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Irma und Doris Bernsdorf saßen sich auf der Terrasse<br />
des Vorstadthäuschens gegenüber, das sie von Tante Else<br />
geerbt hatten. Sie waren zwei ungleiche Schwestern: Irma<br />
etwas mollig, mit Wuschelkopf und Grübchen, war immer<br />
bereit, sich für irgendetwas und irgendjemand einzusetzen.<br />
Doris, schwarzgelockt, schlank und elegant, blieb im Bezug<br />
auf die Einsatzbereitschaft für ihre Umwelt eher etwas<br />
zurückhaltend. Die Schwestern hatten mehrere Jahre wenig<br />
Kontakt zu einander gehabt. Das sollte nun anders werden<br />
durch Tante Elses Haus. Die beiden waren die einzigen<br />
Erben der Tante, außer einem ihnen unbekannten Mann,<br />
den der Testamentsvollstrecker im Gefängnis aufsuchen<br />
musste. Ihm hatte die alte Dame ihr restliches Vermögen<br />
vermacht, eine stattliche Summe, die den Wert des kleinen<br />
Häuschens überstieg. Irma beschäftigte eine Frage, die ihr<br />
nicht aus dem Kopf gehen wollte:<br />
„Ich möchte doch zu gerne wissen, warum Tante Else<br />
ihr gesamtes Geld einem Sträfling vererbt hat. Du weißt,<br />
wir brauchen es nicht, aber erfahren möchte ich doch, was<br />
die Tante mit diesem Menschen verbunden hat.“<br />
„Hör doch endlich auf und lass Tantchen ihr Geheimnis“,<br />
antwortete die Schwester lachend. „Entweder hat sie<br />
einen sozialen Tick gehabt oder eine große Liebe, die auf<br />
Abwege geraten ist.“ Irma musste der Schwester recht geben.<br />
Sie selbst hatte die Tante das letzte Mal vor 15 Jahren<br />
gesehen. Bei Doris war es wohl ähnlich, ihr Interesse an<br />
Tantes Geheimnis war noch nie groß gewesen.<br />
Aber Irma ließ nicht locker: „Sag mal Doris, erinnerst<br />
du dich noch an den Jungen, den die Tante bei sich aufge-<br />
Marias Krimi<br />
Tante Elses Geheimnis<br />
Vor Tante Elses vererbtem Häuschen kommen sich die<br />
Schwestern Irma und Doris Bernsdorf näher.<br />
nommen hat, als wir Kinder waren? Ich glaube,<br />
er war der Sohn einer verstorbenen Freundin. Er<br />
muss längere Zeit bei der Tante gelebt haben. Dann<br />
gab es einen großen Streit. Ich erinnere mich jetzt,<br />
dass sie einmal schrieb, der Junge sei für immer<br />
fort, und er sollte nie mehr erwähnt werden. Vielleicht<br />
ist er der Sträfling.“<br />
„Du hast verrückte Ideen“, konterte Doris. Der<br />
Sträfling heißt Fritz Braumann und ist ein bekannter<br />
Einbrecher, Dauergast im städtischen Knast.<br />
Sein Bewährungsgesuch wurde jetzt gerade wieder<br />
abgeschmettert, das stand in der Zeitung. Du<br />
glaubst doch nicht, dass ein Pflegekind unserer<br />
sanften Tante ein Verbrecher geworden ist.“<br />
Als Irma die Kaffeetassen abräumte, war ihr<br />
Entschluss gefasst. „Ich mache noch ein paar Besorgungen“,<br />
rief sie der Schwester zu. Doris sollte<br />
von ihrem Plan nichts wissen, sie würde kaum Verständnis<br />
dafür aufbringen. Irma nahm den von Doris<br />
mit ins Haus gebrachten, riesigen Bernhardiner<br />
Pluto an die Leine, der auch ihr treu ergeben war,<br />
und machte sich auf den Weg. Eine Stunde später<br />
saß sie in einem beklemmend engen, vergitterten Raum<br />
der Strafanstalt einem kleinen, hageren Mann gegenüber.<br />
Verlegen quetschte sie das große Kuchenpaket an sich, das<br />
sie mitgebracht hatte und wagte den Einstieg ins Gespräch:<br />
„Herr Braumann, verstehen Sie mich bitte nicht falsch. Ich<br />
bin die Nichte von Frau Bernsdorf.“ Der spürbar erregte<br />
Häftling unterbrach sie barsch mit einem Wortschwall:<br />
„Wenn Sie das Geld zurückhaben wollen, das können Sie<br />
haben. Ich will es nicht. Ich will mein Recht. Ihre Tante<br />
wusste genau, wer der Mörder ist. Sie wollte den Schuft<br />
nur decken, der seine Frau erschossen hat. Bestimmt hat<br />
Michael Brückner die Frau selbst umgelegt, die nachts die<br />
Treppe herunterkam, als er mich im Laden erwischte. Ich<br />
war es nicht – Basta.“<br />
Alles drehte sich jetzt in Irmas Kopf: Michael Brückner,<br />
das war der Name des Jungen, den die Tante damals bei<br />
sich aufgenommen hatte. Niemals würde ihre Tante dem<br />
Mann ein Vermögen hinterlassen haben, der die Frau ihres<br />
Pflegesohns erschossen hatte. Es gab da wirklich nur eine<br />
Erklärung. Tante Else wusste um die Schuld des Juweliers<br />
und wollte ihr Gewissen erleichtern mit der Erbschaft für<br />
den unschuldig Verurteilten. Irma drückte dem Gefangenen<br />
die Hand und sprudelte heraus: „Verlassen Sie sich<br />
darauf, ich werde Ihnen helfen. Ganz bestimmt muss man<br />
sie freilassen.“<br />
Auf der Straße eilte Irma zum nächsten Telefonhäuschen<br />
und blätterte im Fernsprechbuch. „Michael Brückner,<br />
Juwelier, Steinstraße 29“. Das genügte. Mit ihrem kleinen<br />
Sportwagen hatte sie den eleganten Laden im Stadt-<br />
20 durchblick 2/<strong>2007</strong>