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2007-02

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Irma und Doris Bernsdorf saßen sich auf der Terrasse<br />

des Vorstadthäuschens gegenüber, das sie von Tante Else<br />

geerbt hatten. Sie waren zwei ungleiche Schwestern: Irma<br />

etwas mollig, mit Wuschelkopf und Grübchen, war immer<br />

bereit, sich für irgendetwas und irgendjemand einzusetzen.<br />

Doris, schwarzgelockt, schlank und elegant, blieb im Bezug<br />

auf die Einsatzbereitschaft für ihre Umwelt eher etwas<br />

zurückhaltend. Die Schwestern hatten mehrere Jahre wenig<br />

Kontakt zu einander gehabt. Das sollte nun anders werden<br />

durch Tante Elses Haus. Die beiden waren die einzigen<br />

Erben der Tante, außer einem ihnen unbekannten Mann,<br />

den der Testamentsvollstrecker im Gefängnis aufsuchen<br />

musste. Ihm hatte die alte Dame ihr restliches Vermögen<br />

vermacht, eine stattliche Summe, die den Wert des kleinen<br />

Häuschens überstieg. Irma beschäftigte eine Frage, die ihr<br />

nicht aus dem Kopf gehen wollte:<br />

„Ich möchte doch zu gerne wissen, warum Tante Else<br />

ihr gesamtes Geld einem Sträfling vererbt hat. Du weißt,<br />

wir brauchen es nicht, aber erfahren möchte ich doch, was<br />

die Tante mit diesem Menschen verbunden hat.“<br />

„Hör doch endlich auf und lass Tantchen ihr Geheimnis“,<br />

antwortete die Schwester lachend. „Entweder hat sie<br />

einen sozialen Tick gehabt oder eine große Liebe, die auf<br />

Abwege geraten ist.“ Irma musste der Schwester recht geben.<br />

Sie selbst hatte die Tante das letzte Mal vor 15 Jahren<br />

gesehen. Bei Doris war es wohl ähnlich, ihr Interesse an<br />

Tantes Geheimnis war noch nie groß gewesen.<br />

Aber Irma ließ nicht locker: „Sag mal Doris, erinnerst<br />

du dich noch an den Jungen, den die Tante bei sich aufge-<br />

Marias Krimi<br />

Tante Elses Geheimnis<br />

Vor Tante Elses vererbtem Häuschen kommen sich die<br />

Schwestern Irma und Doris Bernsdorf näher.<br />

nommen hat, als wir Kinder waren? Ich glaube,<br />

er war der Sohn einer verstorbenen Freundin. Er<br />

muss längere Zeit bei der Tante gelebt haben. Dann<br />

gab es einen großen Streit. Ich erinnere mich jetzt,<br />

dass sie einmal schrieb, der Junge sei für immer<br />

fort, und er sollte nie mehr erwähnt werden. Vielleicht<br />

ist er der Sträfling.“<br />

„Du hast verrückte Ideen“, konterte Doris. Der<br />

Sträfling heißt Fritz Braumann und ist ein bekannter<br />

Einbrecher, Dauergast im städtischen Knast.<br />

Sein Bewährungsgesuch wurde jetzt gerade wieder<br />

abgeschmettert, das stand in der Zeitung. Du<br />

glaubst doch nicht, dass ein Pflegekind unserer<br />

sanften Tante ein Verbrecher geworden ist.“<br />

Als Irma die Kaffeetassen abräumte, war ihr<br />

Entschluss gefasst. „Ich mache noch ein paar Besorgungen“,<br />

rief sie der Schwester zu. Doris sollte<br />

von ihrem Plan nichts wissen, sie würde kaum Verständnis<br />

dafür aufbringen. Irma nahm den von Doris<br />

mit ins Haus gebrachten, riesigen Bernhardiner<br />

Pluto an die Leine, der auch ihr treu ergeben war,<br />

und machte sich auf den Weg. Eine Stunde später<br />

saß sie in einem beklemmend engen, vergitterten Raum<br />

der Strafanstalt einem kleinen, hageren Mann gegenüber.<br />

Verlegen quetschte sie das große Kuchenpaket an sich, das<br />

sie mitgebracht hatte und wagte den Einstieg ins Gespräch:<br />

„Herr Braumann, verstehen Sie mich bitte nicht falsch. Ich<br />

bin die Nichte von Frau Bernsdorf.“ Der spürbar erregte<br />

Häftling unterbrach sie barsch mit einem Wortschwall:<br />

„Wenn Sie das Geld zurückhaben wollen, das können Sie<br />

haben. Ich will es nicht. Ich will mein Recht. Ihre Tante<br />

wusste genau, wer der Mörder ist. Sie wollte den Schuft<br />

nur decken, der seine Frau erschossen hat. Bestimmt hat<br />

Michael Brückner die Frau selbst umgelegt, die nachts die<br />

Treppe herunterkam, als er mich im Laden erwischte. Ich<br />

war es nicht – Basta.“<br />

Alles drehte sich jetzt in Irmas Kopf: Michael Brückner,<br />

das war der Name des Jungen, den die Tante damals bei<br />

sich aufgenommen hatte. Niemals würde ihre Tante dem<br />

Mann ein Vermögen hinterlassen haben, der die Frau ihres<br />

Pflegesohns erschossen hatte. Es gab da wirklich nur eine<br />

Erklärung. Tante Else wusste um die Schuld des Juweliers<br />

und wollte ihr Gewissen erleichtern mit der Erbschaft für<br />

den unschuldig Verurteilten. Irma drückte dem Gefangenen<br />

die Hand und sprudelte heraus: „Verlassen Sie sich<br />

darauf, ich werde Ihnen helfen. Ganz bestimmt muss man<br />

sie freilassen.“<br />

Auf der Straße eilte Irma zum nächsten Telefonhäuschen<br />

und blätterte im Fernsprechbuch. „Michael Brückner,<br />

Juwelier, Steinstraße 29“. Das genügte. Mit ihrem kleinen<br />

Sportwagen hatte sie den eleganten Laden im Stadt-<br />

20 durchblick 2/<strong>2007</strong>

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