf einer Überprüfung.<br />
Groß Wir sollten ein Mehrgenerationenhaus in jedem<br />
Stadtteil haben, wobei ich derzeit noch Diskussionsbedarf<br />
in Sachen erfolgreicher Konzeptionen habe. Die Idee der<br />
Begegnungsstätte von mehreren Generationen unter einem<br />
Dach finde ich gut – aber wie das geht in einer Gesellschaft,<br />
die zunehmend eher in Teilbereiche auseinanderfällt,<br />
da habe ich Beratungsbedarf. Da würde ich gerne<br />
einmal generationsübergreifende Stadtteilgespräche initiieren.<br />
Fazit: Vor konkreten Maßnahmen brauche ich noch<br />
mehr Erkenntnisse – deshalb auch hier keine definitive<br />
Aussage zur Jugendherberge.<br />
32 durchblick 2/<strong>2007</strong>
Kopfzeile Wahlen<br />
6. Die Zahl schwerstkranker, älterer und<br />
hochbetagter Menschen nimmt zu und mit<br />
ihr der Aufwand und die Kosten für eine<br />
qualifizierte Pflege, intensive Betreuung<br />
und humane Begleitung bis hin zum Tod.<br />
Diese Aufgabe einer menschenwürdigen<br />
Zuwendung am Lebensabend ist ohne<br />
ehrenamtliches Engagement kaum noch<br />
zu leisten.<br />
Wie sehen Sie diese wachsende<br />
Aufgabe?<br />
Welche Form der Betreuung bevorzugen<br />
Sie hier in Siegen: ambulant oder<br />
stationär ?<br />
Welche Möglichkeit sehen Sie, ehrenamtliches<br />
Engagement in diesem<br />
Bereich zu fördern?<br />
Mues Aufgrund der veränderten Familienstrukturen<br />
sind stationäre Pflegeeinrichtungen<br />
gerade im städtischen Bereich immer<br />
notwendig. Ich setze allerdings darauf, dass jeder Mensch<br />
nach Möglichkeit ein Wahlrecht hat, welche Betreuungsform<br />
er bevorzugt. Es ist daher notwendig, dass ambulante<br />
Betreuungsformen so sehr ausgebaut werden, dass jeder<br />
pflegebedürftige Mensch möglichst so lange er es wünscht<br />
zu Hause leben kann. Hier können die unter Punkt 5 angesprochenen<br />
Mehrgenerationenhäuser – beide Formen – einen<br />
wertvollen Beitrag leisten. Sehr wichtig ist aber außerdem<br />
der Aufbau ortsnaher Netzwerke für die Organisation<br />
und Koordination von ehrenamtlicher Unterstützung.<br />
Groß Sterben gehört zum Leben – also gehört das<br />
Thema in die Gesellschaft. Sterben darf kein Tabuthema<br />
sein.<br />
Durch die veränderte Familien- und Gesellschaftsstruktur<br />
kommt es häufiger vor, dass Menschen nicht mehr<br />
in Begleitung ihrer Angehörigen sterben dürfen/können.<br />
Ich weiß, dass hier der Hospizbewegung ein großer Verdienst<br />
zukommt und es gilt diese Bewegung auszubauen.<br />
Aber – ich weiß auch, dass Sterbebegleitung im Hospiz nur<br />
die zweitbeste Lösung ist.<br />
Da wo man lebt, da sollte auch der Ort sein, an dem<br />
man stirbt. Also ein klares Votum für ambulante Hilfen.<br />
Aber alles geht nicht ambulant und deshalb muss es auch<br />
ein „humanes Sterben“ in einer Einrichtung geben.<br />
Im Grundsatz hat Sterbebegleitung etwas mit Nähe zu<br />
tun, und um diese herzustellen braucht es Zeit und Gelegenheit.<br />
Ich denke, es muss gelingen dem Alleinsein etwas<br />
entgegenzusetzen – insofern sind Modelle der Begegnung<br />
der Generationen eine Voraussetzung dafür. Mehrgenerationenhäuser,<br />
Wohngemeinschaften, Selbsthilfegruppen<br />
wirken dem Alleinsein entgegen und sind deshalb auszubauen.<br />
Wichtig ist – und das sollte auch meine Generation<br />
wissen, dass man sich dem Thema Alter und Sterben<br />
viel früher stellen muss, es muss Bestandteil der Lebens-<br />
Der „Hübbelbummler“ erfreut sich steigender Beliebtheit.<br />
planung werden, auch wenn man diese Gedanken gerne<br />
„wegdrückt“.Mich bedrückt, dass viele ältere Menschen<br />
Angst davor haben, der Apparatemedizin ausgeliefert zu<br />
sein. Hier braucht es klarere Vorgaben für Patientenverfügungen<br />
und mehr juristische Aufklärung. Diese Aufklärung<br />
könnte von der Stadt geleistet werden – hierzu könnte ich<br />
mir Informationsveranstaltungen unter Federführung des<br />
städtischen Seniorenbüros vorstellen.<br />
Rujanski Richtig ist, dass wir im Bereich der Pflege stark<br />
auf ehrenamtliches Engagement angewiesen sind. Die Ursachen<br />
dafür liegen u. a. auch in der Veränderung von Familienstrukturen.<br />
Hier muss durch ehrenamtliches Engagement<br />
ein soziales Netzwerk aufgebaut werden, damit kein Mensch<br />
wochen- oder monatelang einsam in seiner Wohnung liegt.<br />
Aber klar muss auch sein, dass Ehrenamt professionelle<br />
Dienste nicht ersetzen kann und darf. Der auch von mir<br />
unterstützte Grundsatz „ambulant vor stationär“ kann nur<br />
umgesetzt werden, wenn wir verlässliche professionelle wie<br />
ehrenamtliche Versorgungsstrukturen vorhalten.<br />
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durchblick 2/<strong>2007</strong> 33
Kopfzeile Wahlen<br />
7. Der Siegener „Hübbelbummler“ erfreut sich steigender<br />
Beliebtheit.<br />
Werden Sie sich für den Erhalt und möglicherweise<br />
auch Erweiterung dieser Einrichtung einsetzen?<br />
8. Die Parkpalette über die Sieg wird immer mehr als<br />
städtebauliche Sünde wahrgenommen.<br />
Werden Sie sich für eine umfassende Neugestaltung<br />
des Siegufers als Naherholungsgebiet stark machen?<br />
Rujanski Dies ist eine<br />
tolle Verbindung zwischen<br />
der Ober- und Unterstadt.<br />
Gerade älteren Menschen<br />
hilft der Hübbelbummler<br />
„auf den Berg“ zu kommen.<br />
Ich freue mich, dass damit<br />
der vor einigen Jahren auch von der SPD unterstützte<br />
Oberstadtbus wiederbelebt wurde. Vor diesem Hintergrund<br />
stehe ich für den Erhalt des Hübbelbummlers und einer<br />
Erweiterung im Bedarfsfalle.<br />
Mues Diese Frage beantworte ich uneingeschränkt<br />
mit „ja“!<br />
Groß Ja, ja, der Hübbelbummler. Von den einen als<br />
originelles Transportmittel gelobt, von anderen als laute<br />
Dreckschleuder kritisiert. Bevor man das Konzept ausbaut,<br />
sollte man noch mal die Rahmenbedingungen klären.<br />
Transportmittel durch die Fußgängerzone ja, aber bitte<br />
umwelt- und menschenschonend mit Gasmotor.<br />
Groß<br />
Ich kandidiere für dieses Amt, weil Siegen eine politische<br />
Wende braucht, einen Neuanfang, der die Belange der<br />
Bürgerschaft nicht übergeht und die sozialen und ökologischen<br />
Herausforderungen unserer Zeit anpackt. Ich<br />
möchte mit den Bürgerinnen und Bürgern unserer Stadt<br />
ein Gemeinwesen aufbauen, in dem sich alle Generationen<br />
wohlfühlen können und ihr Auskommen haben.<br />
Mues<br />
Wir werden älter, bunter, weniger. Diesen demografischen<br />
Wandel zu gestalten, ist eine Gemeinschaftsaufgabe, der<br />
sich die Kommune stellen muss. Nur eine solide Haushaltspolitik<br />
gewährleistet langfristig den Erhalt und Ausbau<br />
der Lebensgrundlagen für die Bürgerinnen und Bürger<br />
aller Generationen. Politische Verantwortung übernehmen<br />
heißt deshalb, auf allen Ebenen innovative Konzepte zu<br />
entwickeln, die den kommunalen Handlungsspielraum erweitern.<br />
Rujanski<br />
In meinem politischen Konzept steht der einzelne Mensch<br />
mit all seinen Fähigkeiten im Vordergrund. Nur gemeinsam<br />
können wir die pädagogische Betreuung unserer<br />
Kinder professionalisieren, mehr Ausbildungs- und Arbeitsplätze<br />
schaffen sowie die Lebensqualität für Familien,<br />
einschließlich der Senior/innen, verbessern. Da dem<br />
Ehrenamt hier eine ganz zentrale Bedeutung zukommt,<br />
wird von mir die vielfältige „Vereinslandschaft“ in unserer<br />
Stadt in vollem Umfang unterstützt.<br />
Rujanski: Der Hübbelbummler ist eine tolle Verbindung<br />
zwischen der Ober- und Unterstadt.<br />
Mues: Ja, ich werde mich für den Erhalt und auch<br />
Erweiterung des Hübbelbummlers einsetzen.<br />
Groß: Hübbelbummler ja, aber bitte umwelt- und<br />
menschenschonend mit Gasmotor.<br />
Mues Der städtebauliche<br />
Wunschtraum<br />
ist Ziel – auch<br />
für mich. Dabei<br />
müssen aber sämtliche<br />
Konsequenzen<br />
gründlich bedacht<br />
werden. Und damit meine ich nicht nur die finanziellen Auswirkungen,<br />
die nach überschlägigen früheren Planungen<br />
dramatisch hoch sein sollen. Zu diskutieren sind z.B. auch<br />
folgende Aspekte:<br />
- Der Maria-Rubens-Platz ist erst vor kurzem ansprechend<br />
