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2007-02

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Buchbesprechung<br />

der einfach nur Hund heißt,<br />

in ihr Leben treten. Felix ist<br />

10 Jahre älter, sehr lebendig<br />

und kreativ.<br />

An dem Morgen, an dem<br />

wir sie begleiten, verspürt sie<br />

plötzlich ein Verlangen nach<br />

Kaffee, ein sensationeller<br />

Vorgang, nachdem sie all die<br />

Jahre Eisenkrauttee bevorzugt<br />

hat. Felix hatte am Vortag<br />

im Bistro „Les Trois Canons“,<br />

einem Etablissement,<br />

welches Marthe regelmäßig<br />

nachmittags um 15 Uhr frequentierte,<br />

auf sich aufmerksam<br />

gemacht, indem er ihr<br />

mit einem Kaffee zutrank.<br />

Auch er ist Stammgast im<br />

Bistro. Diese seine Geste hatte<br />

in ihr etwas zum Klingen gebracht.<br />

Sie stellt an sich fest,<br />

dass sie plötzlich intensiver<br />

und bewusster lebt, die Farben, die Gerüche, die Gegenstände,<br />

die sie berührt, nimmt sie anders wahr. Man kennt<br />

diese Bewusstseinserweiterung aus Zeiten des eigenen Verliebtseins.<br />

Die Geste rührt an ihre Wurzeln, rüttelt an ihren<br />

Empfindungen. Die Zeit scheint Mitgefühl, Zärtlichkeit und<br />

Empfindsamkeit unter vergänglichem Fleisch zu begraben.<br />

Sie schmiedet einen Plan: Heute würde sie im Bistro zwei<br />

Espressi bestellen. Ihre Erscheinung: im Nacken geknotetes<br />

Haar, blaues Kleid aus Kreppseide, Netzhandschuhe, Hut,<br />

braune Handtasche aus geflochtenem Leder. Ich stelle sie<br />

mir etwas verhuscht vor und kann sie schlecht in die heutige<br />

Zeit transportieren. Felix ist nicht da. Trotzdem bestellt sie<br />

zwei Espressi. Sie ist sich der grotesken Situation durchaus<br />

bewusst, fühlt sich erniedrigt und verraten, amüsiert sich<br />

aber gleichzeitig über sich selbst.<br />

Am nächsten Tag erfährt sie durch die Concierge, dass<br />

in den „Trois Canons“ eine Explosion stattgefunden hat,<br />

dieselbe, die sie in ihrem Inneren erlebt. Der Boden tut sich<br />

unter ihr auf. Sie sieht Felix in einer Blutlache. So schnell,<br />

wie es ihre stechende Hüfte erlaubt, eilt sie zum Bistro.<br />

Der Schaden ist geringfügig. Sie taumelt vor Erleichterung,<br />

spürt Felix feste Hand auf ihrem Arm.<br />

Sie hat eine Verabredung. In ihrem Notizbuch standen<br />

bisher nur die Namen von Dr. Binet und einem Beamten<br />

der Pensionskasse, der ab und an überprüft, ob sie noch<br />

lebt. Sie erwirbt einen Taschenkalender aus rotem Saffianleder<br />

mit einem kleinen, goldenen Kugelschreiber. Vor<br />

dem Bistro wartet eine andere Marthe auf sie. Sie ist ihr<br />

fast fremd. Nur der Mann mit den 1000 Halstüchern ist<br />

über jeden Zweifel erhaben. Sie bewundert ihn, schaut zu<br />

ihm auf, stellt keine Bedingungen, sie lässt es geschehen.<br />

Man schenke mir noch einmal die Begegnung mit einem<br />

Mann, zu dem ich aufschauen könnte. Beim Lesen der<br />

Bildtitel: Marthes Alter Ego<br />

Lektüre sträuben sich mir manches Mal die Haare. Und,<br />

trotzdem, fasziniert diese Geschichte, weil sie eine Art<br />

von Beziehung in unsere Wirklichkeit rückt, nach der sich<br />

die Frau seit Urgedenken der Menschheit sehnt, nach all<br />

den Geschlechterkämpfen und Lebensschlachten, dennoch<br />

wissend, dass es eine Utopie ist.<br />

Felix trägt heute kein Halstuch, sie sieht einen nackten<br />

Hals, einen von geheimnisvollen Falten zerfurchten Hals, einen<br />

verbrauchten, lebendigen Hals. Ihr Mund wird trocken.<br />

Instinktiv greift sie sich an den eigenen Hals, der ebenso<br />

nackt, ebenso verbraucht ist. Ihre Verabredungen werden<br />

zu einem Ritual. Felix lädt sie ein in die Oper, der<br />

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durchblick 2/<strong>2007</strong> 23

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