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Buchbesprechung<br />
der einfach nur Hund heißt,<br />
in ihr Leben treten. Felix ist<br />
10 Jahre älter, sehr lebendig<br />
und kreativ.<br />
An dem Morgen, an dem<br />
wir sie begleiten, verspürt sie<br />
plötzlich ein Verlangen nach<br />
Kaffee, ein sensationeller<br />
Vorgang, nachdem sie all die<br />
Jahre Eisenkrauttee bevorzugt<br />
hat. Felix hatte am Vortag<br />
im Bistro „Les Trois Canons“,<br />
einem Etablissement,<br />
welches Marthe regelmäßig<br />
nachmittags um 15 Uhr frequentierte,<br />
auf sich aufmerksam<br />
gemacht, indem er ihr<br />
mit einem Kaffee zutrank.<br />
Auch er ist Stammgast im<br />
Bistro. Diese seine Geste hatte<br />
in ihr etwas zum Klingen gebracht.<br />
Sie stellt an sich fest,<br />
dass sie plötzlich intensiver<br />
und bewusster lebt, die Farben, die Gerüche, die Gegenstände,<br />
die sie berührt, nimmt sie anders wahr. Man kennt<br />
diese Bewusstseinserweiterung aus Zeiten des eigenen Verliebtseins.<br />
Die Geste rührt an ihre Wurzeln, rüttelt an ihren<br />
Empfindungen. Die Zeit scheint Mitgefühl, Zärtlichkeit und<br />
Empfindsamkeit unter vergänglichem Fleisch zu begraben.<br />
Sie schmiedet einen Plan: Heute würde sie im Bistro zwei<br />
Espressi bestellen. Ihre Erscheinung: im Nacken geknotetes<br />
Haar, blaues Kleid aus Kreppseide, Netzhandschuhe, Hut,<br />
braune Handtasche aus geflochtenem Leder. Ich stelle sie<br />
mir etwas verhuscht vor und kann sie schlecht in die heutige<br />
Zeit transportieren. Felix ist nicht da. Trotzdem bestellt sie<br />
zwei Espressi. Sie ist sich der grotesken Situation durchaus<br />
bewusst, fühlt sich erniedrigt und verraten, amüsiert sich<br />
aber gleichzeitig über sich selbst.<br />
Am nächsten Tag erfährt sie durch die Concierge, dass<br />
in den „Trois Canons“ eine Explosion stattgefunden hat,<br />
dieselbe, die sie in ihrem Inneren erlebt. Der Boden tut sich<br />
unter ihr auf. Sie sieht Felix in einer Blutlache. So schnell,<br />
wie es ihre stechende Hüfte erlaubt, eilt sie zum Bistro.<br />
Der Schaden ist geringfügig. Sie taumelt vor Erleichterung,<br />
spürt Felix feste Hand auf ihrem Arm.<br />
Sie hat eine Verabredung. In ihrem Notizbuch standen<br />
bisher nur die Namen von Dr. Binet und einem Beamten<br />
der Pensionskasse, der ab und an überprüft, ob sie noch<br />
lebt. Sie erwirbt einen Taschenkalender aus rotem Saffianleder<br />
mit einem kleinen, goldenen Kugelschreiber. Vor<br />
dem Bistro wartet eine andere Marthe auf sie. Sie ist ihr<br />
fast fremd. Nur der Mann mit den 1000 Halstüchern ist<br />
über jeden Zweifel erhaben. Sie bewundert ihn, schaut zu<br />
ihm auf, stellt keine Bedingungen, sie lässt es geschehen.<br />
Man schenke mir noch einmal die Begegnung mit einem<br />
Mann, zu dem ich aufschauen könnte. Beim Lesen der<br />
Bildtitel: Marthes Alter Ego<br />
Lektüre sträuben sich mir manches Mal die Haare. Und,<br />
trotzdem, fasziniert diese Geschichte, weil sie eine Art<br />
von Beziehung in unsere Wirklichkeit rückt, nach der sich<br />
die Frau seit Urgedenken der Menschheit sehnt, nach all<br />
den Geschlechterkämpfen und Lebensschlachten, dennoch<br />
wissend, dass es eine Utopie ist.<br />
Felix trägt heute kein Halstuch, sie sieht einen nackten<br />
Hals, einen von geheimnisvollen Falten zerfurchten Hals, einen<br />
verbrauchten, lebendigen Hals. Ihr Mund wird trocken.<br />
Instinktiv greift sie sich an den eigenen Hals, der ebenso<br />
nackt, ebenso verbraucht ist. Ihre Verabredungen werden<br />
zu einem Ritual. Felix lädt sie ein in die Oper, der<br />
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durchblick 2/<strong>2007</strong> 23