gestaltet worden und wird auch zum Verweilen gerne<br />
genutzt.<br />
- Die Parkplätze werden dringend benötigt und erfreuen<br />
sich bei Menschen aus nah und fern – insbesondere bei<br />
Frauen – größter Beliebtheit.<br />
- Welche Auswirkungen hat eine solche Maßnahme auf<br />
die Geschäfte in den Bereichen Sandstraße, Brüder-Busch-<br />
Straße, Bahnhofstraße und Herrengarten?<br />
- Wie kann ein ca. 30 m breiter Bereich zwischen zwei<br />
Häuserzeilen wirklich ansprechend gestaltet werden, insbesondere<br />
bei niedrigem Wasserstand?<br />
- Welche Kosten werden für die Gesamtmaßnahme inklusive<br />
Ankauf von Privateigentum, Abriss der Gesamtanlage,<br />
Neugestaltung und Neubau von Brückenbauwerken usw.<br />
entstehen?<br />
Ich halte es für richtig, diesbezüglich eine genaue Überprüfung<br />
unter Einbindung aller Betroffenen durchzuführen,<br />
halte es allerdings für sehr problematisch, mit einer solchen<br />
Maßnahme den städtischen Haushalt so sehr zu belasten,<br />
dass auf Jahre hinweg der finanzielle Handlungsspielraum<br />
der Stadt so eingeschränkt wird, dass andere wichtige Maßnahmen<br />
nicht mehr durchgeführt werden können.<br />
Groß Ja, wir wollen den Abriss der Siegplatte und eine<br />
Gestaltung des Siegufers. Wir GRÜNE und auch ich als<br />
Person fordern dies übrigens seit vielen, vielen Jahren. Die<br />
anderen Parteien finden das Thema abwechselnd mal ganz<br />
interessant oder manchmal sogar anstrebenswert. Nur<br />
wenn es darauf ankommt, bleibt die Ratsmehrheit stumm<br />
und erhält so seit vielen Jahren diese städtebauliche Sünde.<br />
Vor allem vor Wahlen wird die Siegplatte kritisch gesehen.<br />
Ich meine in diesem Zusammenhang: Weniger versprechen,<br />
mehr halten!!!<br />
Rujanski Mein Ziel ist der Rückbau der Siegplatte.<br />
Die Sieg wird renaturiert und das Siegufer wird zu einem<br />
Naherholungsgebiet umgestaltet. Dieses Ziel ist keine<br />
Utopie. Ich will, dass dieses Projekt bald zur Siegener<br />
Wirklichkeit wird.<br />
34 durchblick 2/<strong>2007</strong>
Ausstellung Kopfzeile<br />
Stadt Siegen verleiht Rubenspreis an den Künstler Sigmar Polke<br />
Ausstellung vom 24. Juni – 16. September <strong>2007</strong><br />
Das Highlight des Jahres in Siegen und auch im<br />
Museum für Gegenwartskunst ist die große Ausstellung<br />
des Künstlers Sigmar Polke. Die Eröffnung der<br />
Ausstellung am 24. Juni 07 um 14.00 Uhr folgt unmittelbar<br />
auf die feierliche Verleihung des Rubenspreises<br />
in der Siegerlandhalle. Den Preis erhalten<br />
renommierte Malerinnen und Maler für ihr Lebenswerk.<br />
Er wird seit 1957 alle fünf Jahre von der Stadt<br />
Siegen vergeben, in diesem Jahr bereits das 11. Mal<br />
- das ist gleichzeitig das 50jährige Jubiläum.<br />
Sigmar Polke (geb. 1942) ist ein bekannter Künstler<br />
seiner Generation. Er belegt seit Jahren die vorderen<br />
Plätze der Rangliste der teuersten Künstler.<br />
Sein Markenzeichen sind Rasterbilder, bei denen er<br />
vergrößerte Motive aus dem Zeitungsdruck auf die<br />
Leinwand überträgt. Seine Arbeiten begeistern durch<br />
ihre Gewitztheit und Ironie.<br />
Die Ausstellung wird vom Künstler eigens für<br />
Siegen konzipiert, es werden ganz neue Bilder gezeigt,<br />
die vorher noch nirgends zu sehen waren.<br />
Das Museum ist geöffnet:<br />
Dienstag bis Sonntag 11 bis 18 Uhr,<br />
Donnerstag 11 bis 20 Uhr.<br />
Montags geschlossen –<br />
Feiertage geöffnet.<br />
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durchblick 2/<strong>2007</strong> 35
Philosophischer Kopfzeile Essay<br />
Gott in der Falle der Hirnforscher? 1<br />
Gedanken über die Erkenntnisse der modernen Hirnforschung (Teil 2)<br />
gleichnamigen Buch vermutet, oder ein „Gottes-Modul“<br />
im Gehirn, ein Begriff, den der amerikanische Neuropsychologe<br />
Vilaynur Ramachandran geprägt hat?<br />
Wie entsteht<br />
Glaube in<br />
unserem Gehirn?<br />
Sie erinnern sich? Im letzten durchblick (1/<strong>2007</strong>) bin<br />
ich in meinem Beitrag der beachtenswerten Frage nachgegangen,<br />
sind das ICH und der freie Wille des Menschen,<br />
wie von Naturwissenschaftlern aufgrund der Erkenntnisse<br />
der modernen Hirnforschung behauptet wird, nur eine<br />
Illusion?<br />
Heute nun möchte ich mich, wie angekündigt, der noch<br />
offenen und nicht weniger bedenkenswerten zweiten Frage<br />
zuwenden, die ebenfalls durch die Hirnforschung neu aufgeworfen<br />
wird: Ist Gott nur ein Hirngespinst in den Köpfen<br />
der Menschen? Bevor ich diesem Gedanken jedoch etwas<br />
nachgehe, erscheint es mir sinnvoll zu sein, zunächst einmal<br />
die Frage selbst ein wenig zu betrachten, denn mit ihr<br />
schwingt eine zusätzliche spannende Frage mit: Warum<br />
eigentlich ist der Mensch religiös? Bietet religiöser Glaube<br />
der Spezies Mensch Lebensvorteile und wenn ja, welche<br />
sind das? Immerhin bezeichnen sich über 90 % aller<br />
Menschen auf unserer Erde, und das sind in der Minute,<br />
in der ich diese Zeilen schreibe und einen Blick auf die<br />
Weltbevölkerungsuhr im Internet werfe, insgesamt stattliche<br />
6.607.284.700 menschliche Wesen, die in irgendeiner<br />
Form religiös sind. Dafür muss es Gründe geben. Aber was<br />
sind die Ursachen und wo liegen die Wurzeln für die Religiosität<br />
des Menschen? Tiere kennen (und brauchen) keine<br />
Religion. Gibt es im Menschen eine biologische Veranlagung<br />
für Religion? So etwas wie ein „Gottes-Gen“, wie der<br />
amerikanische Molekularbiologe Dean Hamer in seinem<br />
Warum ist der Mensch religiös?<br />
(ein völlig unprofessioneller Erklärungsversuch)<br />
Der Mensch ist ein „Mängelwesen, ein Begriff, den der<br />
Philosoph und Soziologe Arnold Gehlen (1904–1976) im<br />
organischen Vergleich mit den Tieren geprägt hat. Sein<br />
Überleben verdankt er nicht seiner biologischen Organund<br />
Instinktausstattung, da sind ihm die Tiere in vielen Belangen<br />
haushoch überlegen, sondern in erster Linie seinen<br />
geistigen Fähigkeiten. Zu ihnen zählen neben der Sprachfähigkeit<br />
u. a. die Befähigung, abstrakt und in Begriffen denken<br />
zu können, eine Leistung, die es ihm ermöglicht, sich<br />
an veränderte Lebensbedingungen anzupassen. Darüber<br />
hinaus ist er in der Lage, Selbstbewusstsein zu entwickeln<br />
und mit ihm das Potenzial zur Selbstreflexion. Zu diesem<br />
geistigen Vermögen, das sich im Evolutionsprozess über<br />
Jahrtausende hinweg entwickelt hat, sind, nach heutigem<br />
Wissen, nur der Mensch und in schwächerer Form höher<br />
entwickelte Primaten fähig. Aber genau diese besondere<br />
„Begabung“ zur Selbstreflexion, im Zusammenspiel mit<br />
seinem „Talent“, abstrakte Gedanken zu entfalten, könnte<br />
der Auslöser für die Entwicklung religiöser Gedanken gewesen<br />
sein. Warum? Weil diese „Sonderausstattung“ im<br />
Menschen „geistige Nebenwirkungen“ hervorriefen.<br />
Durch diese neue Fähigkeit, sich selbst und seine Existenz<br />
zum Gegenstand seiner Gedanken machen zu können,<br />
sah und erfuhr sich der Mensch plötzlich als ein unvollkommenes<br />
und in seiner Existenz bedrohtes, endliches Wesen.<br />
Dieses Selbstbildnis seiner körperlichen Bedürftigkeit und<br />
geistigen Verlorenheit löste in ihm tiefe Unruhe und existenzielle<br />
Ängste aus und ließ ihn nach dem „Warum“ seiner<br />
persönlichen Existenz fragen. Eine sehr treffende, symbolische<br />
Aussage über diese erkannte eigene Zerbrechlichkeit<br />
finden wir im Alten Testament in Gen. 3, 7 wo es heißt:<br />
„... da gingen ihnen die Augen auf und sie erkannten, dass<br />
sie nackt waren ...“. Unabhängig von jeglicher theologischer<br />
Interpretation dieses Textes, diese gespürte, psychologische<br />
Nacktheit, diese bewusst gewordene archaische Todesangst<br />
war es, die den Menschen Ausschau halten ließ nach einer<br />
Lösung, das Bewusstsein seiner vergänglichen Existenz<br />
überhaupt ertragen zu können. Er suchte nach einer wärmenden<br />
Kraftquelle für seine erkrankte, nackte Seele, um<br />
durch sie gespeist, seinem mühseligen Dasein einen<br />
Allgemeine Bilderläuterung<br />
Die Fragen nach Glaube und Religion werden von uns Menschen unmittelbar hinter der Stirn gestellt.<br />
