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SOCIETY 355 / 2010

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POLITIK<br />

KOMMENTAR<br />

Gefährdung öffentlicher Sicherheit durch Minderjährige?<br />

Österreichs Angst vor<br />

„dem Fremden“<br />

Dr. Susanne Scholl berichtet über die Situation von Asylsuchenden in Österreich und stellt<br />

die Frage, ob unser Wohlstand durch Immigranten bedroht ist.<br />

ÜBER DIE AUTORIN<br />

Dr. Susanne Scholl ist am 19.9.1949 in Wien geboren. Sie<br />

studierte Slawistik, war ab den 1970er Jahren bei „Le Monde“,<br />

Radio Österreich International und in der Austria<br />

Presseagentur (APA) tätig. Ab 1985 arbeitete sie für den<br />

ORF: Als Redakteurin der Osteuroparedaktion, Korrespondentin<br />

in Bonn und Leiterin des ORF-Europajournals, und<br />

ab 2000 als Leiterin des ORF-Büros in Moskau. Zahlreiche<br />

Publikation (u. a. „Russisches Tagebuch“ u. „Töchter des<br />

Krieges“) sowie Auszeichnungen (u. a. Österr. Ehrenkreuz<br />

f. Wissenschaft und Kunst 2003, Journalist des Jahres<br />

2009).<br />

Wir leben in einem schönen, reichen,<br />

satten, sicheren Land. Viele Menschen<br />

auf der ganzen Welt haben<br />

dieses Privileg nicht. Und einige – wenige –<br />

die an Leib und Leben bedroht sind, finden<br />

– manchmal – und unter unvorstellbaren<br />

Bedingungen – ihren Weg hierher zu uns.<br />

Früher war es selbstverständlich, solche<br />

Menschen hier aufzunehmen. Ich spreche<br />

von der Zeit nach dem zweiten Weltkrieg,<br />

wohlgemerkt, nur um Missverständnisse<br />

zu vermeiden.<br />

Aber seit der Osten Europas jene Regime<br />

abgelegt hat, gegen die wir, hier im reichen<br />

und dem Westen zugerechneten neutralen<br />

Österreich, zu kämpfen vorgaben, ist alles<br />

anders. Plötzlich erscheinen uns Menschen,<br />

die aus fernen Ländern auf der Suche nach<br />

Hilfe hier her zu uns kommen verdächtig.<br />

Plötzlich haben wir sie pauschal - und ohne<br />

uns für die einzelnen Geschichten zu interessieren<br />

– zu potentiellen Sozialschmarotzern,<br />

Parasiten, Kleinkriminellen und in jedem<br />

Fall zu wahrscheinlichen Lügnern<br />

gestempelt. Wir interessieren uns nicht<br />

mehr für das, was jenseits unserer Grenzen<br />

passiert, wir wollen nur nicht, dass uns<br />

Menschen in Not womöglich etwas von unserem<br />

Wohlstand wegnehmen könnten.<br />

So kann man die heutige Situation von<br />

Asylsuchenden in Österreich beschreiben –<br />

und doch ist das nur die halbe Wahrheit. Ja<br />

– die Gesetze werden nicht nur immer unmenschlicher,<br />

unerbittlicher und undurchschaubarer.<br />

Ihre Durchführung wird ebenso<br />

immer unklarer. Da bekommen zwei<br />

Monate alte Babys Abschiebebescheide, in<br />

denen steht, sie gefährdeten mit ihrer Anwesenheit<br />

in Österreich die öffentliche Sicherheit.<br />

Da werden Menschen während ihrer<br />

medizinischen Behandlung direkt aus<br />

einer Spitalsambulanz in Schubhaft genommen<br />

und außer Landes gebracht. Da<br />

schreibt man über einen Asylwerber, er sei<br />

unbescholten, aber – man habe ihn ein<br />

Mal beim Schwarzfahren erwischt! Da dürfen<br />

die Menschen nicht arbeiten und werden<br />

dann beschuldigt, dem Staat auf der Tasche<br />

zu liegen. Da verlangt man Deutschkenntnisse<br />

und begründet Abschiebebescheide<br />

damit, die Betreffenden hätten sich<br />

„rechtswidrig integriert“ – weil sie ja hätten<br />

wissen müssen, dass sie sich nicht in Österreich<br />

aufhalten dürften. All das ist niederträchtig<br />

und treibt mir als Österreicherin<br />

die Schamesröte ins Gesicht.<br />

***<br />

Wir können auch anders<br />

Und dann ist da das andere Österreich.<br />

Jenes Österreich, das um fünf Uhr Früh vor<br />

der Wohnung einer Familie mit zwei kleinen<br />

Kindern steht, die abgeschoben werden<br />

soll – und das solcher Art verhindert.<br />

Das Österreich der Ute Bock und anderer,<br />

die ihr Leben dem Schutz Schutzbedürftiger<br />

widmen und nicht zulassen, dass die<br />

Verrohung allmächtig wird.<br />

Und es sind wesentlich mehr Menschen,<br />

die die derzeitige Praxis in Österreich<br />

ablehnen, als man glaubt.<br />

All jene, die wissen, dass das österreichische<br />

Gesundheits- und Pflegewesen zusammenbräche,<br />

würden nicht Menschen<br />

aus aller Herren Länder in genau diesem<br />

Bereich arbeiten – um nur ein Beispiel zu<br />

nennen. All jene auch, deren Betriebe zusperren<br />

müssten, würden all jene ausgewiesen,<br />

die jetzt dort arbeiten – und nicht<br />

seit Generationen Österreicher sind.<br />

Österreich ist ein reiches, sattes, zufriedenes<br />

und sicheres Land – und wer genau<br />

hinschaut, erkennt, dass der Erfolg dieses<br />

Landes auch auf der Tatsache beruht, dass<br />

die große Mehrheit der Bevölkerung so genannten<br />

Migrationshintergrund hat.<br />

Meine Vorfahren kamen aus Böhmen,<br />

Mähren und Galizien nach Österreich. Andere<br />

haben ihre Wurzeln in Ungarn, der<br />

Slowakei, Bulgarien, Italien, Deutschland,<br />

Frankreich, Slowenien, Kroatien etc. Die<br />

österreichische Küche gibt es nur, weil wir<br />

es verstanden haben, uns sämtliche Köstlichkeiten<br />

unserer näheren und ferneren<br />

Nachbarn anzueignen und sie zu unseren<br />

Spezialitäten zu machen. Vom Gulasch bis<br />

zum Wiener Schnitzel, vom Apfelstrudel<br />

bis zu den Palatschinken – stammen alle<br />

Gerichte, deretwegen Österreich heute in<br />

der ganzen Welt berühmt ist, nicht aus<br />

Österreich. Den Vorwurf, hier Multikulti-<br />

Romantik heraufzubeschwören kann man<br />

angesichts dieser Tatsachen wohl getrost<br />

ins Reich des Lächerlichen verweisen.<br />

Österreich lebt dank vielfältigster Einflüsse<br />

und Traditionen – und braucht eben gerade<br />

auch die Menschen, die wir zurzeit als<br />

angebliche Bedrohung unserer Sicherheit<br />

und unseres Wohlstandes so niederträchtig<br />

behandeln.<br />

<strong>SOCIETY</strong> 3_10 | 53

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