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Philosophischer Kopfzeile Essay<br />
rophysiologischen Vorgängen und religiösen<br />
Phänomenen zu erkennen und zu<br />
beschreiben. Sie bildet so etwas wie eine<br />
interdisziplinäre Brücke für den Dialog<br />
zwischen der naturwissenschaftlich ausgerichteten<br />
Neurologie und der geisteswissenschaftlich<br />
orientierten Theologie.<br />
Sie zu überschreiten, fällt allerdings vielen<br />
Experten auf beiden Seiten oft schwer.<br />
Nun, auf diesem neu entstandenen<br />
„neurotheologischen“ Forschungsgebiet<br />
hat es in den letzten Jahren einige wissenschaftliche<br />
Untersuchungen gegeben,<br />
deren Publikationen (nicht unbedingt<br />
Ergebnisse) für einiges Aufsehen und interdisziplinären<br />
Diskussionsstoff gesorgt<br />
haben. Nachstehend die wohl interessantesten<br />
Erkenntnisse mit ihren für mich<br />
wichtigsten Aussagen in Kurzfassung.<br />
Da ist zunächst der bereits eingangs erwähnte Neuropsychologe<br />
Vilaynur Ramachandran von der University of<br />
California in San Diego, der mit Untersuchungen zur sogenannten<br />
Schläfenlappen-Persönlichkeit bekannt wurde<br />
und in deren Zentrum die schon seit langem bekannte<br />
Korrelation (Wechselwirkung) spezifischer Formen der<br />
Epilepsie (Temporallappen-Epilepsie) mit extremen Erscheinungen<br />
von Religiosität stehen.<br />
Die eindeutige Lokalisierbarkeit der von der Schläfenlappen-Epilepsie<br />
betroffenen Hirnregionen hat Ramachandran<br />
zu der populistischen Mutmaßung veranlasst,<br />
dort (= hinter dem linken Ohr) den Sitz des „Gottes-Moduls“<br />
im menschlichen Gehirn gefunden zu haben. Sind<br />
epileptische Anfälle (fokale Epilepsie) auf diese relative<br />
kleine Hirnregion begrenzt, gehen diese oft, wenn auch<br />
nicht in allen Fällen, mit Erlebnissen göttlicher Gegenwart<br />
einher, dem Gefühl „in Flammen zu stehen“ und sich in<br />
einem unmittelbaren Kontakt mit Gott zu befinden. Diese<br />
Gefühle reichen von der tiefsten Verzweiflung bis zur<br />
höchsten Ekstase. Dieser Zusammenhang zwischen Epilepsie<br />
und Religion ist nicht neu. Eine Reihe berühmter<br />
Persönlichkeiten, die mystische Visionen erlebt (erlitten?)<br />
haben, waren Epileptiker. Bei aller medizinischen Zurückhaltung<br />
scheint sicher zu sein, dass die heilige Teresa<br />
von Avila, der Mystiker und Theologe Emanuel Swedenborg,<br />
der Apostel Paulus (Saulus), der Prophet Mohammed<br />
und der russische Schriftsteller Fjodor Dostojewski<br />
zeitweise veränderte Bewusstseinszustände erlebt haben,<br />
die wir heute rückwirkend eng mit Epilepsie assoziieren<br />
würden. So ist die Bekehrungsvision des Apostels Paulus<br />
auf seinem Weg nach Damaskus (AG 9, 1-29) aller Wahrscheinlichkeit<br />
nach auf einen epileptischen Anfall zurückzuführen.<br />
Warum, so fragt Dostojewski einmal, soll sich Gott<br />
nicht gerade in einem kranken Gehirn offenbaren. Für<br />
Im Judentum ist das Anlegen der Gebetskapsel (Tefillin) ein<br />
Symbol dafür, dass der Mensch sich mit seinem Denken, Fühlen und<br />
Wollen in den Dienst Gottes stellt.<br />
(Bildquelle: www.version.foto.de)<br />
Ramachandran selbst haben seine Untersuchungen (u. a.<br />
auch über Hautreaktionen) gezeigt, dass sich bei dieser<br />
Form von Epilepsie für viele Betroffene die Wertigkeit<br />
gegenüber „weltlichen Dingen“ wie z. B. Sexualität verändert.<br />
Er sagt: „Viele Eigenschaften machen uns menschlich,<br />
aber keine ist rätselhafter als die Religion. ... es gibt<br />
eine neuronale Basis für religiöse Erfahrungen.“ Andere<br />
Neurologen allerdings halten diese Erlebnisse für nichts<br />
anderes als krankhafte Fantasien eines in seiner Funktion<br />
gestörten Gehirns.<br />
Auf die Bedeutung des Schläfenlappens (Temporallappen)<br />
als den Sitz religiöser Empfindungen wurde auch der<br />
kanadische Neurologe Michael Persinger aufmerksam. Er<br />
wurde bekannt durch seinen „Gotteshelm“, einen umgebauten<br />
und mit Magnetspulen ausgestatteten Motorradhelm,<br />
mit dessen Hilfe er durch Magnetstimulation versuchte,<br />
religiöse Erfahrungen zu induzieren (auszulösen).<br />
Er setzte dabei die beiden Gehirnhälften von über 1000<br />
Versuchspersonen ca. 30 Minuten lang einem schwachen,<br />
horizontal verlaufenden Magnetfeld aus, um religiöse<br />
Empfindungen herbeizuführen. Über 80 % der Probanden<br />
berichteten anschließend von eigentümlichen Empfindungen,<br />
die sie überwiegend religiös deuteten. Sie erlebten<br />
sich in einem schwebenden Zustand, vernahmen Stimmen<br />
und spürten die Anwesenheit einer fremden Präsenz (Gott,<br />
Schutzengel), obwohl nachweislich keine andere Person<br />
im Versuchsraum anwesend war. Für Hirnforscher sind<br />
derartige Erlebnisse neuro-psychologisch durchaus erklärbar.<br />
Nach Auffassung von Persinger haben seine Experimente<br />
gezeigt, dass es sich bei religiösen Erlebnissen wie<br />
der einer „Gotteserfahrung“, um rein neurophysiologische<br />
Prozesse handelt, die sich jederzeit „herstellen“ lassen und<br />
deren Inhalte abhängig sind von der individuellen Prägung<br />
(Kindheit/Erziehung) der Betroffenen. Er deutet sie als<br />
„illusionäre Hirnprodukte“.<br />
durchblick 2/<strong>2007</strong> 39