Dort im Stirnhirn (Präfrontale Cortex) befinden sich die sogenannten „Neuronen der Moral“. Ist das der<br />
Grund, warum wir in den fünf großen Weltreligionen symbolische Zeichen auf der Stirn finden?<br />
36 durchblick 2/<strong>2007</strong>
tieferen Sinn und dauerhaft festen Halt zu<br />
geben. Und er fand sie, diese Kraftquelle,<br />
mithilfe seiner geistigen Fähigkeiten,<br />
insbesondere aber durch die Möglichkeit,<br />
sich selbst zu transzendieren, d. h.<br />
die Grenze seiner sinnlichen Erfahrung<br />
überschreitende Gedanken entwickeln zu<br />
können. Mit dieser geistigen Ausstattung<br />
versehen, schuf sich der Mensch eine<br />
übersinnliche, jenseitige Welt, eine Welt,<br />
die frei ist von erdgebundenen Abhängigkeiten<br />
und endlicher Begrenztheit. Diese<br />
Hoffnung und das Vertrauen auf eine ausgleichende,<br />
überirdische Kraft (Gott) und<br />
eine heile Scheinwelt (Himmel) ohne Leid,<br />
Schmerz und Vergänglichkeit, waren ein<br />
wirksames, psychologisches Gegenmittel<br />
gegen die Folgen einer tiefsitzenden Urangst<br />
gegenüber übermächtigen Naturgewalten.<br />
Sie stärkten sein persönliches Selbstwertgefühl<br />
und, was besonders wichtig war, sie stabilisierten seine narzisstische<br />
Homöostase (sein psychisches Gleichgewicht)<br />
und sicherten ihm so seine Lebensfähigkeit, denn, wie uns<br />
die Psychologie lehrt, kann eine Destabilisierung der narzisstischen<br />
Homöostase lebensbedrohende Folgen für den<br />
Menschen haben. So gesehen, also psychologisch betrachtet,<br />
war die „Gottesidee“ für das Überleben des Menschen,<br />
als ein sich erkennendes Individuum, eine unabdingbare<br />
Notwendigkeit. Oder naturwissenschaftlich<br />
gefragt:<br />
Wären Glaube und<br />
Religion, wie auch immer<br />
geartet, nicht schon längst<br />
ausgestorben und in den<br />
Köpfen der Menschen<br />
wieder verschwunden, hätte<br />
die Spezies Mensch als „Homo religiosus“ nicht einen<br />
wirksamen, evolutionären Lebensvorteil davon? Und das<br />
bis heute?<br />
Philosophischer Kopfzeile Essay<br />
Christen schlagen das Kreuz auf die Stirn, wie hier das Aschenkreuz<br />
als Zeichen der Buße und Vergänglichkeit am Aschermittwoch.<br />
Diesem Gedanken zu folgen, würde aber bedeuten: Gott<br />
ist nur ein vom Menschen selbst „gedachter Gott“. Sozusagen<br />
sein selbst erzeugtes, geistiges Placebo, das ihm hilft,<br />
seine ihm bewusst gewordene hinfällige Existenz überhaupt<br />
ertragen zu können. Schon von Aristoteles ist zu hören:<br />
„Die Vorstellung der Menschen von Göttern entspringt einer<br />
doppelten Quelle: den Erlebnissen der Seele und der<br />
Anschauung der Gestirne.“ Demnach wäre die Frage zu<br />
stellen: Ist die über Jahrtausende hinweg entstandene Vielfalt<br />
schon vergangener und noch existierender Stammes<br />
und Weltreligionen, in den unterschiedlichsten Kulturen<br />
rund um den Globus, in Wirklichkeit nichts anderes, als<br />
eine inhaltlich flexible, der geistigen Entwicklung angepasste,<br />
psychologisch aber notwendige Überlebensstrategie<br />
der Evolution, um menschliches Leben wie das unsrige<br />
auf diesem Planeten überhaupt zu ermöglichen? Das wiederum<br />
hätte zur Folge, dass die biblische Aussage im Alten<br />
Testament „... und Gott erschuf den Menschen nach seinem<br />
Bild, ... Gen.1, 27) gewissermaßen auf den Kopf gestellt<br />
wird, denn es würde bedeuten, nicht Gott erschuf den Menschen<br />
und mit ihm Himmel und Erde, sondern der Mensch<br />
erschuf sich Gott und den Himmel, um mit dem Bild seiner<br />
Selbstreflexion, das ihm seine existenzielle Verworfenheit<br />
und Bedeutungslosigkeit im kosmischen Spiel von Raum<br />
und Zeit vor Augen führt, überhaupt leben zu können. Wie<br />
auch immer es in der Entwicklungsgeschichte<br />
des<br />
Menschen gewesen sein<br />
mag, beim Anblick dieser<br />
von Naturkatastrophen<br />
bedrohten Welt, in all<br />
ihrer Zerrissenheit, mit<br />
ihren Missständen, Ungerechtigkeiten,<br />
Kriegsgebieten und Flüchtlingselend, mit<br />
ihrem millionenfachen menschlichen und tierischen Leid,<br />
scheint mir eines sicher zu sein: „Es muss einen Himmel<br />
geben, damit die Erde keine Hölle wird“. Aber sehen wir<br />
weiter.<br />
Die Vorstellung der Menschen von Göttern<br />
entspringt einer doppelten Quelle:<br />
den Erlebnissen der Seele und der Anschauung<br />
der Gestirne. (Aristoteles)<br />
Die Frage nach Gott, ein zeitloses Streitthema<br />
Die Frage nach der Existenz Gottes ist sicherlich so<br />
alt wie die Menschheit selbst. Wenn man versucht ihr<br />
nachzugehen und etwas genauer fragt, wann eigentlich<br />
ist Religion in die Köpfe der Menschen gekommen und<br />
mit welcher Begründung, verlieren sich sehr schnell die<br />
Spuren im Nebel der über Jahrmillionen dauernden evolutiven<br />
Entwicklungsgeschichte. Mehr als Hypothesen und<br />
Vermutungen vonseiten der Paläonthropologie sind nicht<br />
zu haben. Die Rückschlüsse auf Religiosität unserer Vorfahren<br />
sind sehr dürftig und ihre Begründungen basieren,<br />
abgesehen von Ausgrabungen alter Kultstätten und Höhlenmalereien,<br />
überwiegend auf Funde an und in Begräbnisstätten.<br />
Die gefundenen Grabbeigaben lassen<br />
durchblick 2/<strong>2007</strong> 37
vermuten, dass der Glaube an ein Leben nach dem Tod, also<br />
religiöses Gedankengut, schon sehr früh in den Köpfen der<br />
Menschen verankert gewesen sein muss. Erste Spuren von<br />
Religiosität finden sich bereits vor rund 300.000 Jahren, also<br />
schon zu Zeiten des Homo erectus. Relativ gesicherte Hinweise<br />
auf Religiosität allerdings liefern erst Gräberfunde<br />
aus der Zeit von vor ca. 120.000 Jahren, auch in Gebieten<br />
des Neandertalers, der vor ca. 30.000 Jahren ausgestorben<br />
ist. Aber, wie das nun mal so ist bei uns Menschen, nicht<br />
alle unsere Vorfahren waren<br />
wohl religiös. Es gibt Experten,<br />
die nicht ausschließen<br />
wollen, dass diejenigen Gruppenverbände,<br />
die durch eine,<br />
in welcher Form auch immer<br />
gearteten archaischen Religion fest miteinander verbunden<br />
waren, gegenüber „unreligiösen“ loseren Gruppen einen<br />
Lebensvorteil hatten. Dies wissenschaftlich zu begründen,<br />
ist sicherlich heute nicht mehr möglich. Sei‘s drum. Eines<br />
ist jedoch sicher, seit „Menschengedenken“ gab und gibt<br />
es unter uns „Gläubige“ und „Ungläubige“, Menschen mit<br />
einer religiösen Lebenseinstellung und Menschen, die,<br />
um hier einen Ausspruch von Max Weber zu gebrauchen,<br />
„religiös unmusikalisch“ sind. Mit dem Aufkommen der<br />
modernen Naturwissenschaften im neunzehnten Jahrhundert<br />
und ihren wissenschaftlichen Erkenntnissen hat die<br />
Zahl der Unreligiösen in den westlichen Industriegesellschaften<br />
allerdings erheblich zugenommen. Unabhängig<br />
aber ob religiös oder nicht religiös, in beiden Fällen war<br />
und bleibt es wohl immer eine Glaubenssache, denn auch<br />
der Ungläubige „glaubt“ nur, dass es Gott nicht gibt, denn<br />
einen gültigen Beweis seiner Nichtexistenz kann er nicht<br />
erbringen. Schon von Kant ist zu hören: „Wo will der angebliche<br />
Freigeist seine Beweise hernehmen, dass es kein<br />
höchstes Wesen gibt?“<br />
Von dieser Aussage Kants aber unbeeinflusst, hat die<br />
Evolutionsforschung und mit ihr das Wissen über die biologische<br />
Entwicklung und Ausstattung des Menschen und hier<br />
speziell die Erkenntnisse der modernen Hirnforschung, der<br />
Gottesfrage wieder neue Nahrung zugeführt und sie erneut<br />
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Nicht der Geist formt die<br />
Materie, sondern die Materie<br />
formt den Geist<br />
in den Fokus der Öffentlichkeit rücken lassen. Die Gründe<br />
hierfür liegen nicht in den eigentlichen Erkenntnissen<br />
selbst, sondern in den Schlussfolgerungen, die aus ihnen<br />
gezogen werden und die bei manchen Naturwissenschaftlern<br />
schon dogmatische Züge aufweisen. Nach Meinung<br />
der meisten Hirnforscher haben alle geistigen Leistungen<br />
und mentalen Fähigkeiten des Menschen, auch wenn sie<br />
in ihrer Komplexität bis heute noch nicht vollständig erkannt<br />
