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2007-02

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Philosophischer Kopfzeile Essay<br />

rophysiologischen Vorgängen und religiösen<br />

Phänomenen zu erkennen und zu<br />

beschreiben. Sie bildet so etwas wie eine<br />

interdisziplinäre Brücke für den Dialog<br />

zwischen der naturwissenschaftlich ausgerichteten<br />

Neurologie und der geisteswissenschaftlich<br />

orientierten Theologie.<br />

Sie zu überschreiten, fällt allerdings vielen<br />

Experten auf beiden Seiten oft schwer.<br />

Nun, auf diesem neu entstandenen<br />

„neurotheologischen“ Forschungsgebiet<br />

hat es in den letzten Jahren einige wissenschaftliche<br />

Untersuchungen gegeben,<br />

deren Publikationen (nicht unbedingt<br />

Ergebnisse) für einiges Aufsehen und interdisziplinären<br />

Diskussionsstoff gesorgt<br />

haben. Nachstehend die wohl interessantesten<br />

Erkenntnisse mit ihren für mich<br />

wichtigsten Aussagen in Kurzfassung.<br />

Da ist zunächst der bereits eingangs erwähnte Neuropsychologe<br />

Vilaynur Ramachandran von der University of<br />

California in San Diego, der mit Untersuchungen zur sogenannten<br />

Schläfenlappen-Persönlichkeit bekannt wurde<br />

und in deren Zentrum die schon seit langem bekannte<br />

Korrelation (Wechselwirkung) spezifischer Formen der<br />

Epilepsie (Temporallappen-Epilepsie) mit extremen Erscheinungen<br />

von Religiosität stehen.<br />

Die eindeutige Lokalisierbarkeit der von der Schläfenlappen-Epilepsie<br />

betroffenen Hirnregionen hat Ramachandran<br />

zu der populistischen Mutmaßung veranlasst,<br />

dort (= hinter dem linken Ohr) den Sitz des „Gottes-Moduls“<br />

im menschlichen Gehirn gefunden zu haben. Sind<br />

epileptische Anfälle (fokale Epilepsie) auf diese relative<br />

kleine Hirnregion begrenzt, gehen diese oft, wenn auch<br />

nicht in allen Fällen, mit Erlebnissen göttlicher Gegenwart<br />

einher, dem Gefühl „in Flammen zu stehen“ und sich in<br />

einem unmittelbaren Kontakt mit Gott zu befinden. Diese<br />

Gefühle reichen von der tiefsten Verzweiflung bis zur<br />

höchsten Ekstase. Dieser Zusammenhang zwischen Epilepsie<br />

und Religion ist nicht neu. Eine Reihe berühmter<br />

Persönlichkeiten, die mystische Visionen erlebt (erlitten?)<br />

haben, waren Epileptiker. Bei aller medizinischen Zurückhaltung<br />

scheint sicher zu sein, dass die heilige Teresa<br />

von Avila, der Mystiker und Theologe Emanuel Swedenborg,<br />

der Apostel Paulus (Saulus), der Prophet Mohammed<br />

und der russische Schriftsteller Fjodor Dostojewski<br />

zeitweise veränderte Bewusstseinszustände erlebt haben,<br />

die wir heute rückwirkend eng mit Epilepsie assoziieren<br />

würden. So ist die Bekehrungsvision des Apostels Paulus<br />

auf seinem Weg nach Damaskus (AG 9, 1-29) aller Wahrscheinlichkeit<br />

nach auf einen epileptischen Anfall zurückzuführen.<br />

Warum, so fragt Dostojewski einmal, soll sich Gott<br />

nicht gerade in einem kranken Gehirn offenbaren. Für<br />

Im Judentum ist das Anlegen der Gebetskapsel (Tefillin) ein<br />

Symbol dafür, dass der Mensch sich mit seinem Denken, Fühlen und<br />

Wollen in den Dienst Gottes stellt.<br />

(Bildquelle: www.version.foto.de)<br />

Ramachandran selbst haben seine Untersuchungen (u. a.<br />

auch über Hautreaktionen) gezeigt, dass sich bei dieser<br />

Form von Epilepsie für viele Betroffene die Wertigkeit<br />

gegenüber „weltlichen Dingen“ wie z. B. Sexualität verändert.<br />

Er sagt: „Viele Eigenschaften machen uns menschlich,<br />

aber keine ist rätselhafter als die Religion. ... es gibt<br />

eine neuronale Basis für religiöse Erfahrungen.“ Andere<br />

Neurologen allerdings halten diese Erlebnisse für nichts<br />

anderes als krankhafte Fantasien eines in seiner Funktion<br />

gestörten Gehirns.<br />

Auf die Bedeutung des Schläfenlappens (Temporallappen)<br />

als den Sitz religiöser Empfindungen wurde auch der<br />

kanadische Neurologe Michael Persinger aufmerksam. Er<br />

wurde bekannt durch seinen „Gotteshelm“, einen umgebauten<br />

und mit Magnetspulen ausgestatteten Motorradhelm,<br />

mit dessen Hilfe er durch Magnetstimulation versuchte,<br />

religiöse Erfahrungen zu induzieren (auszulösen).<br />

Er setzte dabei die beiden Gehirnhälften von über 1000<br />

Versuchspersonen ca. 30 Minuten lang einem schwachen,<br />

horizontal verlaufenden Magnetfeld aus, um religiöse<br />

Empfindungen herbeizuführen. Über 80 % der Probanden<br />

berichteten anschließend von eigentümlichen Empfindungen,<br />

die sie überwiegend religiös deuteten. Sie erlebten<br />

sich in einem schwebenden Zustand, vernahmen Stimmen<br />

und spürten die Anwesenheit einer fremden Präsenz (Gott,<br />

Schutzengel), obwohl nachweislich keine andere Person<br />

im Versuchsraum anwesend war. Für Hirnforscher sind<br />

derartige Erlebnisse neuro-psychologisch durchaus erklärbar.<br />

Nach Auffassung von Persinger haben seine Experimente<br />

gezeigt, dass es sich bei religiösen Erlebnissen wie<br />

der einer „Gotteserfahrung“, um rein neurophysiologische<br />

Prozesse handelt, die sich jederzeit „herstellen“ lassen und<br />

deren Inhalte abhängig sind von der individuellen Prägung<br />

(Kindheit/Erziehung) der Betroffenen. Er deutet sie als<br />

„illusionäre Hirnprodukte“.<br />

durchblick 2/<strong>2007</strong> 39

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