sind, ihren Ursprung ausschließlich in neurophysiologischen<br />
Prozessen des Gehirns.<br />
Sowohl der menschliche Geist als<br />
auch das Seelenleben des Menschen<br />
sind für sie immer an Eigenschaften<br />
materieller Substanzen gebunden<br />
und werden durch diese maßgeblich<br />
bestimmt. Nicht der Geist formt die Materie, sondern die<br />
Materie formt den Geist, lautet das Credo vieler Naturwissenschaftler.<br />
Für sie ist unser ganzer Organismus, insbesondere<br />
aber unser Gehirn, nichts anderes als eine Überlebensmaschine<br />
für die stärksten Gene und ausschließlich auf<br />
dieses Ziel hin ausgerichtet. Alle Phänomene des Geistes,<br />
wie das ICH, der freie Wille, ethische Vorstellungen, der<br />
Glaube an die Existenz eines höheres Wesens sowie jegliche<br />
Form von Religion, sind nichts anderes als Konstrukte<br />
des menschlichen Gehirns und eine von den Genen gesteuerte<br />
Anpassungsstrategie. Somit ist auch Gott nur ein<br />
Hirngespinst und sitzt in der Falle der Hirnforscher. Aber,<br />
so ist hier zu fragen, liefert uns die moderne Hirnforschung<br />
hierfür schlüssige Beweise und wenn ja, welche sind das?<br />
Gehen wir dieser Frage einmal etwas nach.<br />
Auf der Suche nach Gott im Gehirn<br />
Hirnforscher wären keine Wissenschaftler, wenn sie<br />
nicht versuchen würden, die Ursachen, nach denen sie suchen,<br />
aufzuspüren und ihnen auf den Grund zu gehen. So<br />
auch bei der Suche nach eventuellen Beweisen für die Existenz<br />
bzw. die Nichtexistenz Gottes im Gehirn.<br />
Was aber liegt bei dieser Suche näher, als zu erforschen:<br />
Was passiert eigentlich im Gehirn von Menschen, die beten<br />
oder meditieren? Hat ein mystisches Erlebnis (eine Gotteserfahrung?!)<br />
Auswirkungen auf das menschliche Gehirn<br />
und wenn ja welche? Gibt es so etwas wie eine „religiöse<br />
Begabung“, so wie es eine musikalische gibt? Sind Glaube<br />
und Religion genetisch bedingt und auch vererbbar? Diesen<br />
und anderen Fragen nach einer wechselseitigen Beeinflussung<br />
und Abhängigkeit von einerseits biologischen<br />
Eigenschaften und andererseits religiösen Empfindungen<br />
sind in den letzten Jahren überwiegend nordamerikanische<br />
Wissenschaftler in unterschiedlichen Studien und Experimenten<br />
nachgegangen. Aus dieser Aufgabenstellung heraus<br />
hat sich eine, für einige Wissenschaftler und Theologen<br />
etwas fragliche, neue „Neuro-Disziplin“ entwickelt,<br />
die „Neurotheologie“. Der Begriff wurde 1984 von dem<br />
amerikanischen Theologen James B. Ahsbrook geprägt.<br />
Ziel und Aufgabe dieser relativ jungen wissenschaftlichen<br />
Fachrichtung ist es, Zusammenhänge zwischen neu-<br />
38 durchblick 2/<strong>2007</strong>
Philosophischer Kopfzeile Essay<br />
rophysiologischen Vorgängen und religiösen<br />
Phänomenen zu erkennen und zu<br />
beschreiben. Sie bildet so etwas wie eine<br />
interdisziplinäre Brücke für den Dialog<br />
zwischen der naturwissenschaftlich ausgerichteten<br />
Neurologie und der geisteswissenschaftlich<br />
orientierten Theologie.<br />
Sie zu überschreiten, fällt allerdings vielen<br />
Experten auf beiden Seiten oft schwer.<br />
Nun, auf diesem neu entstandenen<br />
„neurotheologischen“ Forschungsgebiet<br />
hat es in den letzten Jahren einige wissenschaftliche<br />
Untersuchungen gegeben,<br />
deren Publikationen (nicht unbedingt<br />
Ergebnisse) für einiges Aufsehen und interdisziplinären<br />
Diskussionsstoff gesorgt<br />
haben. Nachstehend die wohl interessantesten<br />
Erkenntnisse mit ihren für mich<br />
wichtigsten Aussagen in Kurzfassung.<br />
Da ist zunächst der bereits eingangs erwähnte Neuropsychologe<br />
Vilaynur Ramachandran von der University of<br />
California in San Diego, der mit Untersuchungen zur sogenannten<br />
Schläfenlappen-Persönlichkeit bekannt wurde<br />
und in deren Zentrum die schon seit langem bekannte<br />
Korrelation (Wechselwirkung) spezifischer Formen der<br />
Epilepsie (Temporallappen-Epilepsie) mit extremen Erscheinungen<br />
von Religiosität stehen.<br />
Die eindeutige Lokalisierbarkeit der von der Schläfenlappen-Epilepsie<br />
betroffenen Hirnregionen hat Ramachandran<br />
zu der populistischen Mutmaßung veranlasst,<br />
dort (= hinter dem linken Ohr) den Sitz des „Gottes-Moduls“<br />
im menschlichen Gehirn gefunden zu haben. Sind<br />
epileptische Anfälle (fokale Epilepsie) auf diese relative<br />
kleine Hirnregion begrenzt, gehen diese oft, wenn auch<br />
nicht in allen Fällen, mit Erlebnissen göttlicher Gegenwart<br />
einher, dem Gefühl „in Flammen zu stehen“ und sich in<br />
einem unmittelbaren Kontakt mit Gott zu befinden. Diese<br />
Gefühle reichen von der tiefsten Verzweiflung bis zur<br />
höchsten Ekstase. Dieser Zusammenhang zwischen Epilepsie<br />
und Religion ist nicht neu. Eine Reihe berühmter<br />
Persönlichkeiten, die mystische Visionen erlebt (erlitten?)<br />
haben, waren Epileptiker. Bei aller medizinischen Zurückhaltung<br />
scheint sicher zu sein, dass die heilige Teresa<br />
von Avila, der Mystiker und Theologe Emanuel Swedenborg,<br />
der Apostel Paulus (Saulus), der Prophet Mohammed<br />
und der russische Schriftsteller Fjodor Dostojewski<br />
zeitweise veränderte Bewusstseinszustände erlebt haben,<br />
die wir heute rückwirkend eng mit Epilepsie assoziieren<br />
würden. So ist die Bekehrungsvision des Apostels Paulus<br />
auf seinem Weg nach Damaskus (AG 9, 1-29) aller Wahrscheinlichkeit<br />
nach auf einen epileptischen Anfall zurückzuführen.<br />
Warum, so fragt Dostojewski einmal, soll sich Gott<br />
nicht gerade in einem kranken Gehirn offenbaren. Für<br />
Im Judentum ist das Anlegen der Gebetskapsel (Tefillin) ein<br />
Symbol dafür, dass der Mensch sich mit seinem Denken, Fühlen und<br />
Wollen in den Dienst Gottes stellt.<br />
(Bildquelle: www.version.foto.de)<br />
Ramachandran selbst haben seine Untersuchungen (u. a.<br />
auch über Hautreaktionen) gezeigt, dass sich bei dieser<br />
Form von Epilepsie für viele Betroffene die Wertigkeit<br />
gegenüber „weltlichen Dingen“ wie z. B. Sexualität verändert.<br />
Er sagt: „Viele Eigenschaften machen uns menschlich,<br />
aber keine ist rätselhafter als die Religion. ... es gibt<br />
eine neuronale Basis für religiöse Erfahrungen.“ Andere<br />
Neurologen allerdings halten diese Erlebnisse für nichts<br />
anderes als krankhafte Fantasien eines in seiner Funktion<br />
gestörten Gehirns.<br />
Auf die Bedeutung des Schläfenlappens (Temporallappen)<br />
als den Sitz religiöser Empfindungen wurde auch der<br />
kanadische Neurologe Michael Persinger aufmerksam. Er<br />
wurde bekannt durch seinen „Gotteshelm“, einen umgebauten<br />
und mit Magnetspulen ausgestatteten Motorradhelm,<br />
mit dessen Hilfe er durch Magnetstimulation versuchte,<br />
religiöse Erfahrungen zu induzieren (auszulösen).<br />
Er setzte dabei die beiden Gehirnhälften von über 1000<br />
Versuchspersonen ca. 30 Minuten lang einem schwachen,<br />
horizontal verlaufenden Magnetfeld aus, um religiöse<br />
Empfindungen herbeizuführen. Über 80 % der Probanden<br />
berichteten anschließend von eigentümlichen Empfindungen,<br />
die sie überwiegend religiös deuteten. Sie erlebten<br />
sich in einem schwebenden Zustand, vernahmen Stimmen<br />
und spürten die Anwesenheit einer fremden Präsenz (Gott,<br />
Schutzengel), obwohl nachweislich keine andere Person<br />
im Versuchsraum anwesend war. Für Hirnforscher sind<br />
derartige Erlebnisse neuro-psychologisch durchaus erklärbar.<br />
Nach Auffassung von Persinger haben seine Experimente<br />
gezeigt, dass es sich bei religiösen Erlebnissen wie<br />
der einer „Gotteserfahrung“, um rein neurophysiologische<br />
Prozesse handelt, die sich jederzeit „herstellen“ lassen und<br />
deren Inhalte abhängig sind von der individuellen Prägung<br />
(Kindheit/Erziehung) der Betroffenen. Er deutet sie als<br />
„illusionäre Hirnprodukte“.<br />
durchblick 2/<strong>2007</strong> 39
Einen anderen Ansatz bei der Spurensuche<br />
nach den Ursachen von Religiosität<br />
im Menschen wählte der ebenfalls schon<br />
am Anfang genannte amerikanische Molekularbiologe<br />
Dean Hamer. „Aus mehr<br />
als 2.000 DNA-Proben isolierte er ein sogenanntes<br />
Gottes-Gen, eine Genvariation,<br />
deren Träger gläubiger sind als andere“<br />
(Klappentext zum gleichnamigen Buch)<br />
Titel und Text scheinen zu besagen, dass<br />
ein einziges Gen ausreichend ist, um Religiosität<br />
im Menschen zu begründen. Weit<br />
gefehlt, denn in seinem Buch spricht er<br />
später von etwa 50 möglichen Gottes-Genen,<br />
von denen er glaubt, eines, das Gen<br />
VMAT2, unter den rund 35.000 menschlichen<br />
Genen gefunden zu haben. (Ich verzichte<br />
hier bewusst auf die Begründung.)<br />
Schließlich kommt er zu der Schlussfolgerung,<br />
dass es im Menschen eine erbliche Prädisposition<br />
zum Spirituellen gibt. Eine wissenschaftliche Erkenntnis,<br />
die auch schon aus der Zwillingsforschung hinreichend bekannt<br />
ist. Das von ihm gefundene Gen VMAT2 macht die<br />
Menschen also nicht zu Gläubigen oder gar regelmäßigen<br />
Kirchgängern, sondern liefert Hinweise auf die gesamte<br />
Gehirnbiochemie bei der Entfaltung von Spiritualität. Für<br />
Hamer selbst gilt: „Wie Gedanken und Emotionen im<br />
Gehirn gebildet werden, ist etwas, was die Wissenschaft<br />
untersuchen kann. Ob die Überzeugung wahr oder falsch<br />
ist, nicht. Spiritualität ist letztlich eine Frage des Glaubens<br />
– nicht der Genetik.“ Sein Fazit: „Wie spirituell wir sind,<br />
wird (– auch – d. V.) genetisch bestimmt. Wir erkennen<br />
Gott nicht, wir spüren ihn.“<br />
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Philosophischer Kopfzeile Essay<br />
Während des Gebetes berührt der Moslem mit der Stirn die Erde,<br />
um seine Niedrigkeit und Ergebenheit gegenüber Allah zum Ausruck<br />
Die wohl interessantesten Untersuchungen bei der Suche<br />
nach Anzeichen von Religiosität im Gehirn waren für<br />
mich diejenigen Experimente, bei denen die Gehirne, sowohl<br />
buddhistischer Mönche als auch christlicher Nonnen,<br />
während ihrer Meditationsübungen bzw. ihren kontemplativen<br />
Gebeten mithilfe modernster bildgebender Verfahren<br />
beobachtet wurden. Insbesondere zwei amerikanische<br />
Wissenschaftler mit ihren Verfahren erregten dabei Auf-<br />
zu bringen.<br />
merksamkeit, der Neuropsychologe Richard Davidson und<br />
der Radiologe Andrew Newberg. Im Hirnforschungslabor<br />
von Davidson wurden auf Geheiß des Dalai Lama höchstpersönlich<br />
acht tibetische Mönche in die enge Röhre eines<br />
lärmenden Magnetresonanztomographen (Abk. f. MRT)<br />
gesteckt, eine für Meditationsübungen doch recht ungewöhnliche<br />
Umgebung. Ziel war es dabei zu sehen, was im<br />
Gehirn der Mönche vor sich geht, wenn sie ihren Geist einer<br />
spirituellen Einkehr (das Einswerden mit der Natur des<br />
Geistes) zuführen. Eine geistige Aufgabe, mehr schon eine<br />
Herausforderung, die nur „Meditationsprofis“ mit mehr als<br />
10.000 Praxisstunden bewältigen konnten. Der Radiologe<br />
Newberg wählte ein anderes Verfahren, die sogenannte<br />
Single Photon Emission Computed Tomography (Abk.<br />
SPECT). Sie bot die für diese Experimente realistischsten<br />
Situationen für meditative Übungen. Die Probanden konnten<br />
ihre Meditation außerhalb des Scanners in einem abgedunkelten<br />
Raum (Stille / Kerzen / Räucherstäbchen)<br />
abhalten, was bei der Positronen-Emissions-Tomografie<br />
schwierig und bei der funktionellen Magnetresonanztomografie<br />
(Davidson) unmöglich ist. Während der Meditation<br />
waren die Meditierenden mit einer Baumwollschnur mit<br />
dem Beobachter (Newberg) verbunden und zogen an ihr,<br />
sobald sich ihr meditativer Zustand seinem transzendenten<br />
Höhepunkt näherte. Das war für den Radiologen Newberg<br />
der Moment, dem Meditierenden eine radioaktive Substanz<br />
intravenös zu verabreichen, um das Durchblutungsmuster<br />
im Gehirn während des meditativen Höhepunktes festzuhalten<br />
und es nach Beendigung der Meditation im bildgebenden<br />
SPECT-Verfahren wieder sichtbar zu machen.<br />
Unabhängig davon, welches dieser beiden Verfahren<br />
angewandt wurde, bei beiden Methoden wurden neurobiologische<br />
Veränderungen im Gehirn registriert. Nicht<br />
nur die Hirnströme und ihre unterschiedlichen Frequenzen<br />
(Gamma-Wellen und Delta-Wellen) veränderten sich, sondern<br />
auch die Intensität an Aktivität in den Hirnarealen,<br />
die zum einen für die Aufmerksamkeit und zum anderen<br />
für die Orientierung zuständig sind. Während im<br />
40 durchblick 2/<strong>2007</strong>
Philosophischer Kopfzeile Essay<br />
Orientierungsfeld = OF 2 )<br />
(im hinteren Bereich des<br />
Gehirns) die Aktivität<br />
nachlässt, nimmt sie<br />
im „Aufmerksamkeitsfeld“=<br />
AF 2 ) (im vorderen<br />
Bereich des Gehirns) zu.<br />
Was bedeutet das? Nun,<br />
das Orientierungsfeld hat<br />
die primäre Aufgabe, die<br />
Orientierung des Individuums<br />
im physikalischen<br />
Raum zu gewährleisten,<br />
indem es eine klare Abgrenzung<br />
zwischen Ich<br />
und Nicht-Ich vornimmt<br />
und sozusagen eine Grenze<br />
zieht zwischen mir als<br />
Person und dem Rest<br />
der Welt. Patienten mit<br />
Schädigungen in dieser<br />
Im Buddhismus strahlt das<br />
Auge der Erleuchtung von der<br />
Stirn des Buddha ...<br />
Bildquelle: www.buddhismus.at<br />
Gehirnregion können beispielsweise ihr Bett nicht finden<br />
und wenn sie es gefunden haben, sich nicht hinlegen. Da<br />
dieser Abgrenzungsprozess unentwegt stattfindet, ruht das<br />
Orientierungsfeld sozusagen nie. Umso erstaunlicher ist<br />
das Ergebnis. Mit der Inaktivierung dieses Areals scheint<br />
die Ich-Welt-Grenze aufgehoben und mit ihr der Bezug zu<br />
Raum und Zeit. Dies erklärt das Gefühl der Meditierenden<br />
von Ewigkeit und Endlosigkeit, die Auflösung des Selbst<br />
in etwas Größeres, Umfassenderes – ein Einheitsgefühl mit<br />
dem Universum, wovon Mystiker aller Kulturen berichtet<br />
haben (Unio mystica, Nirwana, Tao, Brahman-atman).<br />
Newberg vertritt die Hypothese, wonach „spirituelle Erfahrung<br />
in ihrem Ursprung und Wesen auf das Engste mit<br />
der menschlichen Biologie verflochten ist. Diese Biologie<br />
bedingt in gewisser Weise den Drang zu Spiritualität“ 3 ) .<br />
Er ist der Überzeugung „... den Beweis für einen neurologischen<br />
Prozess erbracht zu haben, der es uns Menschen ermöglicht,<br />
die materielle Existenz zu transzendieren und mit<br />
einem tieferen, geistigen Teil von uns selbst in Verbindung<br />
zu treten, der als absolute, universelle Realität wahrgenommen<br />
wird, die uns mit allem Seienden vereint“. 3 )<br />
So viel zu den mir bekanntesten Experimenten der Hirnforschung.<br />
Allerdings sollte ich noch auf einen wichtigen<br />
Punkt hinweisen. Es ist die Gefahr der Gleichsetzung von<br />
tief religiösen, mystischen Erlebnissen mit anderen außergewöhnlichen<br />
Bewusstseinszuständen, hervorgerufen<br />
durch psychisch pathologische Prozesse, drogeninduzierte<br />
Rauschzustände, psychotische Halluzinationen und Auditionen<br />
(übernatürliches Hören) sowie die bereits angesprochenen<br />
epileptischen Anfälle. Obwohl es erkennbare Unterscheidungsmerkmale<br />
zwischen beiden geistigen Zuständen<br />
gibt, dürfte es trotzdem schwierig sein, immer eine klare<br />
Grenze zu ziehen. In diesem Sinne äußerte sich der bekannte<br />
Hirnforscher Detlef Linke wenige Monate vor seinem<br />
... und im Hinduismus gilt das<br />
dritte Auge auf der Stirn als ein<br />
Zeichen der wahren Erkenntnis.<br />
Bildquelle: www.drreis.de<br />
eigenen Tod in Anlehnung<br />
an die bereits erwähnte<br />
Aussage Dostojewskis:<br />
„Warum sollte nicht die<br />
Wahrheit in einem von<br />
Krankheit gezeichneten<br />
Gehirn besonders leicht<br />
zum Ausdruck kommen?“<br />
und auch Eugen Drewermann<br />
fragt in seinem<br />
zweiten Band „Atem des<br />
Leben“ (S. 684): „Kann es<br />
demnach nicht sein, dass<br />
im Anfall einer Epilepsie<br />
in den Kerker unserer<br />
irdischen Existenz ein<br />
Lichtschein fällt, der uns<br />
ein Leben lang jene andere<br />
Wirklichkeit zeigt, nach<br />
der wir uns eigentlich sehnen?“<br />
Was bleibt festzuhalten?<br />
In diesem Beitrag habe ich die Frage aufgeworfen, sitzt<br />
Gott in der Falle der Hirnforscher?<br />
Nachdem wir nun ein klein wenig über die Ergebnisse<br />
der Hirnforschung Bescheid wissen und die Ansicht der<br />
meisten Wissenschaftler kennen, dass Gott für sie nur<br />
eine Projektion des menschlichen Gehirns ist, bleibt doch<br />
zu fragen: Wenn es denn stimmt, dass Gott nur ein Konstrukt<br />
religiös denkender Menschen ist, also etwas, das<br />
es in Wirklichkeit gar nicht gibt, wie verhält es sich dann<br />
mit ihren eigenen Erkenntnissen? Ihre wissenschaftlichen<br />
Aussagen sind doch auch nur Konstrukte ihrer allerdings<br />
naturwissenschaftlich denkenden Gehirne und demzufolge<br />
genauso unrealistisch? Wenn Gott nur eine unwirkliche<br />
Projektion ist, dann sind es auch die Erkenntnisse der Hirnforscher.<br />
Sitzen somit die Hirnforscher nicht in ihrer eigenen<br />
Falle? Wie dem auch sei, die bisherigen Erkenntnisse<br />
der Neurotheologie sind nicht nur unvollständig, sie sind<br />
auch unterschiedlich interpretierbar. Ihre Bewertung und<br />
Deutung ist ganz offensichtlich abhängig von den weltanschaulichen<br />
Ansichten des jeweiligen Experten oder auch<br />
Nichtexperten und kann sowohl religionskritisch wie auch<br />
religionsstützend ausfallen. Eines aber scheint sich in wissenschaftlichen<br />
Studien immer deutlicher herauszustellen,<br />
dass der Glaube an Gott durchaus Lebensvorteile bringt,<br />
sowohl biologisch als auch psychologisch, denn entsprechende<br />
Untersuchungen haben gezeigt, dass religiöse<br />
Menschen nicht nur schwierige Lebenssituationen und<br />
Schicksalsschläge besser meistern, sondern dass sie auch<br />
länger leben. Aber aus der Tatsache, dass Menschen an Gott<br />
glauben und dieser Glaube ihnen hilft, folgt nicht zwangsläufig,<br />
dass es Gott auch wirklich gibt. Diese Feststellung,<br />
dass eine ethisch und moralisch notwendige „Gottesidee“<br />
nicht zwangsläufig mit einem metaphysischen<br />
durchblick 2/<strong>2007</strong> 41
Philosophischer Kopfzeile Essay<br />
Gottesbeweis verbunden ist, kennen wir schon von Immanuel<br />
Kant. So gesehen bleibt alles „beim Alten“, denn auch<br />
die neu gewonnenen neurophysiologischen Erkenntnisse der<br />
Hirnforschung liefern keinerlei Beweise weder für noch gegen<br />
die Existenz Gottes. Gott ist kein neuronales Erregungsmuster,<br />
nicht die Folge eines Ausfalls bestimmter Hirnstrukturen<br />
und auch nicht das Resultat einer mangelnden Balance<br />
zwischen verschiedenen Neurotransmittern. Deshalb: Auf der<br />
Ebene der Naturwissenschaft kann die Frage nach Gott auch<br />
heute nicht geklärt werden. Die verwendeten Werkzeuge und<br />
Methoden, und seien sie technisch und wissenschaftlich auch<br />
noch so fortschrittlich und modern, scheinen für eine Suche<br />
nach Gott nicht geeignet zu sein.<br />
Dazu ein einfaches Beispiel: Wale fängt man normalerweise<br />
mit Harpunen und Heringe mit Netzen. Wenn nun der<br />
Walfänger behaupten würde, dass es in den Weltmeeren keine<br />
Heringe gibt, weil er in seinem Leben noch nie Heringe gefangen<br />
hat, würde er seine Methode des Fischfangs schlicht<br />
überschätzen. Und was für den Walfänger gilt, gilt auch für die<br />
Naturwissenschaftler, denn diese müssen die Grenzen ihrer<br />
wissenschaftlichen Forschungstätigkeit erkennen und Vorsicht<br />
walten lassen bei allzu voreiligen Schlussfolgerungen.<br />
Eine dieser entscheidenden Grenze ist die von mir in anderen<br />
Beiträgen schon erwähnte Erforschung von subjektivem<br />
Erleben eines Menschen. Immer und überall nehmen Neurowissenschaftler<br />
und Verhaltenspsychologen die objektive<br />
Position der „dritten Person“ ein, sozusagen die „Außenperspektive“.<br />
Dabei werfen sie, um einen Ausdruck des Dalai Lama<br />
zu verwenden, aber „nicht genügend Licht auf die subjektive<br />
Erfahrung“ also auf die „Innenperspektive der ersten<br />
Person“ des fühlenden, denkenden und handelnden Subjekts.<br />
Aber diese innere Welt des Erlebens, das Seelenleben eines<br />
Menschen, kann in seinem Inhalt und seiner Bedeutung nur<br />
durch verbale und nonverbale Kommunikation des Subjekts<br />
selbst einem anderen gegenüber mitgeteilt und damit zum<br />
Ausdruck gebracht werden. Wichtig ist zu erkennen und zu<br />
akzeptieren, dass diese „innere Welt“ des Subjekts immer eine<br />
erlebte und damit auch eine reale Welt ist, auch wenn sie<br />
mit wissenschaftlichen Methoden nicht überprüfbar ist. Aber<br />
genau dieser wissenschaftlich noch unberührte innere Raum<br />
eines jeden Einzelnen von uns ist der Ort, wo unser Leben<br />
seine tiefste Erfahrung für uns bereithält durch die angeborene<br />
Fähigkeit zur Spiritualität (nicht zu verwechseln mit der durch<br />
Erziehung und Lebensumstände geprägten Religiosität).<br />
Der Begriff Spiritualität kommt in der materiell ausgerichteten<br />
Naturwissenschaft nicht vor. Kein Wunder, denn<br />
Spiritualität und Absicht vertragen sich nicht, genauso wenig<br />
wie spirituelle Erfahrungen nicht anstrebt oder angesteuert<br />
werden können. Spiritualität ist ein geistiges Erlebnis, und im<br />
christlichen Sinn verstanden eine tiefe Erfahrung im Grenzbereich<br />
zwischen Mensch und Gott, eine Berührung mit einer<br />
andersartigen Realität 4 ). Zu keiner Zeit in unserem Leben<br />
stellt sich die Frage nach der Existenz Gottes so intensiv und<br />
direkt, sind die Fragen nach einer Antwort ehrlicher und die<br />
spirituellen Erlebnisse wahrhaftiger, als am Ende unseres<br />
Lebens, im Angesicht des eigenen Todes, sozusagen in der<br />
Stunde der Wahrheit. Daher möchte ich meinen Beitrag auch<br />
mit einer Aussage der Schweizer Psychotherapeutin Monika<br />
Renz beschließen, die sie aufgrund ihrer umfassenden Forschungsarbeit<br />
mit spirituellen Erfahrungen Schwerstkranker<br />
und sterbender Menschen gemacht und in ihrem Buch<br />
„Grenzerfahrung Gott“ veröffentlicht hat: „Meines Erachtens<br />
braucht unsere Kultur ... eine Spiritualität des sog. personalen<br />
Gottes, innere Erfahrungen mit einem hörenden, mitfühlenden,<br />
sich mit dem menschlichen Leid identifizierenden<br />
Gott ... Über die Begegnung mit einem Gott als Gegenüber<br />
erleben wir uns ernst genommen in der Einmaligkeit unseres<br />
Person- und Subjektseins.“ 4 ) Die Beispiele, die Monika Renz<br />
in ihrem Buch aufführt, beschreiben in eindrucksvoller Weise,<br />
dass auch im Zustand vollkommener Unfreiheit, bedingt<br />
durch schwere Krankheit, die Fesseln des Todes und die Angst<br />
des Loslassens, dass Menschen in dieser ausweglosen Gefangenschaft<br />
am Ende ihres Lebens die tiefe spirituelle Erfahrung<br />
machen, dass es etwas gibt, dass ihnen eine unantastbare Würde<br />
verleiht und eine innere bedingungslose Freiheit schenkt,<br />
nämlich Gott.<br />
Eberhard Freundt<br />
1) Titel entnommen dem gleichnamigen Vortrag des Neuropsychologen<br />
Christian Hoppe (Universitätsklinik für Epilepsie, Bonn 27. 12. 20<strong>02</strong>).<br />
2) Ein für Nichtexperten gewählter Begriff von Andrew Newberg aus seinem<br />
Buch „Der gedachte Gott“. 3) Andrew Newberg: Der gedachte Gott,<br />
S. 18/19. 4) Monika Renz: Grenzerfahrung Gott S. 31/137<br />
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durchblick 2/<strong>2007</strong> 43
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Kopfzeile<br />
Jede Person, der Du begegnest, weiß etwas, das Du noch nicht weißt; lerne von ihr *<br />
Lachen Sie gern?<br />
Bringen Sie die Sätze in die richtige Reihenfolge<br />
1. Dann hebt er einen Holzsplitter vom Boden auf und<br />
fragt: „Was ist das?“<br />
2.. Der Jüngling beäugt den Splittter mit kritischem<br />
Blick – und plötzlich hellt sich sein Gesicht auf.<br />
3. Der Inhaber des Antiquitätengeschäfts schaut den<br />
jungen Mann, der sich als Lehrling bewirbt, prüfend<br />
an.<br />
4. „Du kannst sofort bei mir anfangen“, sagt der Geschäftsinhaber.<br />
5. „Ganz klar“, sagt er, „es handelt sich um einen Zahnstocher<br />
von Papst Johannnes X.“<br />
44 durchblick 2/<strong>2007</strong>
Gedächtnistraining<br />
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durchblick 2/<strong>2007</strong> 45
Ein Rasierpinsel als „Corpus delicti“ im Zivilprozess<br />
vor dem Landgericht, das hat schon Seltenheitswert.<br />
Der Pinsel, als Weihnachtsgeschenk für ihren Onkel von<br />
einer jungen Dame in einer Siegener Drogerie gekauft, war<br />
nach Überzeugung seines Besitzers nicht in der Lage, Seife<br />
in den Schaum umzuwandeln, der<br />
zum Einseifen männlicher Gesichtshälften<br />
unentbehrlich ist. Ein weiterer<br />
Defekt wurde dem Dachshaarprodukt<br />
angelastet: „Der Pinsel spritzte und fiel<br />
immer wieder um,“ meinte der Kläger.<br />
Er habe ihn - aufgrund des mangelnden<br />
Stehvermögens - mit magnetischer<br />
Hilfe an der Wand befestigt. Ein halbes<br />
Jahr habe er noch gehofft, die Schaumschlägerei<br />
in den Griff zu kriegen, umsonst.<br />
Dann brachte er den Pinsel schließlich<br />
dem Drogisten zurück, der ihn umgehend<br />
der Lieferfirma einschickte, die<br />
makellose Qualität und Schäumungsfähigkeit<br />
bescheinigte. Der Pinselbesitzer<br />
beließ es nicht dabei und klagte.<br />
Unterhaltung Kopfzeile<br />
Ein Pinsel vor Gericht<br />
Corpus Delicti<br />
Der beklagte Drogist hatte den Vorschlag gemacht, einen<br />
Barbier mit Seifenschälchen, Seife und Handtuch ins Verfahren<br />
einzubeziehen, der den Kläger im wahrsten Sinn<br />
des Wortes perfekt einseifen sollte. Darauf ging dieser aber<br />
nicht ein und erschien nicht zum Termin.<br />
Das Proberasieren am Kläger wäre<br />
sicher im Bereich der Justiz eine Weltpremiere<br />
geworden. Der Richter erklärte<br />
schließlich kurz und knapp, dass die<br />
Klage zurückgewiesen wird. Für den<br />
Pinselkauf wäre als Käuferin am Ende<br />
die bartlose Dame zuständig gewesen,<br />
die für eine Proberasur nicht die nötigen<br />
Voraussetzungen mitbringen konnte. Und<br />
somit lasse sich nichts mehr beweisen.<br />
Den Pinsel des Anstoßes nahm der Drogist<br />
- mit einem ganzen Körbchen voller<br />
Vergleichsexemplare - wieder mit. Dem<br />
Kläger blieb überlassen, sich nun doch für<br />
das ihm zustehende Dachshaarprodukt,<br />
für andere Pinsel oder für einen Bart zu<br />
entscheiden.<br />
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46 durchblick 2/<strong>2007</strong>
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durchblick 2/<strong>2007</strong> 47
Als gelernter Metallmeister<br />
erfasste er sofort: Das ist kein<br />
normales Material<br />
Menschliches Kopfzeile<br />
Uri Shaham (Bild)<br />
aus Israel hat bei<br />
uns das Buch „Die<br />
Geschichte Israels“<br />
veröffentlicht, eine<br />
schnelle Übersicht<br />
über die Historie<br />
des alten und neuen<br />
Israels. Gelegentlich<br />
schreibt er Beiträge<br />
für den „durchblick“,<br />
So auch über seine<br />
allzu menschlichen<br />
Erlebnisse während<br />
seines letzten Besuch<br />
in Deutschland.<br />
Moderne Zeiten,<br />
mit ihren Geräten und Automaten, sind ja eigentlich etwas<br />
Feines. Vorausgesetzt natürlich, dass man diese auch<br />
bedienen kann. In unserem Alter (60 +) gelingt einem das<br />
nicht immer. Über eine solche „schmerzhafte“ Erfahrung<br />
möchte ich berichten.<br />
Kein Urinal für Uri<br />
Die Odyssee am Pinkulatorium<br />
Während meines Urlaubs in NRW wollte ich natürlich<br />
auch die Domstadt Köln besuchen. Bereits auf dem<br />
Bahnhof in Siegen verspürte ich einen leichten Druck auf<br />
der Blase. Weil der Zug schon abfahrbereit auf dem Gleis<br />
stand, dachte ich mir, „gehe ich einfach im Zug aufs Örtchen“.<br />
Diesem Wollen konnte ich aber keine Taten folgen<br />
lassen. So „dreckig“ ging es mir dann doch noch nicht. In<br />
Köln angekommen, wurde es langsam Zeit! Frohen Herzens<br />
folgte ich zielstrebig den Schildern WC.<br />
Dort angekommen, stehen vor mir weitere Personen,<br />
die auf Erleichterung hoffen. Hinter mir wird nicht nur die<br />
Schlange immer länger, auch die Gesichter. Es ging nicht<br />
vorwärts! Ein Automat behinderte das Weiterkommen. An<br />
diesem Automat blickte mich ein Mann, der offensichtlich<br />
die Bedienungsanleitung nicht verstand, verzweifelt an.<br />
Ich spreche zwar gebrochen Deutsch und ein zerquetschtes<br />
Englisch, konnte damit aber auch nicht helfen. Mein Hintermann<br />
zuckte auch die Schultern und sagte: „Nix verstehn.“<br />
Der Afrikaner vor mir kapitulierte!<br />
Nun endlich war ich der Nächste. Begriffen hatte ich,<br />
wo sich der Einwurfschlitz für Kleingeld befand. Nur, mein<br />
vorhandenes Kleingeld wollte dieser dusselige Automat<br />
nicht. Also versuchte ich es mit einem Zehn-Euro Schein.<br />
Dabei zwang sich mir die Fage auf, ob ich nur in ein „Pinkulatorium“<br />
will oder ob ich mich in einem Kasino befinde.<br />
Der Automat spuckte mir seine ganzen kleinen Münzen als<br />
Wechselgeld zurück. Nicht nur, dass die Auffangschale voll<br />
war, ich musste mit Druck auf der Prostata noch über den<br />
Boden kriechen, um mein Kleingeld aufzusammeln. Jetzt<br />
hatte ich nicht nur eine volle Blase, auch noch „zwei Kilo“<br />
Münzen in meinem viel zu kleinen Geldbeutel machten mir<br />
das Leben schwer.<br />
Endlich schien der Weg frei zur Entlastung! Denkste!<br />
Ich hatte nicht die vermeintliche Eintrittskarte ins Reich<br />
der Seligkeit gelöst, sondern lediglich einen Wechselautomaten<br />
bedient! Auch dem Afrikaner, der vor mir in der<br />
Schlange war, stand mittlerweile das Wasser bis zu den<br />
Augen. Ich konnte niemandem mehr helfen, ich war mittlerweile<br />
selbst zum Notfall geworden. Im ersten Geschäft<br />
raste ich ohne große Erklärung zur Toilette, entledigte ich<br />
mich meiner Not und wunderte mich dabei nicht mehr,<br />
warum der Rhein gelegentlich Hochwasser führt. Für den<br />
armen Afrikaner hoffte ich, dass er sein Problem ebenfalls<br />
gut gelöst bekam.<br />
Für die Gestrigen war die „Alte Welt“ in manchem doch<br />
bequemer, und für Menschen wie mich wünsche ich eine<br />
kleine Ecke als Naturreservat, wo auch die Ungebildeten<br />
problemlos pinkeln können.<br />
Uri Shaham<br />
48 durchblick 2/<strong>2007</strong>
Alternde Kopfzeile Gesellschaft<br />
Leistungsfähige Altenpflege durch gesunde und motivierte Beschäftigte<br />
die Qualität der Pflege. Und wenn die Deutschen ans Alter<br />
denken, ist es ihnen am wichtigsten, einmal von motivierten<br />
und engagierten Pflegekräften versorgt zu werden.<br />
Das gilt für 76 Prozent der befragten Bundesbürger ab 50<br />
Jahren, wie eine im Auftrag der BGW durchgeführte Forsa-<br />
Umfrage belegt. Ebenfalls deutlich mehr als die Hälfte der<br />
Befragten legt bei einem möglichen Umzug ins Pflegeheim<br />
großen Wert auf eine feste Bezugsperson (61 Prozent) und<br />
staatlich geprüftes Pflegepersonal (59 Prozent).<br />
Qualitätsmanagerin Bärbel Brandt<br />
freut sich über den Erfolg.<br />
„Viele Altenpflegerinnen und -pfleger sind so ausgebrannt,<br />
dass sie häufig ans Aufhören denken.“ Mit dieser<br />
Feststellung bezieht sich die Berufsgenossenschaft für<br />
Gesundheitsdienst und Wohlfahrtspflege (BGW) auf eine<br />
europäische Studie und stellt außerdem fest, dass Deutschland<br />
hier deutlich schlechter abschneidet als zahlreiche<br />
andere Länder.<br />
Die BGW ist die gesetzliche Unfallversicherung für<br />
mehr als 540.000 private und gemeinnützige Einrichtungen<br />
im Gesundheitswesen und der Wohlfahrtspflege.<br />
Sie muss krankmachende Belastungen wahrnehmen und<br />
entsprechende Vorschläge zur Verbesserung machen, denn<br />
eine ihrer zentralen Aufgaben ist der Gesundheitsschutz<br />
in der Arbeitswelt. Aber der angesprochene Missstand ist<br />
nicht nur eine Angelegenheit der Pflegefachkräfte und der<br />
Berufsgenossenschaft, denn gesunde Beschäftigte sichern<br />
Diese naheliegenden Erwartungen sind jedoch immer<br />
schwerer erfüllbar, wenn gleichzeitig die Anforderungen<br />
der Kostenträger und des Gesetzgebers wachsen. Das Dilemma<br />
war 2005 Grund für die BGW-Initiative „Aufbruch<br />
Pflege“, mit der sie sich für eine leistungsfähige Altenpflege<br />
mit gesunden und motivierten Beschäftigten einsetzt.<br />
In den >mitteilungen< 2/<strong>2007</strong> des BGW werden entsprechende<br />
Handlungsmöglichkeiten vorgestellt. Dazu<br />
Prof. Dr. Gerhard Mehrtens, Vorsitzender der BGW-Geschäftsführung:<br />
„Worauf man besonders achten sollte und<br />
was die Belohnung für den Einsatz ist, erzählt der Erfahrungsbericht<br />
aus dem Marienheim Siegen.“<br />
Das Marienheim Siegen hat gemeinsam mit seinen drei<br />
Schwestereinrichtungen das Präventionsangebot qu.int.as ®<br />
der BGW eingeführt. – qu.int.as ® steht für Qualitätsmanagement<br />
mit integriertem Arbeitsschutz. Es handelt sich<br />
um eine Kombination, die Mitarbeitern und Bewohnern<br />
zugute kommt und sich betriebswirtschaftlich auszahlt.<br />
Erich Kerkhoff<br />
(Quelle: Magazin des BGW 2/<strong>2007</strong>. Mit freundlicher Genehmigung<br />
der Redaktion. Weitere Informationen: www.bgw-online.de)<br />
Statistiken, Prognosen und Interpretationen<br />
Angaben des Statistischen Bundesamtes zufolge hat<br />
die Zahl der Pflegebedürftigen in Deutschland von 2003<br />
bis 2005 um 2,5% bzw. 52.000 Personen zugenommen.<br />
Danach waren im Dezember 2005 in Deutschland 2,13<br />
Millionen Menschen pflegebedürftig im Sinne des Pflegeversicherungsgesetzes.<br />
Zwei Drittel (67%) der Pflegebedürftigen<br />
waren älter als 75 Jahre; ein Drittel (33%) waren<br />
Hochbetagte; sie waren 85 Jahre und älter.<br />
Ende 2005 lebten in der Bundesrepublik 605.000 Personen,<br />
die 90 Jahre und älter waren. Von ihnen waren 60%<br />
bzw. 364.000 pflegebedürftig. Bei den 85- bis unter 90-<br />
Jährigen beträgt die entsprechende Pflegequote – also die<br />
Wahrscheinlichkeit pflegebedürftig zu sein – rund 36%; bei<br />
den 75- bis unter 85-Jährigen ist sie erwartungsgemäß mit<br />
14% niedriger; bei den 65- bis unter 70-Jährigen war der<br />
Wert mit rund 3% deutlich geringer.<br />
Mit Einführung der Pflegeversicherung - am 1.04.1995<br />
für ambulant Versorgte bzw. am 1.07.1996 für stationär<br />
Versorgte - war dies absehbar. Der seinerzeit verantwortliche<br />
Arbeitsminister war jedoch der Auffassung, dass die<br />
Lebenserwartung nach dem Jahr 2000 nicht weiter zunehmen<br />
wird. Diese Prognose war bekanntlich unzutreffend;<br />
wir werden in großer Zahl das 90. und auch höhere Lebensjahr<br />
erreichen. Darin liegt ein Grund für die bevorstehende<br />
Reform der Pflegeversicherung. Ein weiterer Grund ist in<br />
der seit Jahren viel zu niedrigen Geburtenrate zu sehen.<br />
Nun ist zu befürchten, dass eine Diskussion um die Reform<br />
der Pflegeversicherung hier ansetzt. Aber: Das Statistische<br />
Bundesamt hat eine deutliche Auswirkung der Alterung<br />
erst für das Jahr 2<strong>02</strong>0 berechnet. Bis dahin steigt der<br />
Altenquotient nur moderat. Eine Reformdiskussion, die sich<br />
auf die „unausweichlichen“ Folgen des Alterungsprozesses<br />
beschränkt, wäre demnach im Ansatz irreführend und würde<br />
von der Frage einer Verteilung des gesellschaftlichen<br />
Reichtums und der Teilhabe am Produktivitätsfortschritt<br />
ablenken. Quelle: Statistisches Bundesamt (Wiesbaden), Febr. <strong>2007</strong><br />
Erich Kerkhoff<br />
durchblick 2/<strong>2007</strong> 49
Unterhaltung/Impressum<br />
Kopfzeile<br />
Das fiel uns auf …<br />
… dass Adoptivkinder zu sammeln in Hollywood<br />
gerade Mode ist.<br />
So begrüßenswert es ist, dass z. B. Madonna sich um<br />
Straßenkinder wie um ihren Adoptivsohn David in Malawi<br />
kümmert, so bleibt doch die Frage, ob es nicht besser wäre,<br />
den Kindern in ihrer Heimat zu helfen, statt sie in eine<br />
völlig andere Kultur zu verpflanzen.<br />
… dass einige Fahrradhersteller jetzt auch an Senioren<br />
denken.<br />
So stellen einige Fabrikanten jetzt Typen mit einem besonders<br />
tiefen Einstieg her. Für manche Senioren könnte<br />
das sicher eine Hilfe beim Radfahren sein. Außerdem<br />
werden auch noch die Knie durch einen tiefer gesetzten<br />
Schwerpunkt entlastet. Allerdings lassen sich die Firmen<br />
(Wulfhorst, Hercules) diese Erleichterungen teuer bezahlen.<br />
... dass im deutschen Pflegesystem eklatante Missstände<br />
herrschen.<br />
Zu diesem Ergebnis kommt die TNS Emnid-Studie zur<br />
„Pflegesituation in Deutschland“ im Auftrag der Marseille-<br />
Kliniken AG. Dazu sind die Betroffenen und Angehörigen<br />
von Pflegefällen sowie die Generation 50+ bundesweit befragt<br />
worden.<br />
… Lösungen von Seite 44 Gedächtnistraining<br />
Achtung Rot:1.Herz, 2.Blut, 3.Tomate, 4.Geranium, 5.Vogelbeere,<br />
6.Purpur, 7.Gefahr, 8.Ziegeldach. Pfeilrechnen: 147. Zahlen-Pyramide:<br />
128. Kastenrätsel: Bier, hier, Stier, Riese, sieben, lieben, Lieder,<br />
Bienen, liegen, Papier, fliegen, fliehen, vierzig, riechen, Schienen, Klavier.<br />
Dreiecke: 27.<br />
Zu guter Letzt …<br />
Das Autoradio von Redaktionsleiter Friedhelm Eickhoff<br />
hat jetzt einen CD-Player. Für den Freund guter Hörspiele<br />
eine willkommene Abwechslung auf langen Strecken. So<br />
auch kürzlich auf der Fahrt von Siegen nach München. In<br />
der Raststätte Steigerwald wird schon als rituelle Handlung<br />
der erste Kaffee fällig. Auto abgestellt, Kaffee getrunken,<br />
zurück ins Fahrzeug. Die Vorfreude auf den weiteren<br />
Hörgenuss beim zweiten Teil kommt auf. CD-Player angemacht,<br />
alte CD auswerfen klappt nicht. Noch mal: Knopf<br />
für den Auswurf bedient. Nichts tut sich, die Scheibe will<br />
nicht ans Tageslicht! CD-Radio ausgebaut, CD-Radio eingebaut,<br />
nichts.<br />
In der Betriebsanleitung schien ein solcher Störfall<br />
nicht vorzukommen. Inzwischen sind 30 Minuten vergangen.<br />
Dem Redaktionschef fehlt jetzt der Durchblick. In<br />
der Annahme, dass die alte CD sich verhakt haben könnte,<br />
versucht er, eine weitere Silberscheibe nachzuschieben, um<br />
Verhaktes zu lockern. Die „Reparatur-CD“ flutscht in die<br />
Tiefe und verschwindet. Jetzt erst kommt die Erleuchtung:<br />
Bereits vor der Kaffeepause hat der Chef die gehörte CD<br />
entfernt, es war überhaupt kein Tonträger mehr im Gerät!<br />
durchblick<br />
Herausgeber:<br />
durchblick-siegen Information und Medien e.V., im Auftrag der<br />
Stadt Siegen – Leitstelle Leben im Alter<br />
Anschrift der Redaktion:<br />
„Haus Herbstzeitlos“ · Marienborner Straße 151 · 57074 Siegen<br />
Telefon + Fax: <strong>02</strong> 71/ 6 16 47 · Mobil: 01 71/ 6 20 64 13<br />
E-Mail: redaktion@durchblick-siegen.de<br />
Internet: www.durchblick-siegen.de<br />
Öffnungszeiten:<br />
dienstags bis donnerstags von 10.00 bis 12.30 Uhr<br />
dienstags auch von 15.00 bis 20.00 Uhr<br />
Redaktion:<br />
Maria Anspach; Friedhelm Eickhoff (verantw.); Eberhard Freundt;<br />
Dieter Gerst; Inge Göbel; Gerda Greis; Dorothea Istock; Erich Kerkhoff;<br />
Erika Krumm; Horst Mahle<br />
An dieser Ausgabe haben ferner mitgewirkt:<br />
Barbara Kerkhoff; Thomas Benauer; Toni Diehl; Helga Siebel-<br />
Achenbach; Sabine Völkel; Edith Maria Bürger; Uri Shaham; Peter<br />
Spar; Annette Freundt<br />
Fotos/Zeichnungen/Grafik (soweit nicht im Bild angegeben):<br />
SATURN, M. Anspach, D. Istock, E. Freund, F. Fischer, T. Benauer,<br />
E. Kerkhoff, Astrid E. Schneider, F. Eickhoff, D. Gerst, S. Völkel,<br />
H. Mahle, Anica Henning, Titel: db-Photo-Shop-Club Tessie Reeh,<br />
Gottfried Klör, Agnes Spar, P. Spar und Maik Schäfer<br />
Gestaltung: durchblick-buchreihe,<br />
Gesamtherstellung:<br />
Vorländer · Obergraben 39 · 57072 Siegen<br />
Verteilung:<br />
Helga Siebel-Achenbach Ltg., alle Redakteure, Ellen Schumacher,<br />
Fred Schumacher, Hannelore Münch, Fritz Fischer, Paul Jochem,<br />
Ingrid Drabe, Helga Sperling, Hermann Wilhelm, Helmut Drabe,<br />
Elisabeth Flöttmann, Dieter Wardenbach<br />
Erscheinungsweise:<br />
März, Juni, September, Dezember<br />
Auflage:<br />
8 500. Der durchblick liegt kostenlos bei den Sparkassen, Apotheken,<br />
Arztpraxen, den Zeitungsverlagen der City-Galerie, in Geschäften<br />
des Siegerlandzentrums und in öffentlichen Gebäuden aus. Für die<br />
Postzustellung berechnen wir für vier Ausgaben jährlich 8 Euro.<br />
Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die<br />
Meinung der Redaktion wieder. Die Redaktion behält sich vor, eingesandte<br />
Beiträge und Leserbriefe zu kürzen. Unverlangte Beiträge<br />
werden nicht zurückgeschickt. Für unsere Anzeigenkunden gilt die<br />
Preisliste 6/2004.<br />
50 durchblick 2/<strong>2007</strong>